Auf der Burg

 

 

Von außen sah sie immer ein wenig fremd aus, ja fast schroff und abweisend.

Aber du spürst es gleich, wenn du durch die sieben Vorburgen und dann durch das Burgtor gekommen bist: In der Burg ist alles etwas wärmer – geschützter natürlich – und trotz der Enge sogar überschaubarer.

Stehst du an der Mauerkrone oder gar ganz oben auf dem Bergfried, so hast du eine breite und sehr weite Sicht. Die vielen Menschen außerhalb der Burg, deren Gesichter von hier natürlich nicht mehr zu unterscheiden sind, kennen diesen Eindruck nicht, dieses Gefühl, das erhebt und unser Bewusstsein erweitert.

Jede Burg hat ihre eigene Tradition und Geschichte, ihre Anekdoten und Mythen, manche meinen sogar: ihren eigenen Burg-Geist. Jeder kennt die Tradition genau, wenn er einige Zeit auf der Burg gelebt hat. Häufig kommen viele von uns ganz unabhängig voneinander auf die gleichen Ideen und Lösungen. Diese tiefe Gemeinsamkeit ist sehr hilfreich, wenn du Ereignisse innerhalb und außerhalb der Burg richtig einordnen willst. Vieles wird viel klarer, wenn du dir vergegenwärtigst, was früher geschehen ist und was daraus zu lernen war und bleibt. Denn das Meiste kehrt - vielleicht anders eingekleidet - immer wieder und die wichtigsten Gedanken wurden natürlich schon mindestens einmal gedacht.

Du bemerkst auch, dass es der Welt draußen zuallermeist an einem fehlt: an Konsequenz. Wer aber seine Ziele beharrlich zu Ende führt, wer auch noch einmal die Sporen gibt, wenn sich scheinbar unüberwindliche Hindernisse auftürmen, der kann den Sieg erringen. Es ist leichter, als die meisten draußen denken. Natürlich: Die Verzagtheit und Zukunftsangst dieser Menschen ist leicht zu erklären. Jeder dort muss sich allein durchs Leben kämpfen.

Auf der Burg dagegen können wir uns die Arbeit gut teilen und wir unterhalten Verbindungen zu vielen mächtigen Männern in fernen Ländern. Bauen können wir auch auf die engen Beziehungen zu alten Bünden, zu großen Magiern, Lehrern und Alchimisten. Diese machen jeden Tag neue Entdeckungen, von denen die Menschen draußen kaum zu träumen wagen. Zu unseren Freunden und Unterstützern zählen wir nicht zuletzt die Herren der großen Werkstätten, die selbst in prachtvollen befestigten Wohnsitzen leben und unübersehbar vielen Menschen Arbeit und Brot geben.

Wir lernen sehr viel durch diese Verbindungen.

Unser Burgherr ist ein kraftvoller Mann. Viele Herolde preisen seine Weisheit. Ich denke, er kennt einen jeden von uns von Kind auf. Wir feiern viele Feste auf der Burg. Wenn dann der Burgherr oder einer seiner Ritter dich ansehen oder sogar ansprechen, dann läuft dir schon einmal ein Schauer über den Rücken. Das gibt dir Kraft für das gemeinsame Werk und du vergisst alle kleinen Sorgen und Zweifel. Auf dem Weg zum Rittersaal passierst du die Ahnengalerie: Männer allesamt, die den Ruhm und Einfluss der Burg ständig gemehrt haben, und so stattlich, dass viele selbst im reifen Alter die jungen Damen zu beeindrucken wussten.

Turniere und Wettkämpfe mit den Bewohnern anderer Burgen gibt es häufiger, mal größere, mal kleinere. Ein besonderes Kräftemessen ist alle vier Jahre angesetzt. Dann siehst du auch die Menschen außerhalb der Burg wieder häufiger. Wir sprechen zu ihnen und erfahren, wie es ihnen inzwischen ergangen ist. Meist klagen sie über kleinere Sorgen ihres Alltags.

Auf den Turnieren wird hart, aber fair gerungen. Ich muss sagen, dass ich die Bewohner anderer Burgen im Grunde sehr schätze. Sie sind uns ja ebenbürtig und auch vielfach ähnlich. Ähnlicher jedenfalls als die Menschen draußen, mögen die Traditionen der anderen Burgen von den unseren auch teilweise abweichen. Aber das ist ja nur natürlich, nicht wahr? Und eigentlich kommt es mehr darauf an, dass man überhaupt eine Tradition vorzuweisen hat.

Alle legen sich bei den Turnieren mächtig ins Zeug. Denn nach dem Ausgang des Turniers vergibt unser gemeinsamer Herrscher für die folgenden Jahre die Lehen und Pfründe aufs Neue. Unser gemeinsamer Herrscher heißt Sou Ferrehn oder ähnlich. Soweit ich weiß, hat ihn hier noch niemand von Gestalt zu sehen bekommen.

Wer einmal auf der Burg gelebt hat, möchte meist dort auch bleiben. Alles was er dort erreicht und erworben hat, bleibt anerkannt, ein Leben lang. Und auch für den Lebensabend ist meist gut gesorgt. Der eine oder andere geht zwar schon einmal im Streit. Aber wie sollte das bei so vielen auch anders sein? Meistens sucht er sich dann eine andere Burg oder – auch das kommt vor – gründet eine neue.

Unseren Lebensunterhalt verdienen sich die meisten hier mit ihrer Hände Arbeit und tragen dabei sogar noch zum Erhalt der Burg bei. Aber auch die Menschen draußen und vor allem die Männer in den befestigten Sitzen und aus den alten Bünden schicken uns manch eine Geldtruhe.

 

In allerjüngster Zeit zeigt sich ein ganz unerwarteter, nie gekannter Wandel. Er kündigte sich zunächst schleichend an: Mehrere unserer Türmer hatten übereinstimmend rapportiert, die Burgen würden ständig wachsen – die benachbarten wie auch unsere eigene. Schon wollten wir diese Beobachtung dem Burgherrn als Beweis für unsere rasch wachsende Wichtigkeit präsentieren. Dann aber meldeten sich ungefragt die Burg-Astronomen zu Wort: Die absoluten Maße der Burgen seien völlig gleich geblieben, vielleicht sogar zurückgegangen; nur schrumpfe der Abstand zwischen den Burgen und sogar der ganze Erdball rasend schnell. Das erkläre auch, dass die entfernteren Burgen – eben infolge des abnehmenden Radius der Erdkugel – nun viel schiefer aussehen als gewohnt. Auch darüber hatten wir anfangs frohlockt.

Gleichzeitig laufen Tag für Tag mehr Boten auf der Burg ein. Es sind bereits so viele, dass wir selbst diejenigen Botschaften nicht mehr auf der Heimatseite unserer Burg aushängen können, die wir selbst für wichtig halten. Abgesehen davon, dass viele neue Straßen inzwischen um die Burg herum und an der Burg vorbei gebaut werden und viele neue Boten die neuen Straßen vorziehen. Zum ersten Mal seit tausend Jahren mehren sich in der Burg Stimmen, wonach die Lösungen der dringendsten Probleme nicht mehr innerhalb der Burg gesucht werden dürfen: Die behagliche Enge der Burg habe gar den Wandel und die Anpassung behindert; dies wäre Teil des von uns selbst so oft beschworenen Staus ungelöster Probleme und mehr vom Gleichen führe nur immer tiefer in die Irre.

Plötzlich herrscht großer Lärm in der Burg. Ich muss die Aufzeichnung hier abbrechen. Das vorletzte Bild der Ahnengalerie – so wird gerade gerufen – sei mit einem großen "Z" zerschnitten worden und im Rittersaal, der in letzter Zeit sehr zugig ist, flatterten lauter Geldscheine durch die Luft, die niemandem zu gehören scheinen. Das zerfetzte Bild hatte einen der größten Burgherrn gezeigt. Denjenigen, der just beim letzten großen Turnier trotz heroischen Kampfes von einem kleinen, sagenhaft siegreichen Ritter bezwungen worden war. Der kleine Ritter hatte schon vor langer Zeit einmal an den Gittern des Stadtschlosses des großen Burgherrn gerüttelt, sagt er. Das Verblüffendste freilich ist: Der sagenhaft siegreiche kleine Ritter spricht heute eine Sprache, die dem alten Burgherrn bisweilen wie aus dem Gesicht geschnitten erscheint.

Man kennt sich halt nicht mehr aus.

Chronist 

 

Das Bild zeigt die Burg Hochosterwitz in Kärnten. Sie ist im Jahre 860 erstmals urkundlich erwähnt und hat - noch hinausgehend über den Text - sogar 14 Torburgen.