Der Tanz der
toten Dichter – oder:
Wer zuletzt lacht, lacht am besten!
Carl
Leberecht Schwabe war einer meiner 16 Ururururgroßväter mütterlicherseits und
er hat sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr um Schillers
Andenken gekümmert. Er hat im Mai 1805 den Grabeszug von innigen Schiller-Fans organisiert
und hat 1826 als Bürgermeister von Weimar nach seinen Gebeinen geforscht.
Das
Bild verdanke ich Ellen Brück aus Leichlingen – auch eine tiefe Schiller-Sympathisantin.
Ein
Gutteil der folgenden Informationen (blauer Text) stammt aus den Aufzeichnungen von Carl Leberechts Sohn Julius Schwabe[1], wichtige Details sind ergänzt insbesondere aus der
sehr gut fundierten und einfühlsam verfassten Darstellung von Albrecht Schöne[2].
Die ganze Geschichte ist ein wenig freak, makaber und bizarr – aber sie
beleuchtet den Umgang mit Größen unserer Kultur – bis in die heutigen Tage, wie
Sie sehen werden.
1. Aufzug: Schillers Tod (J. Schwabe, Erinnerungen, 4. Kapitel, S. 27ff)
"Die wenigen Jahre, welche Schiller in Weimar lebte, waren
durch Krankheit vielfach, ja fast fortwährend getrübt, aber seine gewaltige
Schaffenskraft ließ sich dadurch nicht unterdrücken, wie die unsterblichen
Werke beweisen, die er in der ihm noch vergönnten kurzen Zeit entstanden.
Schiller stand auf der Höhe seines Ruhmes. Das kleine Weimar war sich des
Vorzugs, den großen Mann zu seinen Bürgern zählen zu dürfen, recht wohl
bewusst. Von hoch und niedrig wurde ihm die größte Verehrung gezollt. Wenn er
durch die Straßen oder den Park ging, wurde er von jedem Begegnenden auf das
ehrfurchtvollste gegrüßt, und so mancher brave Bürgersmann blieb noch lange mit
der Mütze in der Hand stehen, dem allgemein beliebten und verehrten Mitbürger
nachblickend. Und wenn im Theater ein neues Stück von Schiller gegeben wurde,
dann waren dessen Räume bis auf den letzten Platz besetzt. Und mit welch
andächtiger Begeisterung wurden die Jungfrau, Tell, die Braut von Messina, Maria
Stuart vom Publikum aufgenommen! Das war damals anders als jetzt. Wenn jetzt in
Weimar, das drei- bis viermal so viel Einwohner zählt als zu Schillers Zeit,
und anderswo ein Schillersches Drama aufgeführt wird, zeigt der Zuschauerraum,
besonders im ersten Range, Lücken, die zu denken geben. Eine französische
Frivolität dagegen macht ein volles Haus.
Ich erinnere mich, in meiner Jugend oft einer kleinen dicken Dame
von mittleren Jahren in den Straßen von Weimar begegnet zu sein. Es war eine
verwitwete Frau Rentamtmann W., die mir von meinem Vater als das Musterbeispiel
einer Schiller-Enthusiastin bezeichnet wurde. Die genannte würdige Dame hatte
als vierzehnjähriges Mädchen einer der ersten Aufführungen der Jungfrau von
Orleans beigewohnt. Mit glühendem Interesse verfolgte sie den Verlauf des
Stückes. Als im fünften Akte die gefangene Jungfrau mit den Worten "so sei
Gott mir gnädig" ihre Fesseln zerreißt und hinauseilt, springt das alles
um sich herum vergessende Mädchen in die Höhe, klatscht die Hände zusammen und
ruft in unverfälschtem weimarischen Dialekte laut aus: "Dä! Da habtersche
gehabt!" Schiller soll durch diesen Vorfall höchlich ergötzt worden sein.
Als Schiller am 8. Mai 1805 starb, verbreitete sich unter den
Bewohnern Weimars allgemeine Bestürzung und tiefe, herzliche Trauer. Im
Widerspruche hiergegen stehen die zum Verdruß immer und immer, auch noch ganz
neuerlich, wiederkehrenden Legenden von der angeblich höchst einfachen und
schmucklosen Totenfeier für Schiller, woraus man auf mangelnde Teilnahme des
weimarischen Publikums schließen zu müssen glaubte. Ich rekapitulieren deshalb
im folgenden mit möglichster Kürze das wirklich Thatsächliche in diese
Angelegenheit. Genauere Angabe mit authentischen Belegen findet man in meiner
kleinen Schrift "Schillers Beerdigung und die Aufsuchung seiner
Gebeine", Leipzig, Brockhaus 1852, sowie in einem 1859 in Nr. 45 und 46
der Gartenlaube erschienenen Aufsatze.
Es war ein altes Herkommen in Weimar, daß bei Beerdigungen, die
durch besondere Feierlichkeit ausgezeichnet werden sollten, die eigentliche
Beisetzung der Leichen in stiller Nacht mit nur geringer Begleitung und ohne
kirchliche Weihe stattfand. Erst am darauf folgenden Tage wurde in der
Gottesackerkirche die religiöse Trauerfeier, die sogenannte, Kollekte,
gehalten, an welcher sich alle, die dem Toten "die letzte Ehre geben"
wollten, beteiligten. Handwerker, welche für den Verstorbenen und seine Familie
gearbeitet hatten, pflegten als Leichenträger das nächtliche Geschäft zu
verrichten. So sollte es auch bei Schillers Ableben geschehen, und Schiller
wäre wirklich von dafür bezahlten Handwerkern zu Grabe getragen worden, wenn
mein Vater dies nicht abgewendet hätte. Derselbe kam gegen Abend des 11. Mai
1805 von einer im Auftrage der Regierung unternommenen mehrtägigen
Geschäftsreise zurück und wurde mit der Nachricht empfangen, dass Schiller
vorgestern gestorben sei und heute Nacht um 12 Uhr zu Grabe getragen werden
solle. Die innige Verehrung, welche er für Schiller hegte, machten das
Verlangen in ihm rege, jenen letzten Liebesdienst, anstelle der Handwerker, mit
gleichgesinnten Freunden und Bekannten dem ihnen so teuren großen Mann zu
erweisen. Er eilte in der Stadt umher, um die Genossen zu seinem Vorhaben zu
sammeln, traf aber die meisten nicht an, weshalb er noch zwischen 9 und 10 Uhr
ein Cirkular umherschickte, dessen Original ich zu den im Schiller-Haus in
Weimar aufbewahrten Schiller-Reliquien gegeben habe. So gelang es ihm, 21 oder
22 Freunde zusammenzubringen, meist Beamte, Literaten und Künstler, die bereit
waren, den Dichter zu letzen Ruhestätte zu tragen und zu begleiten. Noch waren
aber große und wegen der Kürze der Zeit peinliche Schwierigkeiten zu
überwinden. Der mit der Ordnung des Begräbnisses beauftragte Freund der
Schillerschen Familie weigerte sich anfänglich sehr entschieden, meinem Vater
die Erlaubnis zu seinem Vorhaben zu geben, wobei er sich darauf berief, daß
nach dem ausdrücklichen Willen der Frau von Schiller der Transport der Leiche
vom Trauerhause nach dem Kirchhofe in der größten Stille geschehen solle. Auch
seien alle Vorbereitungen bereits getroffen, die Handwerker bereits bestellt
u.s.w. Eine sehr erregte Unterredung folgte dieser Erklärung. Erst als mein
Vater mit großem Nachdruck hervorhob, dass die Bestattung eines Mannes, wie Schiller,
durch bezahlte Handwerker eine Schande für Weimar, trotz des ortsüblichen
Gebrauchs, sein würde, gab der betreffende Herr, ein angesehener Geistlicher
der Stadt, seinen Widerstand auf. Die von meinem Vater eingeladenen Herren
versammelten sich in seiner Wohnung und begaben sich von da in das Schillersche
Haus, wo sie den bereitstehenden Sarg mit seinem kostbaren Inhalte aufnahmen
und in stiller, mondbeglänzter Mitternachtsstunde nach dem sogenannten
Kassengewölbe auf dem Kirchhofe trugen. Zu sechsen wechselten sie im Tragen ab,
während die fünfzehn oder sechzehn übrigen paarweise folgten. Es war ein
stiller und kleiner, aber feierlicher Kondukt, und tief ergriffen waren alle,
als der Sarg vom Totengräber und seinen Gehilfen durch eine im Fußboden des
kleinen Gewölbes befindliche Fallthüre in die schwarze Tiefe hinabgelassen
wurde.
An dem der eigentlichen Bestattung folgenden Nachmittage fand in
der Gottesackerkirche die solenne Trauerfeier für Schiller statt. Die
herzogliche Kapelle exekutierte das Requiem von Mozart, und der
Generalsuperintendent Vogt hielt die Trauerrede. Die Kirche konnte die Menge
der herbeigeströmten Teilnehmenden nicht fassen, so daß noch dicht gedrängte
Gruppen vor den offenen Türen standen.
Warum aber, so hat man damals und auch noch in unseren Tagen
vielfach gefragt, warum hat sich Goethe gar nicht um die Trauerfeier für den,
dessen Freund er sich nannte, gekümmert? Aus dem einfachen Grunde, weil er
selbst damals bedenklich krank war, und niemand wagte, ihm in diesem Zustande die
Nachricht von Schillers Tode zu überbringen. Goethe erfuhr erst einige Tage
nach der Beerdigung, daß Schiller gestorben sei. Wie tief ihn dieser Verlust
traf, läßt sich aus den einfachen, ergreifenden Worten darüber in seinem
Tagebuche entnehmen."
2. Aufzug: Wer ist’s?
"Einundzwanzig Jahre waren vergangen, seit die sterblichen
Reste Schillers in die finstere Gruft des sogenannten Kassengewölbes versenkt
worden waren. Dieses Kassengewölbe war ein kleiner düsterer Bau neben dem
Eingange in den Kirchhof. Seine Mauern umfassten nur einen fensterlosen Raum,
in dessen Fußboden sich eine in die kellerartige Gruft führende Fallthür
befand. Die Särge wurden einer nach dem anderen und aufeinander hinabgelassen.
Dieses schaurige Institut hatte seinen Namen nach dem Eigentümer, der
Landschaftskasse, welche Behörde jetzt Finanzministerium heißt. Denjenigen
verstorbenen Personen vornehmeren Standes, die kein Familienbegräbnis besessen
hatten, wurde auf Ansuchen der Hinterbliebenen vom Landschaftskollegium die
Aufnahme in das Kassengewölbe gewährt. In dieser vornehmen Bestattungsweise lag
aber nur ein vermeintlicher Vorzug, denn die bedauernswerten Bewohner des
Kassengewölbes waren in der denkbar schlechtesten Weise logiert, wie sich jetzt
zeigen sollte. In Zwischenräumen von etwa dreißig Jahren, wenn man eben meinte,
daß der unterirdische Raum gefüllt sei, wurde eine "Aufräumung"
veranstaltet, d.h. die sämtlichen, durch Moder zerfallenen Sargreste und
Totengebeine wurden herausgeschafft und pêle-mêle in eine große Grube in die
eine Ecke des Kirchhofes eingescharrt.
Dieses Schicksal stand auch den Gebeinen unseres großen Dichters
bevor. Zu Anfang des Jahres 1826 erging vom Landschaftskollegium der Befehl,
das Kassengewölbe aufzuräumen. Mein Vater, der mittlerweile Bürgermeister von
Weimar geworden war, dachte, als er diese Kunde vernahm, mit Schrecken daran,
daß es sich dabei auch um Schillers Überreste handelte. Jetzt, wie damals bei
Schillers Beeerdigung, machte er sich durch energisches Handeln verdient. Mit
rasch eingeholter Genehmigung des Landschaftskollegiums stellte er
Nachforschungen im Kassengewölbe an, in der Hoffung, den Schillerschen Sarg zu
finden und den kostbaren Inhalt desselben zu retten. Doch er fand nur ein Chaos
von faulenden Sargtrümmern, Zeugfetzen und bunt umherliegenden Gebeinen, wie es
nur vieljährige gänzliche Vernachlässigung des Ortes und die darin herrschende
dumpfe Feuchtigkeit hervorbringen konnte. Vergebens war alles Suchen; kein
einziges Zeichen ließ erkennen, daß eines der vorhandenen Holzstücke zu
Schillers Sarg gehört hatte. So niederschlagend das Ergebnis der Nachforschung
war, ließ sich mein Vater doch nicht entmutigen. Ein neuer Gedanke stieg in ihm
auf. Er hatte in dem Begräbnisraum verschiedene Schädel umherliegen gesehen.
Sollte es nicht möglich sein, Schillers Schädel herauszufinden?
Und so begann er von neuem seine Forschungen. Aber er musste von
nun mit Vorsicht und heimlich verfahren. Im Publikum wurden Stimmen laut, daß
man "die Ruhe der Toten störe", und hatte darüber Beschwerde erhoben.
Einer der Hauptstimmführer hierbei war der erste Geistliche der Stadt, der
Generalsuperintendent Röhr. Und doch wußte man, dass die "Aufräumung"
bevorstand, durch welche die Ruhe der Toten noch weit gründliche gestört würde.
An drei aufeinanderfolgenden Tagen des März 1826 nachts gegen 1 Uhr
begab sich mein Vater mit mehreren Arbeitern nach dem Kassengewölbe und stieg
hinab in die von Moder erfüllte Gruft auf einer Leiter, auf deren unteren
Sprossen sitzend und aus gutem Grund eifrig Tabak rauchend, er die Arbeiten
dirigierte, die in jeder Nacht bis kurz vor Tagesanbruch fortgesetzt wurden. In
abgesonderte Haufen wurden die Schädel, die Gebeine und die Sargtrümmer
verteilt. Die ganze obere Schicht des feuchtsschwarzen Erdbodens wurde
durchwühlt, sodaß nichts den Suchenden entgehen konnte. Dabei ereignete es
sich, daß einer der Arbeiter plötzlich ausrief: "Herr Hofrat! Ein
Schatz!" Von der schwarzen Erde hob sich im Laternenlicht eine silberhell
glänzende Masse von der Größe eines Thalers ab, welche die Schaufel des Mannes
bloßgelegt hatte. Es war metallisches Quecksilber, welches jedenfalls einer der
Begrabenen in seiner letzten Karnkheit (ileus oder Darmverschluß) eingenommen
hatte, ohne sich dadurch von der Fahrt in den Hades des Kassengewölbes zu retten.
Dreiundzwanzig Schädel wurden gefunden. Dreiundzwanzig Personen
waren, wie die Akten des Landschaftskollegiums erwiesen, seit der letzten, vor
zweiunddreißig Jahren stattgehabten Ausräumung des Kassengewölbes beigesetzt
worden. Also mußte sich unter den gefundenen Schädeln der Schillersche
befinden.
Die dreiundzwanzig Schädel ließ mein Vater in seine Wohnung tragen.
Hier wurden sie gereinigt und auf einem großen Tische aufgestellt. Wie der Gott
unter den Hirten, so hob sich vor seinen zweiundzwanzig Genossen durch die edle
Gestaltung und Größe ein Schädel hervor. Mein Vater zweifelte keinen
Augenblick, daß es der Schillersche sei, und ebenso bezeichneten zahlreiche
Männer, welche Schiller persönlich gekannt hatten und zur Besichtigung der
Schädel eingeladen worden waren, ohne Ausnahme einen und denselben Schädel als
den Schillers. Verschiedene andere Merkmale, namentlich das Vorhandensein
sämtlicher gesunder Zähne nur an diesem einen Schädel, ferner vergleichende
Messungen an einem, an Schillers Leiche abgenommenen Gypsabguß des ganzen
Kopfes und am Schädel selbst, ergaben mit Gewißheit, daß das gefundene Kleinod
echt war. Auf Anordnung des Großherzogs Karl August wurde im Beisein von
Schillers ältestem Sohn und von Goethes Sohn, sowie von meheren Weimarischen
Notabilitäten die kostbare Reliquie unter Begehung eines ergreifend feierlichen
Aktus in einem Behälter beigesetzt, welchen man im Postament der auf der
großherzoglichen Bibliothek befindlichen Marmorbüste Schillers angebracht
hatte. Diese Büste ist von Dannecker gefertigt und den Schillerschen Erben
geschenkt worden. Der Großherzog kaufte sie diesen für 200 Dukaten ab und ließ
sie im Bibliothekssaal an derselben Stelle aufrichten, wo sie sich noch heute
befindet.
Goethe nahm an dem allen warmen Anteil. Tief ergriffen war er, als
mein Vater ihm den aufgefundenen Schädel zeigte, den auch er seiner Form nach,
wie an gewissen Eigentümlichkeiten der Zähne, welche ihm an Schiller
aufgefallen und noch erinnerlich waren, als den echten Schillerschen rekognoszierte.
Goethe war bekanntlich ein tüchtiger Osteolog, und als solcher wußte er, daß
man aus untereinander gemengten, verschiedenen Skeletten angehörigen Knochen
die zusammengehörenden auszusondern vermag. Er ließ daher von Jena zwei
sachkundige Männer kommen, und mit Hilfe des aufgefundenen Schädels die zu
Schillers Skelett gehörenden Knochen im Kassengewölbe aussuchen. Dies gelang
fast vollständig. Die zum Schädel gehörenden Gebeine wurden zum Skelett
verbunden, und es ergab sich ein neuer Beweis für die Echtheit derselben und
des Schädels. Die Größe des Skeletts entsprach völlig der ansehnlichen
Körpergröße, welche Schiller im Leben besessen hatte, während dieselbe
nachweisbar von keinem seiner Grabgenossen auch nur annähernd erreicht worden
war. In einem anständig ausgestatteten Sarge, der auf der Bibliothek
aufgestellt wurde, verwahrte man von nun an die glücklich aufgefundenen Teile
des Knochengerüstes."
3. Aufzug: Körperwelten
Goethe,
der die Oberaufsicht über alle Anstalten für Wissenschaft und Kunst des
Herzogtums Weimar innehatte, ließ den Schädel am 24. September 1826 in sein
Haus bringen. Er bewahrte ihn auf blauem Samt unter einem Glassturz auf und hat
ihn von Zeit zu Zeit hervorgeholt, auch hat er ihn einigen Besuchern
präsentiert, u.a. im Dezember 1826 Wilhelm von Humboldt, der in einem Brief v.
29. Dezember 1826 seiner Frau mit leichtem Schaudern davon berichtete (siehe
näher mit Zitaten aus dem Brief Albrecht Schöne, Schillers Schädel, S.
39 u. Fn. 76). Mit einiger Sicherheit hat Goethe Überlegungen zu Abhängigkeiten
zwischen Schädelform und geistigem Gehalt angestellt, die sich an die damals
modische Phrenologie oder Schädelkunde des Wiener Arztes Franz Joseph Gall
anlehnten. Und ab und zu hat er den Schädel vielleicht versonnen betrachtet und
gedacht: 'Hurra, ich lebe noch!' Wohl in zeitlichem Zusammenhang mit dem
Zugriff Goethes auf Schillers Schädel - man könnte ihn fast als eine Trophäe
sehen - schuf Goethe, was man als letztes seiner großen naturphilosophischen
Altersgedichte deuten kann (so Albrecht Schöne, Schillers Schädel, S. 55
u. Fn. 126) und dann auch ein wenig der Beharrlichkeit von Carl Leberecht
zuschreiben darf:
Im
ernsten Beinhaus war's, wo ich beschaute
Wie Schädel Schädeln angeordnet paßten;
Die alte Zeit gedacht' ich, die ergraute.
Sie stehn in Reih' geklemmt' die sonst sich haßten,
Und derbe Knochen, die
sich tödlich schlugen,
Sie liegen kreuzweis, zahm allhier zu rasten.
Entrenkte Schulterblätter! was sie trugen
Fragt niemand mehr, und zierlich tät'ge Glieder,
Die Hand, der Fuß, zerstreut aus Lebensfugen.
Ihr Müden also lagt
vergebens nieder,
Nicht Ruh im Grabe ließ man euch, vertrieben
Seid ihr herauf zum lichten Tage wieder,
Und niemand kann die dürre Schale lieben,
Welch herrlich edlen Kern sie auch bewahrte.
Doch mir Adepten war
die Schrift geschrieben,
Die heil'gen Sinn nicht jedem offenbarte,
Als ich in Mitten solcher starren Menge
Unschätzbar herrlich ein Gebild gewahrte,
Daß in des Raumes Moderkält und Enge
ich frei und wärmefühlend mich erquickte,
Als ob ein Lebensquell dem Tod entspränge.
Wie mich geheimnisvoll die Form entzückte!
Die gottgedachte Spur, die sich erhalten!
Ein Blick der mich an jenes Meer entrückte
Das flutend strömt
gesteigerte Gestalten.
Geheim Gefäß! Orakelsprüche spendend,
Wie bin ich wert dich in der Hand zu halten?
Dich höchsten Schatz aus Moder fromm entwendend,
Und in die freie Luft, zu freiem Sinnen,
Zum Sonnenlicht
andächtig hin mich wendend.
Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen,
Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare?
Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen,
Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre.
(Ist fortzusetzen)
Im
August 1827 kündigte sich ein Besuch König Ludwigs von Bayern in Weimar an und
Ludwig signalisierte Interesse an einem Grabbesuch. Dies führte zur eiligen Rückführung
des Schiller-Schädels in die Bibliothek. Die dortige Aufbewahrung traf aber
offenbar auch nicht auf das Wohlgefallen des königlichen Besuches und erst dann
ergab sich eine dauerhaftere und würdigere Lösung; dazu noch einmal aus den
'Erinnerungen' von Julius Schwabe:
"Der Großherzog richtete ein Handbillet an Goethe, in welchem
es wörtlich hieß: ‚Es wird verschiedentlich über die Aufbewahrung der
Schillerschen Relikten (seines Kopfes und Skelettes) auf hiesiger Bibliothek
hin und her geurteilt, und meistens wohl mißbilligt, daß ich es für ratsam
halten möchte, selbige in dem Kasten, in welchem sie liegen, inclusive des
Hauptes, von welchem vorher noch ein Abguß zu nehmen wäre, in die Familiengruft
einstweilen setzen und aufheben zu lassen, welche ich für mein Geschlecht auf
dem hiesigen Friedhofe habe bauen lassen, bis dass Schillers Familie einmal ein
anderes darüber disponiert. So du hiermit einstimmst, so werde ich dem
Hofmarschallamte die Anweisung geben, Schillers Überbleibsel unter seinen Beschluß
bei meinen Ahnen zu nehmen. Karl August.’
Und so geschah es, Schillers "Relikten" wurden am 16.
Dezember 1827 feierlich nach der Fürstengruft übergeführt, wo seit dem 26. März
1831 nun auch Goethe neben dem Freunde ruht. Dies ehrt zwar die beiden Dichter,
wie das erlauchte Fürstengeschlecht, welches ihnen in seiner eigenen letzten
Wohnung einen Platz gewährt hat. Aber schön wäre es doch gewesen, wenn das
gemeinsame, stets zugängliche Grabmal auf der von allen Seiten sichtbaren Höhe
des Friedhofes zu Stande gekommen wäre und aller Augen die Stätte gezeigt
hätte, wo die beiden größten Dichter unseres Vaterlandes, wie im Leben so im
Tode, vereint gewesen wären."
Anm.:
das gemeinsame Denkmal auf der Anhöhe war die von Carl Leberecht Schwabe
favorisierte Lösung.
Epilog
Das
Kassengewölbe war 1854 ohne Ausräumung dem Erdboden gleich gemacht worden; der
heutige Bau ist eine Rekonstruktion aus dem Jahre 1913. Im August 1911 hatte
der Tübinger Anatom August v. Froriep, der an der Schwabe'schen Auswahl des
Schädels zweifelte, die Erlaubnis zu einer neuerlichen Untersuchung und Grabung
bekommen. Er präsentierte als Ergebnis einen anderen Schädel (August v.
Froriep; Der Schädel Friedrich von Schillers und des Dichters Begräbnisstätte).
Ein anderer Wissenschaftler ordnet diesen Schädel wiederum der im Kassengewölbe
ebenfalls bestatteten Weimarischen Hofdame von Göchhausen zu. Trotz aller
Bedenken ist aber auch der von Froriep bezeichnete Schädel mit den diesem
Schädel zugeordneten Knochen in einem neuen Sarg am 9. März 1914 in der
Fürstengruft beigesetzt worden.
Goethe
hatte an Schillers schlichter Beerdigung und Totenfeier nicht teilgenommen Dies
mag einer Unpässlichkeit, aber auch seiner notorischen Angst vor dem Tod
geschuldet gewesen sein; auch bei der Beerdigung seiner Frau soll er gefehlt
haben. Für sich selbst hatte er einen Zinksarg bestimmt, der die sterblichen
Überreste über eine möglichst lange Zeit erhalten kann - in gewisser Weise der
Mumienkonservierung ähnelnd, dabei auskommend ohne die intensiven Eingriffe in
den Leichnam. Und Goethe wurde ein fürstliches Begräbnis zuteil im Vergleich zu
der eher kargen Anteilnahme am Tode Schillers. Aber auch Goethe war der Tanz
der toten Dichter beschieden: Nach 100 Jahren mäßiger Totenruhe gab's erste
intensive Bewegung zum Ende des zweiten Weltkrieges, als deutsches Kulturgut -
darunter die Särge der zwei Dichterfürsten - vor dem Zugriff des mutmaßlich
barbarischen Feindes gesichert werden sollten und in luftschutzgemäße Stollen
ausgelagert wurden. Als es dann wirklich zu Ende ging, wollte die deutsche
Führung scheint's so viel wie möglich nach Walhalla mitführen und befahl die
Zerstörung unter anderem der gesicherten genialen Gebeine (siehe näher Albrecht
Schöne, Schillers Schädel, S. 30) Ein mitfühlender Zeitgenosse, der das
Ende der Geschichte und der deutschen Kultur doch noch nicht gekommen sah, hat
es hintertrieben und so konnten die Reliquien wieder nach Weimar zurück
transportiert werden. Ob nun durch die Auslagerung oder den verlässlichen Zahn
der Zeit - Goethes Sarg hatte Schaden genommen und rief die Zuwendung
preussisch sorgfältiger Konservatoren in der damals noch
eigensinnig-eigenständigen östlichen Landeshälfte wach. Der bereits defekte
Zinksarg wurde ganz geöffnet und die Knochen wurden von den noch vorhandenen
Gewebeteilen und Sargbeigaben wie Textilien und einem Lorbeerkranz gereinigt
und frisch gewaschen wieder in einen Sarg gegeben. 'Mazeration' heißt diese
Prozedur fachtechnisch und das Ganze ist in einer gerichtsmedizinischen Akte
penibel festgehalten. Nach Ende der Ost-Republik wurde die Mazerationsakte
ausgegraben und entfachte einen Sturm der Entrüstung über den 'respektlosen'
Umgang mit Goethen. Die FAZ griff auf, wie der Sarg auf einer Schubkarre zur
Gerichtsmedizin geschleift wurde (Thomas Steinfeld 'Sonderakte Goethe.
Eine Trophäe für den Sozialismus: Wie die DDR die Überreste Johann Wolfgang von
Goethes unsterblich mache wollte.' FAZ v. 18.3.1999, S. 49, 51) und im
Fernsehen gab es gar Bilder aus der Mazerationsakte selbst zu bestaunen: einen
schaurig grinsenden Goethe, noch mit dem verrotteten Kranz am Kopf, kurz nach
der Öffnung seines Sarges. Einen plastischen Eindruck von der Mazerationsakte
vermittelt Albrecht Schöne in 'Schillers Schädel, 2002, S.90 f, Fn. 74.
Wer
nach Weimar kommt, kann nun in der Gruft der Dichterfürsten arg bewegte Gebeine
besuchen und sich fragen, wem dies alles dient und welche Kultur dies ausweist.
Vielleicht lacht Schiller als letzter. Im Schiller-Sarg liegen zwei Skelette -
Reliquienvermehrung, wie sie auch aus der Kirchengeschichte notorisch ist. Der
Expertenstreit dauert an, neuere morphologische Untersuchungen scheinen dem
Bürgermeister Carl Leberecht Schwabe wieder etwas mehr Recht zu geben. Mit den
heutigen gen-diagnostischen Verfahren könnte der alte Streit vielleicht sogar
beigelegt werden. Die Stiftung Weimaraner Klassik ist hinsichtlich weiterer
Untersuchungen aber zurückhaltend - und tut sicher gut daran: Keineswegs
gesichert ist, dass einer der beiden Schiller-Schädel tatsächlich zu Schiller
gehört(e). Vielleicht hat Schiller in den letzten 200 Jahren viel ruhiger und
würdiger gelegen, als die meisten und insbesondere sein Freund und Konkurrent
Goethe meinten.
Eine
kleine Ergänzung: Inzwischen ist nun doch eine naturwissenschaftliche
Untersuchung auf die Schiene gesetzt, und sie könnte letzte Klarheit bringen.
Die Universität Jena vergleicht die DNA der wetteifernden Schiller-Reliquien
mit DNA aus der Schiller-Familie, die in der Echtheit verbürgt werden kann. Es
ist dies das Projekt „Der Schiller-Code“ (http://www.mdr.de/thueringen/3556288-hintergrund-3556316.html).
Ergebnisse sind allerdings –
Stand 15.6.2007 – noch nicht greifbar. Eine wirklich harte Nuss, dieser
Schiller! Vielleicht hat er sich nochmals hinweg eskamotiert.
Nachtrag
2008: Am Samstag, 3.5.2008 wird der MDR um 22:00 Uhr über das Vorhaben „Der Schiller-Code“ und vielleicht auch
über Resultate berichten. Dabei wird es auch um die näheren Umstände des Todes
Schillers gehen. Denn die eigentliche Ursache des katastrophalen Befundes der
Leichenschau – niemand konnte nachvollziehen, wie Schiller mit derart massiv
angegriffenen Organen so lange hatte leben und schaffen können – hat Anlass für
viele böse Legenden gegeben. Eine lautete auf Vergiftung durch den
eifersüchtigen zweiten Dichterfürsten, nämlich Goethe. Diese Theorie hatte
besondere Konjunktur während der Zeit des Nationalsozialismus, als man
versuchte, Schiller als nationalen Helden für die ultrarechte Seite zu instrumentalisieren.
Dahingerafft worden sei er durch den feigen Anschlag Goethes, dem man als einem
Freimaurer alles Schlechte zuschieben wollte. Also: Man darf hochgespannt sein.
P.S.
am 3.5.2008: Schiller ist frei
Nach den Ergebnissen des gemeinsamen Projekts des MDR und der Stiftung Weimarer Klassik, dokumentiert in der MDR-Sendung „Der Friedrich-Schiller-Code“ am 3.5.2008 ergibt sich folgendes Bild: Nun hat die liebe Seele Ruh’, Schiller ist frei, Friedereich hat Frieden und das wohl schon geraume Zeit. Er lacht zuletzt, wo immer er nun sein mag. Einige Details:
·
Der
von Carl Leberecht Schwabe i.J. 1826 aufgesuchte Schädel (im Rahmen der
Untersuchung: FS-Schädel, teils auch: Fürstengruftschädel) gehört nach übereinstimmenden und
verlässlichen gentechnologischer Untersuchungen eines österreichischen und
eines US-amerikanischen Forschungsinstituts einem Unbekannten, niemandem, der mit Schillers
Schwestern oder seinen Söhnen verwandt sein kann.
·
An
diesem Schädel wurde vor langer Zeit (post mortem, aber vor dem für Goethes Sammlung gefertigten Gipsabguss) manipuliert: Das Gebiss wurde durch
kunstvoll nachträglich eingefügte Zähne komplettiert, wie es der Anatom Herbert
Ullrich bereits bei einer Untersuchung i.J. 1959 entdeckt hatte.
·
Die
Skelettteile im ersten Schillersarg
in der Fürstengruft stammen von mindestens drei
Individuen, nichts davon ist Schiller zuzurechnen.
·
Ebenso
ist ein altes Literaten-Gerücht – mehr aus der Abteilung Klatsch und Tratsch –
nun passé: Eine Verwandtschaft Schillers zu Karl Eugen, Herzog von Württemberg und der Überlieferung Vater
von ca. 200 nicht ehelichen Kinder, darunter mehr als 70 Schülern der
Karlsschule, kann ausgeschlossen
werden. Dies war der von Schiller hassgeliebte Landesherr und Gründer eben der
Pflanzschule, aus der Schiller geflohen war. Das Genom von Friedrich Schiller
konnte weitgehend durch Verwandtschaftsanalyse, also mittelbar bestimmt
werden. Es steht damit für etwaige spätere Untersuchungen zur Verfügung.
·
Der
"falsche" FS-Schädel gleicht allerdings der Totenmaske Schillers so
sehr, dass die für die Weichteil-Rekonstruktion verantwortliche Forscherin von
einem Doppelgänger spricht. Es kommt auch mit höchster
Wahrscheinlichkeit kein anderer im Kassengewölbe in der fraglichen Zeit
Bestatteter in Betracht, auch nicht der von Froriep bezeichnete weimarische
Bürgermeister Paulsen.
·
Der
von Froriep Anfang des 20. Jahrhunderts präsentierte Schädel (im Rahmen der
Untersuchung: RZ-Schädel) ist tatsächlich der
Hofdame von Göchhausen
zuzuordnen, nicht aber der von
einer anderen Frau stammende Unterkiefer des
RZ-Schädels. Froriep sind offenbar grobe Fehler unterlaufen.
·
Der
RZ-Schädel (Hofdame von Göchhausen) war nach den Untersuchungen in den
Sechziger Jahren wohl durch späteren Vandalismus in einen Sarkophag der
Weimarer Fürstenfamilie geraten. Dafür war der Schädel des Herzogs Ernst August des Ersten in den zweiten Schillersarg
gewandert. Dies konnte im Zuge der Untersuchung richtig gestellt werden.
·
Nach
massenspektrometrischer Analyse eines Haarbüschels, das Schiller zugeschrieben
wird, und eines originalen giftgrünen (sic!) Tapetenstücks aus seinem Arbeits-,
Schlaf- und Sterbezimmers könnte eine Schwermetallvergiftung (massiv Blei, Arsen, Kupfer,
daneben Quecksilber, Cadmium und Chrom; insgesamt ca. 20 kg Schwermetalle in der Gesamttapete verarbeitet!)
an der Beschleunigung seiner Krankheit mitgewirkt haben. Damit sind Goethe und
alle anderen zwischenzeitlich der Giftmischerei Verdächtigen nunmehr
freigesprochen. Primäre Todesursache bleibt mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit eine lange währende, verschleppte Tbc-Erkrankung.
Das ist eine beachtliche Menge an neuen Erkenntnissen. Unter allem aber: Der Schiller-Sarg muss nun ausgeräumt werden. Schiller ist erfolgreich durch die Hände einer großen Zahl von Phrenologen, Osteologen, Dentologen, Anatomen, Geneaologen und Molekularbiologen aus fast zwei Jahrhunderten geschlüpft (siehe aber gleich unten unter P.P.S. zu einer in der Fernseh-Doku absichtsvoll ausgeblendeten neuen Grabräubertheorie).
Sein Werk ist das, was (uns) bleibt, nicht sein Körper. Und die heute so oft mitleidig belächelten Geisteswissenschaften sind wohl eher geeignet, den Seelenfrieden der Menschen zu fördern als die exakten, die Naturwissenschaften.
P.P.S.
am 5.5.2008: Vielleicht ist Schiller nicht ganz so frei
Vielleicht ist Schiller doch nicht so frei. Sondern ruht erkannt oder unerkannt in irgendeinem privaten Kabinett oder Nachlass. In der Pressekonferenz von MDR und der Klassik Stiftung Weimar am 5.5.2008 in Weimar schälte sich eine ganz neue Theorie heraus, nicht weniger bizarr als alles Vorherige.
Aber der Reihe nach: Bestätigt wird zunächst. Der „Fürstengruft-Schädel“ (FS-Schädel) kann niemandem zugeordnet werden, der mit eindeutig identifizierten Verwandten Schillers verwandt wäre. Kurz: er ist falsch. Sein Träger hatte auch keinerlei Beziehungen zu Carl Eugen von Württemberg, Landesvater der Schillers. Ebenso kann dies für die bezeugten Nachkommen Schillers ausgeschlossen werden, dann auch für den wahren – unentdeckten – Schiller selbst. Bemerkenswert bleibt die völlig außergewöhnliche Ähnlichkeit des FS-Schädels mit der Totenmaske des Friedrich Schiller. Anm.: Allerdings hatten Abweichungen zwischen beidem 1883 den zunächst dem Schädel gegenüber sehr aufgeschlossenen Anatomen Herrmann Welcker dazu geführt, an der Auswahl Schwabes i.J. 1826 zu zweifeln[3]. Dies hatte u.a. zu der erneuten Durchsuchung der Gebeine im Jahre 1905 durch August Froriep, Professor der Anatomie in Tübingen geführt, als deren Ergebnis ein neuer Schädel präsentiert wurde[4]. Dieser Schädel ist nach den Projektergebnissen nun eindeutig der Hofdame Louise von Göchhausen zuzuordnen, i.J. 1807 ebenfalls im Kassengewölbe beigesetzt.
Das Projekt wurde im Wesentlichen vom MDR finanziert; die gentechnologischen Untersuchungen (weitere Angaben wurden nicht gemacht, weitere Kosten sind aber wahrscheinlich, etwa für die Exhumierungen und sonstige Nachforschungen) sollen 110.000 € gekostet haben.
Auf der Aktiv-Seite der Beteiligten sieht man eine innovative Kooperation von Forschung und Medien (die Schiller vielleicht sogar Respekt abgerungen hätte, denn eine auf Medien ausgerichtete Selbstinszenierung und -vermarktung war ihm nicht fremd). Bei den Gentechnologen, bei den Anthropologen und bei den Genealogen dürfte auch einiger windfall profit in Form von Informationsmustern und -sequenzen hängen geblieben sein, die ohne den Projektkontext nicht zugänglich geworden wären. Z.B. war das molekularbiologische Referenz-Institut in den USA hoch beglückt über neue Kontexte der Romanov-Sequenz. Hier hatte es sich bereits Meriten verdient und konnte dies nun weiter ausbauen.
Und nun die neue Theorie zu Schillers Schädel:
Wenn tatsächlich eine
frappierende morphologische Ähnlichkeit zwischen dem FS-Schädel und dem wahren
Schiller bestehe, beide gleichwohl nach eindeutigem gentechnologischem Ergebnis
nicht zusammen gehören, dann könne es sich mit einiger Wahrscheinlichkeit um
eine professionelle Fälschung handeln, vorgenommen irgendwann zwischen dem
Begräbnis i.J. 1805 und der Wiederaufsuchung i.J. 1826. Dies hält immerhin der
am Projekt beteiligte Genealoge Jahn für möglich. Anm.: Die Stiftung will dies ausdrücklich nicht weiter
verfolgen; mit der Feststellung der Illegitimität des FS-Schädels sei ihr
Erkenntnisinteresse erloschen. Anm. 2: Die Süddeutsche hat am 5.5. die
Reliquienräuber-Theorie schon mit reportiert, ebenso am gleichen Tage der
Spiegel[5].
Das nötige Fachwissen und auch die mögliche Motivation sieht Jahn bei dem Obermedizinalrat Ludwig Friedrich von Froriep, übrigens Großvater des späteren Anatomen und Schiller-Archäologen August von Froriep. Froriep der Ältere hatte auch einer kleinen Sachverständigenkommission angehört, zusammengesetzt aus Froriep, dem Hofrat und Leibarzt Dr. Huschke (gleichzeitig Autor des Berichts v. 19.5.1805 über die letzten Tage Schillers und das Autopsie-Ergebnis) und dem Bruder Carl Leberechts, dem Hofrat und Leibarzt Dr. Schwabe. Froriep der Ältere soll selbst ein begeisterter Anhänger der Gall’schen Schädellehre gewesen sein, bereits eine bedeutende Sammlung originaler wie abgegossener Schädel besessen haben, deren heutiger Verbleib leider im Dunklen liegt. Und er soll wesentlichen Einfluss auf das Urteil des ihm ebenfalls eng vertrauten Goethe – wie er damals Phrenologe – genommen haben, als dieser 1826 Schillers Schädel als authentisch bewertet habe. Auch habe Goethe einen Gipsabguss des FS-Schädels besessen, und zwar bereits mit den im Projekt „Schiller-Code“ entdeckten manipulierten Zähnen; es sei eher unwahrscheinlich, dass diese Fälschung dem Herrn von Froriep entgangen wäre. Froriep soll übrigens ebenfalls am Leichenzug des 11./12.5.1805 teilgenommen haben, aber nicht in der ersten Reihe[6].
Das ist kein ganz unschlüssiger Ablauf: Unter dem Einfluss der zu dieser Zeit hochmodischen Phrenologie wurden in den feinen Salons Schädel herumgereicht und erschaudernd betastet. Prominentenschädel wurden geradezu gejagt, waren aber nachvollziehbarerweise auf legalen Wegen kaum zu beschaffen. Schiller wäre eine herausragende Ergänzung der Froriep'schen Schädel-Kollektion gewesen, um den Zusammenhang von Form und Geist zu beweisen. Ein ähnlicher Geschehensaluf wie hier vorgeschlagen ist übrigens auch von der Leiche Haydns bekannt; hier wurde die plumpe Fälschung allerdings rasch entdeckt und der richtige Schädel konnte dem kopflosen Rumpf wieder zugeordnet werden.
Ich möchte hoffen, dass es hier nicht so steht, dass vielmehr Schiller unerkannt und in Frieden ruht. Und dass die neue Theorie eher der Tunnelsituation zu verdanken ist, die in manchen Forschungsprojekten entsteht, wenn nach immer neuen Erklärungsversuchen ein „non liquet“ entsteht, ein paradoxes Muster aus nicht zusammensetzbaren Puzzleteilen.
Gefragt wurde ich auf der Pressekonferenz v. 5.5.2008, ob ich als Nachfahre nun enttäuscht sei. Schließlich sei doch der von Carl Leberecht identifizierte Schädel jetzt nach allen Regeln moderner Wissenschaften als falsch erkannt worden. Nein, habe ich geantwortet. Zwar seien die Bemühungen von Carl Leberecht eine Art Gründungsmythos unserer Familie, von Generation zu Generation mit allen notwendigen Zutaten weitergereicht: Moder, Intrige, Mord vielleicht sogar; dazu ein wackerer Vorfahr, der mit der Sturmlaterne die finstersten Ecken ausleuchtet, dann noch ein freiheitsliebender und etwas tragisch endender Held wie Schiller, im Kontrast zu seinem länger etablierten, besser an den Fürstenhof angepassten und notorisch eitlen Kollegen-Konkurrenten Goethe. Aber zumindest die beiden jüngsten Generationen der Schwabe-Nachkommen seien sich weitgehend einig: Schwabes erster Dienst an Schiller – das Sarggeleit – war ein Freundschaftsdienst, der zweite aber – das Durchpflügen des Kammergewölbes – war ein Bärendienst, für Schiller und andere. Wenn sich nun das Objekt der jahrhundertelangen allseitigen Begierde – der Schädel aus der Fürstengruft – als falsch erweist, dann hat Schiller in den letzten 100 Jahren erheblich bequemer geruht, als zu befürchten stand.
Aus gleichem Grunde bin ich nicht sicher, ob die hoch invasiven Aktivitäten im Rahmen des Projektes – mit dem Sägen und Bohren von Knochen und Zähnen, mit dem Umgraben von mehreren Gräbern, dem anschließenden Wiedereinsegnen und Rekultivieren – mit unserer gewollten Tradition, mit unserer christlichen Leitkultur übereinstimmen und ob sie in einer einfühlsamen Abwägung tatsächlich das sichtbar gewordene Erkenntnisinteresse rechtfertigen. Vielfach folgt der Verlauf von Forschung eben der eigentümlichen Physik exekutiver Projekte: Einmal auf die Schienen gesetzt, ist sie zum Erfolg verdammt und für sie gilt auch Paul Watzlawicks Beobachtung der Flucht nach vorn, der Flucht in das „Mehr vom Gleichen“, wenn sich der Erfolg nicht wie kalkuliert einstellt[7]. Ich halte dies schon für ein Problem von Carl Leberecht Schwabes Grabungsprojekt des Jahres 1826: Er hatte es zuversichtlich und recht offen am helllichten Tage begonnen, sah sich aber unter wachsender Opposition aus der Geistlichkeit und der Kommune, auch von Angehörigen der dort Bestatteten, rasch gezwungen, das im Wortsinn unterminierende Vorhaben ohne großes Aufsehen zu unbelebten Zeiten weiter zu treiben, dabei unter bewusster Ausnutzung seiner Amtsstellung[8]. Im Grunde konnte er am Ende die Mittel nur durch einen durchschlagenden Zweck und Erfolg rechtfertigen, nämlich durch das Präsentieren eines allseits akzeptablen Schädels. So ist es zu seiner Erleichterung auch gekommen – dies aber nach unserem heutigen Kenntnisstand entweder durch enormes Glück oder durch die Manipulation Dritter. Seine eigene Mitwirkung möchte ich nicht unterstellen.
Was bringt der Stiftung die neue Wahrheit, das frisch gewagte Wissen? Dass es nämlich keinen Schiller-Schädel und – zumindest hier – keine Schiller-Knochen mehr gibt. Die Stiftung hatte vorher zu viele Reliquien – bei Heiligen nicht ganz unüblich. Nun hat sie eindeutig zu wenige. Und will den künftig leeren Sarg als Kenotaph gewürdigt wissen, als eine Art Statthalter.
Kenotaphium, d.i. leeres Grabmahl, nannten schon die Griechen und Römer ein solches Grabmal, das an jedem beliebigen Orte aus Pietät zu Ehren eines Verstorbenen errichtet wurde, dessen Leichnam entweder nicht aufgefunden werden konnte oder in einem von der Heimat fernen Lande begraben lag. Später bezeichnete man damit auch die Grabstätte, die Jemand noch bei Lebzeiten für sich und die Seinigen erbauen ließ[9].
Ganz ehrlich und befriedigend ist das nicht. Schiller hat im Kassengewölbe eine eigene, übrigens auch seinem Stande entsprechende Beerdigung erfahren. Am besten noch wäre daher ein schlichter Hinweis am rekonstruierten Kassengewölbe. Darunter liegen doch höchstwahrscheinlich auch noch – kopflos, wie einst bei Haydn – die Gebeine, die zu Schiller gehörten. Schiller ist nie in der Fürstengruft gewesen, höchstens eine Vorstellung von ihm, die Hunderttausende nach Hause getragen haben. Und das Umwidmen zu einem Kenotaph, nachdem man den Irrtum erkannt hat, hat viel von Apologetik und nicht vollzogenem Loslassen. Konsequenterweise muss nicht nur der bisher verschämt im Hintergrund abgestellte Schillersarg II weichen, in dem wohl zeitweise ein compositum mixtum aus Fürst, Hofdame und weiteren Individuen lag, sondern auch der nun ganz inhaltslose Schillersarg I.
Wir sollten jedes körperliche Besitzenwollen oder Besitzenscheinen großer Geister ablegen, auch wenn es scheinbar zu unserem Geschäft oder unserer Identität gehört. Schiller wäre nach meiner festen Überzeugung das Bekenntnis zu seinen ästhetischen Überzeugungen wichtiger als jede Haptik und jede private oder öffentliche Aneignung von körperlichen Resten seiner selbst. Oder als ein ganz und gar unästhetischer stellvertretender Hohlraum, leerer noch als ein Schädel.
Ansonsten
sollten die Akten nun in der Tat geschlossen und weggelegt werden. Eines aber
ist vorher noch zu tun: Geändert werden muss auch
die oben abgebildete Tafel am Grabe Carl Leberecht Schwabes, die noch die
Gewissheit um die Authentizität des von ihm präsentierten Schiller-Schädels
ausdrückt - und eben den fatalen Bärendienst an dem von ihm bewunderten Bürger-Dichter.
Sie
könnte dann etwa so aussehen:
Dr. jur. Karl Ulrich Voss, Kuckenberg 34,
51399 Burscheid
[1] J. Schwabe, Erinnerungen eines alten Weimaraners an die Goethezeit, Frankfurt, nach 1850, ders., Schillers Beerdigung, 1852, Neudruck 1932
[2] Albrecht Schöne, Schillers Schädel, 2. Aufl. München 2002
[3] Hermann Welcker, Schillers Schädel und Totenmaske nebst Mitteilungen über Schädel und Totenmaske Kants
[4] August von Froriep, Der Schädel Friedrich von Schillers und des Dichters Begräbnisstätte
[5]Burkard Müller, "Großer Geist, leerer Sarg" ,Süddeutsche 5.5.2008, S. 11; Malte Herwig, „Die vertauschten Köpfe“, SPIEGEL 19/2008 v. 5.5.2008, S. 164 (168f)
[6] Zitat aus dem Schiller-Album v. 1837, zitiert nach Julius Schwabe, Schillers Beerdigung, 1852, S. 27, zweite Fn.: „Im Jahre 1805 befand ich mich, damals Professor in Halle, gerade in Weimar zu Besuch, als Schiller unvermutet starb, und als die Hülle des großen Geistes (sic!) in der hellen Mitternachtsstunde vom 11. auf den 12. Mai von einigen jungen Gelehrten, unter denen Stephan Schütz und Heinrich Voß, Künstler und Staatsdienern getragen, beigesetzt wurde, waren – ich begreife noch nicht, wie das so kommen konnte – ich und ein mir Unbekannter, der, wie ich nachher hörte, Schillers Schwager, Herr von Wollzogen war, die einzigen, welche dem Sarge folgten.“
[7] Paul Watzlawick, Anleitung zum Unglücklichsein
[8] Julius Schwabe, Schillers Begräbnis, S. 50-55
[9] Allgemeine deutsche Realencyclopädie für die gebildeten Stände – Conversations-Lexikon – , 10. Auflage, Bd. 8, F. A. Brockhaus, Leipzig 1853