1rat
Prolog: Manche sagen, ich hätte ein Rad ab, und ganz so unrecht haben sie nicht. Das Ganze fing am 24. Dezember 2006 morgens an. Ich hatte eine Mehrfachsteckdose für unsere Weihnachtsbaumkerzen und für die begleitende Illumination gesucht und war im Zimmer meiner Tochter über ein nur lose verhülltes Einrad gestolpert. Die Steckdose habe ich gefunden und das Einrad wieder vergessen. Ein paar Stunden später lag’s unter dem Baum, und da alle anderen Familienmitglieder inzwischen von ihren guten Gaben Besitz ergriffen hatten, konnte ich nicht mehr daran vorbeisehen.
Nach einigem Investment an Zeit, Kraft und wilder Entschlossenheit gestalten sich die Erträge nun aber sehr angenehm.
Girls-Day? Vergessen Sie es gleich, wenn jemand behauptet: Einrad wäre nur etwas für achtjährige Mädchen. Männer – vor allem jenseits der Lebensmitte – hätten keine Chance. Ich bin Jahrgang 1951, mäßig sportlich und es hat ca. 4 Wochen gedauert, bis ich ein paar Meter frei fahren konnte. Es werden auch Kurse angeboten (Volkshochschulen!). Das kann der richtige Weg sein; nötig ist es aber nicht unbedingt (s.u.). Zu empfehlen ist aber, sich jedenfalls etwas Hintergrund-Info für die ersten Schritte und ein paar Tipps und Tricks für die weitere Eskalation zu beschaffen. Für mich war das das Buch „Einradfahren, Basics und erste Tricks“ von Andreas Anders-Wilkens & Roger Mager (2. Auflage 2007 im Meyer & Meyer-Verlag, Aachen), das auch sehr plastisch bebildert ist.
Sicherheit: Am meisten mag Aspiranten mittleren Alters die Angst vor Verletzung abschrecken. Diese Gefahr wird aber wohl in der Regel überschätzt. Das Einrad lädt uns nämlich fast immer auf die Füße ab. Es ist ja auch praktisch nichts im Weg, wie Lenker etc. Der Kopf scheint mir viel weniger gefährdet als beim Radfahren, denn die Geschwindigkeit ist deutlich niedriger. Sie liegt zwischen der von Fußgängern und der von Radfahrern, bei ca. 5 – 10 km/h. Ich habe auch in der ganzen Zeit – und ich habe recht häufig daneben gestanden, gehockt, seltener gelegen – nie mit dem Schädel gebremst. Auch nicht mit Knien oder Ellenbogen. Was ich allerdings bald getan habe: ich habe mir Halbhandschuhe gekauft, die die Handflächen schützen. Zusätzlich trage ich eine Klett-Manschette am linken Handgelenk, wo ich mir vor Jahren einmal das Kahnbein gebrochen hatte. Denn zumindest mir passiert es hin und wieder, dass ich so nach vorne kippe, dass ich mich mit den Handflächen abstützen muss; vorzugsweise bei tieferen Querwellen oder Löchern in der Fahrbahn, die in der Krümmung dem Kreisbogen des Rades gleichen - dann sitzt das Rad sofort fest wie eingeschmiedet. Noch ein Tipp für die erste Phase: Von den Beinen sind bei mir am ehesten die unteren Schienbeine gefährdet, ein paar Schrammen abzubekommen, und zwar wenn sie – beim nicht immer gleich erfolgreichen Aufsteigen – unglücklich mit den Pedalen in Konflikt gerieten. Daher empfehle ich, zumindest für den Anfang, eine lange Hose oder jedenfalls etwas längere, festere Socken, etwa Skisocken anzuziehen.
Als Faustregel: Wer sich Skifahren – in irgendeiner Form – zutraut, braucht auch keine Angst vor dem Einrad zu haben.
Ach ja: Denken Sie daran, Ihre Schuhe fest zuzubinden. Bei mir haben sich mal lockere Schnürriemen um eine Kurbel gewickelt und dann schnell festgezogen. Böse Falle. Feste Schuhe sind auch immer besser als schlabbrige. Und noch etwas zur Technik: Ich habe den Sattel nach kurzer Zeit so hoch eingestellt, dass ich leicht und rund treten konnte, also die Beine nicht zu stark beugen musste. Dabei muss man allerdings im Sattel sitzend sich noch mit Zehenspitzen am Boden abstützen können bzw. leicht aus dem Stehen aufsteigen können (s.u.). Den Luftdruck würde ich eher hoch einstellen; vor allem auf etwas unebenen Böden wird sonst die Arbeit schwer. Reifenprofil: Zu Anfang sind die zumeist standardmäßig montierten Reifen mit normalem Straßenprofil sicher die beste Wahl. Beim ersten Wechsel (s.u.) habe ich allerdings dann ein Geländeprofil genommen und bin damit seither gut gefahren. Pannengefahr: Vor allem zu Anfang nutzen die Reifen häufig sehr punktuell ab: Die spezifische Belastung ist beim Einrad sehr hoch, in der Regel wetzen sich die Reifen an zwei Stellen in der Nähe der Pedalen schnell durch. Sie können die Nutzungszeit durch leichtes Verdrehen des Mantels auf der Felge verlängern (klar: vorher Luft ablassen!) und Sie vermeiden, was ich nach zwei Monaten schaffte: einen Einrad-Platten.
Anfangsaufwand: Ich habe versucht, praktisch jeden Tag ein wenig zu üben: abends eine halbe bis eine Stunde, an Wochenenden ab und zu auch zweimal am Tag. Begonnen habe ich schlicht in unserem Kellerflur. Ich habe mich mit Kontakt zu beiden Seiten zunächst einmal im Stillstand auf das Einrad gesetzt: Einen Fuß auf ein im unteren Totpunkt stehendes Pedal gesetzt, dann den anderen Fuß auf das andere Pedal und den Allerwertesten auf den Sitz, dann die Tretkurbeln vorsichtig in eine waagerechte Stellung gebracht. Sie merken schnell und vielleicht etwas erstaunt: Die Kippbewegung nach vorne/hinten können Sie recht einfach mit Ihrer Oberschenkelmuskulatur und den Pedalen ausgleichen. Sie brauchen sich nur mit einer Fingerspitze an der Wand abstützen und stehen trotzdem recht stabil. Als nächstes habe ich mich dann recht und schlecht an Regalen nach vorne gehangelt, auf der Stelle gedreht und wieder zurück gehaspelt, hin und her. Ein gutes Training für den Anfang soll auch sein – ich habe es nicht probiert, aber es hört sich ganz schlüssig an: Auf einem Supermarktparkplatz mit einem Einkaufwagen als fahrbarer Stütze zu üben.
Nach ein paar Tagen bin ich auf den nahen Schulhof umgezogen. Anmerkung: hier war das Alter ein strategischer Vorteil gegenüber meinem Sohn: Ich hatte kein Ansehens-Problem damit, in der Öffentlichkeit immer wieder demütig auf dem Boden zu kauern, mein Sohn wohl schon eher. Auf dem Schulhof habe ich mich an den Wänden entlang gehangelt, ständig mal wieder versucht, einen Meter allein zu fahren. Besonders hilfreich war ein langes Geländer, das den Schulhof an einer Grundstücksgrenze abtrennte: Das waagerechte Rohr war in der richtigen Griffhöhe und man konnte die Hand leicht darüber gleiten lassen, hatte aber festen Halt, wenn man ihn brauchte. Weiter war günstig: Der Schulhof fiel leicht ab und bei den ersten etwas weiter tragenden Versuchen freien Fahrens wirkt ein leichtes Gefälle nach vorne sehr unterstützend.
Dann gab es noch eine halboffene Pausenhalle mit gekacheltem, damit völlig ebenem Boden. Auch dies ist eine zu Anfang sehr günstige Trainingsumgebung. Hier kamen meine allerersten „freien“ Meter nach ca. vier Wochen so zustande: Ich hatte mich – immer und immer wieder, sehr zielgerichtet – an der Wand entlang gehangelt, die nach ca. 6 Metern rechtwinklig nach rechts abbog. Etwa 3 Meter nach dieser Ecke stützt ein ringsum frei stehendes senkrechtes Stahlrohr die Decke ab. Ich habe mir fest vorgenommen, nach Passieren der Mauerecke eben dieses Stahlrohr zu erreichen. Irgendwann hat es tatsächlich geklappt: Ziemlich eiernd und sicher mit erschreckender Optik bin ich ca. zwei Pedalzyklen frei gefahren! Die nächsten fünf Versuche haben natürlich nicht direkt wieder geklappt. Aber einfach nicht aufgeben! Es geht – und das werden Sie beim Einradfahren ständig erfahren – nicht immer, aber immer öfter.
Dann habe ich versucht, das Ganze auf die freie Wildbahn zu übertragen. Ich bin mit der Hand an einem Baum auf dem leicht nach vorne abfallenden Schulhof aufgestiegen und habe mich bei waagerechter Pedalstellung leicht abgestoßen. Beim ca. 20. Mal bin ich 2 Meter gefahren, beim ca. 40. Mal 3 Meter und beim 41. Mal 25 Meter. Der Lohn: 2 Liter Endorphin. Wohlverstanden: Man sich nicht darauf verlassen, dass man das einmal Gepackte immer wieder packt. Es ist eher wie die Echternacher Springprozession, die auch immer wieder ein paar Schritte zurückführt, aber in der Tendenz beharrlich und beherzt vorwärts kommt.
1. Exkurs: Der
geistige und der körperliche Ertrag
- Das ist wahrscheinlich das wirklich Beglückende am Einrad:
Man kann sich auch im fortgeschrittenen Alter noch unmittelbar überprüfbare Lernfortschritte vornehmen und realisieren
(Beispiele: „An dieser schiefen Garagenausfahrt will ich vorbeikommen!“ „Über
diese Bordsteinkante will ich kommen!“ „Diesen holprigen, steilen Waldweg will
ich herunter!“ oder: „Diese lange Steigung kann ich schaffen!“) Sie schaffen es
nicht heute oder morgen, aber vielleicht in 10 Tagen. Und auch nach einem Monat
wissen Sie noch sehr gut, was Ihnen einmal heftiges Stöhnen abgerungen hatte.
In unserem Alter (50+) tut man schon die ersten Dinge letztmals. Es tut dann gut, etwas erstmals im Leben anzugehen, zu
versuchen und zu schaffen. Bei meinen ersten freihändigen Metern auf dem Einrad
fühlte ich mich auch plötzlich an etwas erinnert, was schon lange verschüttet
war: An den Moment, als ich als ca. Fünfjähriger zum ersten Mal beide Füße auf
das Trittbrett meines Tretrollers stellen konnte und die erste Schlängellinie
unter meinem Schwerpunkt durch gefahren bin – also als ich nicht mehr in
permanenter Schräglage und mit ständigem Nachtreten nur so getan habe, als könnte ich es schon locker. Und dann
plötzlich dieser Stolz, als könnte einen nichts mehr auf der Welt so schnell
aus der Ruhe bringen.
-
Dazu kommt noch etwas fast Transzendentales: Das Einradfahren funktioniert zwar weitestgehend
in den unteren Hirnschichten und das Gesäß steuert am Ende viel mehr als die
Hirnrinde. Aber trotzdem: Sie müssen sich vorher und auch unterwegs ganz
bewusst, fast programmiert zur Ruhe bringen und Vertrauen zu sich selbst
aufbauen. Sehen Sie etwa vor sich einen Zweig auf dem Boden, gibt es
grundsätzlich zwei Einstellungen (1) „Schrecklicher
Zweig, das schaffe ich bestimmt nicht!“ Dann liegen Sie praktisch schon auf
dem Boden. (2) „Ich bin gut drauf, was
schert mich so ein Zweig?“ Dann fahren Sie locker vorbei oder sogar drüber.
Und achten auch gar nicht darauf, wer alles auf Sie sieht. Sie können sich also
ein Stück in die Zukunft denken oder wünschen – und das ist eine erstaunliche
Erfahrung. Eine ähnliche Erfahrung ist, dass Sie sich Ihren Weg vorwärts
denken, etwa um Hubbel, Steine oder Vertiefungen auf dem Boden herum. Und
gleichzeitig fahren Sie diesen Weg fast virtuell nach. Das Gefühl der allein
durch Willen gesteuerten Richtung wird wohl durch das Fehlen des Fahrradlenkers
stark gefördert.
- Einradfahren hat auch, auch wenn es sich seltsam anhört,
viel mehr vom Laufen als vom
Radfahren. Wie beim Laufen wird der Schwerpunkt fortwährend von dem
Auftrittspunkt (hier: der Lauffläche des Reifens) verfolgt oder: vor diesem her
geschoben. Daher gibt Einradfahren das Gefühl kontinuierlichen Fallens, positiv
ausgedrückt: des Fließens oder Fliegens. Nach einer gewissen Zeit kann man sich
sogar eine Art Flow-Erlebnis
verschaffen: Sie kennen vielleicht diesen Traum – er ist, wie ich inzwischen
höre, erstaunlich verbreitet: Loszulaufen, nach einer gewissen Zeit die Füße
anzuheben und in gleicher Richtung weiter zu gleiten, dabei die Schwerkraft
willentlich auszuschalten. An genau diesen Traum, der bei mir früher der running gag meines Nachtschlafs war,
fühlte ich mich intensiv erinnert, als ich neulich im Wald auf einem organisch
gedämpftem, leicht abfallenden Weg in ein dynamisches Gleichgewicht kam und die
Bäume und Büsche gleichförmig an mir vorbeizogen. Anm.: Trotzdem kann man
natürlich eine Minute später auf die Nase fallen. Aber bis dahin war’s sehr erbaulich!
Ähnliches mag man auch beim Brandungssurfen erleben – nur gibt es im
- Wem das alles zu spirituell klingt – es gibt auch sehr erdige Erträge: Sie gewinnen in jedem
Fall Balance (ich kann’s doch nicht
lassen: körperlich und geistig). Neben dem Gleichgewichtssinn tun Sie
auch gleich noch etwas für Ihre Reaktionsbereitschaft,
Feinmotorik und Körperkoordination.
Zwar können Sie wohl die Reizweiterleitung nicht beschleunigen – die scheint physisch
weitestgehend festgelegt. Aber Sie können die Schalter besser „schmieren“ und
Ihre Basis-Datenverarbeitung auf ankommende Reize vorbereiten, also trainieren.
Beispiel: das Fallen ist für uns
Erwachsene – und zunehmend auch für unsere Kinder – praktisch tabu. Mit dem
Einradfahren lernen Sie besser fallen. Na toll, sagen Sie? Genauer: Sie können
schon die Millisekunden vor dem eigentlichen Fallen besser nutzen, um Schaden
stiftende Entwicklungen ganz oder teilweise zu vermeiden. Sie können sich dann auch
in anderen Situationen mehr zutrauen und brauchen sich aus „riskanten“
Lebensbereichen nicht zurückzuziehen. Sie gewinnen also auch Zeit und Kaltblütigkeit. Anmerkung: Das Einradtraining wird mit Erfolg im
Rehabilitationsbereich eingesetzt. Und mir fällt nicht mehr so viel aus der
Hand.
Ferner: Sollten Sie Angst vor einem schlaffen Gesäß, vor Cellulitis, einem wacklig-schmerzhaft-instabilen Rückgrat, einem zu opulenten Body-Maß-Index oder gar dem Alzheimer-Syndrom haben: Nehmen Sie
regelmäßig Einrad.
Jetzt fragt sich der geneigte Leser, warum er dann nicht auf
dem Einrad geboren worden ist. Aber dafür habe ich leider keine abschließende
Erklärung.
Die nächsten Schritte: Ich habe längere Strecken auf’s Korn genommen, z.B. eine schmale kleine Straße zwischen zwei Feldern, die langsam abfällt (für Kenner des schönen Dorfes Dierath: das „Handerfeld“). Dort habe ich zuerst die Distanz zwischen zwei Laternen überwunden, dann drei Laternen und so weiter und so fort. Parallel habe ich immer wieder auf dem Schulhof geübt, vor allem das Aufsteigen ohne seitliches Abstützen. Man findet ja nicht ständig passende Haltepunkte und außerdem trainiert das freie Aufsteigen hervorragend die Balance. Es gibt im Grunde zwei Aufstiegstechniken: eine „statische“ Variante, auch „Balance-Aufstieg“ genannt, und eine dynamische Version, auch als „Pendel-Aufstieg“ bezeichnet. Die erste („Balance“-) Technik habe ich mir so angewöhnt:
(1) Ich bringe zunächst die Tretkurbeln in waagerechte Position und
stelle auch die Pedale flach, sonst
klappt’s später kaum. Bei mir zeigt immer das linke Pedal zu mir, das Einrad
halte ich mit der rechten Hand leicht zu mir geneigt vor mich und klemme es mir
schon einmal leicht unter den Hintern.
(2) Nun stelle ich den
linken Fuß mit ganz geringer Last
auf das linke Pedal und stelle ein fühlbares Kräftegleichgewicht zwischen dem Druck auf das Pedal und dem Druck
mit meinem / auf mein Gesäß her. Die wesentliche Last ruht noch immer auf dem
durchgestreckten rechten (Stand-)Bein, das Einrad bewegt sich praktisch noch keinen Zentimeter von der Stelle.
(3) Dann verlagere ich
das Gewicht vom rechten Bein so, dass mehr oder weniger gleichzeitig ein Drittel auf dem linken Bein (auf dem
linken Pedal) landen, ein Drittel
mit dem Hintern auf dem Sattel und das letzte Drittel auf dem nun zügig betretenen rechten Pedal, das ja immer
noch vorne steht.
(4) Das Rad bewegt sich
einen Augenblick lang noch immer nicht
nach vorne, es selbst bleibt statisch. Vielmehr vollführt die Sattelstange mit
dem Sattel eine langsame Kreisbewegung
um die Nabe des noch immer feststehenden Rades, wie über einen sanften
Hügel.
(5) Sobald die
Sattelstange leicht nach vorne geneigt ist, belaste ich das rechte Pedal etwas
mehr als die linke. Das linke Pedal wird nicht
etwa entlastet, sonst träte man ja rechts mit Wucht nach unten durch und würde
gleich wieder absteigen. Man fährt behutsam los.
Einfach geschrieben, klar! Aber es gibt auch einen relativ einfachen Trainingsweg: Versuchen Sie die beschriebenen Bewegungen am besten in unmittelbarer Nähe einer senkrechten Stange oder einer anderen festen Griffmöglichkeit und zunächst nur mit dem Ziel, in den Sattel zu kommen, nicht, um auch loszufahren. Wenn Sie das 20 bis 50 Mal trainieren, könnte es schon funktionieren (nicht bange machen lassen!). Anmerkung: den „Pendelaufstieg“ kann ich noch nicht, kann ihn daher auch schlecht beschreiben; er ist aber in dem o.a. Buch gut erklärt.
Noch ein kleiner Hinweis: Schauen Sie in den ersten Wochen beim Starten und Fahren nicht krampfhaft auf den Boden unmittelbar vor Ihrem Rad oder gar darunter; so hätte Ihr Gleichgewichtssinn kaum eine Chance. Checken Sie schon vorher den möglichen Fahrweg, blicken Sie ganz kurz auf das noch unbesetzte Pedal und schauen Sie dann beim Fahren einige Meter vor das Rad, zunehmend auch in größere Weiten, das erleichtert die Stabilisierung. Später können Sie dann einmal sehen, wohin Sie wollen. Sie können sogar für mehrere Sekunden die Augen schließen und einige zehn Meter fahren, ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten, also wie im Schlaf. Ihr Gesäß hält dann in aller Regel ausreichend Wacht. Es ist offenbar viel klüger, als man ihm im Allgemeinen zubilligt.
Nach zwei Monaten habe ich regelmäßig an den Wochenenden die Familien-Brötchen auf dem Einrad beigeschafft, mit Rucksack und teilweise mit Hund, diesen aber wohlgemerkt nicht an der Leine. Dabei bin ich anfangs jeweils kleine Teilstrecken gefahren, unterbrochen von einigen Geh- und Erholungspausen für meine Oberschenkel, dann immer längere Strecken bis zu ca. 1000 m. Oberschenkel: Diese Muskulatur muss für das Gleichgewicht in Fahrtrichtung sorgen und war anfangs besonders beansprucht, fast krampfartig belastet. Aber – sei es durch bessere Balance, die dauerndes Nacharbeiten erspart, sei es durch tendenziell zunehmende Verlagerung des Gewichts von den Pedalen in den Sattel, sei es durch nachhaltiges Training der Muskulatur – mit der Zeit nimmt die gefühlte Anstrengung ab und die freien Distanzen nehmen locker zu.
Ich habe Waldwege erschlossen – das Einrad ist
verblüffend geländetauglich und das Fahren durch den Wald macht wirklich einen
irren Spaß – und stärkere Gefälle
oder Steigungen versucht. Gefälle
sind wider Erwarten gar kein besonderes Problem, wieder nur eine Frage der Übung:
Sie nehmen bei jedem Pedalzyklus mit den Oberschenkeln kontinuierlich Energie
heraus. Sie können auch durch leichte Serpentinen, bei denen Sie bei jedem
Pedalzyklus jeweils in Trittrichtung etwas einlenken (man könnte das mit
„Wackeln“ oder „Flattern“ umschreiben) den gefahrenen Weg künstlich verlängern
bzw. die Steigung vermindern. Schwerer als das
Zu Ostern 2007 habe ich dann das Einrad
mit in die
2. Exkurs: Zum
lebenslangen Entfalten
Vielleicht ist Ihnen ab und zu das Schlagwort LLL / life-long-learning
/ lebenslanges Lernen unter gekommen und Sie fanden, das klinge doch arg
nach Nachsitzen, life sentence oder
Höchststrafe. Das sehe ich ganz genau so. Lebenslanges Lernen ist leider viel zu
häufig reines Versionslernen, etwa um mit einer gerade neu erschienenen Windows-Office-Suite zum vierten Mal in
Ihrem Leben wieder arbeits- und konkurrenzfähig zu werden. Hier wird uns das
LLL in einem von simplen Marktgesetzen getriggerten Veränderungsdruck
aufgezwungen – gerne garniert mit dem Attribut „modern“. Das LLL bringt uns in
solchen Fällen nicht signifikant weiter („Gehe zurück auf Los; ziehe keine 400
€ ein!“). Darum macht es ja vielen auch eher wenig Spaß, der bildlichen Möhre
nachzurennen, die uns immer ein paar Meter voraus sein wird.
Sehr lohnend und attraktiv finde ich dagegen das Ziel lebenslang erweiterter Kompetenz, lebenslangen Mitwirken- und
Mitgestalten-Könnens. Kopf und Körper haben ein praktisch unausschöpfbares
Potenzial an Talenten und Fertigkeiten. Sie können sich noch im hundertsten Lebensjahr prächtig entfalten, siehe Buster Martin
von den Zimmers und deren geplanten
Song „When I’m one hundred and 64“. Talente sind nach meiner Auffassung auch
nicht unter uns zu suchen (manche
bezeichnen gerne einzelne Menschen als „Talente“), sondern in jedem von uns. Jeder Mensch ist Kenner, Künstler und Könner. In
diese Richtung weist übrigens auch der ursprüngliche christliche Wortgebrauch.
Danach soll jeder seine von Gott gegebenen Gaben zum Nutzen der Gemeinschaft
ausprägen und verwerten – eben seine Talente, die ursprünglich eine Gewichts-,
dann eine Werteinheit waren.
Jeder weiß aus eigener Erfahrung: Die eigene Fähigkeit, ein
nicht völlig triviales Problem zu lösen, schwankt über Tage und Monate massiv:
Was heute ganz leicht erscheint, kann morgen ein riesiges Problem sein, und
umgekehrt. Verwundert stellt man vielleicht fest, dass jemand anders „schneller
schaltet“ oder auch langsamer als erwartet. Nach meiner festen und auch schwer
widerlegbaren Überzeugung schwankt nun die Leistungsfähigkeit eines beliebigen Individuums signifikant stärker, als es
wissenschaftlich messbare Unterschiede in der Problemlösungsfähigkeit zwischen den einzelnen Individuen gibt.
Kurz gesagt: Wir unterscheiden uns – in unseren highs und lows – von uns
selbst viel stärker als von unseren Mitmenschen. Es mag genetisch festgelegte
Ausnahmen in weit obersten und untersten Teil des Begabungsspektrums geben. Aber
selbst diese kennen oder erkennen wir für gewöhnlich nicht. Anmerkung: eine
Untersuchung zum IQ von arbeitslosen und ausbildungslosen jungen Einwanderern
bzw. Einwander-Nachkommen förderte vor kurzem in Berlin eine völlig unerwartete
Zahl von Höchstbegabungen zutage, statistisch nicht weniger als in der
„Normalbevölkerung“.
Die Menschen außerhalb der sehr schmalen Extreme, also fast
alle von uns, können mit den passenden Rahmenbedingungen alles lernen und alles
leisten. Die Evolution oder wer auch immer hat uns einfach gesprochen eine
ungeheure Reserve eingebaut. Zweite Anmerkung hier: Das Schachspielen rechnen
wir zu den anspruchsvollsten Verstandesleistungen überhaupt. Und zum
Schachspielen sagt nun die aktuelle Forschung: Für die Leistungsspitze und für
Staunen erregende geistige Kompetenzen befähigt gerade nicht ein spezifisches angeborenes Talent, sondern
hoch motivierte, systematische Vorbereitung und kontinuierliches Training,
vgl. Ross, Wie Genies denken,
Spektrum der Wissenschaft 2007, S. 36-43. Pardon, wenn ich die Illusion eines
intellektuellen oder motorischen Besitzstandes angekratzt haben sollte. Aber
darin steckt doch sehr viel Ermunterndes: Es kann Ihnen niemand beweisen, dass
Sie irgendetwas in der Bandbreite menschlicher Kompetenz nicht lernen können.
Versuchen Sie es halt. Einrad ist ein motivierender Anfang mit lebenslanger
Gewinnaussicht.
Ich muss – und kann zum Glück – noch eine Menge lernen. Bis Weihnachten habe ich mir vorgenommen: Das „Pendeln“ (quasi auf der Stelle immer ein kurzes Stück vor- und zurückfahren), rückwärts Fahren, vielleicht auch: unbeschadet zwei, drei Treppenstufen herunter kommen. Schau’n wir mal. Wenn’s klappt, schreibe ich es hier auf. Wenn ich jemanden inspirieren kann, würde es mich freuen.
3. Juni 2007
Dr. jur.
Karl
Weihnachten
2007 vorbei, Rechenschaft fällig.
Also, das Pendeln, das Rückwärtsfahren und auch die Stufen hinab: das geht jetzt so einigermaßen. Aber es hat schon etwas gedauert – das Pendeln bis zum Dezember – und alles schreit nach weiterer Verbesserung.
Noch ein paar kleine Tipps, und bei allen gilt: Ich habe es so erlebt und gelernt. Das muss keineswegs dem Reinheitsgebot deutscher Einrad-Pädagogik entsprechen und versteht sich wie immer ohne Gewähr und Haftung:
· Rückwärtsfahren hat deutlich mehr Tücken als der Weg vorwärts. Das kennt man/frau ja vom heiligen Blechle. Die einradmäßigen Fortschritte verlaufen rückwärts deutlich zäher als vorwärts. Und teils entwickeln sie dann wieder erschütternd dynamisch. Ich fahre nur noch mit Manschetten um beide Handgelenke.
Ein Trainingsweg: An der Wand entlang, mal in die eine Richtung mit der linken Hand abgestützt, nach einer Wendung mit der rechten Hand abgestützt zurück (Einseitigkeit vermeiden!). Machen Sie das mindestens eine Woche lang (aber nicht 24 Stunden am Tag!). Versuchen Sie dann immer mal wieder, sich kurz von der Wand zu lösen und fahren Sie bewusst und mit betontem Hüftschwung eine Schlängellinie. Denn Sie brauchen rückwärts stärker noch als vorwärts zur Stabilisierung ständig leichte Abweichungen von der (nur) im Ideal geraden Fahrlinie. Beispiel, in dem Sie sich mit Ihrer linken Hand rückwärts fahrend an der Wand abstützen: (1) Wenn Ihr rechter Fuß mit seiner Hacke in Fahrtrichtung ganz vorne ist und dann das Einrad antreibt, stoßen Sie sich leicht von der Wand ab. (2) Das Einrad vollführt eine leichte Scher- oder Gierbewegung um die senkrechte Achse, die etwas von der Wand wegführt. (3) Wenn dann nach einem halben Pedalzyklus das andere Pedal in Fahrtrichtung vorne ist, drehen Sie das Einrad bewusst wieder in Richtung Wand, und so weiter und so fort. Üben Sie diesen ständigen leichten Richtungswechsel nachhaltig; er kann durchaus mal ruckartig verlaufen. Das werden Sie auch beim Pendeln gut gebrauchen können. Ein drehfreudiger Untergrund ist dabei sehr kooperativ, z.B. ein Kachelboden oder feiner Zement.
Wenn Sie dann die ersten freien Meter wagen, achten Sie auf einen möglichst planen Fahrweg. Das Rückwärtsfahren ist zunächst deutlich instabiler und schon ein kleines Hindernis oder eine minimale Kante oder Unebenheit kann Sie sehr ungalant auf Ihr Steißbein absetzen. Üben Sie später ganz bewusst, den Kopf auch zur Seite bzw. etwas über die Seite hinaus zu drehen.
· Stufen hinunter fahren ist ebenfalls eine Sache der Geduld und schützender Bekleidung. Es ist aber im Grunde leichter als das Rückwärtsfahren. Üben kann man am besten in wachsenden Stufen, anfangend z.B. an Bordsteinen, zunächst mit kleinen Höhenunterschieden. Anm.: Die Treppe auf dem Video hat nur recht flache Stufen – bis zu DIN-Maßen wird’s bei mir schon noch etwas dauern.
· Pendeln, zunächst zum Grundsätzlichen: Der (in meinem Fall) linke Fuß steht mit der Hauptlast im unteren Totpunkt des Kurbelweges – er ist das Pendel. Der rechte Fuß schiebt das rechte Pedal abwechselnd und gegen das Gegengewicht des linken Fußes vor und zurück. Also: Das Pendeln ist nicht eine wechselnde Belastung beider prinzipiell gleichberechtigter Pedale, mit der waagerechten Pedalstellung als Mittelwert. Man pendelt vielmehr um eine senkrechte Pedalstellung und bewegt sich ständig wie in einer flachen Rinne.
Als vorbereitende Übung wird auch die Position zwischen zwei Türpfosten empfohlen. Nach meiner Erfahrung ist das zu eng. Ich brauchte mehr Platz, um mit dem Körper in drohender Fallrichtung ausweichen zu können. Bei mir geschieht diese fortlaufende Korrektur in der Regel bei der Rückwärtsbewegung durch Verdrehen der Hüfte und leichtes Einschlagen. Den eigentlichen Lernfortschritt hatte ich erst bei reichlicher Armfreiheit (bei waagerecht ausgestreckten Armen jeweils knapp Kontakt zu der einen oder anderen Seite), dann bei einseitigem Festhalten an einer senkrechten Stange, schließlich bei freiem Aufsteigen. Auch hier ist ein drehfreudiger Bodenbelag sehr hilfreich (s.o.).
Noch ein ganz allgemeiner Rat, das hätte ich eigentlich schon oben ansprechen sollen: Die wichtigste Schnittstelle zwischen Ihnen und dem Einrad ist nicht diejenige zwischen Gesäß und Sattel, sondern der Kontakt mit dem Schuh zum jeweils angetriebenen Pedal. Der Schuh steht aber nicht fest darauf. Der Lastwechsel und die Scher- oder Gierbewegung des Einrades führen – vor allem bei steilen Steigungen oder Gefällen –ständig zu Bewegungen, bisweilen mit der Folge, dass die Schuhe nach außen weg wandern. Plötzlich stehen Sie grad noch auf einem Quadratzentimeter, bräuchten aber nach der aktuellen Lage besser einen Quadratmeter.
Übern Sie daher immer wieder bewusst, die Schuhe nach Ihrem Willen und Bedarf auf den Pedalen zu positionieren. Man kann die Scherbewegungen dazu ausnutzen und dabei die Füße in Richtung Gabel drücken. Man kann aber auch die Füße in der unbelasteten Phase des Pedalzyklus leicht anheben und neu justieren. Investieren Sie hier Training. Sie werden vielleicht schon bemerkt haben, dass fehlende Kontrolle über ein Pedal manch schöne Fahrt jäh beenden kann. Im gleichen Atemzug: Machen Sie mal Pause, wenn Sie schon ein paar Kilometer unterwegs sind. Die Fähigkeit, in Grenzsituationen richtig zu reagieren, nimmt erstaunlich schnell ab – und die Chance für einer neue Pawlow’sche Beule (physisch / psychisch) ebenso schnell zu. Nach 50 Metern zu Fuß können Sie dann aber schon wieder Bäume ausreißen. Manchmal sind Ihre vier Buchstaben auch sehr dankbar für etwas Kühlung und Entspannung. Ach ja, aus schmerzlicher Erfahrung, die mir ein paar Tage einradfrei eingetragen hat: Wenn Sie einige Kilometer fahren wollen (bei mit waren es ca. 14), salben Sie vorsorglich Ihre Rückfront. Dann sixtu wohl.
Sonst lief es
sehr gut. Die Brötchen habe ich dann auch mal im schönen
Und die einradmäßigen Pläne im neuen Jahr?
Einradfahren + Jonglieren wäre nett; das so genannte Freeze (auf der Stelle stehen, Balance ausschließlich durch Gewichtsverlagerung) für mindestens 10 Sekunden; dasselbe 5 Sekunden mit geschlossenen Augen; 180 Grad-Wende unter Beibehaltung der ursprünglichen Fahrtrichtung. Vielleicht noch die Steigung zwischen Altenberg und Blecher hinauf oder zwischen Unterburg und Burg an der Wupper. Es gibt noch einiges mehr! Mal sehen.
1. Januar 2008
Dr. jur.
Karl
Zwischenbericht
Die Fahrten von Altenberg nach Blecher und von Unterburg nach Burg an der Wupper (an der Burg vorbei, bis zum Ortsende von Burg geht’s noch mal eine nette Rampe herauf) waren gar nicht so ein Problem. Länger geknackt habe ich an ein paar heftigen Steigungen im Nahbereich: Von Bornheim nach Kuckenberg, von der Grünscheider Mühle nach Witzhelden, von Kleinhamberg nach Berghamberg (bei Anrainern auch als die „Murmelbahn“ bekannt), von Paffenlöh nach Wersbach, von Unterwietsche nach Dohm. Aber jetzt habe ich alle abgefahren – eigentlich schade. Bei den anderen 2008er Projekten – Jonglage, auf der Stelle Wenden, Freeze – muss ich noch etwas üben. Na, wird schon werden!
Ach ja, der SPIEGEL hatte am 5.5.2008 freundlicherweise den folgenden Leserbrief von mir abgedruckt, und zwar zu Jörg Blech „Faul macht dumm“ (SPIEGEL 17/2008 v. 21.4.2008, S. 146):
„Gegen schütteren Geist nehmen Sie Einrad, am besten täglich. Man(n) kann es lebenslang erlernen – jedenfalls noch mit Mitte Fünfzig – und hakt dann freudig und nachhaltig das Kreislauf-Schwächeln, die Adipositas, den Wackel-Rücken und das eingefallene Sitzfleisch gleich mit ab. Trauen Sie sich ruhig und Sie erfahren mit einfachen Mitteln physische wie psychische Balance.“
1. Juni 2008
Dr. jur.
Karl
Sensationelle
Wende in der Einrad-Archäologie!
Dieser bemerkenswerte Fund stammt aus einem Hügelgrab im württembergischen Hochdorf, wo vor ca. 2.500 Jahren ein keltischer Fürst mit einigem Aufwand zur letzten Ruhe gebracht wurde.
Der Grabhügel
bietet übrigens einen sehr inspirierenden Ausblick, u.a. auf den
Tafelberg-ähnlichen Hohenasperg (http://de.wikipedia.org/wiki/
In dem Museum nahe beim Grabhügel (des Keltenfürsten, nicht Schillers: http://www.keltenmuseum.de) können wir eine bereits lange gehegte Vermutung verifizieren: Man darf das Einrad nunmehr mit Fug und Recht zu den ältesten Sportgeräten des Kontinents rechnen - und es erfreute sich bereits weit vor dem Fahrrad kultischer Bedeutung. Nicht auszuschließen, dass der noch namenlose Keltenfürst – er wurde auf einer Bronzeliege von einem Geschwader aus acht (in Zahlen: 8) Einradfahrern (an den acht Beinen der Liege) in die ewigen Jagdgründe gerollt – als Erfinder des Einrads die wirtschaftliche Grundlage für sein monumentales Begräbnis gelegt hatte.
Ich rechne nun fest damit, dass das beschauliche Hochdorf zu einer Kult- und Weihestätte junger Einradfahrer ausgebaut wird ;-)
9. Juli 2011
Dr. jur.
Karl