Karl Ulrich Voss, Burscheid: Meine Leserbriefe im Jahre 1996

 

17.12.1996
Westdeutsche Zeitung
Militärpolitik; Bundestagsbeschluß über die Fortsetzung des deutschen Bosnien-Engagements und Ihrer Kommentierung (WZ v. 14.12.1996: "Beschränkt tauglich" v. Wolfgang Radau; "Die Bundeswehr wird zur normalen Bündnisarmee" v. Klaus Bering)

Ein langer Weg bis zur Entscheidung des Bundestags am 13.12.1996 - aber kein demokratisches Lehrstück!

Die deutsche Militärdoktrin wurde in den letzten fünf Jahren völlig umgekrempelt, ohne daß die politisch gewollten Einsatzziele in einem Wahlkampf zur Abstimmung gebracht oder in einem Gesetz klargestellt worden wären. Doch Entscheidungen mit Auswirkungen auf grundlegende Rechte von Bürgern oder Ausländern - neben dem deutschen Opfer in Kambodscha sollten auch zwei Somalis vermerkt werden -, setzen in einem Rechststaat nun einmal eine konkretisierende gesetzliche Grundlage voraus. Parlamentarische ad-hoc-Beschlüsse, deren jeweilige tatsächliche Basis wir Bürger realistischerweise nicht überprüfen können, sind kein dauerhafter Ersatz.

Bürger mögen von lokalen Fragen etwas mehr verstehen als von Außenpolitik. Aber wir sind davon betroffen. Insofern ist Außenpolitik mindestens ebenso intensiv demokratiepflichtig wie eine kommunale Abwassersatzung.

 

17.12.1996
DER SPIEGEL
Militärpolitik; Bundestagsbeschluß über die Fortsetzung des deutschen Bosnien-Engagements

Auf eine berechenbare gesetzliche Fixierung der neuen Aufgaben der Streitkräfte warten wir wohl vergeblich, ad-hoc-Beschlüsse des Bundestags sind für eine kreative Politik eine doch deutlich bequemere Alternative. Dann aber - bitte, bitte - wenigstens ein Preisausschreiben, und zwar für die aktualisierte Amtsbezeichnung unseres Herrn Rühe; "Verteidigungsminister" liegt ja nun schon lange deutlich neben der Sache.
Ich biete: "RKRK" oder "Riesen-Krisen-Reaktionskraft".

 

16.12.1996
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 20.12.1996
Militärpolitik; Demokratie; Bundestagsbeschluß zur Fortsetzung des deutschen Bosnien-Engagements (Stadt-Anzeiger v. 14./15.12.1996)

Gerne würde ich glauben, die heutige deutsche Wehrpolitik sei Ausdruck eines neuen Mitgefühls für Fremde in Not und nicht Folge eines modernen Selbst- oder Interessebewußtseins, Bosnien sei Motiv und nicht nur geeignete Gelegenheit für den schrittweisen Umbau der Bundeswehr.

Plausibler ist allerdings die nüchterne Deutung: die Wiedervereinigung hat erstmals wieder die Gefahr gebannt, daß Deutsche in Stellvertreterkriegen auf Deutsche treffen - und angeschwollene weltweite Stoff- und Warenströme und aus Deutschland hinausgewachsene wirtschaftliche Interessen legen einen globalen Schutz von Verkehrswegen und Investitionen und die passenden militärischen Werkzeuge nahe.

Ein einfaches und rechtsstaatliches Instrument kann allen Zweifeln abhelfen: ein Gesetz. Jede Einsatzentscheidung greift unmittelbar in elementare Rechte von Deutschen - gleich ob von Wehrpflichtigen oder Berufssoldaten - ein und auch von betroffenen Ausländern. Dies zwingt zu Transparenz und zu generellen Regelungen, ad-hoc-Beschlüsse reichen nicht aus. Das Gesetzgebungsverfahren muß die gesellschaftlich mitgetragenen Einsatzgründe und Entscheidungsgremien in einem offenen Prozeß herausarbeiten. Außenpolitik ist keine Ausnahme von Demokratie.

 

05.11.1996
Frankfurter Allgemeine; abgedruckt: 11.11.1996
Militärpolitik;
Leitartikel in der FAZ v. 02.11.1996 (E.-M. Bader: "Feuer in Afrika")

Um bei dem treffenden Feuerwehr-Beispiel zu bleiben: Es bedarf nicht nur der rechtzeitigen Planung einer Feuerwehr. Mindestens ebenso wichtig ist, die Brandgefahr vorausschauend herabzusetzen und dort, wo es gebrannt hat, die Substanz verbessert wiederherzustellen. Übertragen: Solange ethnische Konflikte einen hochwirksamen Brandbeschleuniger haben in wirtschaftlicher, sozialer und staatlicher Degradation, wird die Konflikt-Feuerwehr in rastlosem Einsatz sein. Wir müssen jede Chance nutzen, zu einem faireren Austausch zu kommen und in diesem fast schon abgeschriebenen Kontinent eigenständige Kompetenz und Wirtschaftskraft zu stärken.

 

09.10.1996
Wirtschaftswoche
Standort Deutschland; "Forum" in der Wirtschaftswoche Nr. 41 v. 03.10.1996 (Klaus Kinkel: Ideologische Nachhutgefechte)

Leider läßt Kinkel entscheidende Fragen offen: Er will die spezifischen Vorteile unserer Ordnung im internationalen Wettstreit unter Beweis stellen - aber was darf unter dem beschriebenen gewaltigen sozialen Innovationsdruck übrigbleiben? Kann Kinkel wirklich ferne Märkte für standortstärkende deutsche Ausfuhren öffnen - oder sind Exporte nicht schon passé? Und der wesentlichste Punkt: es gab doch mal einen sagenhaften Club of werweißwo mit der Erkenntnis, daß die Welt nicht mehr genug Zeit und Raum für beschleunigte Wettläufe technologischen Wachstums hat.

 

08.10.1996
Wirtschaftswoche; abgedruckt: 24.10.1996
Globalisierung; Wirtschaftswoche Nr. 40 v. 26.09.1996 ("Unheimliches Wesen")

Der Standpunkt der Wirtschaftswoche v. 26. September preist die Chancen eines beschleunigten globalen Wettbewerbs der Rahmenbedingungen - mit Augen so blau und kühl strahlend wie das Ozonloch an einem antarktischen Sommertag. (Anm.: der Standpunkt ist illustriert mit einem Bild v. Stefan Baron, das dessen stahlblauen Augen sehr gut zur Geltung bringt).

 

08.10.1996
DER SPIEGEL
Standort Deutschland; SPIEGEL 39 u. 40/1996

Gesellschaftliche Gestaltung ist passé. Rechtsfolgenabschätzung und Deregulierung stampfen Technikfolgenabschätzung in den Boden. Der Gedanke, der technologische Wettkampf könnte physische bzw. psychische Grenzen unumkehrbar überschreiten, ist Verrat an der Zivilisation. Club of Rome? Muß auf einem anderen Stern gewesen sein, auf dem die Naturgesetze noch nicht dereguliert waren.

 

26.09.1996
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 1.10.1996
Standort Deutschland; Ausagen anläßlich der Bischofskonferenz im Stadt-Anzeiger v. 26.09.1996

Josef Homeyer, der Sozialbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz, hält die Lohnfortzahlung in Krankheitsfall für einen sozialen Besitzstand, der auf den Prüfstand gehört.

Vorsicht! Könnte die Wirtschaft nicht eines Tages auch die institutionalisierte Kirche als unwirtschaftlichen sozialen Besitzstand, als in dieser Form unnützen Esser und damit als Standortnachteil einstufen? Kardinal Meisner muß seine - auf den Zölibat bezogene - Warnung vor dem unseligen Zeitgeist wohl anders fassen.

 

12.07.1996
Kölner Stadt-Anzeiger
Militärpolitik; Erleichterung von Rüstungsexporten (Stadt-Anzeiger v. 11.07.1996)

Sie berichteten über die weitere Liberalisierung deutscher Waffenexporte. Viele denken heute: Waffen sichern und schaffen eben auch Arbeitsplätze. Aber so ist es gar nicht; das Gewissen wird nutzlos auf Urlaub geschickt:

Waffenexporte sind zunehmend verknüpft mit entgegengesetzten zivilen Warenströmen, sei es durch Kompensationsgeschäfte (Waffen werden ganz oder teilweise mit Waren bezahlt), sei es durch Begleitverträge, sog. offset agreements (Vereinbarung getrennter Warenkäufe des waffenliefernden Staates im Zielland). So kann ein Waffengeschäft "zivile" Arbeitsplätze des waffenliefernden Staates kosten, sogar Arbeitsplätze insgesamt. Folge ist in jedem Fall eine unerfreuliche nationale Spezialisierung: gut in Panzern - ungenügend in Chips. Aber natürlich sind es auch höllisch gute Geschäfte für einzelne!

 

13.05.1996
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 31.5.1996
Standort Deutschland; (Leitartikel im Stadt-Anzeiger v. 11.05.1996)

Die Standortdebatte wird heute bevorzugt als Arbeitskostendebatte geführt. Das ist interessenpolitisch gefärbt, falsch und mit seiner Wirkung auf ausländische Investoren wie inländische Konsumenten sogar gefährlich. Der gerade vorgestellte Bundesbericht Forschung zeigt eine andere Dimension: "Wo Innovationspotentiale geringer werden und Innovationsvorsprünge schwinden, nimmt der Preis- und Mengenwettbewerb zu." Das ist der Kern des arbeitsplatzvernichtenden Rationalisierungsdrucks - und das ist kein Verdienst dreister, verfressener Arbeiter, sondern eher wohl das einer innovationsfernen Führungsschicht.

Darum: Unten zu holzen und oben zu mästen bringt garnichts. Das ist nämlich das perfekte Rezept für noch mehr Wasserkopf.

 

10.05.1996
International Herald Tribune
Standort Deutschland; changes in German social systems
(International Herald Tribune of May 10, Guido Brunner: "Kohl Sets Out on a Middle Way)

It is sometimes overlooked: Germany also is a pillar against social degradation abroad. If Germany drops the standards, the surrounding and partly weaker economies are bound to react accordingly and even further. Movements on the part of Germany will be major contributions to a downward competition for working and living standards set in countries very far away and with a remarkably lower degree of democracy.

 

19.04.1996
DER SPIEGEL
Holocaust; Daniel Jonah Goldhagen ("Hitler's Willing Executioners") im SPIEGEL Nr. 16/1996 (Rudolf Augstein: "Der Soziologe als Scharfrichter")

"Wer da ist ohne Schuld, der ..." Im Nachkriegsdeutschland, aber auch im kontinentalen Nachkriegseuropa wurden nicht gerade viele und nicht gerade große Steine geworfen. Ergo: besonders viel Unschuld hat's in unserer Region vielleicht doch nicht gegeben.

Und der brave Rudolf Augstein hat das ewigmenschliche fest im Blick und baggert seit geraumer Zeit das bißchen Geröll zurück. Siehe auch seinen letztjährigen Essay "Oh, that inhumanity!", wonach der Antisemitismus im Vorkriegspolen vielleicht ausgeprägter war als in Deutschland und der Staat Israel seine Existenz objektiv den Deutschen verdankt!

 

17.04.1996
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 31.5.1996
Holocaust; Daniel Jonah Goldhagen ("Hitler's Willing Executioners", Kulturteil des Stadt-Anzeiger v. 12.04.1996, Martin Oehlen: Ein Volk von Antisemiten?)

Goldhagens Botschaft ist schlicht: durchschnittlich anständige Deutsche hatten nichts gegen die soziale und körperliche Vernichtung jüdischer Mitbürger - Details wurden als unappetitlich empfunden, aber das Ziel stimmte. Der Befund ist schlüssig; auch die träge Sprache zeigt es. In unserer Familie wurde bis in die 60er Jahre hinein locker gesagt "bis zur Vergasung", wenn gemeint war "bis zum Überdruß" und die Erklärungsstrategien waren noch ähnlich wie vor 1945: jahrhundertelang verweigerte Assimilation der Juden und undurchschaubare, potentiell konspirative Gruppenbande.

Das verstörende an Goldhagens Ansatz ist nur: Wenn Antisemitismus endemisch und selbstverständlich war - und auch schon vor 1933 gewesen sein müßte -, relativiert dies die Steuerungsfähigkeit und Schuld vieler Deutscher (und vieler kollaborierender Europäer). Es verstärkt den Vorwurf gegenüber denjenigen, die immer einen weiteren, auch grenzüberschreitenden Blick haben, gegen die gesellschaftlichen Eliten aus Administration und Aristrokratie, Kirche und Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft.

 

11.04.1996
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Miltärpolitik; Demokratie
Ronald D. Asmus in der FAZ v. 11.04.1996 (S. 11: "Kein Kult der Zurückhaltung mehr")

Die aktuelle Studie zum Meinungsbild der deutschen Elite zur Außen- und Sicherheitspolitik ist sehr aufschlußreich. Eines der für die Politik wichtigsten Ergebnisse: der eklatante Unterschied in der Bewertung von Kampfeinsätzen der Bundeswehr außerhalb des Bündnisgebietes mit ca. 80% Zustimmung bei der gesellschaftlichen Elite gegenüber nur 20% bei der allgemeinen Bevölkerung.

Es liegt nahe, den Bruch mit dem intensiven top-down-Effekt bei der fundamentalen Änderung der deutschen Außenpolitik zu erklären. Eine breite Diskussion hat es nicht vor der Neuorientierung, sondern höchstens konsekutiv gegeben, in zwei zwischenzeitlichen Bundestagswahlkämpfen hatte das gewichtige Thema keinerlei Prominenz und trotz des Gesetzesvorbehalts unserer Verfassung existiert bis heute keine generelle Regelung der potentiell einschneidenden Tatbestände - nur verteidigungspolitische Richtlinien und ad-hoc-Entscheidungen des Parlaments.

Zumindest das legislative Defizit kann und muß unverzüglich behoben werden, um die Identifikation der Bevölkerung mit den neuen Aufgaben der Bundeswehr in demokratischem Prozeß zu verbessern.

 

13.03.1996
Kölner Stadt-Anzeiger
Militärpolitik; Gesetzesinitiative zum Schutz der Bundeswehr vor Ansehens-schädigenden Äußerungen

Ich stelle mir einmal vor, die Gesetzesinitiative zum Schutz der Bundeswehr vor Ansehens-schädigenden Äußerungen hätte Erfolg. Ich male mir weiterhin aus, die Bundeswehr intervenierte eines schönen Tages in einem arabischen Staat zur Sicherung der ungeschmälerten Ölversorgung und ich schimpfte sogleich in einem Leserbrief über "Kanonenboot-Politik, Söldnertruppen" und dergleichen.

Würde ich meinen nächsten Leserbrief dann im Gefängnis schreiben - an den verantwortlichen Redakteur eine Zelle weiter?

 

08.03.1996
DIE ZEIT
Militärpolitik; Demokratie; Theo Sommer in der ZEIT Nr. 10 v. 01.03.1996 (Zeit zum letzten Zapfenstreich?)

Die Entscheidung zwischen Wehrpflicht und Berufsheer hat sehr wohl mit Demokratie zu tun und auch mit Moral: Eine Demokratie muß nicht nur repräsentativ planen, sondern sie muß gerade in bedrohlichen Situationen auch repräsentativ handeln. Das altrömische Kopf-und-Glieder-Modell war uns in der Schule zu recht als arrogant erschienen.

Es kann auch hier kein Vorbild sein, etwa nach der Devise: wir brauchen mehr militärischen Biß - und werden schon genug junge Leute dafür finden. Dies würden am ehesten solche sein, denen unsere Gesellschaft keine andere vernünftige Arbeit, keine zivile Perspektive bieten kann oder will. Es wäre ein wenig wie Verleitung zur Prostitution.

 

25.02.1996
International Herald Tribune
Deutsche Einheit; article in the International Herald Tribune of 23.02.1996 (Rick Atkinson: "Do Bonn subsidies help or hamper the East?")

To me there is quite a clue for the sluggish economic situation in Eastern Germany: The German reunification was sort of an "unfriendly takeover". The East was swiftly wired to an overwhelming West in any thinkable way - political parties, finance, production and energy, law - and Easterners never had a fair chance of becoming competitors, to decide on their own. Outspokenly: they were not supposed to.

To create dependency at first and now shut down alimentation would be fatal blow - if you do not effectively further emancipation at the same time.

 

25.02.1996
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 1.3.1996
Militärpolitik; Demokratie
Diskussion über die Wehrpflicht (Wiedemann in KStAnz. v. 24.02.1996, S.2. "Brauchen wir die Wehrpflicht")

Vehementer Protest, Herr Wiedemann: Die Berufsarmee ist nicht wünschenswert und sie ist auch nicht unausweichlich.

An deutschen Stammtischen und in deutschen Partei-Biotopen wuchern die out-of-area-Feldherren. Sie würden jederzeit die Haut anderer zu Markte treiben - für Ordnung, Freiheit, Menschenrechte und/oder Rohstoffversorgung. Mit gleicher Entschiedenheit freilich würde die Mehrzahl davon ein persönliches militärisches Risiko verweigern. Eine Söldnerarmee käme gerade recht: sie würde ihnen den inneren Widerspruch ersparen.

Aber eine Demokratie braucht Rückkoppelung, braucht Betroffenheit und das Schmerzgefühl eines militärischen Eingriffs. Wir brauchen nicht weniger, wir brauchen mehr Wehrpflichtige, und wir brauchen Einsatzformen und Einsatzziele, die ein dauerhaftes Engagement aus allen gesellschaftlichen Gruppen möglich machen. Joschka Fischer, Lothar Rühe und Günther M. Wiedemannn könnten die ersten sein.

 

14.02.1996
DIE ZEIT; zustimmende Antwort v. M. Miegel v. 28.2.1996
Globalisierung; Meinhard Miegel in der ZEIT Nr. 7 v. 09.02.1996 (Der ausgefranste Arbeitsmarkt);

Eine Gesellschaft braucht unabhängig von Modernität ein Mindestmaß an Ruhe und Kontinuität, wenn sie nicht durchdrehen will. Aber unsere früh industrialisierten Staaten verschreiben sich heute einem immer rascheren Innovationstakt. Wir hetzen mit gesenktem Kopf in eine Zukunft, die wir als alternativlos erklären und die wir nicht mehr abzuschätzen, geschweige denn sozial zu gestalten wagen.

Am Beispiel Multimedia: Multimedia wird Dienstleistungen - etwa Bildungsleistungen - automatisieren, beliebig vervielfachen und aus dem In- und Ausland ins Haus liefern. Multimedia wird auch neue Arbeit schaffen, doch vor allem Echtzeit-Arbeit jeglicher Qualifikationsstufe entwerten und ersetzen wie keine Technologie zuvor. Der vielleicht deutlich negative Arbeitsplatzsaldo ist bei uns kein Thema, ebensowenig vorausschauende flankierende Maßnahmen zur Kanalisierung, mindestens zur Abfederung dieser Revolution.

So gerne ich auch wollte - ich kann Herrn Miegels Hoffnung nicht teilen, es liege bei dem Einzelnen, ob das Leben in Zukunft besser oder schlechter wird.

 

07.02.1996
Kölner Stadt-Anzeiger
Standort Deutschland

Der neue Hauptgeschäftsführer des britischen Industrieverbandes, Adair Turner, hat einen erfrischenden Kontrapunkt zur gegenwärtigen deutschen Standort-Tristesse gesetzt: Einer Lohn-Preis-Spirale muß zweifellos entgegengewirkt werden. Aber ebenso selbstverständlich sind und bleiben reale Lohnsteigerungen das Ziel jeder Volkswirtschaft - auch im Interesse der Industrie. Mit einem depressiven Schmalhans als Verbraucher und Mitarbeiter kann niemand einen Blumentopf gewinnen.

Eine breitere Zuversicht braucht und verdient auch der deutsche Standort. Sonst haben wir ihn bald totgebetet.

 

09.01.1996
DIE ZEIT
Militärpolitik; ZEIT Nr. 2 v. 05.01.1996 (Theo Sommer: "Wenn die Feldpost wieder kommt")

Was spiegelt sich in den neuen Maximen? Wir machen nun mit bei einer auf Weltmaßstab ausgedehnten Monroe-Doktrin: Wir kündigen an, zur Sicherung unserer wohlverstandenen Interessen weltweit auch militärische Macht einsetzen zu wollen. Humanitäres ist in zweiter Linie interessant, wenn es sich denn fügt.

Die Reaktion auf diese einseitige Änderung grundlegender Spielregeln? Früher oder später - wegen der rapiden Abnahme der globalen Distanzen und Ressourcen eher früher - wird der erweiterte Anspruch mit Rechten anderer kollidieren, z.B. im Falle des Islam, dem uralten und wieder wohlfeilen Lieblingsfeind aller Falken. Und im Konflikt werden dann unsere Wehr-Falken dem zerzausten Tauben-Volk selbstgewiß erklären: "Unsere Voraussage hat sich erfüllt, wie immer."

 

05.01.1996
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 9.1.1996
Neue Tarifstruktur der Telekom

Die neue Tarifstruktur der Telekom zielt selbstverständlich auf Mehreinnahmen. Sonst wäre sie unsinnig. Sie bezweckt ferner eine Umverteilung: Entlastung im Fernbereich und Verteuerung gleicher Leistungen im Nahbereich. Damit geht sie zu Lasten von kleinen Firmen, die im örtlichen Bereich operieren, und von alten und kranken Bürgern, die künftig häufiger mit Herzklopfen und Gebührenstreß telefonieren werden.

Wäre es der Telekom wirklich ernst mit dem kostenbewußten Bürger im neuen Tarifdschungel, sie könnte mit verfügbarer Technik leicht helfen: Wie wäre es mit einer maschinellen - und hoffentlich kostenlosen - Auskunft über die aktuellen minütlichen Kosten einer anzuwählenden Verbindung, wie mit der Option, sich durch Warnton das nahende Ende eines Gebührentaktes anzeigen zu lassen? Das beste Steuerungsinstrument in der Hand des Kunden aber wäre die Möglichkeit, vor einem Gespräch ein konkretes Gebührenlimit eingeben zu können.

 

und, viele Leserbriefe vorher:

 

29.09.1992
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 02.10.1992
Militär; Absage der "V 2 - Gedenkfeier" in Peenemünde (KStAnz. v. 29.09.1992)

Hätten wir am Deutschlandtag die Schöpfer der V 2 hochleben lassen, hätten wir auch die der Scud mitgefeiert. Die Scud ist wie die Mehrzahl der heute weltweit ausgerichteten Trägersysteme legitimer Nachfahre der V 2. Scud und V 2 sind brutale Massenvernichtungswaffen, die unter einem verantwortungslosen Regime bewußt zum Schaden der Zivilbevölkerung eines anderen Landes entwickelt und eingesetzt worden sind.

Demgegenüber ist der vorgebliche Kontext ziviler (!) Raumfahrtforschung, der etwa den jungen Wernher von Braun begeistert und geblendet haben mag, als Begründung eines V 2 - Festes geradezu absurd. Die Forschung hat sich gegen diese Wirtschaftsidee im doppelten Sinne auch ausdrücklich verwahrt.

Der Vorschlag war, wenn auch der count-down schweren Herzens in letzter Sekunde abgebrochen wurde, bereits eine verheerende Wunderwaffe gegen das Ansehen des neuen Deutschland im Ausland und unserer Repräsentanten im Inland.

 

Zurück zur Hauptseite?