Frohe Wünsche von Gerhard und Jaques

Bundeskanzler Gerhard Schröder und Präsident Jacques Chirac haben zum Jahreswechsel 1999/2000 in der jugoslawischen Zeitung Nedejlni Telegraf am 29. Dezember 1999 den folgenden gemeinsamen Aufruf an das serbische Volk veröffentlichen lassen (Wortlaut nach Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 1/2000 v. 3.1.2000, S. 2, 3; Hervorhebungen von mir):

"Ein für das Verhältnis Jugoslawiens zu Europa und zur Welt ereignisreiches und schwieriges Jahr neigt sich dem Ende zu. Während sich der Rest Europas immer enger zusammen-schließt, leidet Ihr Land unter internationaler Isolation und wirtschaftlicher Not, in die sie die Politik seiner Führung gebracht hat. Niemand in Europa hat ein Interesse an einem isolierten, darniederliegenden Serbien.

Die Menschen in Deutschland und Frankreich wünschen nichts sehnlicher, als dass auch in Ihre Region als ganzer (gemeint wohl: ganze) Stabilität, Frieden, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Wohlstand einkehren. Gemeinsam mit unseren Partnern in der Europäischen Union sind wir am Ende dieses Jahrtausends offen, ein neues Kapitel in den Beziehungen zur Bundesrepublik Jugoslawien aufzuschlagen, wenn die Bevölkerung Jugoslawiens selbst die hierfür erforderlichen Voraussetzungen schafft. Schon jetzt liefert Europa humanitäre Hilfsgüter an die Bevölkerung Serbiens und Montenegros. Wir sind bereit, unverzüglich umfassendere Hilfe für den wirtschaftlichen Wiederaufbau und die Entwicklung zu leisten, die dem Wohl Ihres Landes dienende Teilnahme als gleichberechtigter Partner am Stabiliätspakt für den Balkan zu ermöglichen sowie die europäische Perspektive für Ihr Land zu konkretisieren. Hierfür muss Ihr Land - wie die anderen Staaten in Europa - die europäischen Mindeststandards erfüllen. Dies sind insbesondere die Demokratie, freie Wahlen und die Achtung der Menschenrechte - Werte, die die gegenwärtige Führung mit Füßen tritt.

Wir wünschen der Bevölkerung Jugoslawiens ein frohes Weihnachtsfest, ein friedvolles Neues Jahr 2000 sowie die Kraft und den Mut für die notwendigen Veränderungen.

Gerhard Schröder, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland

Jacques Chirac, Präsident der Republik Frankreich

 

Ein sehr schillernder Aufruf. Was kann es sein, das die Adressaten in die Tat umsetzen sollen, wenn hier gefordert wird:

Das jugoslawische Volk soll "die Voraussetzungen schaffen", um "unverzüglich umfassendere Hilfe für den wirtschaftlichen Aufbau und die Entwicklung" entgegennehmen zu können, und zwar mit Aktionen schaffen, die nach dem finalen Glückwunsch "Kraft und Mut erfordern"? Und denen (nur) die "gegenwärtige Führung" Jugoslawiens im Wege steht, eine Führung, die dem Land "internationale Isolation, wirtschaftliche Not" gebracht hat, die die Demokratie und die Menschenrechte "mit Füßen tritt"?

Wahlen standen zur Zeit des Aufrufes nicht an. Und doch wurde zu unmittelbarer Aktion aufgerufen, sonst wäre die "unverzüglich" in Aussicht gestellte Gegenleistung nicht verständlich. Es ist die für jugoslawische Ohren keineswegs abwegigste Interpretation: Zwei europäische Spitzenpolitiker rufen hier dazu auf, mit Kraft und Mut - in der Konsequenz also auch gewaltbereit - gegen die gewählte, aber als gewissenlos und rechtlos gebrandmarkte Regierung vorzugehen: ein kaum verhohlener Aufruf zum Umsturz, mindestens die deutliche Erklärung moralischen Rückhalts dafür.

Stellen wir uns weiter ein naheliegendes Szenario aus einer solchen Erhebung vor: Ein junger Serbe, der vielleicht durch Kontakte nach Deutschland in der hiesigen Sicht bestärkt worden ist, liest den Aufruf. Er wird auf den Gedanken gebracht, einen ebenfalls jungen serbischen Polizisten zu attackieren - als einen "Schergen" der Staatsmacht. Der Polizist sieht sich so, wie auch wir es von unseren Ordnungshütern erwarten: in der Pflicht gegenüber der bestehenden Ordnung und der gewählten Regierung, selbst wenn er politisch nicht mit ihr übereinstimmt. Und vielleicht hat seine Familie gegenüber der Besatzung Jugoslawiens im zweiten Weltkrieg blutige Opfer gebracht.

Nehmen wir weiter an, die konkrete Konfrontation führt zum Tode oder zu einer ernsten Verletzung eines der Beteiligten. Würden unsere beiden ortsfernen Revolutionäre Jaques und Gerhard irgendeine Verantwortung empfinden? Wären sie nicht Anstifter oder gar mittelbare Täter? Ausreichend kausal wäre ihr Tatbeitrag in jedem Fall. Ich denke, sie würden rasch in die Kulissen treten und sich aus dem Drama zurückziehen. Zum Glück: es ist bis jetzt nichts passiert. Aber das lag dann nicht an unserer Spitzenpolitik.