Karl Ulrich Voss, Burscheid: Meine Leserbriefe im Jahre 2003

 

12.12.2003; abgedruckt im Kölner Stadt-Anzeiger v. 19.12.2003
Kölner Stadt-Anzeiger
Europäische Verfassung und Volksabstimmung; Interview mit Vassilios Skouris, Präsident des Europ. Gerichtshofes (KStA v. 12.12.2003, S.3: 'Auch über das Grundgesetz hat es keine Volksabstimmung

Das Grundgesetz ist nicht von den Bürgerinnen und Bürgern angenommen worden und sei gleichwohl eine gute und akzeptierte Verfassung. Drum sollten wir mit der neuen europäischen Verfassung ebenso verfahren? Ein kleiner Hinweis: Nach guter alter Demokraten-Tradition hatten die Amerikaner 1949 eine Volksabstimmung gewünscht, um die Legitimation des neuen Weges zu stärken. Dagegen war die deutsche Seite (!). Die Gründe waren damals schon zweifelhaft und sind es heute jedenfalls: Man befürchtete, das Grundgesetz könnte bei einer Mehrheit als Bestätigung der deutschen Teilung durchfallen, und tröstete sich später mit einer gedanklichen Konstruktion: Wir Wähler hätten die provisorisch gedachte Verfassung dann in einer Folge von Wahlen sozusagen mitangekreuzt und genehmigt.

Heute besteht mehr Anlass für eine Volksabstimmung als je zuvor: Vereinigt sind wir ja nun wieder und die in die Wahlen hineingedachte Zustimmung der Bürger zum Grundgesetz leidet mit stetig zurück gehender Wahlbeteiligung an Schwindsucht. Die Verlagerung von Kompetenzen aus den Nationen heraus hin zur EU ist zudem demokratisch nicht wertfrei: Sie ist häufig eine Verlagerung aus der nationalen Gesetzgebung in die überstaatliche Verwaltung, somit ein Wechsel zwischen den Gewalten und ein möglicher Verlust an demokratischer Substanz. Dazu sollte man uns Bürger mal gefragt haben. Vielleicht kann sogar die griechische Mutter aller Demokratien über ihren Schatten springen und mit der EU-Frage den Weg zum Volk wagen.

 

Dec. 7, 2003
Time
Iraq conflict; Charles Krauthammer's "Why Bush stays away"' in TIME Dec. 8, 2003, p. 35:

From a public relations point of view, Charles Krauthammer may be right: The leader should mute any sign of grief till the war-job is done. A problem might be, that it's just p.r. - like the cold embedded turkey on Thanksgiving Day in Baghdad - and no good cause to die for. But that may not deter any politician in times, when neither press nor citizens can realistically scrutinize the causes of war communicated by a professional 'public diplomacy'.

 

1.12.2003; abgedruckt im SPIEGEL 52/2003
DER SPIEGEL
Wehrpflicht; Struck-Interview im SPIEGEL 49/2003, S. 52ff ('Jedes Land entscheidet souverän')

Die Interviewer haben es beharrlich herausgefragt: Peter Struck ist zwar gegen den Umbau der Bundeswehr zu einer Berufsarmee, aber mitbauen würde er zur Not schon. Impulsiver Applaus der Grünen, und den konnte man erwarten. Die Wehrpflicht wäre der ganz große Elch. Der über dem Kamin und man wäre auf Jahre bei der Bekannt- und Wählerschaft fein heraus.

Etwas später fiele auf, dass der Elch zum demokratischen Biotop gehört hatte, zur politischen Authentizität auch der Grünen. Die Grünen akzeptieren Auslandseinsätze ja nicht nur, für Humanität und Bürgerrechte fordern sie heute ein entschlossenes bewaffnetes Engagement. Dann müssen sie es auch in der Praxis mittragen, mit eigenen Wählern und gar Mitgliedern als Sensoren für eine ambitionierte Politik. Andere vorzuschicken, dabei vielleicht noch eine schlechte Beschäftigungslage zumal im Osten auszunutzen, das ist kein glaubhaftes Rezept für eine responsive, demokratische Politik. Insbesondere nicht, solange die neuen Aufgaben und Ziele der Bundeswehr diffus sind wie der Hindukusch im Herbstnebel.

 

Nov. 26, 2003
Newsweek
interview with the former head of the Israeli domestic security service, Ami Ayalon "We feel it every day" (Newsweek Dec. 1, 2003, p. 68)

It's good to hear the simple lesson learned by a professional, his experience showing 'the correlation between poverty, despair, humiliation and terror.' Unfortunately, these days politicians better bargain on fear than on hope. They need the thought of killing terrorists and aborting all inhumanity simultaneously. Next terrorist, next inhumanity - and so on.

 

25.11.2003
Frankfurter Allgemeine
zu F.A.Z. v. 24.11.2003, S. 1; Wolfgang Günter Lerch: "Die Türkei und der Terror":

Mancher nahm die Terror-Akte in der Türkei ganz unchristlich als Stichwort: Nun sollten wir flugs den türkischen EU-Beitritt überdenken. Und wenn Wolfgang Günter Lerch ganz zu Recht feststellt, gerade auf die heutige türkische Regierung könnten schwere Zeiten zukommen, mag die vorgenannte beitrittskritische Stimme vielleicht einschmeichelnd ergänzen: Wäre es nicht geradezu mitfühlend, Erdogan einen brisanten Angleichungs- und Beitrittsprozess zu ersparen?

Eindeutig nein! Der Beitritt bedeutet Stress und Schmerzen, das ist richtig. Aber Schmerzen stehen auch in bäuerlich strukturierten Teilen Ost-Europas zu erwarten und die Schmerzschwelle hängt in jedem Fall entscheidend von der Elastizität Europas gegenüber neuen Mitgliedern ab. Stellen wir uns Europa als Festung und/oder seelenloses Unternehmen vor - eng, hierarchisch, uniform, mehr Wert- als Wertegemeinschaft, Einlass nur für Konvertierte oder solche, die ihrem Glauben abgeschworen haben - dann sind die Konflikte programmiert. Wollen wir aber ein erklärt offenes Europa mit Toleranz und werbewirksamen Entwicklungschancen für mehrere Lebensstile von 'Geiz ist geil' bis 'Gott ist groß', dann bieten wir gleichzeitig ein Gegenmodell zum engstirnigen Terrorismus. Einheit macht stark, aber Einheit heißt nicht Einförmigkeit. Der Mini-Kontinent Europa verdankt seine historische Prägekraft auch seiner zerklüfteten Topologie.

Ein nach wie vor als Türkei erkennbares neues Mitglied bereichert die Gemeinschaft. Und schließlich: Terror-Täter und Terror-Opfer sind keine türkische Besonderheit, es gab sie in Deutschland, es gab sie in Italien, und es gibt sie in Spanien bis zum heutigen Tage.

 

24.11.2003
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 2.12.2003
Bomben-Attentate in der Türkei (KStA v. 24.11.2003, S.4: Gerd Höhler, 'Unbequeme Wahrheit für Erdogan')

Ich finde wenig christlich, wegen der terroristischen Attentate in Istanbul die Europa-Tauglichkeit der Türkei in Frage zu stellen. Ähnlich herzlich ist, eilig an einem Unfallopfer vorbeizufahren oder einen Kranken zu meiden. Im Übrigen: Als es gehäuft Terror-Täter und Terror-Opfer in Deutschland, Italien oder Spanien gab, galt das nicht als uneuropäisch, sondern als Ansporn für enge Zusammenarbeit.

Eines allerdings müssen wir intensiv bedenken: Es bringt wenig, die Türkei in die Festung Europa hinein zu zerren, im crash-Kurs einem zentralen Leitbild zu unterwerfen und dann rasch die Schotten wieder dicht zu machen. Der Kampf gegen den Terror ist ein Kampf um die Köpfe, die Köpfe der Jugend zumal. Statt Einheitskultur müssen wir Modelle für gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Toleranz entwickeln. Die europäische Kultur muss offen sein für mehrere Lebensstile - von 'Geiz ist geil' bis 'Gott ist groß'. Und ebenso wenig wie ein Einheits-Parlament sollten wir uns ein Europa mit einer zusammen hängenden Einkaufszone wünschen.

 

18.11.2003
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 26.11.2003
Terrorismus in der Türkei; zu F.A.Z. v. 17.11.2003; S. 1 "Verbrechen in Istanbul":

Wenn der Vorwurf des israelischen Außenministers Schalom zutrifft, Europa trage Mitschuld an den Anschlägen dieser Tage, dann aus meiner Sicht nur auf einer sehr weiten Zeitskala: Das Europa der Dreißiger und Vierziger Jahre mit dem faschistischen Kraftzentrum Deutschland hat die Ursachen für die Gründung des Staates Israel gesetzt, der von den ersten Tagen an in wehrhaftem Konflikt mit seiner Nachbarschaft leben musste. Zur Zeit Rabins hat die israelische Politik das Recht und die Pflicht Europas gesehen, durch zivilstaatliche Unterstützung des palästinensischen Volkes einen eigenen Beitrag zur Vermittlung zu leisten. Die gegenwärtige israelische Regierung aber scheint weniger von der dauerhaften Lösung als eher von der Bewahrung von Konflikten zu leben, jedenfalls von Situationen, in denen beliebige Grade von Härte und Abgrenzung Applaus finden und menschliche Gemeinsamkeiten verdrängt werden.

Der anarchistische Terrorismus palästinensischer Gruppen wird am ehesten gefördert, wenn die Regierung Scharon jeden Ansatz zivilstaatlicher Autorität bekämpft und zur Entmutigung Demütigung demonstriert. Und die militärische Liquidationsstrategie mag man wohl ethisch betrachten, wie man will. In jedem Fall löst sie nach den mechanischen Gesetzen ethnischer Konflikte Reaktion und Eskalation aus - völlig berechenbar. Unter Partnern sollten diese Verantwortlichkeiten nüchtern diskutiert werden können. Sonst entfiele auch die Eignung Europas zur fairen Vermittlung.

 

12.11.2003
Frankfurter Allgemeine
Antisemitismus-Debatte; Äußerungen v. MdB Hohmann und General Günzel

Ein Nachtrag zum Fall Günzel, der nach (oder auch vor) dem Fall Hohmann kam. Das Weltbild eines General Günzel müsste den Bündnis-Grünen lange zu denken geben: Dieser General fühlte sich, als er den Politiker so begeistert anfeuerte, offenkundig wie ein Fisch in einem Meer von Zustimmung zu den krausen politischen Thesen Hohmanns. Die Bündnis-Grünen sollten darauf achten, daß die Menge zumindest dienstlicher Ansprech- und Diskussionspartner solch exponierter Funktionsträger auch genügend bündnis-grüne Elemente umfasst. Eine Armee sollte repräsentativ wie ein Parlament sein. Oder, um ein altes Gleichnis weiter zu entwickeln: Das Volk muß Kopf und Arm zugleich sein. Dazu ist eine leicht entrückte Berufsarmee, die uns aus ganz unterschiedlichen Gründen von Amerikanern und Bündnis-Grünen nahegelegt wird, nun einmal nicht tauglich.

 

6.10.2003
Frankfurter Allgemeine
Selbstmordanschlag in Haifa; zu F.A.Z. v. 6.10.2003, S. 1: Kommentar (ba) "Fern vom Frieden"

Hilft es, Regeln von Ethik, Moral und Schuld auf Palästina anzuwenden? Wohl keiner der beteiligten Führer denkt in erster Linie an das Hier und Jetzt von konkreten Menschen, an deren Leben und Tod. Diese Führer denken 'staatsmännisch', 'über den Tag hinaus' und an die 'ewigen Rechte eines eigenen Volkes am eigenen Land'. Darin sind sie sich nahe, darin bedingen sie einander in zynischem, macchiavellistischem Kalkül. Hoffnung liegt allein darin, dass die realen Menschen Palästinas ihre humanen Gemeinsamkeiten erkennen, von denen es in Umwelt, Herkunft, Brauchtum und Religion so viele gibt. Und ihre gemeinsame Opferrolle, wie besonders tragisch in Haifa.

 

25.9.2003
Frankfurter Allgemeine
gesetzliche Regelung des Bundeswehrauftrages; zu: F.A.Z. v. 25.9.2003, S. 1: "Karlsruhe: Kein Kopftuchverbot ohne Gesetz"

Das Bundesverfassungsgericht hat am 24.9. völlig klar gemacht: Parlamentsvorbehalt, Rechtsstaatsprinzip und Demokratiegebot verpflichten dazu, Regelungen zur Einschränkung von Grundrechten durch den Gesetzgeber zu treffen, und zwar "in einem Verfahren, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten, und die Volksvertretung anhält, Notwendigkeit und Ausmaß von Grundrechtseingriffen in öffentlicher Debatte zu klären", insbes. Abs. 67, 68 der Entscheidung.

Was für das Tragen oder Nicht-Tragendürfen von Kopftüchern Recht ist und auch für das Tätigwerden von Ordnungsbehörden seit langem selbstverständlich, muss für wesentlich einschneidendere Eingriffe des Staates nur billig sein. Nämlich für die Fälle, in denen der Staat den Einsatz bewaffneter Einheiten im Ausland verfügt - mit Folgen für Freiheit, Gesundheit oder gar Leben von Deutschen wie Nicht-Deutschen. Eine klare, berechenbare Regelung des erweiterten Bundeswehrauftrages geben uns aber weder die Verteidigungspolitischen Richtlinien aus dem Mai 2003 - sie sind gerade kein Gesetz und ohnehin sehr vage - noch das angekündigte Parlamentsbeteiligungsgesetz, das die Einbeziehung des Bundestages bei ad-hoc-Entscheidungen über Bundeswehreinsätze noch vereinfachen und beschleunigen soll. Und im Grundgesetz ist bis heute nur der Verteidigungsfall eindeutig geregelt. Also: Wenn kein Kopftuchverbot ohne Gesetz, dann erst recht kein neuer Krieg ohne Gesetz und kein Gesetz ohne die vom Bundesverfassungsgericht bei Entscheidungen von gesellschaftlicher Tragweite zu Recht angemahnte öffentliche Debatte.

 

25.9.2003
Financial Times Deutschland
Grundsatzdebatte zur Außenpolitik; zu Eberhard Sandschneider "Falsche Zurückhaltung" (FTD 25.9.2003, S. 30)

Volle Zustimmung! Wir brauchen endlich die gesellschaftliche Debatte über unsere außen- und sicherheitspolitischen Interessen und über die Ziele unserer Bundeswehr. Wir brauchen sie schon, seit der damalige Außenminister Kinkel 1994 verkündet hatte, das Thema gehöre nicht in den Wahlkampf.

Und diese Debatte muss - wie es sich für einen Rechtsstaat gehört - in eine klare gesetzliche Bestimmung des neuen Bundeswehrauftrages münden. Das Bundesverfassungsgericht hat am 24.9. eine Rechtsgrundlage für das 'Kopftuchverbot' angemahnt. Für Einsatzentscheidungen, die Deutsche wie Nichtdeutsche Freiheit, Gesundheit und Leben kosten können, kann kein geringerer Maßstab gelten.

 

23.9.2003
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 9.10.2003
alternde Bevölkerung; zu Marianne Quoirin 'Die Idealfamilie gibt's nur noch im Bilderbuch' (KSTA v. 20./21.9.2003, S. 3)

Sicher haben die drei genannten Revolutionen erheblichen Anteil am Kinderschwund - die Pille, die erwachte Frau und die neuen Lebensabschnittsgemeinschaften. Aber der mächtigste Widersacher unseres Nachwuchses scheint mir doch ein langfristig aufgebautes gesellschaftliches Leitbild zu sein: der vergötterte Konsum, mit ungeniert unchristlichen Botschaften wie 'Man gönnt sich ja sonst nichts.', 'Ich bin doch nicht blöd!' oder 'Geiz ist geil!' Wer atemlos sein ICH life-stylt, hat für das WIR weder Zeit noch Geld.

Kaum bewusst ist uns heute, dass die DDR zwar ein ökonomischer, ökologischer und auch demokratischer Fehlschlag war, in der Bevölkerungspolitik aber ungleich erfolgreicher als der selbstverliebte Westen. Ohne die recht gute Altersstruktur aus der Vor-Wende-Zeit wäre etwa Mecklenburg-Vorpommern längst schon menschenleer: nach sofortigem Gebär-Streik, hochgeschnellter Selbstmordrate, Landflucht der jungen Bürger und dem verbissenen Anrennen von neuen GTI's gegen standhafte Alleebäume.

 

Sept. 1, 2003
TIME
Iraq war; Charles Krauthammer's "Help wanted"' (TIME, Sept. 1, 2003, p. 27):

I never heard the world asking for the U.S. to play God, especially not in Iraq. Nor that God had told us, the U.S. were his closest match on earth. Or that Iraq or other very disturbing - e.g. islamic - places were god-forsaken. Perhaps just that misconception of being God's next relative makes for gross miscalculations like the idea of entering Iraq on an endless layer of flowers, cheers, and blessings. Compassion for the worlds most pressing needs - and sympathy for the U.S. - would best be shown and generated by investing a U.S. billion per week in globally fighting child starvation and diseases. And this altruistic help would really have a spell of God.

 

Sept. 1, 2003
Newsweek
Iraq war; Fareed Zakaria' s article "Suicide bombers can be stopped" (Newsweek, Aug 25, 2003, p. 15)

Fareed Zakaria doesn't give a single hint as to Palaestinean suicide bombers. But reading the headline I cannot help thinking of them at first. And indeed, the Turkish example seems to apply here as well: There is no hope for a victory over terrorism by a limited military - or assassinatory - strategy. To better up the social, economical, and political situation is a conditio sine qua non. That means a noticable step towards freedom and independence, which also are political aims of best western reputation.

 

20.8.2003
Frankfurter Allgemeine
zu "UN-Beauftragter de Mello in Bagdad getötet" (F.A.Z. v. 20.8.2003, S. 1f)

Der verheerende Anschlag auf das VN-Hauptquartier in Bagdad offenbart mehrerlei: Zum ersten: In den Augen der Iraker und wohl eines relevanten Teils der islamischen Welt gibt es keinen erheblichen Unterschied zwischen den 'rough guys' der Besatzungsmächte und den 'nice guys' der VN, die Humanitäres beistellen sollen. Wirklich verwundern kann das nicht: Zwar hatten die VN dem Eingriff kein grünes Licht gegeben (was im Wesentlichen dem tapferen Hans Blix zu danken war). Aber bereits mit der Sicherheitsrats-Resolution 1483 v. 22.5.2003 hatten sich die VN mit den Fakten abgefunden und den Besatzungsbehörden praktisch die Regierungsmacht und die Verfügungsgewalt über die irakischen Ressourcen übertragen, einschließlich der gleichzeitig wieder zugelassenen Ölexporte; per Resolution 1500 v. 14.8.2003 haben die VN sodann den ohne demokratischen Vorlauf eingesetzten Regierenden Rat akzeptiert.

Zum zweiten: Die Besatzungstruppen können kein Gewaltmonopol durchsetzen, nicht zum Schutz der Infrastruktur, nicht für die ausländischen Botschaften, nicht einmal für die im Aufbauprozess so wichtige VN-Vertretung. Präsident Bush erklärt dies kurzerhand mit ewig gestrigen Saddam-Getreuen und mit eingesickerten saudischen (!) Terroristen. Ich halte eine Analyse Hans von Sponecks für realistischer: Dies ist ein struktureller und eher weiter anwachsender Widerstand des Volkes gegen Besatzer, die es als fremd, aggressiv und auch nicht als problemlösend erlebt.

Meine Folgerung wird heute paradox wirken: Es braucht weniger US und mehr selbstbewusste - auch robuste - VN, sinnvollerweise rekrutiert aus Staaten, die man im Irak als ehrliche Makler ansehen kann. Sonst wäre der erstaunlichste Langzeit-Effekt der US-Intervention, daß sich eines der früher westlichsten islamischen Gemeinwesen in einen Gottesstaat verkehrt oder sich in einem Säurebad ethnischer Konflikte auflöst.

 

10.8.2003
Stuttgarter Zeitung, abgedruckt 21.8.2003
Irak-Krieg; zum Kommentar von Christoph Ziedler "Noch ein Verstoß" (Stuttgarter Zeitung v. 9.8.2003, S. 3)

Erst wenn das Völkerrecht wieder für alle gilt, lohnt es sich, inhumane Waffen zu ächten? Was tun wir bis dahin? Das zentrale Argument für den Eingriff im Irak waren doch gerade chemische/biologische Waffen Saddams. Diese wurden nicht gefunden. Wie Sie berichten, haben die USA ihrerseits unzweifelhaft inhumane Waffen eingesetzt: cluster bombs, uranhaltige Munition und sogar weiter entwickeltes Napalm.

Und diejenigen, die Menschenrechtsverletzungen bei Freund und Feind traditionell mit zweierlei Maß messen - dafür ist gerade Saddams Karriere der beste Beleg - sind wiederum die USA, die sich konsequenterweise auch nicht dem internationalen Strafgerichtshof unterwerfen. Dass sich die USA in absehbarer Zukunft einem allseitig bindenden Völkerrecht anschließen, erscheint mir sehr unwahrscheinlich.

Es lohnt sich zu jeder Zeit und gegenüber jedem Beteiligten, der Inhumanität ebenso wie der vorgetäuschten Menschlichkeit mit klaren Worten entgegen zu treten!

 

July 22, 2003
TIME
Iraq war; Michael Duffy and James Carney: 'A Question of Trust' (TIME, July 21, 2003 p. 16-20)

Opening White House internet files of important Presidential speeches on the brink of the last Iraq war, you are guided by a firmly gripping headline: 'IRAQ - DENIAL AND DECEPTION'. Having read a lot since May on antrax germs and their possible origin, on yellowcake, aluminium tubes, mid-range missiles to be launched within 45 minutes, and on oil, I do not know for sure at whom these headlines are pointing - most probably at both sides. That's exactly why the United Nations were founded and why the UN should be chief actor in any peace strategy.

And a President with a habit for cool martial outfit - look e.g. the nice cover of TIME May 19, 2003 - should be heroic enough not to finger-point at assistants, if these report the way they were unmistakenly supposed to. The 'State of the Union' speech delivered on Jan. 28 gives me very strange connotations nowadays, regarding to facts and to virtues.

 

23.5.2003
Kölner Stadt-Anzeiger
neue Verteidigungspolitische Richtlinien; Kommentar von Markus Decker "Ein Dokument des Übergangs" (KSTA v. 22.5.2003, S. 7, 4)

Recht aufschlussreich ist: Gemäß ihrer Nr. 7 'bestimmen' die neuen Richtlinien 'den Auftrag der Bundeswehr' und erläutern an späterer Stelle: 'Die Aufgabe der herkömmlichen Landesverteidigung wird durch den umfassenderen Begriff des Schutzes Deutschlands und seiner Bürgerinnen und Bürger ersetzt' (Nr. 80 der Rl. und Nr. 9 des Erläuternden Begleittextes). Viel ist die Rede von Vorbeugung und Eindämmung von Krisen und Konflikten (Nrn. 5, 6, 10, 15, 23, 25, 39, 44, 47, 55, 73, 78, 82, 84 der Rl.). Anm.: Welche Krisen sind es und welche Konflikte? Viel lesen wir über terroristische Gefahren oder Massenvernichtungsmittel (Nrn. 18 - 21, 25, 75, 78 - 80, 93) und über 'asymetrische' Bedrohungen, womit wohl nicht die einzig verbliebene Weltmacht gemeint ist (Nrn. 62, 79). Und immer wieder hören wir, dass es nun keine Grenzen mehr gibt - nicht mehr zwischen verschiedenen Einsatzarten (Nr. 58) und ohnehin keine Grenzen des Einsatzgebietes (Nrn. 5, 57). Fast treuherzig heißt es in Nr. 47: Wir sind dabei, 'aus welcher Richtung sie (die neuen Herausforderungen) auch immer kommen mögen'. Und zu dem was geschützt gehört, zählt nach Nr. 27 ausdrücklich auch die deutsche Wirtschaft mit ihrem verwundbaren Außenhandel. Einen selbstverlängernden Mechanismus birgt der Erläuternde Begleittext in Nr. 7: 'Die neue Einsatzrealität der Bundeswehr ist zu einem zweiten Bestimmungsfaktor für die (Aufgaben der) Bundeswehr geworden.'

Aber im Ernst: Dies ist nur eine Richtlinie des derzeitigen Verteidigungs- und vielleicht künftigen Krisenreaktionsministeriums. Es ist kein Gesetz und kann gar keinen neuen Auftrag der Bundeswehr bestimmen. Unser oberstes Gericht urteilt in völlig fester Rechtsprechung: "Wenn das Grundgesetz die Einschränkung von grundrechtlichen Freiheiten dem Parlament vorbehält, so will es damit sichern, dass Entscheidungen von solcher Tragweite aus einem Verfahren hervorgehen, das der Öffentlichkeit die Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten, und die Volksvertretung anhält, Notwendigkeit und Ausmaß von Grundrechtseingriffen in öffentlicher Debatte zu klären" (Bundesverfassungsgericht 25.3.1992; BVerfGE 85, S. 386, 403f). Niemand wird Zweifel äußern, dass jeder militärische Einsatz die Gefahr schwerwiegender Grundrechtseingriffe bis zur Tötung umfasst, konsequent jede Bestimmung eines neuen Bundeswehr-Auftrags einem ordentlichen Gesetz vorbehalten bleibt. Und dieses Gesetz muss hinsichtlich der Bundeswehraufgaben eindeutigere Worte finden als die Richtlinie und ihre Vorgänger, sich auch nicht in bloßen Verfahrensregeln erschöpfen. Genau einen solchen Torso stellt sich allerdings die Exekutive unter dem gerade diskutierten 'Entsendegesetz' oder neuerdings 'Beteiligungsgesetz' vor. Das mag dem überlieferten Verständnis von grenzenloser Freiheit bei der Gestaltung von Außenpolitik entsprechen. Mit einem demokratischen Rechtsstaat und seinen aus langer schlechter Erfahrung festgelegten Verfahren hat es freilich nichts zu tun.

 

7.4.2003
DIE WELT
Irak-Konflikt; Kommentar von Torsten Krauel in der WELT v. 7.4.2003, S. 1 ('Das Prinzip Frieden')

Wir können gerne eine Regel aufstellen, nach der Despoten Härte spüren sollen, sogar militärische, tödliche Härte. Immanuel Kant im Sinne müssen wir dazu aber gemeingültig festlegen, was 'Despot' ist. Und wir müssen garantieren, dass wir von nun an jeden Despoten und jeden Despoten-Helfer zur Rechenschaft ziehen werden. Ad hoc - oder: mal so, mal so, wie es sich Administration gerne vorstellt - geht nicht mehr. Ad hoc ist ohnehin die wohlfeile Ausrede für das Fehlen einer nachhaltigen Strategie, manchmal gar für Willkür. Ad hoc ist auch in keinem Fall eine Basis für Abschreckung oder Deeskalation, die von der anderen Seite als authentisch verstanden wird. Und ad hoc ist hier das genaue Gegenteil von demokratischer, rechtsstaatlicher Verfassung.

 

24.3.2003
DIE ZEIT, abgedruckt: 3.4.3003
Irak-Konflikt; Josef Joffe in der ZEIT Nr. 13 v. 20.3.2003 ('Der Marsch auf Bagdad')

Am 22.3. war ich auf der zweiten Demo meines Lebens, gleichzeitig meiner zweiten Irak-Demo in Köln. Ein Transparent bat ebenso rührend wie konsequent "US Government: Please leave the planet". In Gedanken habe ich ergänzt "and take along your weapons of mass destruction". Josef Joffe hätte noch eine gute Reise zum Mars wünschen können.

Josef Joffe möchte ein schnelles Kriegsende. Hier komme ich in einen inneren Streit. Natürlich wünsche ich gerade der irakischen Zivilbevölkerung ein Ende des Leides, das nicht erst mit diesem Krieg begann, und ich wünsche keinem beteiligten Soldaten irgendeine Verletzung. Aber ich will auch nicht, dass die aus meiner Sicht völkerrechtswidrige Strategie der USA belohnt wird und eine "Colt an die Schläfe' - Politik Schule macht. Ich will dies um so weniger, als ich Saddam Hussein in vielen seiner schlechtesten Eigenschaften als Produkt des Westens ansehe: Geformt in den Zeiten, als er vom Westen waffentechnisch und strategisch unterstützt wurde und in den USA als (wörtlich) 'our monster' firmierte, und ebenso in der Zeit, in der er durch den Westen bekämpft und bedroht wird.

Ich sehe keinen realistischen Plan für eine friedliche, selbstbestimmte und die kulturelle Identität wahrende Entwicklung des Irak oder der Region nach einem Ende des Konflikts, sondern nur die Gefahr von mehr Vasallen-Tyrannen-Zyklen und von mehr und komplexerer Gewalt.

 

March 21, 2003
Newsweek
Iraq war; Newsweek of March 24, 2003; interview with Paul Wolfowitz 'It will be a war for the Iraqi people'

Paul Wolfowitz praises 'stand-up guys' like Tony Blair bucking a domestic anti-war tide, and he accuses representatives of other states of demagoguing the Irak-issue and whipping up opinion. Most probably Gerhard Schroeder and Jaques Chirac are meant. Paul Wolfowitz seems to say: "There are lots of questions an intimidated and poorly informed crowd is unable to understand, less to solve, so call for us politicians. And to be a statesman and more than a footnote to history be ready to be alone and decide alone!" Unfortunately, this is the psychology of strong leadership, not of democracy, and there are lots of monstrous examples, including Caesar raping Gallia for an outstanding career - and definitely not to the advantage of mountains of dead, most Barbarians, some Romans.

George W. Bush is eager to deliver democratic values by decisive force to the Near and Middle East. It seems to me that these values are badly victimized by decisive force already, regarding both national and international democracy, especially the United Nations procedures.

 

March 19, 2003
TIME
Iraq war; Joe Klein's 'The Poker Player in Chief' in TIME March 17, 2003, p. 39:

The magic has gone. As a kid I joined Donald Duck's nephews and Uncle Scrooge digging for gold at the Klondyke river (and learned by the way, that dealing is even better than digging). Some years older, I used to stroll through Central Park with Salinger's Holden Caulfield. Then I was diving with Benjamin Braddock, and Simon&Garfunkel were singing in the background. As an adult, I shared the cockpit of Heller's Jossarian and tried to figure out catch 22. The longest and most impressive poem I know by heart is T. S. Eliot's 'Hollow men' - and I was on the beach too. In short: I was sucking in anglo-american culture, democracy, and lawfullness like mother-milk, with that black hole that fascism had left of German history and values.

Today I wish Americans would have learned the lessons I was taught. I see an America claiming uncontested leadership and - as far as I can judge - neglecting international law and institutions it had promoted half a century back. And an America not adhering to basic Christian ethics such as kindness, humanity, and mercy, but favouring the black-and-white-patterns of the Old Testament that amplify fear, terror, and aggression. So there may be consequences even more profound than Joe Klein described: Me and my likes seem to have lost a symbol and a culture to trust in. Bush has already lost the real game.

 

14.3.2003
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 25.3.2003
zum Kommentar von Günther M. Wiedemann "Die alte Bundeswehr wird ausgemustert" (KSTA v. 11.3.2003, S. 4)

Ich danke dem Kommentator für die klare Frage, ob denn verteidigungspolitische Richtlinien ausreichen können, die neuen Aufgaben der Bundeswehr festzulegen und zu legitimieren.

Die Sprache von Rechtsstaat und Demokratie ist das Gesetz. Ein Gesetz legt das von den Bürgern Gewollte und Mitgetragene für eine abstrakte Vielzahl von Fällen und Betroffenen von vornherein fest - emotionsfrei und unbestechlich. Typisch für autoritäre Staatsformen dagegen sind bloße Richtlinien, ad-hoc-Entscheidungen oder Maßnahme-Gesetze, die unmittelbar in zentrale Grundrechte wie Leben, Freiheit und Gesundheit eingreifen. Gerade die hin- und herwogende Debatte zum Irak-Krieg zeigt: Wir wären in besserer Verfassung und hätten eine bessere Verfassung, hätten wir einen klaren, mit den Bürgern diskutierten rechtlichen Rahmen für unsere Rolle bei der internationalen Friedenswahrung. Packen wir's sofort an!

 

14.3.2003
DER SPIEGEL
zur Umbennung von 'french fries' in 'freedom fries' in den USA

Es wird berichtet, der amerikanische Kongress habe auf Antrag des republikanischen Abgeordneten Walter Jones aus North-Carolina die Umbenennung der 'french fries' in 'freedom fries' verfügt, auf dass mit den beliebten Speisen nicht noch bösartige Propaganda verinnerlicht werden müsse. Lassen wir es bloß nicht so weit kommen! Stellen wir uns selbst, bevor man uns im Unterholz als Erfinder der 'Hamburger' aufspürt! Schlagen wir freiwillig und strafmildernd die Umbenennung in 'Gum-Burger' vor oder - dem Anlass noch würdiger - in 'Gun-Burger'. Oder meinetwegen, um in der Logik der neuen 'freedom fries' und 'freedom toasts' zu bleiben: in 'Freiburger'. Wir sollten es gleich schon im Heimatland umsetzen. Und wer wäre geeigneter als Parlamentärin des guten Gewissens, die dem Kongress unverzüglich Vollzug meldet, als unsere liebe Angela Merkel?

 

7.3.2003
Kölner Stadt-Anzeiger
zu den Überlegungen der USA für die Zeit nach einem weiteren Golfkrieg und zu besseren Investitionsmöglichkeiten (KSTA v. 6.3.2003 S. 5, "US-Regierung berät über Kriegsbeginn"; S. 6: "Trinkwasser wird weltweit knapp")

Die USA wollen dem Irak Lebensmittel, Medikamente, Freiheit und Demokratie bescheren, sagt ein Präsident mit leuchtenden Augen. Brauchen wir nur die Welt nach westlichen Blaupausen umzugestalten, auf dass sich allenthalben Frieden, Stabilität und Wohlstand einstellen und die Geschichte an ihrem schmerzlich erarbeiteten Ende anlangt? Schon alles roger? Ich glaub's nicht.

Viel zu viele Menschen im Nahen Osten sehen sich als kleine Steine in einem 'Großen Spiel'. Oder als Opfer eines Zauberlehrlings, der mit hastiger Machtpolitik seine persönlichen Monster mal züchtet, mal bekämpft und dabei vielfaches menschliches Leid spielerisch in Kauf nimmt. Selbst ein republikanischer Kongressabgeordneter, Ron Paul, weist in seinen '35 questions that won't be asked about Iraq' vom 10.9.2002 unter No. 24 auf das Ergebnis einer Senatsanhörung des Jahres 1994 hin: Danach hatten die Vereinigten Staaten während des Iran-Irak-Krieges ihren damaligen Verbündeten Saddam Hussein wissentlich mit chemischen und biologischen Komponenten versorgt, sogar noch nach der dem Irak vorgeworfenen Giftgas-Attacke auf ein kurdisches Dorf (dto. Hansen/Freney, 'Früher Geißel, heute Biowaffe', Spektrum der Wissenschaften 2/2002, S. 39: "Die Irakis bezogen die Milzbrand-Stämme aus den Vereinigten Staaten und Frankreich, verwendeten aber auch eigene Stämme."). Auch dürfte in der Region die zwielichtige Rolle der amerikanischen Botschafterin April Glaspie nicht in Vergessenheit geraten sein. Sie hatte noch kurz vor der irakischen Kuwait-Invasion Saddam Hussein mit der Versicherung beruhigt, die Vereinigten Staaten hätten "no opinion on the Arab-Arab-conflicts, like your border disagreement with Kuwait" (Newsweek 1.10.1990, S. 13). Die Botschafterin hatte damit die militärische Eskalation bewusst oder zumindest fahrlässig mit verursacht.

Am paradoxesten wirkt auf mich das Versprechen von Demokratie: Die USA kritisieren doch heute alle Staaten heftigst, in denen die Regierung eine Kriegs-kritische Mehrheit der Bürger demokratisch ernst nimmt, und Bush lobpreist diejenigen Verbündeten, die sich den erklärten Interessen ihres Volkes gerade nicht verpflichtet fühlen. Und auf internationaler Ebene scheuen sich die USA nicht, Mehrheiten mit materiellen Versprechungen und kaum verhüllten Drohungen zu gestalten - auch dies ist kein demokratisches fair play, sondern der harte Charme der Macht.

Im Übrigen: Sollten sich die USA den Menschenrechten von Herzen verpflichtet fühlen, müssten sie z.B. gegen den weltweiten Wasser-Notstand zu Felde ziehen. Die Wassernot lässt - wie der Stadt-Anzeiger am gleichen Tage berichtete - täglich etwa 6.000 Kinder unter 5 Jahren an Krankheiten wegen verschmutzten Wassers sterben. Die Stationierung von nur 10.000 amerikanischen und britischen Soldaten in Kuwait wird bei vorsichtigster Kalkulation etwa 10 Millionen € im Monat kosten, wahrscheinlich weit mehr. Damit ließen sich viele Kinder retten und viele innige Freunde für ein Abendland gewinnen, das Christus nicht nur im Namen führt, sondern auch moralisch handelt.

 

6.3.2003
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt: 15.3.2003
Demokratisierung des Nahen Ostens nach einem Irak-Krieg; zu F.A.Z. v. 4.3.2003, S. 1; Kommentar von Wolfgang Günter Lerch "Neue Ordnung in Nahost"

Die Skepsis von Wolfgang Günter Lerch zur Demokratisierung des Nahen Ostens nach westlichen Blaupausen teile ich von Herzen. Wenn Bush heute dem irakischen Volk und den nahöstlichen Anrainern Freiheit, Nahrung, Medikamente und Demokratie für alle verspricht, so klingen nicht nur die leiblichen Verheißungen für den 'day after' seltsam hohl, auch die Leitbilder Freiheit und Demokratie: Die Vereinigten Staaten sehen doch derzeit just diejenigen Verbündeten als unsichere Kantonisten an, bei denen eine weit überwiegend kriegs-kritische Haltung der Bürger auf das Regierungshandeln durchschlägt, wo Demokratie Wirkung zeigt und Unabhängigkeit beweist: Frankreich, Deutschland, jüngst auch eine erstaunliche Türkei. Und solche, die sich um das erkennbare Meinungsbild der Bürger wenig scheren oder sich ihre Unterstützung abkaufen lassen, sind prächtige Freunde, vielleicht doch eigentlich: Mitläufer ohne echte Souveränität. Auch gilt Bush selbst wohl nicht als Produkt einer Bilderbuch-Demokratie. Dazu ein begeisteter Leserbrief aus Katmandu, den Newsweek am 8.1.2001 zur amerikanischen Präsidentenwahl abdruckte: "We in Nepal believe it is very easy for America to read speeches about justice and rights in front of the cameras, but it should practice what it preaches. It has made a mockery of itself in front of the world - but goodness, did we enjoy it!"

Bush stellt die Befreiung Deutschlands und Japans merkwürdig verklärt dar. Es wurden doch ganz nüchtern lebensgefährliche Kriegsgegner niedergerungen. Konsequent war anfangs jede Fraternisierung strengstens verboten. Und die Bewohner von Köln, Dresden oder Hiroshima haben die massiven Bombardierungen nicht als unumgängliche Vorstufe einer Befreiung in Erinnerung. Daß in der Folge eine liberalere Weltsicht die zähen nationalistischen Denkmuster verdrängt hat, ist am ehesten der Verbindung von Wiederaufbau-Bedarf, technokratischer Orientierung und ökonomischer Prosperität zu danken. Stabile Wirtschaftswunder dieser Art aber sind in der heutigen Situation von globalisierter Ökonomie und bereits hoch belasteter Umwelt für den Nahen Osten nur schwer wiederholbar - einmal völlig abgesehen von Gräben zwischen den Kulturen, Fähigkeiten und Bedürfnissen.

Und nicht vergessen sollten wir: Die intellektuelle und wirtschaftliche Basis des heutigen Terrorismus liegt nach allen verfügbaren Erkenntnissen in Ländern, deren Eliten schon intensiv und langanhaltend mit Amerika im Geschäft sind, in Saudi Arabien und Kuwait. Wollen wir wirklich mehr vom Gleichen?

 

27.1.2003
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 31.1.2003

Position Deutschlands im Irak-Konflikt; zu KStA v. 25. U. 18.1.2003: Dieter Wellershoff "Altes Sinnmuster, neueste Waffen" sowie Markus Decker "Struck hat leider Recht"

Unter dem Eindruck der abgewogenen Analyse von Dieter Wellershoff und der Kölner Friedensdemonstration vom 25. 1. komme ich auf zwei Argumente zurück, die in letzter Zeit vielfach gebraucht und gespiegelt worden sind, u. a. im Kommentar "Struck hat leider Recht". Erstens: Schröders Anti-Kriegs-Kurs sei (bloß) Rhetorik und dem Wahlkampf geschuldet. Zweitens: Deutschland habe derzeit in den USA und bei den UN keinen Einfluss.

Zum Ersten: Es mag Diplomatie schwieriger machen, wenn eine überwiegend kriegskritische Haltung von Bürgern in Politik umgesetzt wird. Aber es ist doch ein Beweis von lebender Demokratie, nicht etwa von wuchernder Anarchie. Wenn solcher Bürgereinfluss nicht zu Wahlzeiten klappt, wann dann? Zum Zweiten: "Mitsprechen und so das Schlimmste verhüten", das hört sich konstruktiv an. Bei krass unterschiedlichen Einflussmöglichkeiten stützt dieses Verhalten aber schlicht den Kurs des Stärksten und Entschlossensten, Wir kennen dies aus unserer nationalen Geschichte als Überlebens-Strategie der Eliten: Eine offen abweichende Position ist dagegen risikoreicher, gleichzeitig kennzeichnender für Demokratie. Ohne die Schröder-Position stünden wir heute näher am Krieg, wenn nicht schon im Krieg. Wir sollten daran festhalten, auch: ihn daran festhalten.

Ich verkenne nicht, dass sich Bush wohl weitestgehend nach Bin Ladens Gefallen und Strategie entwickelt hat. Die Wahrnehmung beider im jeweils anderen Lager dürfte heute austauschbar sein: Gottlose Egoisten. Das macht es aber nicht besser - es fordert unsere nüchterne Distanz, Analyse und Kritik.

 

und, viele Leserbriefe vorher:

 

29.09.1992
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 02.10.1992
Militär; Absage der "V 2 - Gedenkfeier" in Peenemünde (KStAnz. v. 29.09.1992)

Hätten wir am Deutschlandtag die Schöpfer der V 2 hochleben lassen, hätten wir auch die der Scud mitgefeiert. Die Scud ist wie die Mehrzahl der heute weltweit ausgerichteten Trägersysteme legitimer Nachfahre der V 2. Scud und V 2 sind brutale Massenvernichtungswaffen, die unter einem verantwortungslosen Regime bewußt zum Schaden der Zivilbevölkerung eines anderen Landes entwickelt und eingesetzt worden sind.

Demgegenüber ist der vorgebliche Kontext ziviler (!) Raumfahrtforschung, der etwa den jungen Wernher von Braun begeistert und geblendet haben mag, als Begründung eines V 2 - Festes geradezu absurd. Die Forschung hat sich gegen diese Wirtschaftsidee im doppelten Sinne auch ausdrücklich verwahrt.

Der Vorschlag war, wenn auch der count-down schweren Herzens in letzter Sekunde abgebrochen wurde, bereits eine verheerende Wunderwaffe gegen das Ansehen des neuen Deutschland im Ausland und unserer Repräsentanten im Inland.

 

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