TWIN ZERO

 

Die Terroranschläge vom September 2001 hinterlassen ein Beben, das nicht endet, und eine Spannung, die sich ständig erneut entladen kann. Was ist passiert und was können wir tun? Ich meine: Was tun hinausgehend über das Versichern uneingeschränkter Solidarität?

Warum die Überschrift 'TWIN ZERO'? Die Anschläge auf World Trade Center und Pentagon richteten sich offenbar bewusst gegen Symbole von wirtschaftlicher und militärischer Macht. Auch die weitere Betrachtung folgte mächtigen Symbolen. So liegt 'ground zero' begrifflich nahe bei dem Punkt maximaler Zerstörung senkrecht unter den Explosionskoordinaten einer Atombombe und damit gedanklich nicht weit vom Hiroshima-Memorial. Ich sehe den zerstörten Zwilling als Menetekel für die zwei großen monotheistischen Religionen - Christentum und Islam - die nach ihrem etwa gleich großen Gewicht nur gemeinsam leben oder gegeneinander fallen können. Das eine Szenario setzt Gemeinsamkeit und beiderseitiges Lernen voraus, das andere Konfrontation, Töten und Zerstörung.

Ich möchte auch vorausschicken: Ich kann das Trauma der amerikanischen Bevölkerung nachvollziehen und möchte mich über nachfolgende - auch aggressive - Verhaltensweisen nicht erheben. Allerdings halte ich für schlüssig, dass in den angst- und hasserfüllten Reaktionen auch kollektive Erinnerungen an Grausamkeiten aus der Zeit der europäischen Besiedlung des amerikanischen Kontinents mitschwingen, an eine tödliche Auseinandersetzung mit einer Gruppe, deren Kultur auch damals weitgehend unverstanden blieb. Derartige Feindbilder liegen nahe bei der Schwarz-Weiß-Ethik des Alten Testaments. Sie können heute von politischen Führern aufgegriffen und missbraucht werden. Bushs wiederholte Anleihen an das Religiöse, an den gerechten und frommen Krieg, möchte ich dort einordnen.

Ich versuche eine bisherige Bilanz des Kampfes gegen den Terrorismus, und diese muss immer ein Zwischenergebnis bleiben: Terrorismus ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit und wird mit ihr zugrunde gehen; schon Xenophon (430 - 349 v.Chr.) berichtete über die Effizienz von psychologischem Kampf. Das bedeutet aber auch: Wir sind nicht gezwungen, wegen einer angeblich völlig neuen, ganz unerwarteten Entwicklung nun unser Völkerrecht umstoßen. Völkerrecht ist die Summe einer vieltausendjährigen Menschheitserfahrung mit Kriegen und Konflikten. Eine willkürliche und einseitige Korrektur in unserem Sinne kann im Gegenteil als Änderung der Machtbalance gedeutet werden und neue Gegenmaßnahmen, neue Konflikte wahrscheinlicher machen. Wir sollten uns sehr klar machen: Bestenfalls würden wir damit auf unsere Ängste reagieren und schlechtestenfalls auf die Interessen von Teilgruppen unserer Gesellschaften, die von einer aggressiveren Außenpolitik partikuläre Vorteile hätten.

 

Begriff des Terrorismus oder auch: "dem ene sing Uhl is dem anderen sing Nachtigall"

Aus der Encyclopedia Britannica (15. Aufl. 1993):

"Terrorism is the systematic use of terror or unpredictable violence against governments, publics, or individuals to attain a political objective. Terrorism has been used by political organisations with both leftist or rightist objectives, by nationalistic and ethnic groups, by revolutionaries, and by the armies and secret police of governments themselves."

Der Brockhaus von 1957 widmet dem Terrorismus erst ca. 20 Zeilen (heute mehr als das Zehnfache!), weist aber auch auf den Staatsterror und den militärischen Terror zur Zermürbung der feindlichen Bevölkerung hin, hier kann man insbesondere an die Form des Luftterrors denken, z.B. im Falle von Dresden, Sheffield, Hiroshima.

Terrorismus ist letztlich Gewaltkriminalität mit politischer Zielsetzung oder die konsequente Umsetzung des Mottos "Der Zweck heiligt die Mittel!". Wie wir aus dem Mittelalter wissen, haben selbst christliche Geister damit unendliche Grausamkeiten legitimiert, siehe die Inquisition, die Kreuzzüge, noch heute das beeherrschende Trauma für die islamische Welt), die Hexenverfolgungen. Ein "Deus lo vult!" oder "Gott will es so!" konnte für Macht und unermessliche Reichtümer sorgen wie bei der Kolonisierung Mittel- und Südamerikas ebenso wie millionenfachen Tod. Erstaunlicherweise ist der Mensch zu der Dialektik fähig, einen anderen Menschen zu Tode zu missionieren oder zu Tode zu befreien und sich über alle ausgeübten Greuel mit einem "guten Zweck" oder dem "Dienst an einer guten Sache" zu beruhigen.

Zur neueren Entwicklung: lange Zeit richteten sich terroristische Akte zur Maximierung der Wirkung gegen zentrale Symbolfiguren und Amtsträger. Eine solche anarchistische Zielsetzung hatten etwa das Attentat v. Sarajewo und selbst noch die Baader-Meinhof-Strategie. Heute sind durch Verfügbarkeit von Waffen- und sonstiger Technik, effizienten Schutz der Amtsträger und nicht zuletzt durch die blitzschnell erreichbare Medienpräsenz Grausamkeiten gegen jedermann möglich - und wie in New York sichtbar - sehr erwünschte Spezialeffekte. Die ständige Wiederholung der einstürzenden Bauten war aus einer kalten PR-Sicht mit Geld nicht aufzuwiegen. Vor allem die Terroristen der jüngsten Generation suchen sich zunehmend - in der Sprache des Militärs - weiche Ziele, z.B. Urlauber-Discos in Feriengebieten: Sie minimieren damit eigenes Risiko, maximieren die Propagandawirkung einschließlich einer hasserfüllten Abgrenzung der Kulturen und schrecken von dem unerwünschten Tourismus und der Völkerbegegnung ab.

Die hier agierenden Terroristen sind keine Wegelagerer oder Unterprivilegierte und weisen idR keine traumatisierte Kindheit auf. Die Situation ist völlig anders als bei den Selbstmordattentätern in Palästina/Israel. "Unsere" Terroristen stammen idR aus der Mittelklasse oder gar der Elite Ihrer Herkunftsländer. Und sie sind alles andere als dumm oder bloße Opfer von Gehirnwäsche:

"Sie gehorchen nicht blindem Glauben oder roboterhafter Disziplin. Sie verfügen über eine extreme moralische und intellektuelle Ausstrahlung. Dieser Terrorismus ist näher an der Askese als an der Gehirnwäsche."
(Bernard-Henri Lévy; Spiegel 49/2001 S. 212).

Noch ein verblüffendes Moment dazu: Die Terroristen des 11. September 2001 und ihre mutmaßlichen Hintermänner stammten nicht aus Afghanistan, auch nicht aus dem Irak, der heute von US-Seite krampfhaft mit dem Terrornetzwerk in Verbindung gebracht wird. Sie stammen aus Ländern, deren Eliten eng mit der westlichen Welt verknüpft sind - wirtschaftlich wie militärisch, und zwar aus Saudi Arabien, aus dem durch den Westen militärisch befreiten Kuwait (!!!), aus Ägypten und dem Libanon. Auch die Taliban Afghanistans wären nach einhelliger Meinung ohne die intensive Unterstützung Saudi Arabiens und Pakistans - und zeitweilig auch der USA - gar nicht denkbar gewesen. Alles das spricht dafür, dass die Sozialisation der 'befreundeten' arabischen Staaten im westlichen Werte-Verband gar nicht oder bestenfalls extrem oberflächlich gelungen ist und dass auch das Ausschalten von Staaten, die der Westen derzeit als störend empfindet (z.B. Irak, Iran, Syrien, Libyen) nur mehr vom Gleichen produzieren kann: mehr komplexen Terrorismus.

Hier kann man übrigens ein etwas verwickeltes Argument für eine militärische Intervention der USA im Irak herleiten: Die USA verdächtigen in letzter Zeit Saudi-Arabien immer stärker der Unterstützung des mörderischen Terrorismus. Daher könnte es für die USA ratsam sein, sich die in der Größenordnung ähnlichen Ölvorräte des Irak zu sichern und gleichzeitig mit einer durch die USA kontrollierten irakische Administration verhindern, dass Ölgelder in dunkle terroristische Kanäle fließen. Hilfreich könnte dabei sein, dass die irakische Gesellschaft signifikant moderner und säkularer ausgerichtet ist als die Gesellschaft Saudi-Arabiens oder sogar die mancher Golfstaaten: Auch Frauen haben hier ihren Platz selbst in akademischen Berufen (!).

Aber vielleicht können die USA ja auch - um Fehlentwicklungen wie in den "befreundeten" arabischen Staaten zu verhindern oder zu korrigieren - alle Menschen dieser Region einer kollektiven Gehirnwäsche unterziehen, einer Art Kulturwäsche. So verstehe ich den von Bush angekündigten Plan einer grundlegenden Umgestaltung des Nahen und Mittleren Ostens. An den Erfolg eines derartigen Projekts, das überdies sehr totalitär klingt, möchte ich wegen der derzeitigen strukturellen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Probleme des Westens nicht glauben: Das westliche Modell ist ja keineswegs unumstritten. Das Bush-Projekt würde auch als Mindest-Erfolgsbedingung eine flächendeckend hohe wirtschaftliche Dynamik und dauerhafte Prosperität dieser Region voraussetzen und wohl auch eine hohe Eigenbestimmung. Dann müsste der Westen politisch und wirtschaftlich fair teilen wollen und auf eigene Chancen verzichten. Dafür sehe ich kein historisches Beispiel und keinen Plan.

 

"dem ene sing Uhl is dem anderen sing Nachtigall"

Gewalt zur Durchsetzung politischer Forderungen klingt nicht nur, sondern ist böse. Sie gewinnt bei vielen aber schnell an Sympathie, wenn die Forderungen gerecht erscheinen oder die Gewaltgegner selbst als Gewaltherrscher oder Unrechtsregime geziehen werden kann. Selbst die Grünen hatten - natürlich nach gehöriger innerer Prüfung - nichts gegen Waffen für Befreiungsbewegungen in Südamerika. Und die Zustimmung zur Bombardierung Afghanistan wurde durch die Abneigung gegen die frauenverachtende Politik der Taliban wesentlich erleichtert. Und über die Tschetschenen denken die Russen anders als wir; und die Chinesen über die Tibetaner. Kleines Gedankenexperiment: Hätte der 11. September schon im Jahre 1997 gelegen, wäre Milosevic heute wohl ein weiterhin geachteter Staatsmann, der Feuerkopf Haschim Thacci wäre ein Terrorist, gemeinsam mit Bin Laden auf der Flucht und Kosovo und Montenegro wären selbstverständliche Teile Jugoslawiens.

 

Anmerkungen zur nationalen und internationalen Sicherheitslage

International

Gehen wir einmal von der überwiegend vertretenen These aus, dass Osama Bin Laden eine Art Vorstandsvorsitzender einer "Dschihad Inc." ist, also planender und entscheidender Kopf hinter der (einen) Terrororganisation, die die Attentate auf das Kriegsschiff Cole, auf Botschaften der USA in Ostafrika und auch die Ziele des September ausgeführt hat. Anm.: Präsidenten-Berater Scowcroft bezeichnete Bin Laden im Oktober 2001 als "nützliches Symbol" (Spiegel 40/2001 S. 170). Entsprechend ist die zentrale Täterschaft Bin Ladens wohl eher eine starke Vereinfachung und die enge Personalisierung soll eine rasche Lösbarkeit des Problems signalisieren. Für richtig halte ich daran immerhin, dass sich Bin Laden nur zu gerne als Symbolfigur eines künftig siegreichen Kampfes gegen die westliche Kultur feiern lässt, ein Traum aller modernen Nachfolger des Propheten.

Nach der überwiegend vertretenen These (s.o.) hat Bin Laden durch die kriegerischen Auseinandersetzungen in Afghanistan wesentliche Basen, wohl auch diverse spezifisch ausgebildete Truppen und die Anlehnungsmacht an die Taliban-Regierung verloren. Er selbst dürfte überlebt haben - und daran hatte ich eigentlich geringe Zweifel, wenn er planerisch und logistisch hinter den Anschlägen gesteckt hat. Verloren hat er auch die offene Hilfe Pakistans (die der USA/CIA schon vorher) und anderer Regierungen des Ölgürtels. Aber die Liebe der Massen hat er nicht eingebüßt, wohl nicht einmal die Sympathie der arabischen Eliten. Deren verlässliche Kooperation mit dem Westen und vor allem irgendeine weltanschauliche Nähe zu uns sind - wie gesagt - eher eine westliche Projektion, die nicht das Herz erfasst. Ein prägnantes Beispiel ist die intensive Unterstützung Bin Ladens durch den saudi-arabischen Prinzen Fauzi, Informationsminister bis 2001.

Mit der afghanischen Struktur ist das Netz Bin Ladens (al Kaida = Basis, Netz) aber wohl nicht am Ende. Man geht davon aus, dass überall in der islamischen Welt (insbes. Jemen, aber wohl auch in den Ölstaaten) Kader des geheimen Netzes sitzen; Europa soll nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden mit einer Fülle schlafender Zellen überzogen sein und auch in den USA gibt es Dutzende islamischer Wohlfahrtsorganisationen, die unter dem Deckmantel von "charity" für Islamisten wie Bin Laden oder die radikal-islamische Hamas arbeiten. Unterstützungspotential existiert in den USA selbst: Louis Farrakhan ist Führer der NOI - Nation of Islam - , die aus der Black Muslim Bewegung hervorgegangen ist. Er hat sich öffentlich hervorgetan mit feindlichen Positionen gegenüber Angehörigen des jüdischen Glauben.

Bin Laden soll weit vor dem 11.9. das Feld bestellt und die Terrortruppen in 5 selbstständige Kommandos unterteilt haben. Sein Stellvertreter Aiman al Sawahiri soll Kräften auf dem Balkan (!!!) instruiert haben, dort eine zweite Front gegen die US-Kräfte zu eröffnen, teils unter dem Mantel von NGO's. In Bosnien, Albanien, Kosovo und Mazedonien sollen mehrere tausend Kämpfer verfügbar sein. Als besonders gefährlich gilt der Libanese Imad Mugniyah, der früher im Libanos spektakuläre Entführungen organisiert hat, und über profunde Kenntnisse über Zellen und Netzwerke in USA, Kanada, Balkan, Nahen u. Mittleren Osten und in Afrika - damit könnte er als einziger al-Kaida-Aktivist jederzeit komplette Terrorkommandos operativ einsetzen oder Einzelkämpfer für einen Anschlag aktivieren (Rhein. Merkur, 3/2002, S. 6). Dazu kommt ein offenbar eher loses und im Untergrund angelegtes Netz von ca. 5000 Aktivisten in Afrika, die in den Lagern Bin Ladens trainiert worden sein sollen und eine offenbar bedeutende Unterstützungsbasis im volkreichsten Land der Welt, Indonesien.

 

Deutschland

Es ist erwiesen, dass die Gruppe um Muhammad Atta die Attentatsserie vom 11.9. geplant und im wesentlichen ausgeführt hat. Sie war in Hamburg angesiedelt und hat über Jahre ein völlig unauffälliges Leben geführt. Das ist eine völlig neue Qualität gewesen. Bezüge zu Bin Laden waren bei einer Frankfurter Islamistengruppe aufgedeckt worden, deren Angehörige waren allerdings völlig anders geartet und teilweise einem kriminellen Milieu zuzuordnen.

In Deutschland wurden relativ schnell zwei Gesetzespakete umgesetzt: Otto-Katalog I brachte insbesondere die Streichung des Religionsprivilegs im Vereinsgesetz und wurde Grundlage z.B. der Auflösung des sog. Kaplan-Staates in Köln. Otto-Katalog II führte deutliche Erleichterungen des Zugriffs der Dienste BfV, BND, MAD auf Daten im Zusammenhang mit der Terroristenfahndung z.B. bei Kreditinstituten, Reisebüros, Fluglinien etc. ein und führte die Rasterfahndung wieder ein. Die Gefahr von Anschlägen wurde unmittelbar in der Folge des 11.9. eher gering eingeschätzt und hat sich offenbar auch nach dem militärischen Eingreifen in Afghanistan nicht realisiert. Aber nicht zu vergessen: es war vor dem 11.9. offenbar auch ein Plan zur Sprengung des Straßburger Münsters gefasst gewesen, der aber rechtzeitig aufgedeckt worden sein soll.

 

Bewertung des 11.September 2001 oder: Die Auseinandersetzung der Werte

Kriegerischer Akt?

Es passt nicht in die Schablone: Zerstörte Bauten mitten in einem Land im Frieden - die Opfer Zivilpersonen der verschiedensten Herkunft und Nationalität. Trotzdem sehe ich den Anschlag als bewussten kriegerischen Akt an: Hier wollte und will sich eine neue Macht etablieren und ein eigenes Drohpotential aufbauen. Dies war - wie schon die Attacke auf das Kriegsschiff Cole im Jemen - eine ernst zu nehmende Angriff einer mörderischen Non-Govermental Organization (NGO): Keine konventionelle, staatlich organisierte Macht - kein Staatsgebiet, kein Staatsvolk, kein Steuereinzug und keine regulären Kräfte - aber eine Gruppe, die sich als repräsentativ für viele Genossen ausgibt und sich Potenzial letztlich (nur) durch Aneignen westlicher Technologie und Organisationsmuster verschafft hat. Die Anschläge hatten mit ihrer Grausamkeit und Inhumanität ganz offenbar einen bewusst unerträglich provozierenden Charakter mit dem Ziel, einen breit angelegten Rachefeldzug der USA auszulösen, der wiederum den Boden bereiten sollte für eine abschließende Schlacht des Guten gegen das Böse, für das Armageddon.

Ich denke nicht, dass ich es den Amerikanern vorhalten kann, denn vermutlich hätte auch ich mich als amerikanischer Politiker dieser psychologischen Mechanik nicht entziehen können. Aber die USA sind mit ihrem militärischen Vorgehen gegen Afghanistan und den Irak wohl genau in eine sorgsam ausgelegte Schlinge getreten - auch mit der amerikanischen Position, es werde in Zukunft nur mehr Freunde oder Feinde geben, keine Unbeteiligten. Weitere Aktionen zur Befreiung und Demokratisierung von Staaten der Region nach westlichen Blaupausen haben die USA bereits angekündigt. Dabei haben sie offen gelassen, ob auch arabische Verbündete Defizite haben, die zu einem militärischen Eingreifen nötigen.

 

Exakte Logistik; effiziente Absicherung

Das Verblüffendste ist die hohe Effizienz: mit einem geringen Einsatz an Hardware (Teppichmesser) wurde ein ungleich höherer Schaden angerichtet, letztlich dadurch, dass die technischen Mittel des Westens gegen den Hersteller und Besitzer umgelenkt wurden. Das ist um so beunruhigender, als das Austrocknen finanzieller Unterstützung hiergegen gar nichts ausgerichtet hätte und für die Zukunft nichts ausrichten kann.

Ganz sicher hat die Gruppe auch gegen das Kameltreiber-Image angebombt: den jahrhundertealten, vom Westen und auch von Israel gerne genährten Komplex der angeblich zurückgebliebenen, technisch und intellektuell weit unterlegenen, in den Tag hinein lebenden und dem Schicksal ergebenen Araber. Leon Uris hatte in 'Exodus' und 'The Dagger' dieses Negativ-Bild in Worte gefasst. Muhammad Atta, der Kopf der Hamburger Terror-Zelle und wohl der Anschläge in New York und Washington, aber scheint das exakte Gegenteil dieser Karikatur gewesen zu sein: Nach allen Beschreibungen war Atta, Sohn eines Rechtsanwalts in Kairo, ein hoch intelligenter junger Mann. Er erzielte beste Studienresultate und konnte nach dem völlig verblüfften Befund seines akademischen Lehrers an der Hamburger Technischen Hochschule selbst Deutschen beim rechten Gebrauch der Deutschen Sprache helfen.

 

Kampf der Kulturen? Wo sind die Werte?

Möglicherweise ist der Kampf der Kulturen ein Ziel der Attentäter. Aber ich zweifle daran, dass dies das eigentliche Problem ist und Lösungsansätze hierfür gesucht werden müssten. Jedenfalls ist es nicht das Problem der Mehrzahl der islamischen Menschen. Im Kern geht es nicht um Glauben und die letzte Lösung kann und muss daher auch nicht die ethnische Trennung der Menschen der Welt sein. Dies ist eine Projektion, die gerne von Fundamentalisten beider Lager benutzt wird, um ihre machtpolitische Position zu unterstützen. Es geht im Kern vielmehr um eine faire ökonomische und dann politische Koexistenz, um das Recht, den eigenen Weg zu bestimmen und dabei nicht eigene Werte preiszugeben, die für das Überleben als Gruppe und für die nachhaltige, ökologisch tragfähige Existenz der Gruppe notwendig sind. Der Gottesstaat, der im Iran von den jungen Geistlichen zunehmend in Zweifel gezogen wird, ist nicht das Modell der Zukunft - und war es auch in der überwiegenden islamischen Geschichte nicht.

Ich bin auch der Auffassung, dass für den 11.9. auch die Situation in Palästina nicht unmittelbar verantwortlich war. Allerdings ist Palästina ein Propaganda-Bild von gar nicht zu überschätzendem Wert für Fundamentalisten: Bei ihrer potentiellen Gefolgschaft kann es ohne jede Anstrengung die andauernde Entwürdigung, die politische Entrechtung und wirtschaftliche Hoffnungslosigkeit einer identfikationsfähigen Menschengruppe wachrufen.

Für eine nachhaltige Koexistenz mit islamisch geprägten Gesellschaften, die nicht strikte Abgrenzung meint, sondern Austausch und Zusammenarbeit einplant, muss sich der Westen allerdings auf eine ehrliche Wertedebatte einlassen - ebenso wie wir es von der islamischen Seite fordern (und unter dem Strich müsste mehr westliche Bereitschaft zur Rezeption als bei der Zusammenlegung deutsch-deutscher Werte herauskommen).

Als einen ersten Aufschlag versuche ich einmal, einige westliche Werte mit den kritischen Augen eines Besuchers unserer Kultur zu wiegen. Meine Momentaufnahme knüpft insbesondere an Werbeaussagen an. Ich sehe die Werbung in zwei Hinsichten als interessant an: Einerseits sind die Leitbilder der Werbung keine Zufallsprodukte, sondern professionell ausgearbeitete Botschaften, die auf Einstellungen und Dispositionen eines relevanten Teils der Bürger aufbauen, um Handlungen auslösen zu können. Sie sind in die Kultur der Gemeinschaft eingebettet und dafür repräsentativ - selbst dort, wo sie auf Provokation setzen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Und die Werbebotschaften sind ein wesentlicher Teil unserer grenzüberschreitenden Kommunikation und ein - von uns zumeist als harmlos herunter gespieltes - Medium der Steuerung von Angehörigen anderer Kulturen zu unserem Nutzen.

 

Geiz ist geil!

 

 

 

 

Dazu noch die vielen Botschaften, die unsere hedonistisch/egoistische Kauf- und Konsumlust anfeuern wie "Man gönnt sich ja sonst nichts.", "Kauf' dich reich!", "Ich bin doch nicht blöd!". Anmerken sollte ich noch zu der oben letztgenannten Werbebotschaft: Weniges unter den in der westlichen Welt verliert so rapide seinen Wert wie moderne Elektronik in Form von Computern, Handies oder Fernseh-/Phonoprodukten. Weit bevor sich irgendeine technische Abnutzungserscheinung zeigt, stürzt der Wiederverkaufswert gegen Null. In Perioden von wenigen Monaten erscheinen neue Produktgenerationen, werden aggressiv vermarktet und lassen unsere noch völlig unverbrauchten "Schätzchen" greisenhaft alt aussehen. Spektrum der Wissenschaft - eine sehr seriöse, nicht für Technikfeindlichkeit bekannte Zeitschrift und Schwesterausgabe von Scientific American - beschrieb unseren Tanz um die Computer vor kurzem sehr treffend mit "Schunkeln im Prozessortakt". Die Folge sind Gebirge von ökologisch sehr bedenklichem Elektronikschrott und gebundenen Rohstoffen und eine Nutzergemeinde, die mit der Verzweifelung eines Sysiphos in lebenslangem Lernen - eigentlich: lebenslangem Nachsitzen - fortwährend neue Bedienschritte und Programme erlernen muss, aber niemals wirklich kompetent wird. Wer zählt noch die Wochenendstunden, die man mit der Funktionsfähigkeit des heimischen Computers oder seiner Netzanbindung verbringt? Die Folge des aggressiven Discounting sind außerdem - abgesehen davon, dass es deutlich gemeinschaftsbezogenere Investitionsmöglichkeiten gibt, das Zusammenbrechen örtlicher Verteilnetze im Einzelhandel und der Wegfall hundertausender, nun 'nicht mehr rentabler' Arbeitsplätze vor Ort und eine Verkehrsstruktur, die auf das Einkaufen in großen Zentren zugeschnitten ist. Ich ergänze: Dieses Modell ist offensichtlich nur unter fundamentalen (!) gesellschaftlichen und strukturellen Brüchen in islamische Länder - und in viele andere nicht industrialisierte Regionen - einzupflanzen.

Wir brauchen nicht lange darüber zu rätseln, wie die zitierten Leitbilder eines forcierten Konsums mit Grundwerten einer christlichen Kultur, mit Barmherzigkeit, Nächstenliebe und Friedensliebe, dem 'auch die andere Wange Hinhalten' vereinbar ist. Sie sind nicht vereinbar. Und unser Problem gegenüber einer muslimischen Welt liegt gar nicht darin, dass wir eine verhasste andere Religion hätten, sondern darin: Wir machen keinerlei ethische Wertorientierung deutlich und zeigen als kultur-prägend und tatsächlich wirksam nur Leitbilder aus der nicht belebten Welt, nämlich Exploration, Produktion, Konsum, Marktbeherrschung. Dies sind allesamt materielle Werte, die selbst die Bibel mit großem Argwohn betrachtet - in den Bildern vom Tanz um das goldene Kalb und dem Kamel, das eher durch ein Nadelöhr geht, als ein reicher Mann in den Himmel kommt.

Der Islam kann uns sogar die Nachhaltigkeit lehren, die wir zum längerfristigen Überleben unserer Zivilisationen brauchen: Der islamische Eigentumsbegriff etwa kennt kein Recht zur ausschließlichen eigenen Einwirkung bis hin zur endgültigen Zerstörung. Der Mensch ist vielmehr nur treuhänderischer Nutznießer und Verwalter von irdischen Gütern (Peter Antes, Der Islam als politischer Faktor, 3. Aufl. 1997, S. 74). Das fluchtet sehr gut mit der Rücksicht, die die Brundtland-Kommission in Hinsicht auf die Bedürfnisse künftiger Generationen gefordert hat.

 

Sex sells

Auch unsere Einstellung zur Sexualität sollten wir kritisch hinterfragen und das Konfliktpotential, das daraus gegenüber anderen Kulturen erwachsen kann und die Aggression, die wir anderen, prüderen Einstellungen entgegen bringen. Zu Beginn: Ich habe nichts gegen Aufklärung und insbesondere nichts gegen das Ausräumen von Angst und Schuldgefühlen im Zusammenhang mit der Geschlechtlichkeit. Sexualität ist ein beglückendes, allerdings auch mächtiges natürliches Verhaltensmuster des Menschen und sollte nicht reguliert sein, vor allem nicht staatlich. Aber erlaubte Freiheit muss sich wie immer so definieren, dass sie nicht auf Kosten der Selbstbestimmungsrechte und der Würde anderer geht.

 

 

 

You gotta seduce me
I'm not very prudish
I'm willing to give you
ev'rything your heart desires
You're giving french kisses
like you've done your homework
and 'm getting blisses
sugar, I've been craving for you.

Muss Musik oder ihre bildliche Umsetzung so unverhohlene sexuelle Kicks enthalten? Wie geht das in der Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Kundschaft weiter?

 

Und ist oder wird unsere Gesellschaft nun wirklich sexuell frei? Zeichnen die wohlfeilen pornographischen oder soft-pornographischen Produkte ein realistisches Bild der Menschen und ihrer Bedürfnisse oder einer künftig möglichen oder erstrebenswerten Gesellschaft? Wahrscheinlich nicht. Eher setzen sie die reale Sexualität unter künstlichen Druck, schwätzen den Freundinnen/Ehefrauen die Kleiderordnung des Rotlicht-Milieus auf (was machen nun die Profis?) und den Freunden/Ehemännern den Leistungsstress - mit der chemischen Potenz-Verlängerung als einzigem Ausweg.

Da wir beim Thema Porno sind: Pornographie sieht man(n) gerne als liberale Errungenschaft, als Teil einer freieren Sexualität. Aber die Befreier machen auch Menschen zu Opfern, häufig Frauen, deren wirtschaftliche Situation sie für phantastische Geschäfte nutzen. Im Mai 2002 starb Linda Boreman, besser bekannt als Linda Lovelace aus dem Film "Deep Throat". Dieser Film hatte im Jahre 1972 pornographische Filme "gesellschaftsfähig" gemacht oder: von nun an breit geschäftlich verwertbar. Linda Boreman hat später ein antipornograhy civil rights law initiiert und sagte im Jahre 1983 in diesem Zusammenhang: "Jedes Mal, wenn jemand diesen Film ansieht, sieht er meine Vergewaltigung." (Zitat nach TIME, Mai 2002, S. 23)

Hier noch einmal ein Blick auf den Islam und die Rolle der Frau: Wenn eine islamische Frau heute ein Kopftuch anlegt, so verhält sie sich nicht anders als die typische deutsche Bauersfrau bis in die Fünfziger Jahre hinein oder als viele Ordensangehörige noch heute. Und ein islamischer Vater, der eifrig das Sexualleben seiner Töchter (und eben nicht: Söhne) zu regulieren sucht, hätte ein gutes Vorbild in den damaligen deutschen Vätern und wahrscheinlich fast jedem katholischem und manchen protestantischen Pfarrern. Ich meine, unser Verständnis sollte so weit gehen, diese erst in der letzten Generation teilweise geänderten Verhaltensmuster nicht von vornherein als abträglich zu bewerten. Ich finde auch, zusätzliche Entblößung kann eher aggressiv wirken als zusätzliche Verhüllung, z.B. mit Kopftuch oder Schleier, jedenfalls wo dies freiwillig ist. Und wir sollten uns selbstkritisch fragen, wie weit die Chancen deutscher Frauen z.B. auf dem Arbeitsmarkt gereift sind. In Notzeiten - z.B. bei der angestrengten Arbeitsmarktlage heutiger Tage - müssen auch hier in der Regel die Frauen zurück stecken. Und ihre beruflichen Aufstiegschancen sind unabhängig davon nach wie vor deutlich begrenzter als die ihrer männlichen Konkurrenz.

Wir sollten in unserem Kontakt zum Islam auch als reines Faktum beachten: Die Rolle der Frau ist in primären Solidargemeinschaften, die sich noch in vielen islamischen Ländern finden, eine grundsätzlich andere als in den entwickelten Industriegesellschaften: Für die primären Solidargemeinschaften vermag die Kontrolle über "ihre" Frauen die Identität und Integrität dieser Gemeinschaften symbolisieren, sie kann zentraler Ausdruck des Widerstandes gegen einen als fremd und autoritär wahrgenommenen Staat werden. Externe Einflussnahmen durch Kolonialismus oder "McDonald-Globalisierung" haben für diese Gemeinschaften strukturell entsprechende Abwehrmechanismen hervorgerufen (Renate Kreile, Die Taliban und die Frauenfrage, Aus Politik und Zeitgeschichte v. 18.1.2002, S. 41). Daher bringt eine westliche Kontrolle über diese Staaten keineswegs selbstverständlich eine veränderte Situation der Frau oder auch nur der Kleiderordnung mit sich. Dies war in Kabul bemerkbar - und nicht nur Folge einer etwa fortbestehenden staatlichen Kontrolle - sondern auch in den mit dem Westen verbündeten und sogar wirtschaftlich gut gestellten Staaten, etwa in Saudi-Arabien oder in Quatar, gleichzeitig Hauptquartier der Alliierten im Golfkrieg des Jahres 2003.

Weil ich so denke, hat es mich sehr betroffen gemacht, dass Bündnis90/Die Grünen gerade die unterdrückte Position der Frauen in Afghanistan als eine gute Begründung für die militärische Intervention bewertet haben. Ich bin nicht sicher, ob sich vorher ausreichend viele afghanische Frauen zu diesem Thema äußern konnten sind und ob sich die Situation seitdem signifikant verbessert hat, oder jedenfalls so weit, dass ein gewaltsames Eingreifen dadurch nachträglich legitimiert sein könnte.