TEIL I: „Hemmnisse gesellschaftlicher Debatte des Bundeswehrauftrages“

Ein wesentlicher Klärungspunkt des vorgeschlagenen Workshops sind die potenziellen Hindernisse der Debatte, z.B. wie sie der Bundespräsident z.B. auf Seiten der Bürger beschreibt (Nr. VII a.E.):

1.      Leitbild Zivilstaatlichkeit

Allgemeine gesellschaftliche Distanz zu militärischen Fragen, zusammenhängend mit der bewusst zivilstaatlichen Bildung und Prägung der Bundesbürger, auch: bedingter Reflex aus den Erfahrungen der Dreißiger und Vierziger Jahre

2.      Distanz

Geringe Alltags-Relevanz militärischer Fragen bzw. keine lebenspraktische Bedeutung, insbesondere nach Wegfall unmittelbarer militärischer Bedrohung, räumliche Distanz zum Ort des Geschehens, geringe Identifikationswirkung bezogen auf militärische Akteure und zivile Betroffene

3.      Delegation

Bewertung militärischer Funktionen als Aufgabe einer professionellen und spezialisierten, dafür auch besonders entlohnten gesellschaftlichen Teilgruppe

Es treten Hemmnisse hinzu, die primär im Bereich des Staates bzw. gesellschaftlicher Gruppen und Funktionsträger liegen:

4.      Befürchtung kasuistischer Beschränkung

Angesichts der Vielgestaltigkeit und unberechenbaren Entwicklung internationaler Krisen und Konflikte wird eine Konkretisierung bzw. Differenzierung militärischer Handlungsformen, die notwendiges Element und Ziel des öffentlichen Diskurses ist, häufig als potenzielles Risiko für die Option reaktionsschnellen militärischen Handelns angesehen.

5.      Besorgnis der Bündnis-Inkompatibilität; vorrangige Kommunikationswege

Die Besorgnis, Bündnispflichten wie Bündniserwartungen im Einzelfall nicht erfüllen zu können, damit an Verlässlichkeit einzubüßen, führt tendenziell dazu, institutionelle Lösungen zu bevorzugen: Ausreichendes Tatbestandsmerkmal legitimen militärischen Handelns ist dann die Entscheidung eines Gremiums, das seinerseits ein breites, tatbestandlich nur gering konkretisiertes Entscheidungsermessen hat (z.B. konstitutive Beschlüsse parlamentarischer oder exekutiver Gremien).

Außen- und Sicherheitspolitik ist notwendigerweise eingebettet in vertraglich begründete und vertraglich fortentwickelte Beziehungen. Bündnisfähigkeit ist – wiederum als Reflex des Ergebnisses des Zweiten Weltkrieges – für Deutschland lebenswichtig und identitätsstiftend. Primäre Akteure der Begründung und Weiterentwicklung der Bündnissysteme sind Vertreter der Exekutive. Interessen / Intentionen sowie Impulse / Informationen für diese Prozesse sind naturgemäß horizontal (zwischen den Akteuren der Exekutiven) besser vernetzt als vertikal (in einem transparenten und responsiven demokratischen Prozess zwischen Akteuren der Exekutive und Bürgern).

6.      Sicherheit / Geheimschutz; Kernbereich exekutivischer Eigenverantwortung

Traditionell sind militärische Entscheidungen im Zweifel geheimhaltungspflichtig. Dies kann im Einzelfall strategisch richtig und Risiko-mindernd sein, steht aber im Zielkonflikt zu dem grundsätzlich offenen, disputativen demokratischen Dialog.

Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik werden ferner dem Kernbereich
exekutivischer Eigenverantwortung
zugeordnet (siehe insbesondere Pershing-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts v. 18.12.1984, BVerfGE 68, S. 1, 87; aktuell NATO-Entscheidung des BVerfG v. 22.11.2001, IV 2 d u. V 2 d der Gründe). Kernpunkt der Argumentation ist jeweils das außergewöhnliche Sicherheits- bzw. Gefährdungsmoment auswärtigen Handelns. Es wiegt in dieser Argumentation höher als die für innerstaatliche Handlungsformen unbestrittenen Prinzipien von Gesetzesvorbehalt und Wesentlichkeitsgebot. Dazu folgerichtig wurde der Gesetzesvorbehalt im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik durch den allgemeineren Parlamentsvorbehalt ersetzt. Jedoch bietet der Parlamentsvorbehalt im Vergleich zum Gesetzesvorbehalt geringere Garantien hinsichtlich des gesellschaftlichen Dialogs über Interessen und Handlungsformen sowie hinsichtlich der Voraussehbarkeit und Justiziabilität der einzelnen Entscheidung.

7.      Befürchtung der uferlosen Ausweitung

Potentielle Gegner eines erweiterten Auftrages der Bundeswehr – naturgemäß auch unter den Soldaten, den unmittelbar betroffenen Akteuren – erwarten von einer gesellschaftlichen Debatte nicht notwendigerweise eine Definition oder Konkretisierung des Handlungsrahmens der Bundeswehr. Im Gegenteil sehen selbst erklärte Gegner einer Militarisierung von Außenpolitik die Gefahr, dass ein im Ablauf nicht kalkulierbarer demokratischer Prozess den Einsatzrahmen noch über die aktuelle Praxis hinausgehend erweitern könnte, also ein Risiko in sich wäre.

8.      Verspätung der Debatte

Kritisch könnte sein, dass die nach dem Zusammenbruch des Ostblocks erlebte – und auch prinzipiell sinnvolle – Phase explorativen militärischen Handelns bereits seit einiger Zeit in eine Phase der erklärten ‚Normalität staatlichen Handelns’
übergegangen ist. Es ist möglicherweise schwer zu erklären, warum nicht mehr anlassbezogen, sondern nun grundsätzlich und mit dem Ziel genereller, abstrakter Regelung debattiert wird.

9.      Kein Vorbild

Es gibt m.W. derzeit kein geeignetes internationales Vorbild und damit keinerlei benchmark für eine gesellschaftliche Debatte zu Konkretisierung militärischer Kompetenzen. Völlig üblich ist eine unbeanstandete ad-hoc-Entscheidungspraxis bzw. eine Beschränkung auf Verfahrensfragen wie im Parlamentsbeteiligungsgesetz (interessant immerhin War Powers Act der USA, dazu die Stellungnahme Böckenfördes in der DSF-Schriftenreihe; ferner mehrere u.a. ländervergleichende Darstellungen zum Rechtsstand verschiedener Staaten in der HSFK-Reihe). Anm.: Ein fehlendes Simile muss allerdings angesichts der besonderen und extern vermittelbaren historischen Erfahrung Deutschlands und der daher besonders ausgeprägten Zivilstaatlichkeit kein Hindernis sein.

10.  Aufstellung der politischen Bildungsträger

Die politischen Bildungsträger haben vermutlich derzeit keine adäquaten Ressourcen für eine breite gesellschaftliche Debatte zur ‚Außen- und Sicherheitspolitik’ und müssten sich darauf gesondert vorbereiten, auch in fachlich-personeller Hinsicht.

11.  Komplexität zivil-militärischer Friedenskonsolidierung und Krisenprävention; Marginalität in der Berichterstattung

Die aktuellen Krisen haben Ursachen überwiegend in der Gesellschaftswelt. Ihre Lösung braucht ganzheitliche zivil-militärische Konzepte; in jedem Fall bedarf eine nachhaltige Heilung nach aller Erfahrung massiver ziviler Nachsorge und Verfestigung. Für die Abkehr von hergebrachten militärischen Rollen-Stereotypen hat die Bundeswehr zwar durchaus erfolgreiche, sogar identifikationsstiftende Beispiele ausgebildet – aber das ist für die Berichterstattung eher unspektakulär und daher in der öffentlichen Wahrnehmung unterentwickelt.

12.  Segregation der Diskurse

Die neue Rolle der Bundeswehr kann wie gesagt nicht isoliert geschrieben werden. Die gesellschaftlichen Diskurse mit möglichen Beiträgen für ein integriertes und integrierendes sicherheits- und friedenspolitisches Gesamtkonzept verlaufen aber, wenn überhaupt, ungleichzeitig, in getrennten Gruppen/Organisationen (Parteien, Verbände, Militär, Kirchen, Forschung), themenspezifisch (z.B. Internationale Beziehungen, deutsche Interessen, Militärintervention, Menschenrechte, zivile Konfliktlösung, Entwicklungszusammenarbeit), lokal-spezifisch (z.B. Balkan, Maghreb, Naher Osten, Kaukasus, Afrika) und in der Regel ad hoc.

TEIL II: „Chancen gesellschaftlicher Debatte des Bundeswehrauftrages“

Die Argumente für die Debatte haben deutliches Gewicht gegenüber den eher pragmatischen Hemmnissen: Sie folgen den Grundentscheidungen der deutschen Verfassung.

13.  Leitbilder Demokratie und Rechtsstaat

Unstreitig sind – wie der Bundespräsident hervorhebt und in aktuellen Meinungsbildern zum Auftrag der Streitkräfte bestätigt wird – die neuen Aufgaben der Bundeswehr im öffentlichen Bewusstsein nicht ausreichend verankert.

Nach fester Verfassungsrechtsprechung verlangen Gesetzesvorbehalt und Wesentlichkeitsgebot die vorangehende differenzierte gesellschaftliche Debatte und rechtliche Konkretisierung ausnahmslos jeder grundrechtsrelevanten Manifestation staatlicher Macht (Bundesverfassungsgericht, Entscheidungen v. 24.9.2003, BVerfGE 108, S. 282, 311ff; v. 8.4.1997, BVerfGE 95, S. 267, 307f; v. 25.3.1992, BVerfGE 85, S. 386, 403f; v. 2.12.1976, BVerfGE 47, S. 46, 79ff; Verfassungsgerichtshof NRW 9.2.1999, NJW 1999, S. 1243, 1244). Auch für die Entwicklung der Außen- und Sicherheitspolitik ist keine höherrangige Legitimationsquelle ersichtlich als der demokratische Dialog.

Benchmark für die Debatte zu erweiterten staatlichen Befugnissen, die zur Stärkung der gemeinschaftlichen Sicherheit in den Kernbereich der Grundrechte eingreifen können, ist die gesellschaftliche Auseinandersetzung um die Notstandsgesetzgebung. Eine vergleichbare Debatte ist im Zusammenhang mit den modifizierten Aufgaben der Bundeswehr (mit Auslandsbezug) bisher nicht organisiert worden. Dies gefährdet den gesellschaftlichen Rückhalt bei den erfahrungsgemäß schwer kalkulierbaren militärischen Einsätzen zusätzlich und in vermeidbarer Weise.

14.  Werteorientierung

Die gesellschaftliche Debatte fördert den nachvollziehbaren Abgleich von Zielen der Außen- und Sicherheitspolitik mit gesellschaftlichen Grundwerten und dem verfassungsmäßig herausgehoben geschützten Kernbereich der Grundrechte, damit die Abwägung der durch militärischen Eingriff mit Erfolgsaussicht zu schützenden Interessen (z.B. Sicherheit, Freiheit, Demokratie, gender) gegenüber den durch militärischen Einsatz gefährdeten Werten (z.B. Sicherheit, Souveränität, Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögenswerte).

Die gesellschaftliche Debatte unterstützt ferner die Abwägung und Rangfolge zwischen den zivilen staatlichen bzw. nichtstaatlichen Optionen der Konfliktlösung und den unstreitig höchstens subsidiär, als ultima ratio gebotenen militärischen Werkzeugen zur Verwirklichung eines Ziels der Außen- und Sicherheitspolitik.

15.  Rationalität und Evaluierbarkeit

Die Definition eines sicherheits- und friedenspolitischen Gesamtkonzepts und die damit einher gehende Konkretisierung des Bundeswehrauftrages – gleichzeitig die Abkehr von einer ad-hoc-Entscheidungspraxis – fördern die rationale Durchdringung von Einsatzszenarien, Einsatzzielen und Einsatzergebnissen. Dies ist zwingende Voraussetzung der ebenfalls vom Bundespräsidenten angemahnten systematischen Evaluation. Nur die systematische, offen verfügbare Evaluation wiederum garantiert eine öffentliche politische Bewertung und demokratische Rückkopplung und damit die gesellschaftlich mitgestaltete Fortentwicklung der Außen- und Sicherheitspolitik.

16.  Gleichheit und faires Tragen der Lasten

Debatte und Konkretisierung des Bundeswehrauftrags fördern die gesellschaftlich arbeitsteilige und faire Bewältigung der Risiken militärischen Eingreifens. Sie wirken tendenziell der Instrumentalisierung von Soldatinnen und Soldaten entgegen. Ein für breite Bevölkerungsschichten nachvollziehbares und akzeptables Aufgabenspektrum der Streitkräfte erschließt zusätzliche zivil-militärische Kompetenzen und wirkt der Tendenz entgegen, dass ein unscharfer Auftrag bei der Rekrutierung eine besonders risikobereite oder eine von Arbeitslosigkeit besonders bedrohte Bevölkerungsgruppe (auch: Problem überproportionaler Vertretung von Regionen mit starkem Strukturwandel) selektiv anspricht.

17.  Förderung staatlicher Autonomie; Deeskalation

Die gesellschaftliche Debatte stärkt die nachvollziehbare Definition gesamtstaatlicher Interessen. Sie kann mit einem transparenten und kalkulierbaren sicherheitspolitischen Handlungsprogramm die angemessene Handlungsfähigkeit gegenüber etwaigem tagespolitisch / exekutiv begründetem Druck von Partnern fördern, eine deeskalierende Wirkung gegenüber Konfliktbeteiligten entfalten und in geeigneten Fällen die Option Deutschlands für das Konfliktmakeln eröffnen.

Dr. Voss, Stand: 2.5.2006