Karl Ulrich Voss, Burscheid: Meine Leserbriefe im Jahre 2004

Stand: 17.12.2004

 

15.12.2004
DIE ZEIT
Bericht/Kommentierung zum Parlamentsbeteiligungsgesetz - zu einer in der ZEIT v. 9.12. sehr schmerzhaft empfundenen Lücke -

Zu Jahresbeginn hatte die Deutsche Bischofskonferenz die seit Jahren überfällige gesellschaftliche Debatte zu den konkreten Gründen und Zielen des erweiterten Einsatzes der Bundeswehr angemahnt. Fast unbemerkt hat nun der Bundestag am 3.12. das Parlamentsbeteiligungsgesetz verabschiedet - ohne gesellschaftliche Diskussion und ohne jede inhaltliche Definition der auslösbaren 'out-of-area'-Missionen. Es ist eine Fortschreibung des bisherigen Verfahrens der Einzelfallzustimmung mit Erleichterungen für die Regierung und Entlastung für den Bundestag, insbesondere bei der allfälligen Verlängerung von Einsätzen.

Aber: Es ist doch die - pardon - verdammte Pflicht unserer Parlamentarier, inhaltliche Kategorien zu bilden und daraus materielle Regeln abzuleiten. Es ist nicht ihre Rolle, eine administrative Selbstermächtigung wie die Verteidigungspolitischen Richtlinien vom Mai 2003 hinzunehmen und die von der Exekutive definierten Eingriffe jeweils ad hoc zu bestätigen. Nach meinem Verfassungsverständnis verletzt das Parlamentsbeteiligungsgesetz vehement ein tragendes Prinzip des Grundgesetzes, den Gesetzesvorbehalt, indem es die Eingriffstatbestände ungeregelt lässt. Gesetzesvorbehalt und Wesentlichkeitsgebot beachten wir sonst bei jeder Anwendung der vollziehenden Gewalt - auch bei der Frage, ob eine Lehrerin ein Kopftuch tragen darf oder nicht. Wir blenden dies nun aus bei militärischen Einsätzen, die sehr viele Menschenleben gekostet haben und kosten werden. Wenn die Notstandsgesetzgebung mit ihrer im Vergleich begrenzten Einschränkung von Bürgerrechten Hunderte Demonstrationen wert war und die Kriege in Serbien und im Irak Tausende, dann braucht ein so ufer- und grenzenlos angelegtes, gefahrgeneigtes Gesetz wie das Parlamentsbeteiligungsgesetz zehntausend lautstarke Protestzüge.

Warum bringt mich in verfassungspatriotische Rage, was sonst kaum jemanden zu stören scheint? Ein kleiner Trost: Kant muss sich im Grabe herumdrehen. Im Kant-Jahr.

 

13.12.2004
Kölner Stadt-Anzeiger
Außen- und Militärpolitik, in Tokio erhobener Anspruch auf einen vetobewehrten Sitz im Sicherheitsrat (KStA v. 10.12.2004, S. 1, 4, 6)

Fünf Militär-Themen der letzten Zeit kann man in einer Linie sehen: 1. den von Deutschland und Japan in Tokio erhobenen Anspruch auf einen gleichberechtigten Platz am Tisch der Mächtigen; 2. das gerade verabschiedete Parlamentsbeteiligungsgesetz, das völlig ohne gesellschaftliche Debatte der Eingriffsgründe ein geschmeidiges Verfahren für das Triggern militärischer Einsätze festgelegt hat; 3. das anschwellende Werben für eine Berufsarmee, das die Repräsentation breiter Gesellschaftsschichten in der Bundeswehr und damit die Schmerzkopplung zur Regierung in Frage stellt; 4. eine deutliche Steigerung der deutschen Waffenproduktion und -exporte (die ganz nebenbei wegen der branchenüblichen zivilen Kompensationsgeschäfte zivile deutsche Arbeitsplätze kosten kann!) und 5. verbreitete menschenverachtende Praktiken bei der Rekrutenausbildung.

Mein Eindruck: für einen noch lange nicht ausgemachten und ohnehin eher formellen Wert der Aufnahme in den Sicherheitsrat setzen alle bedeutenden politischen Parteien die zivile Ausrichtung der jungen deutschen Republik auf's Spiel. Wir brauchen eine breite gesellschaftliche Debatte dazu, was wir Bürger mit Militär anstellen wollen und was wir Bürger unter dem Strich davon haben. Die Deutsche Bischofskonferenz hat diese Debatte hatte bereits zu Beginn 2004 angemahnt, leider bisher vergebens. Und zur Berufsarmee: Wenn es politisch wichtig und auch realistisch ist, den Frauen in Afghanistan die Burkas herunter zu reißen, dann sollten grüne Soldaten in erster Linie dabei sein. Grüne Soldaten hätten bei menschenverachtenden Ausbildungsformen vielleicht auch früher Laut gegeben und sind daher mE als Frühwarnsystem für ihre Politiker ganz unverzichtbar."

 

9.12.2004
Süddeutsche Zeitung; abgedruckt 16.12.2004
Verabschiedung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes am 3.12.2004 (Berichterstattung in der
Süddeutschen v. 4.12.2004, S. 6 ‚Bundestag billigt Einsatz im Sudan’)

Am 3.12. hat der Bundestag fast unbemerkt das Parlamentsbeteiligungsgesetz verabschiedet, eine Art ‚Schau’n wir mal’ der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. In der Sache nichts festlegen – warten wir halt ab und sehen, was so auf uns zukommt. Das Gesetz nimmt die Essenz der 1994er out-of-area-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf, die bei der Anhörung von Sachverständigen zum Parlamentsbeteiligungsgesetz am 17.6.2004 griffig wie folgt charakterisiert wurde: ‚Beide Seiten bekamen etwas: die Exekutive ihre Reaktionsfähigkeit, das Parlament seine Beteiligung.’ Ein klassischer Justizkompromiss – aber mit Pferdefuß für uns Bürger. Auf der Strecke blieb und bleibt eine fundamentale Errungenschaft des 1945 wieder aufgebauten Rechtsstaates – der Gesetzesvorbehalt.

Hauptanliegen der Verfassungsgeber und als Lehre aus dem Unrechtsstaat mahnend voran gestellt sind die Grundrechte, und sie dürfen nur nach Maßgabe eines allgemeinen Gesetzes eingeschränkt werden, das die Eingriffsrechte des Staates präzise vorab regelt. Ad-hoc-Entscheidungen – auch des Parlaments – sind bewusst tabu, um den demokratischen Prozess mit gesellschaftlicher Debatte über neue Handlungsformen des Staates zu sichern. Die Deutsche Bischofskonferenz hat die gesellschaftliche Debatte zu Gründen und Zwecken militärischer Einsätze in diesem Jahr nachdrücklich angemahnt – leider vergebens. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz beschränkt sich auf Verfahrensregelungen, solche zudem, die den Weg in neue militärische Engagements erleichtern und ebenso die allfälligen Verlängerungen noch nicht siegreicher Einsätze geräuschloser gestalten. Zum ‚wann mit Militär’ und ‚wann nicht’ findet sich dagegen nichts.

Schau’n wir mal? Beim Risiko für Zehntausende von Menschenleben ist das
ethisch und juristisch schwer erträglich. Und bei der zweifelhaften, bisher aber kaum in Frage gestellten Effizienz der neuen Außen- und Sicherheitspolitik, deren Kernziel wohl wieder ein eher formales ist: Bewährung für einen Platz am Tisch der Großen.

 

8.12.2004
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 17.12.2004
Verabschiedung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes (F.A.Z. v. 4.12.2004, S. 4 "Bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr erhält die Bundesregierung mehr Spielraum")

Was unterscheidet unseren Rechtsstaat fundamental von der Unrechtsordnung der Jahre 1933-1945? Es sind die Grundrechte, die nur nach genauer Maßgabe eines demokratisch gewonnenen generellen und allgemeinen Gesetzes eingeschränkt werden dürfen, und es sind Gerichte, die über diesen Gesetzesvorbehalt wachen können.

Ausgerechnet bei der einschneidendsten staatlichen Handlungsform, beim Einsatz bewaffneter Truppen, läuft der Grundrechtsschutz de facto leer, jetzt sogar bestätigt durch das am 3. Dezember verabschiedete Parlamentsbeteiligungsgesetz. Es regelt zwar das Rollenspiel zwischen Exekutive und Parlament - und gibt dabei der Exekutive mehr Spielraum bei den ersten Schritten in ein neues militärischen Engagement und bei den so zahlreichen Verlängerungen. Völlig offen lässt es aber die grundlegende Frage, in exakt welchen Fallgestaltungen und zu genau welchen Zwecken militärische Mittel gerechtfertigt sein sollen. Die Deutsche Bischofskonferenz hatte noch zu Beginn dieses Jahres sehr eindringlich die lange überfällige gesellschaftliche Debatte zu eben dieser Frage angemahnt. Denn als materielle Grundlage von Auslandseinsätzen haben wir derzeit nicht mehr als die Verteidigungspolitischen Richtlinien vom Mai 2003, ein untergesetzliches Produkt ministeriellen Wollens und zur juristischen Differenzierung ähnlich tauglich wie der Herbstnebel am Hindukusch.

Mit diesem Rüstzeug erscheint der gerne erhobene Anspruch, westliche Rechtsstandards mit Nachdruck in die Welt zu tragen, besonders widersprüchlich. Auch die Bewertung von Herrn Wiefelspütz, das Gesetz schaffe Rechtssicherheit für die Soldaten, scheint mir falsch; das Gesetz schreibt im Gegenteil einen nicht kalkulierbaren und sogar Willkür-gefährdeten Mechanismus für ad-hoc-Entscheidungen fest, der auch der internationalen Friedensordnung nicht nutzt. Der Eingriff in Serbien wird mangels Autorisierung durch die VN von der Mehrzahl der Völkerrechtler kritisch berurteilt; ich möchte unterstellen, daß er auch unter dem Parlamentsbeteiligungsgesetz ausgelöst worden wäre - und daß selbst ein Einsatz im Irak in den extremen Entscheidungsspielraum dieses Instruments fallen kann. Ich plädiere für eine klare Eingriffsgrundlage, die den bürgerschützenden Anspruch des Gesetzesvorbehalts erfüllt und die unseren Gerichten die Möglichkeit zur Differenzierung und zur Kontrolle der Exekutive gibt, wo mit einem Federstrich Tausende von Menschenleben zu Opfern gemacht werden können.

 

17.9.2004
Frankfurter Allgemeine
Blühende Landschaften; zu F.A.Z. v. 16.9.2004, S. 1 "Kohl wirft der Industrie Versagen vor und gesteht Fehler ein"

Kohls alten Gassenhauer von den 'blühenden Landschaften' mag man der unter Politikern verbreiteten Überschätzung eigener Gestaltungsmacht zuschreiben, vielleicht auch dem Überschwang des Wahlkampfes. Läßlichen Sünden, könnte man werten, denn beides trifft ja ähnlich auf Versprechen der Konkurrenz zu - wie das zur unverzüglichen Halbierung der Arbeitslosigkeit.

Bei genauerem Erinnern sieht es aber doch anders aus: Die Besonderheit des Vereinigungsprozesses war trotz epischer Einigungs-Papiere nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an gestaltender Politik, ein laissez faire, das nach kurzer Phase schöpferischer Zerstörung durch die Kräfte des Marktes etwas Neues, Überlegenes und Dauerhaftes etablieren sollte. Nun, der Westen war so frei und hat sich genommen, was er nehmen konnte, hat insbesondere die auf Generationen einträglichen Expektanzen in Wirtschaft und Gesellschaft erbeutet und ausgebeutet. Lehrjahre sind halt keine Herrenjahre. Es ist dann auch kein Wunder: Noch nach fast 15 Jahren herrscht politische, wirtschaftliche und kulturelle Abhängigkeit vor und die Mahnung des Bundespräsidenten, mit dem 'Hotel Mama' könne es nicht auf ewig so weitergehen, stößt in einem noch lange nicht emanzipierten Osten auf Unverständnis und Angst.

 

15.9.2004
Kölner Stadt-Anzeiger
Äußerung von Bundespräsident Köhler zu den Lebensverhältnissen in Ost und West (KStA v. 13. u. 14.9.2004, u.a. Kommentar v. Joachim Frank im KStA v. 13.9. S. 4 'Versprechen eingelöst')

Manchmal widersetzt sich die Wirklichkeit hartnäckig der politischen Gestaltungskraft. Oder: sie zeigt schroff deren enge Grenzen auf. Köhlers als 'mutige Wahrheit' gedeutete Bemerkung zu den Lebensverhältnissen in Ost und West blendet aus, dass die Spielregeln der Einheit weitestgehend nach den Interessen des Westens gestaltet wurden, dass 1990 die langfristigen Erwerbschancen - Grundstücke, Industriebeteiligungen - sehr ungleich und zu Lasten des Ostens verteilt wurden und dass die Transferleistungen des Westens nach kurzem Umweg über Infrastruktur und Konsum des Ostens ohnehin überwiegend wieder im Westen landen. Die Bürger im Osten sind nie wirklich Herr im eigenen Haus gewesen, nicht politisch, nicht wirtschaftlich und nicht kulturell. Über die strukturelle Abhängigkeit und die Erosion des Standortes Ost braucht sich niemand zu wundern. Am wenigsten im Westen.

Ganz erfrischend wäre, wenn die neue Interpretation der 'gleichwertigen Lebensverhältnisse' dem Osten nachhaltige Alternativen zu dem westlichen Leitbild von Konsum und Wachstum nahelegen würde. Das hat der Bundespräsident aber wohl nicht gemeint, sondern nur die Nachbildung des Westens mit nun besonders langem Atem.

 

15.8.2004
Kölner Stadt-Anzeiger
zu: Markus Schwering im KStA v. 10./11.7.2004, S. 52 'Hat der himmlische Ingenieur gepfuscht?', Rezension von Susan Neimans 'Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie'

So anmaßend es aus Sicht der Kirchen wirken muss: Göttlich ist für mich allein die Fähigkeit, tief und unbeirrt menschlich zu empfinden und zu handeln. Als neunzehnjähriger Soldat habe ich 1970 in Bergen-Belsen eine Auschwitz-Dokumentation erlebt, dabei ein Foto vom Auseinanderreißen der ankommenden Familien fest gespeichert: einerseits die Kräftigen, Arbeitsfähigen, andererseits die Kinder und die Alten, die nach einem kalten, materiellen und feindlichen Kalkül weitere Versorgung nicht 'verdienen' konnten. Vor allem bei den schutzlosen Kindern kann man sich den Rest ihres so kurzen Lebens nur als verzweifelte Verlassenheit und Angst vorstellen. Seitdem ist es für mich nicht mehr schlüssig, an einen aktiven Gott zu glauben, der die Geschicke der Einzelnen gerecht lenkt. Auch von einem 'unergründlichen Ratschluss' auszugehen, erscheint mir eher wie der erbärmliche Versuch, ein zusammenstürzendes Denkgebäude zu kitten. Schlimmer noch: als wohlfeile Entschuldigung für unterlassene aktive Menschlichkeit, wo diese persönliche Risiken trägt.

Alle drei Buchreligionen sind mit ihrer 'digitalen' Trennung von Gut und Böse nahe an der Verteufelung Anderer und verlangen häufig eindeutige Zeichen der Parteinahme. Eine bemerkenswerte Ausnahme sind für mich die muslimischen Sufis, die das Böse als nur relativ vom Guten verschieden sehen, als einen niedrigeren Grad oder eine Vorstufe des Guten und die keine Rangordnung der Religionen behaupten. Dies nötigt zu ständiger kritischer Prüfung und Verbesserung des eigenen Beitrags und macht die Gruppen-übergreifende Barmherzigkeit möglich, die wohl auch das Leben eines Jesus ausgezeichnet hat.

Aus meiner Sicht hat der himmlische Ingenieur nicht gepfuscht, es behaupten nur zu viele, mit ihm exklusiven Kontakt zu pflegen. Gehen wir besser davon aus, dass er für uns alle gleichermaßen unerreichbar ist und übernehmen wir eine ethische Verantwortung für eigenes Handeln.

 

7.8.2004
DIE ZEIT
Referendum zur EU-Verfassung; Artikel v. Bernd Ulrich in der ZEIT v. 29.7.2004 (Nr. 32), S. 2 'Blöken für Europa''

Genau besehen, kommen wir zum Blöken immer zu früh oder zu spät, ob beim Wählen oder bei der Volksabstimmung. 1949 war es für ein Verfassungs-Referendum zu früh, so hieß es, übrigens gegen den wiederholten Rat Amerikas. 1990 war es - obwohl so lange versprochen - schon wieder zu spät. Die Wiedervereinigung selbst kam so urplötzlich über uns, dass auch für eine politische Willensbildung zu den für Generationen wirkenden Spielregeln der Zusammenführung nun wirklich keine Zeit war. Wirklich keine Zeit? Die vom Autor gelobte neue Außen- und Sicherheitspolitik: ein demokratisch-rechtsstaatlicher Flop, der bis heute ohne gesellschaftliche Debatte und ohne gesetzliche Eingriffsgrundlage ad-hoc-Entscheidungen produziert - mal glücklich, mal unglücklich.

Weimar? Pardon, diese deutsche Republik ist an ihren Eliten erstickt, nicht an Plebisziten. Gleichwohl begründet das Volksmisstrauen der Eliten eine distanzierte, repräsentative Demokratie, die auch alte Eliten weiter wirken ließ und die noch heute eine aus den Wandelhallen mitgesteuerte Politik begünstigt. Die Schreibers unserer Republik lassen dezent grüßen.

Plebiszite als gefährliche Barrikaden im deutschen Fitness-Programm? Ein interessantes Beispiel ist die Schweizer Abstimmung über ihr Militär. Der Antrag auf Abschaffung dieses nationalen Heiligtums erschien vielen als höherer Blödsinn und wurde auch prompt abgelehnt. Aber auf dem Weg dahin haben die Schweizer nicht nur in Wandelhallen, sondern in Wohnzimmern, Straßenbahnen und Gastwirtschaften debattiert, wurde das Militär durchleuchtet und konnte der Etat bei besserer Organisation der nationalen Sicherheit um ein Drittel reduziert werden. Genau diese Qualität der politischen Willensbildung fehlt unserer hektischen Reformdebatte, in der als bevorzugte Stimmlage das Blöken der Eliten heraus sticht.

 

7.4.2004
DIE ZEIT
Parlamentsbeteiligungsgesetz; Artikel v. Robert Leicht in der ZEIT v. 1.4.2004 (Nr. 15), S. 4 'Entsendung'

Der krasse Unterschied erschreckt mich: Vor den Notstandsgesetzen haben wir uns monatelang fast die Köpfe eingeschlagen über staatliche Eingriffe, die aus heutiger Sicht fast harmlos und eher theoretisch wirken. Einsätze der Bundeswehr aber, die sehr intensiv und real in fundamentale Menschenrechte wie Leben, Gesundheit, Eigentum eingreifen können und in Hunderten von Fällen schmerzhaft eingegriffen haben, gehen nun praktisch ohne öffentliche Debatte und vor allem ohne spezifische Regelung der Eingriffsvoraussetzungen voran. Keine Diskussion, keine Demonstration, keine Opposition, ob inner- oder außerparlamentarisch.

Vielleicht muss wegen neuer Anforderungen die Arbeit des Bundestages vereinfacht und rationalisiert werden. Dann aber ist ein auf Verfahrensfragen reduziertes Parlamentsbeteiligungsgesetz ein falscher, sogar ein gefährlicher Weg. Das Werkzeug der Wahl wäre das Standardinstrument und die zentrale Errungenschaft des Rechtsstaates: das materielle Gesetz, das die Reichweite staatlicher Machtmittel von vorhinein konkret regelt, für alle politisch intendierten Fälle und auf jeden künftigen Akteur gerichtet.

'Nie wieder Krieg!' mag heute durch 'Nie wieder Auschwitz!' relativiert sein. Aber eine wesentliche Voraussetzung von 'Nie wieder Auschwitz!' heißt 'Ausnahmslos Rechtsstaat!'.

 

20.3.2004
Rheinischer Merkur
Erfolgsbedingungen des Nationalsozialismus (zu Rafael Seligmann, 'Das braune Nest war warm', Rhein. Merkur v. 11.3.2004, S. 17)

Vielen Aussagen und Folgerungen Rafael Seligmanns kann ich von Herzen zustimmen, auch seiner Anregung, 'Mein Kampf' freizugeben, damit auch zu entzaubern. Nachfragen möchte ich aber, ob die Deutschen tatsächlich Hitler als Schild gegen die Herausforderungen und Bedrohungen der modernen Zeit angesehen haben - als ein konservatives, bewahrendes Element.

Im Gegenteil haben sich die Nationalsozialisten gerade als Trommler, als Neuerer, als Förderer und Nutzer innovativer Technologien präsentiert. Das Leitbild ihres Deutschland war eine klare Wachstums- und Fortschrittsorientierung für alle. Ihr Staat war damit eher ein offener Wettbewerber als ein in sich gekehrter Gegenpart Nordamerikas. Auch Hitler selbst gab sich dynamisch modern und soll bei seiner Generalität u.a. mit verblüffend exakt memorierten technischen Details Eindruck geschunden haben.

Der prägende Unterschied zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen der damaligen Zeit liegt aus meiner Sicht eher darin: Die einen wurzelten mit einer langen Geschichte der Wanderung und Zerstreuung in der Regel breit und vernetzt - globalisiert, würde man heute sagen - die anderen lokal und tief. Der Tötungsmaschine der 'Tiefverwurzelten' sind auch am ehesten diejenigen Juden zum Opfer gefallen, die sich wie viele Juden Osteuropas fester mit ihrer Scholle verbunden hatten, die nicht in gleicher Weise global vernetzt waren. Die zunehmende Fixierung der Deutschen auf ihren 'Führer' aber möchte ich dem auch heute und anderenorts bekannten Sammeln um die Flagge zuschreiben, umso mehr, je näher die selbst geschaffene äußere Gefahr heranrückt.

 

7.3.2004
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 9.3.2004
zur Diskussion über die Nachfolge von Johannes Rau (Kommentare von Joachim Frank 'Übles Spiel' in KStA v. 4.3.2004 und 'Im Mahlwerk des Machtkampfes' in KStA v. 5.3.2004)

Wir Bürger durften das Spiel nur von außen betrachten - so als stünden wir um den Panzerglas-Kasten einer Bank-Kasse, in dem munter drauf los geschlagen und gestochen wird. Nicht nur von der Opposition, auch der Kanzler hatte ja mit Freude mitgestichelt. Am Ende liegen ungewöhnlich viele Mitspieler am Boden. Der Ruhe im Lande wird das indessen kaum schaden; eher werden die Bürger draußen vor dem Glaskasten die Politik als noch künstlicher und belangloser ansehen und sich abwenden - real existierende Demokratie in der Form zunehmender Selbstverliebtheit und Erstarrung.

Warum wählen wir Präsidentin/Präsidenten eigentlich nicht selbst? Mehr Macht als heute braucht sie/er dazu nicht zu bekommen: Joachim Frank nennt mit Recht ihre/seine Integrität als das beste Pfund. Gut, auch bei der Bürgerwahl mag es Streit um die Kandidatenkür geben - aber am Ende müssen die politischen Akteure aus ihrem Glaskasten heraus kommen! Und Guido Westerwelle könnte nicht ganz ungeniert darauf spekulieren, mit einigen wenigen Präsidenten-Wahlmännern und etwas Netzwerken endlich wieder ans Regieren zu kommen, und damit die freie Wahl der Bürger als leicht steuerbar relativieren.

 

15.2.2004
Rheinischer Merkur, abgedruckt 11.3.2004
Kant und Krieg; Thomas Gutschker im Rheinischen Merkur v. 5.2.2004 (S. 8 'Ein Krieg kann ein heilsames Übel sein')

"Wie viele komplexe Werke lassen sich auch Kants Schriften in vielen Facetten und sogar für gegenläufige Ziele auswerten. Aber ich müsste mich sehr täuschen, wenn Kant gerade die neuen Kriege und Konflikte als 'Fortschreiten der Menschheit zum Besseren' hätte sehen können.

Sehr interessant scheint mir Kants Gedanke der dämpfenden Rückkopplung zwischen der Entscheidung für eine bewaffnete Auseinandersetzung und dem Tragen der allfälligen Lasten zu sein: 'Wenn, wie es in dieser Verfassung (nämlich der von Kant bevorzugten republikanischen) nicht anders sein kann, die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ob Krieg sein solle oder nicht, so ist nichts natürlicher, als dass, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müssten - als da sind (ich verkürze): selbst zu fechten, aufzuräumen und später abzubezahlen - sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen', so im 'Ewigen Frieden S. 23f. Er definiert in dieser Schrift die Freiheit konsequent als Befugnis, 'keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können' (S. 21) und er bringt ein wunderbares Beispiel, um ambitionierte Kriege und die lieben Herrscher im Zaum zu halten: Ein griechischer Kaiser hatte netterweise einem bulgarischen Fürsten vorgeschlagen, ihren persönlichen Händel im Zweikampf auszutragen; der Bulgare lehnte dankend ab und wollte lieber seine Untertanen die Eisen aus dem Feuer holen lassen (S. 32).

Wenn wir daraus wenigstens ableiten könnten, dass es einen Konsens zwischen Herrschaft und Bürgern über die konkreten Gründe für neue Kriege braucht und dass dies nach dem - hier einmal auf den Staat zurück projizierten - Kategorischen Imperativ einer generellen gesetzlichen Regelung bedarf, dann wäre für die Rationalität und Authentizität der Außen- und Sicherheitspolitik und auch für deren Eignung zur Deeskalation viel gewonnen! Vielleicht darf man auch Kants Warnung vor stehenden Heeren auf die neuen hoch spezialisierten Eingreiftruppen beziehen. Solche Werkzeuge 'bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg, durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen, reizen sie diese an, sich einander in der Menge der Gerüsteten, die keine Grenzen kennt, zu übertreffen' und - wie Kant fortführt - selbst den Konflikt zu suchen (S. 8). Es spricht viel dafür, dass wir selbst die Ursachen für Konflikte setzen und diese sodann scheinbar professionell bekämpfen."

Anm.: Die Seitenzahlen zu Kants 'Zum ewigen Frieden' beziehen sich auf die 1984 im Harald-Fischer-Verlag erschienenene faksimilierte Ausgabe des Originals v. 1795.

 

und, viele Leserbriefe vorher:

 

29.09.1992
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 02.10.1992
Militär; Absage der "V 2 - Gedenkfeier" in Peenemünde (KStAnz. v. 29.09.1992)

Hätten wir am Deutschlandtag die Schöpfer der V 2 hochleben lassen, hätten wir auch die der Scud mitgefeiert. Die Scud ist wie die Mehrzahl der heute weltweit ausgerichteten Trägersysteme legitimer Nachfahre der V 2. Scud und V 2 sind brutale Massenvernichtungswaffen, die unter einem verantwortungslosen Regime bewußt zum Schaden der Zivilbevölkerung eines anderen Landes entwickelt und eingesetzt worden sind.

Demgegenüber ist der vorgebliche Kontext ziviler (!) Raumfahrtforschung, der etwa den jungen Wernher von Braun begeistert und geblendet haben mag, als Begründung eines V 2 - Festes geradezu absurd. Die Forschung hat sich gegen diese Wirtschaftsidee im doppelten Sinne auch ausdrücklich verwahrt.

Der Vorschlag war, wenn auch der count-down schweren Herzens in letzter Sekunde abgebrochen wurde, bereits eine verheerende Wunderwaffe gegen das Ansehen des neuen Deutschland im Ausland und unserer Repräsentanten im Inland.

 

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