Karl Ulrich Voss, Burscheid: Meine Leserbriefe im Jahre 2005
Stand: Dezember 2005
30.12.2005
Frankfurter
Allgemeine
Geiselnahmen Osthoff und Chrobog (FAZ v.
30.12.2005, S. 3):
An den Umständen der Geiselnahmen mag vieles fremd, aus unserer geordneten Perspektive vielleicht auch widersprüchlich erscheinen. Drei Dinge immerhin kann man festhalten.
Einmal: Wer Menschen am Rande des Abgrundes hilft, benötigt selbst intensive Hilfe und Bestätigung; hier bekam und bekommt die zugegeben sehr spröde Susanne Osthoff zu wenig Zuwendung. Zum Zweiten: Frau Osthoffs Motiv, im Irak zu arbeiten, war in jedem Fall altruistischer als das Motiv der Familie Chrobog, den Jemen außerhalb der befriedeten Zonen zu bereisen. Zum Dritten: Der dringendste humanitäre Bedarf und die größte persönliche Gefährdung für Helfer sind naturgemäß eng gekoppelt. Wir würden keiner Krankenschwester vorschreiben wollen, in Seuchengebieten Leben zu retten, aber wir würden eine solche mutige Selbstgefährdung auch nicht als 'mutwillig' deklassieren.
29.12.2005
DIE ZEIT;
abgedruckt 12.1.2006
Entführung und Freilassung der
deutschen Archäologin Susanne Osthoff (Bernd Ulrich in der
ZEIT vom 29.12.2005, S. 1: 'Bei aller Liebe')
Ich kenne Susanne Osthoff nicht. Sie mag mit ihren eigensinnigen Ansprüchen und Plänen durchaus die Nerven des Auswärtigen Dienstes und der Medien malträtieren. Aber ich habe nicht den Eindruck, sie hätte sich mutwillig - also ohne ein hochwertiges Motiv - in Gefahr begeben. Oder: sie würde den Staat verachten, um ihn gleichzeitig hemmungslos auszunutzen.
Im Gegenteil scheint sie mir prototypisch zu sein für eine zivile, nicht kommerzielle, aber kulturell und historisch bewusste und humanitär bewegte Arbeit mit und für fremde Menschen, die für uns alle und für unsere zentralen zivilisatorischen Werte werben könnte. Wenn das so ist, könnte ich ihr eine erregte Verzweifelung über die Gebundenheit unserer 'modernen' Außen- und Sicherheitspolitik nachfühlen.
29.12.2005
SPIEGEL
zur
teils empörten Debatte um die Reaktion von Susanne Osthoff
nach Ende ihrer Entführung (SPIEGEL52/2005, S. 22ff ‚Hilfe
vom Scheich‘)
Dass Susanne Osthoff ihre Arbeit im Irak einmal wieder aufnehmen möchte, hat prompt anschwellende Berliner Bocksgesänge ausgelöst. Eingeräumt, sie ist sicherlich nicht pflegeleicht. Mit ihren einigen Hundert Metern Größe - bei völliger Unauffälligkeit, ohne jedes im diplomatischen Dienst bisweilen anzutreffende Gespreiztsein - und einigen Tausend Jahren Alters-Wissen passt sie auch nicht recht in die Auswärtigen Amtsstuben hinein und sorgt für Xenophobien.
Im Ernst: Soweit ich es beurteilen kann, verwirklicht Frau Osthoff im unmittelbaren Kontakt zu den Menschen und in direkter Sorge um die Wurzeln unserer Zivilisation sehr unprätenziös und unstaatlich einen zeitlos großen Auftrag. Nun wohnen die größte menschliche Not und die größte Gefahr für die Helfer unmittelbar beieinander. Das kann ihr nicht vorgeworfen werden, ebensowenig wie den Krankenschwestern, die unter andauernder Lebensgefahr in Seuchengebieten Menschen retten. Die wahren Helden kommen ohne männlich-militärische Hierarchien und Rituale aus. Und ohne schrille Bocksgesänge.
22.12.2005
Kölner
Stadt-Anzeiger; abgedruckt 28.12.2005
Reaktion der im Irak
freigelassenen Geisel Susanne Osthoff (Markus Decker im KStA v.
21.12.2005, S. 3 ‚Eine Fremde in ihrem Mutterland’
und S. 4 ‚Missverhältnis’):
Susanne Osthoff gehört vermutlich zu den Menschen, die die höchsten ihnen angebotenen Orden nicht annehmen würden oder - ärgerlicher noch für den zur Umarmung ansetzenden Staat - nicht einmal wahrnehmen würden. Ich halte sie nicht für einen "Fall" oder gar "schrägen Vogel", ihre Ziele und Reaktionen nicht für "unbegreiflich", "inakzeptabel" oder potenziell "irrsinnig". Jedenfalls ist sie nicht negativ außergewöhnlicher als Tausende von Krankenschwestern und Ärztinnen, die unter permanenter Lebensgefahr in Seuchengebieten den sonst Hilflosen helfen. Und die Fremdheit im Mutterland teilt sie mit dem, dessen ferne Geburt wir gerade mit einer Weihnacht feiern.
Der verfasste Staat und auch Rupert Neudeck, ein nicht ganz uneitler globaler Humanitäts-Manager, haben mit der fast unsichtbaren und viele Grenzen überschreitenden Frau Osthoff sicher ihr Problem. Aber wenn sie ehrlich sind, haben sie nicht das politisch Mögliche oder auch nur das wirtschaftlich Zumutbare getan, um die seit Jahren himmelschreiende Lage im Krisengebiet zu kurieren. Diese Männer sind in der Regel auch keine Helden, mehr Verwalter. Mancher, der sich derzeit das Maul zerreißt, flaniert an Wochenenden auch gerne über Antikmärkte und sichert sich ein Keilschrift-Täfelchen; sie werden jetzt wieder häufiger feilgeboten.
13.12.2005
Kölner
Stadt-Anzeiger
Existenz Israels; Äußerungen des
iranischen Präsidenten Ahmadinedschad (KStA v. 12.12.2005,
S. 1 ‚Die Welt soll den Iran maßregeln’ und S.
4 Kommentar von Inge Günther ‚Israel sollte sich
heraushalten’)
Ahmadinedschad zeigt das gefährliche Agieren von Politikern aller Regionen und Religionen, die mit außenpolitischen Gewaltphantasien die Jugend hinter sich bringen wollen, Denken kontrollieren wollen und von innerer Zerrissenheit ablenken wollen. Umso wichtiger ist, dass der Westen einschließlich Israel die stereotypen Zerrbilder vom undemokratisch-aggressiven Islam und vom freiheitlich-friedlich-toleranten Westen vermeidet, auch nicht etwa militärisch eingreift, sondern der islamischen Jugend ein aufgeklärtes, ganz und gar nicht rechthaberisches Angebot macht, das auch die in Jahrtausenden gewachsene Kultur aller Nachbarn im Blick hat.
Interessant scheinen mir aber noch zwei Punkte: Er tut es zwar auf eine sehr verquere Art, aber Ahmadinedschad erkennt nun wohl das Recht Israels auf gesicherte Staatlichkeit an. Und wir haben uns zu fragen, ob unser ‚christliches’ Europa ein eingelagertes Zion – souverän und lebensfähig, nicht als Ghetto – konfliktfrei ertragen gewollt hätte. Gerade dort enthält das Argument Ahmadinedschads einen wohl kalkulierten Liter Schlangengift.
16.11.2005
Kölner
Stadt-Anzeiger
Anschlag auf deutsche Soldaten in Afghanistan
(KStA v. 15.11.2005, S. 4: Charles Thibo 'Bitterer Preis für
ein hohes Ziel')
Tod und schwere Verwundungen von jungen Soldaten in Afghanistan rücken die Grundlagen dieser Einsätze in grelles Licht. Einerseits in rechtlicher Hinsicht: Politik und Parlament sind zwar tagein-tagaus emsig mit Einsätzen und Verlängerungen beschäftigt. Dennoch haben sie ihre eigentlichen Bundeswehr-Hausaufgaben noch nicht abgeliefert: die vom Bundespräsidenten noch am 10. Oktober angemahnte breite gesellschaftliche Debatte des neuen Aufgabenspektrums und die danach folgende eindeutige gesetzliche Fixierung der Eingriffsgründe. Darum ist 'out of area' auch nach 15 Jahren noch immer 'out of law'. Und ein Koalitionsvertrag und die schon beim Regierungswechsel 1998 geradezu reflexhaft beschworene Kontinuität der Außenpolitik sind für diese Basisprozeduren eines Rechtsstaats kein Ersatz - und auch wohl auch kaum ein Trost für Betroffene und Hinterbliebene.
Sodann zu den tatsächlichen Grundlagen: Die heutigen Gewalttätigkeiten in Kabul wären ohne massive 'Vorarbeit' ausländischer Staaten nicht möglich, etwa ohne den gezielten Aufbau der Taliban mit Unterstützung durch Pakistan und die USA. Auch die Stärkung der Warlords Afghanistans, der heute massiv angeschwollene Drogenausstoß und wohl auch die neue Folterpraxis sind unmittelbare Folge eines Eingriffs des Westens, der frühere Fehler korrigieren sollte. In der Dichtung kennt man für diesen Grad von Professionalität und Vertrauenswürdigkeit die Figur des 'Zauberlehrlings'.
Dass die heutigen Gewalttaten gerade Sinn und Nutzen der Präsenz der Bundeswehr zeigen, entspricht der von Paul Watzlawick warnend beschriebenen Denkfigur des 'Mehr vom Gleichen'; es würde wohl eine militärische Präsenz im Irak bis zur nächsten Eiszeit legitimieren. Richtiger wäre, was der Bundespräsident auch gefordert hat: Eine offene Evaluation aller bisherigen Einsätze auf Sinn, Nutzen und Erfolg.
14.11.2005
Süddeutsche
Zeitung, abgedruckt 21.11.2005
50 Jahre Bundeswehr; Interview
mit Berthold Schenk Graf von Stauffenberg in der Süddeutschen
v. 12./13.11.2005, S. 10 ('Die Armee ist den Deutschen eher egal
geworden')
Egal sei die Bundeswehr den Deutschen geworden, sagt Berthold Schenk Graf von Stauffenberg in der Süddeutschen, und das deckt sich recht genau mit dem Befund des Bundespräsidenten auf der Kommandeurtagung vom 10. Oktober.
Man kann sich in der Tat nur verwundert die Augen reiben: Die Notstandsgesetze hatten monatelang die Republik auf den Straßen, im Parlament und in der Regierung in Atem gehalten - und konnten doch Menschenrechte eher theoretisch, höchstens am Rande ankratzen. Die Kopftuchfrage löst heutzutage eine hektische, fast pedantische Gesetzgebung aus - nur auch hier: Fehlanzeige hinsichtlich der Bedrohung existenzieller Menschenrechte.
Massives staatliches Gewaltpotenzial aber, wie das omnipotente neue Aufgabenspektrum der Bundeswehr und nun wirklich mit Gefahr für Leib und Leben von Inländern und von noch viel mehr Ausländern, das entwickelt sich elegant und fast geräuschlos, ohne störende gesellschaftliche Debatte, ohne vorausschauendes und nachvollziehbares Einhegen der Regierung nach den guten alten Regeln von Gesetzesvorbehalt und Wesentlichkeitsgebot. Die Erklärung für dieses unerhört ungleiche Gewichten von humanen Werten liegt wohl so nah wie auch so fern: Empfinden und Interesse für die handhaften Schrecken militärischer Einsätze nehmen mit dem Quadrat der Entfernung rapide ab - bis unter die Wahrnehmungsschwelle braver Bürger.
Nov. 13, 2005
TIME
Karl
Rove’s ‚Permanent Campaign‘ TIME Nov. 7, 2005,
p. 32f (Joe Klein 'The Perils of the Permanent Campaign')
Joe Klein's article 'The Perils of the Permanent Campaign' somewhat reminded me of a quotation attributed to Hitler in Robert Harris' brilliant dark novel 'Fatherland'. Hitler is being cited there with: People sometimes say to me: 'Be careful! You will have twenty years of guerilla warfare on your hands!' I am delighted at the prospect. Germany will remain in a state of perpetual alertness.
Well, there are certainly grave differences of guilt. And while Hitler wanted to keep soldiers in high alert, Rove and Bush simply aim at the voters. But there are corresponding so called meme-programmes or timeless, selfisch bricks of shared conscience like 'Life is struggle!' or 'Enemies strengthen leaders!' or 'Attack 'n win!'. Not very surprisingly, the very same memes seem to steer the masterminds behind terrorism. That's presumably because we all belong to the same branch of hyper-aggressive Cro-Magnons, permanently prepared to raid the next valley - shouting 'Rape or be raped!' or 'Live and let die!'
22.10.2005
DIE ZEIT,
abgedruckt 3.11.2005
50 Jahre Bundeswehr (ZEIT Nr. 43, S. 7:
Jochen Bittner ‚Das kann uns Blut kosten’ und Theo
Sommer ‚Von Himmerod zum Hindukusch’)
Richtig, die neuen Aufgaben der Bundeswehr können Blut kosten – und nicht nur deutsches. Aber wofür? Nicht weniger als 11 Fragezeichen schmücken Seite 7 der ZEIT Nr. 43 mit den Berichten zum Bundeswehrjubiläum. Das ist wohl ZEIT-Jahresrekord. Und diese Fragezeichen stehen für das Kernproblem von out of area, das es nach 15 Jahren Neuorientierung noch immer aufzuarbeiten gilt: Ein staatliches Organ, das wie die Bundeswehr Leben, Gesundheit und Freiheit von Bürgern wie von Ausländern gefährden und schädigen kann, muss doch einen klar abgrenzbaren Auftrag besitzen und keine Sammlung von sicherheitspolitischen Fragezeichen. Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner weiß, wieso?
Die Vergewisserung einer Demokratie beginnt mit einer breiten gesellschaftlichen Diskussion. Die haben wir bisher nur ad hoc oder scheibchenweise erlebt. Sie wird auch nicht gegenstandslos durch Planspiele neuer Hausherren im Bendlerblock oder durch schneidige Forderungen amerikanischer NATO-Diplomaten.
Genau diese offene Diskussion hat der Bundespräsident am 10. Oktober nun eingefordert. Dafür schätze ich ihn als Bürgerpräsidenten ein. Am Ende des demokratischen Prozesses stehen dann hoffentlich auch keine neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien, sondern endlich die rechtsstaatliche Normalform für die Abwägung staatlichen Gewalthandelns gegenüber individuellen Grundrechten: der gesetzliche Handlungsrahmen mit nachvollziehbaren Eingriffstatbeständen. Und hoffentlich haben wir dann noch ein Verteidigungsministerium - nicht etwa ein Sicherheitsministerium, das u.a. die besonderen Interessen des deutschen Außenhandels militärisch robust flankiert. Der Schaden für die globale Friedensordnung wäre sonst leicht absehbar. Auch für internationales Tun gilt der kategorische Imperativ. Und wenn Rumsfeld heute die aktualisierte chinesische Militärdoktrin beklagt, blickt er auf mittelbare Folgen der Bomben auf die chinesische Vertretung in Belgrad.
13.10.2005
Bonner
General-Anzeiger, abgedruckt 18.10.2005
Rede des
Bundespräsidenten auf der Kommandeurstagung
(Bericht/Kommentierung von Ekkehard Kohrs im GA v. 11.10.2005, S.
1 u. 2)
Der Bundespräsident verlangt eine breite gesellschaftliche Debatte der neuen Aufgaben der Bundeswehr und er spricht mir aus dem Herzen. Wir hatten nun eine explorative Phase der Bundeswehr von ca. 15 Jahren, die viel ambitioniertes und Bündnis-integrierendes Handeln gebracht hat, aber sehr wenig demokratische Diskussion und erst recht keine greifbare und verlässliche gesetzliche Definition des erweiterten Auftrags der Bundeswehr. Das neue Aufgabenspektrum ist nach wie vor diffus wie der Hindukusch im Herbstnebel. Bei Funktionen des Staates, die Grundrechte von Bürgern wie von Ausländern massiv und unwiderruflich schädigen können, ist dies kein rechtsstaatlich befriedigender Zustand.
13.10.2005
DIE ZEIT
Rede
des Herrn Bundespräsidenten im Rahmen der Kommandeurtagung
zum fünfzigjährigen Bestehen der Bundeswehr
Der engagierte Appell von Bundespräsident Köhler im Rahmen der Kommandeurtagung zum fünfzigjährigen Bestehen der Bundeswehr überrascht und nimmt mich sehr für ihn ein: In den letzten 15 Jahren gab es einen Komment zwischen Legislative und Exekutive: Deutschlands Wehr- und Bündnisfähigkeit in behutsamen Schritten wiederherstellen, aber nicht breit und vor allem nicht grundsätzlich darüber sprechen und auch nichts gesetzlich eingrenzen. Dieses 'staatsmännische' Einvernehmen hat bzw. hätte auch die Politikwechsel in den Jahren 1998 und 2005 geschmeidig überdauert. Nun stellt der Bundespräsident sehr treffend fest, dass diese Strategie die Bundeswehr, ihre Soldaten und ihre neuen Aufgaben nicht in die Gesellschaft eingebettet, sondern sie eher von ihr entfremdet hat. Und er fordert sogar eine nüchterne Analyse der bisherigen und laufenden Einsätze nach Nutzen und Lasten ein.
Man kann leicht einen Wertemaßstab für das kalibrieren, was uns bisher dringend gefehlt hat: Im Vorfeld der Notstandsgesetze gab es eine sehr breite gesellschaftliche Debatte der möglichen Einschränkung von Grundrechten und diese Eingriffe wurden sodann mit höchster juristischer Sorgfalt in klaren Tatbeständen definiert. Dabei waren dies Rechte, bei deren Verletzung niemand wirklich existentiell bedroht war. Einsätze der Bundeswehr aber gefährden ganz handgreiflich Leib und Leben von Menschen, von Inländern wie auch - selten genug bemerkt - von Ausländern, in Zahlen von Hunderten und Tausenden. Dies rechtfertigt jede Mühe einer gesellschaftlichen Debatte über Nutzen und Lasten unter Einbeziehung aller gesellschaftlich relevanten Gruppen. Danke, Herr Präsident, für diese demokratisch wie friedenspolitisch zentrale Initiative!
13.10.2005
DIE WELT
Rede
Köhlers im Rahmen der Kommandeurtagung zum fünfzigjährigen
Bestehen der Bundeswehr (DIE WELT v. 11.10.2005, S. 5 'Köhler
lobt die Truppe')
Unser Präsident hat mich auf dem völlig falschen Fuß erwischt: Eben noch war ich etwas vergrätzt wegen der raschen Zustimmung zu vorzeitigen Neuwahlen - fairerweise: in der verfahrenen Situation war ihm kaum eine Wahl verblieben - da legt er diese fulminante Rede zur Bundeswehr hin, die mich in seine Fan-Gemeinde bringt: Nach fünfzehn Jahren des Vortastens und Experimentierens, nach mehreren völligen Flops (Somalia) oder jedenfalls partiellen Fehlschlägen und enttäuschten Planungen, nach vielen kostenträchtigen Festlegungen in Aufbau und Infrastruktur ist die von ihm nun eingeforderte offene Bewertung von Nutzen und Lasten fällig, ja überfällig. Ohne diese Debatte würde der Bundeswehrauftrag diffus bleiben wie der Herbstnebel am Hindukusch und ebenso die nachhaltige gesellschaftliche Unterstützung. Hut ab, Herr Präsident!
13.10.2005
Süddeutsche
Zeitung
Rede von Bundespräsident Köhler auf der
Kommandeurtagung der Bundeswehr am 10.10.2005 (Süddeutsche
v. 11.10.2005, S.8 'Agieren statt reagieren')
Der Bundespräsident hat auf der Kommandeurtagung zum fünfzigjährigen Bestehen der Bundeswehr die lange überfällige breite gesellschaftliche Debatte des veränderten Bundeswehrauftrages eingefordert. Das läutet hoffentlich die 15 Jahre währende Experimentierphase am Rande der Legalität ein, eine Zeit, die anfangs eher von bündnispolitisdchen Integrationsübungen und militärischer Rehabilitation geprägt war als von einer klar umrissenen Ausrichtung auf Aufgaben, Kompetenzen und erfolgreiche Problemlösungen.
Besonders begrüße ich die Aufforderung, militärische Einsätze nüchtern auf Nutzen und Lasten zu evaluieren und damit Transparenz und demokratisches Lernen zu fördern. Als unabhängige Instanz ist dafür die deutsche Friedens- und Konfliktforschung fachlich hervorragend aufgestellt.
7.10.2005
Kölner
Stadt-Anzeiger, abgedruckt 14.10.2005
15 Jahre deutsche
Einheit; 'Herz und Verstand erreichen' von Alfred Neven DuMont in
KStA v. 3./4.10.2005
Das Verbindende suchen - vielleicht in der gemeinsamen deutschen Kultur? Das könnte schwerer fallen, als wir uns alle eingestehen wollen. Bei der Leitkultur-Diskussion wurde schnell ausgeblendet: Unser Leben ist heute viel mehr geprägt von einer jugendlichen, merkantilen, verbrauchenden westlichen Kultur als von einer klassischen, geisteswissenschaftlichen Bildungskultur, deren Wurzeln wir im Osten suchen könnten. Haben etwa Kant- und Schillerjahr außerhalb des Feuilletons Nennenswertes bewegt?
Um beim Merkantilen zu bleiben: Wir bejammern unermüdlich den billionenschweren West-Ost-Transfer, vor allem, wenn er den Osten zum Verbrauchen animiert. Wer aber spricht von dem gigantischen Rückfluss in die Taschen westlicher Händler und Ausrüster, der die Wiedervereinigung zu einem prächtigen Durchlauf-Erhitzer für partikulärste Interessen des Westens gestaltet? Und wer erwähnt die Schlüssel-Liegenschaften und -Beteiligungen, die in den neuen Bundesländern in einer historisch extrem kurzen Phase neu vergeben wurden - zum Vorteil des Westens, zum Nachteil des Ostens auf Generationen fest zementiert? Ebenso lange, also mehrere Generationen, darf man getrost auf die Chancengleichheit warten, die inwischen so gerne an Stelle gleicher Lebenbedingungen versprochen wird. Lehrjahre sind halt keine Herrenjahre und die Einheit ist nachhaltige Zweiheit.
21.9.2005
Frankfurter
Allgemeine, abgedruckt 5.10.2005
Situation nach der
vorgezogenen Neuwahl (u.a. Stefan Dietrich 'Folgen einer
Fehlentscheidung', FAZ v. 21.9.2005, S. 1):
In der Tat: außer vielen Spesen nichts gewesen. Im Parlament sind der wirtschaftsfreundliche, etwas kleinere Kontinent und der etwas größere sozial besorgte Kontinent bis auf Quadratzentimeter unverändert geblieben. Mit einer kleinen Neuerung: Der Sozial-Kontinent hat eine Art verbotene Halbinsel ausgebildet, die nun seine vorherige Übermacht paralysiert. An Brücken, die die Mitten beider Kontinente verbinden könnten, wird gesägt, bevor sie gebaut sind. Wunderglaube herrscht noch immer allerorten. Und für diesen Glauben und für das Vertrauen auf ruckhafte Reformen und auf schöpferische Zerstörung steht - da spricht mir Stefan Dietrichs Kommentar aus der Seele - unser Bundespräsident. Genau dafür wurde er allerdings auch ausgewählt, nicht für ein bewahrendes Verfassungsverständnis.
Etwas mehr Ruhe und Kontinuität täte uns gut - aber mit Ausnahme gerade des Personellen. Hier sollten wir im Gegenteil sehr enge Halbwertzeiten einführen: für Kanzler, für Fraktionsvorsitzende und auch für leitende Parteiämter. Dann gäbe es auch einen geringeren Anreiz für Hahnenkämpfe und für selbstverliebtes politisches 'suicide bombing' und eine bessere Chance für Kommunikation und Kooperation. In einer sehr komplexen Lage des Standortes, die weitestgehend unerklärt, um nicht zu sagen unverstanden ist, spricht alles für Annäherung. Auch das Votum der Wähler.
20.9.2005
Kölner
Stadt-Anzeiger
Ausgang der Bundestagswahl am 18.9.2005 (KStA
v. 20.9.2005 S. 1 ‚Poker um die Regierungsbildung’;
S. 4 Kommentar Joachim Frank: ‚Für Merkel geht’s
ums politische Überleben’)
Hier und da hört man vorwurfsvoll: ‚Jetzt sieht der Wähler, was er angerichtet hat!’ und vor allem die Wirtschaftsverbände – sonst den Revolutionen eher abhold – zeigen sich höchst ungnädig, dass wir keinen radikalen politischen Umsturz gewählt haben. Nun, bei genauerem Hinsehen haben wir bestimmt, eine Farbe im Regierungs-Karo zu wechseln und die andere zu erhalten – wenn auch nicht: welche Farbe. Die parlamentarischen Gewichte von eher sozial orientierten und eher wirtschaftsfreundlichen Lagern haben wir dabei gegenüber der letzten Wahl bis auf Zehntel Prozente genau bestätigt, damit auch das egozentrische Einfach-Motto zurückgewiesen, für die wirtschaftlich Schwächeren müsse alles noch viel viel schlechter werden, damit es besser wird. Also: kein Grund für Wählerkritik – und insbesondere keine Zeit für Macho-Gesten mit Denk- oder Koalitionsverboten. Demokratie ist immer Übergang.
2.9.2005
Kölner
Stadt-Anzeiger, abgedruckt 9.9.2005
Flutkatastrophe im Süden
der USA; KStA v. 2.9.2005 (u.a. Sibylle Quennet: ‚Herzloser
Stimmenfang’, S. 4):
Es ist keine ganz unerwartete Reaktion, wenn die Leit-Nation strauchelt und die Kleineren aufmucken und deplazierte Fragen stellen. Und tatsächlich hätte auch ich mir den Präsidenten in vorderster Reihe der Hilfsmaßnahmen gewünscht, gerne auch in seiner tollen Fliegerjacke. Aber unabhängig davon ist es falsch, selbstgewiss eine derartige Katastrophe einer verständnislosen Klimapolitik anzulasten. Die Beweislage ist jahrzehntelanger Forschung zum Trotz nach wie vor anzweifelbar. Seltsam genug - und das stellt auch die Objektivität und Problemlösungseignung von Forschung in unserer Gesellschaft in Frage - aber es gibt hier nach wie vor auseinanderlaufende und gegensätzlich interpretierte Statistiken.
Realistischer scheint mir die Frage, ob nicht die USA mit ihrer Fixierung auf Terrorismus-Gefahren und militärisch-industrielle Lösungen ganz handhaft den zivilen Katastrophenschutz vernachlässigt haben und nun ähnlich planlos wirken wie in der komplexen Nachkriegs-Situation im Irak. Das ist unsere Chance, zivile Konzepte und Lösungen anzubieten – mitmenschlich und ohne jede Häme.
26.8.2005
SPIEGEL
zur
vom Bundesverfassungsgericht nun zugelassenen außerplanmäßigen
Neuwahl ein Leserbrief:
Deutschland darf wieder wählen? Ich stelle mir vor, ich gehe zum Familienrichter und sage: "Ich habe so den Eindruck, meine Frau vertraut mir nicht mehr!" Drauf der Richter: "Ist Recht. Das wissen Sie natürlich selbst am besten. Sie dürfen jetzt wieder wählen." Das kann’s doch nicht sein. Und mit Verlaub: Ich habe gemeinsam mit anderen Wählern rd. 200 Mio. in die letzte Bundestagswahl investiert und hätte bitte gerne eine chefmäßige Leistung für das nun abzuschreibenden letzte Viertel gehabt. Für das ´ne alte Omma lange stricken muss.
Als ob wir alle auf’s Wählen nur so brennen würden: die 2002er Beteiligung legt es nicht gerade nahe. Vielmehr scheint die Politik gefangen in ständigen Beschwörungen der Risiken und Reformbedürfnisse und bietet als Lösung einen projekthaften Aktionismus. Da lässt sich auch das Neuwahlprojekt bestens einordnen. All dem kann man einen gewissen Unterhaltungswert ja nicht absprechen. Aber der hat mit Demokratie wenig gemein. Wahlkampfzeiten sind in unserer sehr kühl und indirekt ausgestatteten Demokratie die wesentliche Schnittstelle für den inhaltlichen Austausch mit den Bürgern. Wahlkampf ist die Chance, politische Impulse auch einmal bottom-up zu vermitteln und die Stimme an den Meistbietenden zu versteigern. Und gerade diese Phase ist im Streit um die Neuwahl mit dem Segen der Verfassungshüter erbärmlich kurz ausgefallen.
August 11, 2005
Newsweek,
abgedruckt 10.10.2005
Hiroshima and Nagasaki; 'War without
mercy' in Newsweek August 15, 2005 p. 28:
The phrase "Only a dead [x] is a good [x]" is a very flexible verdict, already used unequivocally on Indians, Jews, Japanese, communists, and Mohammedans, whilst completely incompatible to Christian faith. And irrespective of the kamikaze-phenomenon it stays a strange notion that the mightiest machine ever invented was designed and used against humans – in the case of Hiroshima and Nagasaki even purposefully against mostly undestroyed and quite unsuspecting communities without relevant strategic importance: a kind of vivisection.
I can reconstruct Truman's motives in favour of the soldiers still in the field. But I understand that there were concurrent motives of most questionable morality: to deeply impress Stalin and keep Russia out of Japan, to prove the necessity of 2 billions invested in the Manhattan project and show the paramount importance of a military industrial complex, to prove scientific theories and to simply switch on a gadget just delivered. The most puzzling fact seems to me: The fast use of the second bomb – also representing the different plutonium approach and therefore a sort of new experiment – was not triggered by special presidential order and was not even politically discussed. It was decided by military commanders abroad and may be basically due to an unpromising weather forecast. History can be extremely trivial.
8.8.2005
Frankfurter
Allgemeine
Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki im August
1945 (F.A.Z. v. 6.8.2005, S, 1f, 31)
Die Atombomben von 1945 trugen viele Botschaften, darunter manche von sehr zweifelhaftem ethischem Wert: Eine Botschaft an die militärische und politische Elite Japans, bedingungslos zu kapitulieren. Eine sehr starke Botschaft an Stalin und andere Nachkriegsführer, die das Drohpotenzial und die amerikanischen Ansprüche für die Nachkriegsordnung unterstreichen sollte. Eine Botschaft an die Parlamentarier, daß das Budget zweckentsprechend und erfolgreich investiert war. Eine Botschaft an die US-Bürger zur Problemlösungskompetenz und zum fortdauernden Nutzen der Militärwirtschaft. Eine Botschaft zurück an die wissenschaftlichen und technischen Väter der Atombombe, daß die zwei unterschiedlichen Bombendesigns – basierend auf Uran bzw. Plutonium – die erwartete Vernichtungswirkung hatten.
Und praktisch keine Botschaft an die eigentlichen Empfänger: die Menschen in Hiroshima und Nagasaki, praktisch ausschließlich Zivilisten und nur Opfer. Für uns bleibt die abgründige Erkenntnis - darauf weist Volker Zastrow zurecht hin: Technische Zivilisationen vernichten sich mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit selbst.
8.8.2005
TIME
bombing of
Hiroshima and Nagasaki in August 1945 (TIME of August 1st, 2005,
p. 24ff)
Mankind made use of the most advanced scientists and engineers, developed its most powerful tool and unleashed the highest peak of energy just to extinct humans, most of them citizens like ourselves. There is something very psychotic about that. And absolutely nothing heroic, also bearing in mind the final lines of Thomas Stearns Eliot’s ‘Hollow Men’.
8.8.2005
Kölner
Stadt-Anzeiger
Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und
Nagasaki (KStA v. 6./7.8.2005, u.a. S. 4: Jan W. Brügelmann,
'Die Hoffnung bleibt unter Verschluss')
Wir lernen durch Krieg und wir lehren durch Krieg. Im zweiten Weltkrieg konkurrierten Parteien, die sich ähnlicher als sie verschieden waren: die technisch am weitesten fortgeschrittenen Nationen. Angreifer wie Verteidiger haben von diesem Lehrstück, das in der Entwicklung und schrecklichen Erprobung der Atombombe gipfelte, nachhaltig profitiert. Der damals auf allen Seiten etablierte militärisch-industrielle Komplex, unser Fortschrittsverständnis und nicht zuletzt unser Demokratiemodell bleiben bis heute davon geprägt – und dies bestimmt auch unser gegenwärtiges Verhältnis zu Zivilisationen, die wir als noch unterentwickelt betrachten. Das gibt der Hoffnung auf eine dauerhaft friedliche Zukunft in der Tat wenig Raum.
6.7.2005
DER SPIEGEL
zum
Misstrauensvotum am 1.7.2005
Der Politik glückt in diesen Tagen wenig. Immerhin schafft sie es, programmgemäß Vertrauen zu verlieren, gerade bei den Bürgern.
5.7.2005
Kölner
Stadt-Anzeiger
zur Vertrauensfrage am 1.7.2005 (KStA v.
2./3.7.2005, S. 1: 'Dem Kanzler gelingt es, die Vertrauensfrage
zu verlieren')
Vertrauen ist - wie auch Arbeitsplätze - sehr viel leichter zur Disposition zu stellen als neu zu begründen.
8.6.2005
Kölner
Stadt-Anzeiger
50. Geburtstag der Bundeswehr (KStA v.
7.6.2005, S. 3 Markus Decker 'Wie die Gegner wechseln', S. 6
'Koalitionsstreit um Kriegseinsätze'; KStA v. 8.6.2005
'Schröder verteidigt Wehrpflicht')
"Was kommt", schreibt Markus Decker resümierend zur Entwicklung des Grünen-Politikers Winfried Nachtwei wie auch der Bundeswehr, "ist allemal ungewiss." Nur passt diese abwartende Haltung nicht zum gefahrgeneigten Auftrag der Bundeswehr, nicht zu einer Demokratie und nicht zu einem Rechtsstaat.
Ein Vergleich: Die deutschen Polizeigesetze regeln sehr eng und sehr präzise die Vorausetzungen des finalen Todesschusses. Geht es aber um Hunderte oder gar Tausende von Soldaten eines als feindlich bezeichneten Staates wie etwa Serbien, so sind diese völlig ohne vorherige gesetzliche Regelung der sachlichen Eingriffsgründe - drastisch gesagt - zum Abschuss freigegeben, zivile Begleit-Opfer billigend eingeschlossen. Es bedarf nur eines Einsatzplanes der Regierung und einer ad-hoc-Genehmigung des Parlaments, die aber auch in kontrovers diskutierten Fällen in jedem Einzelfall prompt erteilt wurde, häufig auf einer lückenhaften Informationsgrundlage und teils unter massivem Gruppendruck.
Vielleicht legt das von Winfried Nachtwei zitierte "Gelöbnis von Banja Luka" militärische Einsätze zur Verhinderung massiver Menschenrechtsverletzungen nahe. Hier kann ich einen neuen Auftrag der Bundeswehr auch am ehesten nachvollziehen. Dann müssen wir genau das gesamtgesellschaftlich debattieren - die Kirchen und der Bundeswehrverband mahnen es seit Jahren an - und danach im parlamentarischen Verfahren nach dem Wesentlichkeitsgebot der deutschen Verfassung gesetzlich festlegen. Die Büchse der Pandora aber bis zum Anschlag aufzusperren, zu warten, was da kommt, das passt nicht zu meinem Verständnis grüner Demokratie- und Bürger-Politik. Und nicht zu 50 Jahren Bundeswehr, in der ich auch einmal gedient habe, deren kalkulierbares Einsatzspektrum ich meinem Sohn aber nicht mehr erklären könnte.
25.5.2005
Kölner
Stadt-Anzeiger
Vorgezogene Neuwahl 2005 (KStA v. 24.5.2005, S.
1: ‚Neuwahlen für September geplant’; S. 2:
Interview mit Erhard Eppler ‚Die psychologische Lage hat
sich geändert’).
Eine Bundestagswahl kostet uns einige hundert Millionen Euro − an unmittelbaren Wahlkosten, an hoch attraktiver Wahlkampfkosten-Erstattung und an Folgekosten beim Auswechseln von Abgeordneten und politischen Beamten. Es ist gar nicht lustig, wenn zur knappen Hälfte des Films schon der Abspann anläuft und wir dann wieder heraus zur Kasse komplimentiert werden. Ich will das volle bezahlte Vergnügen, am Ende eine nachvollziehbare politische Bilanz plus Vorschau und keinen hastigen Larifari-Wahlkampf. Und ich bin nicht wundergläubig, weder hinsichtlich wortreicher Fitness-Reformpakete noch hinsichtlich einer neuen Regierung, die die Bürger auch nicht um mehr Rat fragen will.
Erhard Eppler hat Recht und kann noch ergänzt werden: Richtig, die Handlungsmöglichkeiten der Regierung sind außerordentlich beschränkt; aber nicht nur wegen (‚neuer’) Globalisierung, sondern auch wegen (alter) europäischer und internationaler politischer Verflechtung und wegen einer Republik, die nicht auf Bürgermitwirkung, sondern auf Verbandsmacht optimiert ist. Das ändert sich auch in den nächsten sechs Monaten nicht. Für notwendige Schritte aber kann die Regierung noch immer Mehrheiten organisieren. Und sollten ein paar eitle Projekte auf der Strecke bleiben – der Bürger dankt. Die SPD muss den Rest der Wahlperiode aushalten. Sonst hätte sie sich nicht zur Wahl stellen und der Kanzler hätte nicht den Amtseid leisten dürfen.
Wenn wir denn in Abstimmungen investieren wollen, möchte ich Referenden über die nationale und europäische Verfassung anmahnen und vor allem die dazu gehörende gesamtgesellschaftliche Debatte. Das wäre immerhin nicht ‚mehr vom Gleichen’.
15.2.2005
Kölner
Stadt-Anzeiger
Zur Zerstörung Dresdens am 13./14.2.19945
(Rainer Hartmann: Ein Himmel, so brennend rot, KStA v.
12./13.2.2005 und Monika Zimmermann: Die Stärke der
Demokratie, KStA 14.2.2005, S. 4)
Aus meiner Sicht ist Dresden - wie Hiroshima und Nagasaki - mehr als ein Mahnmal für die Folgen totalitärer Herrschaft. Ohne Zweifel waren diese Katastrophen durch einen menschenverachtenden Militarismus herausgefordert und ohne vorangehende Aggression überhaupt nicht denkbar. Aber sie sind zugleich brutale Demonstrationen der Macht, ohne die Not von Verteidigung. Und wie in Sheffield, London und Rotterdam war nicht das Militär im Visier, sondern primär die Zivilbevölkerung, will sagen, auch Kinder und Greise, die mit der aktuellen politischen und militärischen Ordnung wenig zu schaffen hatten. Zudem erscheinen mir Hiroshima und das ebenso von vorherigen Bombardements ausgeklammerte Dresden weniger als taktische Ziele des zweiten Weltkrieges, sondern als Menetekel einer neuen Weltordnung, in der die militärische Zweck-Allianz gegen Deutschland und Japan längst in gegensätzliche Lager aufgebrochen war und neue Drohpotenziale aufgebaut wurden. Die Opfer waren nicht die eigentlichen Adressaten. Sie sind es nie.
Ein seltsames Zusammentreffen, dass wir heute über die militärische Eindämmung des Drogenanbaus in den Einflussgebieten der ehemaligen Nord-Allianz in Afghanistan nachdenken müssen. Es gibt offenbar diese ständige Verwandlung vom Kumpel zum Schurken, die dann mit militärischen Mitteln korrigiert werden soll, tatsächlich aber verewigt wird: Die Sowjetunion wurde gegen Deutschland gestärkt, der Iran gegen die Sowjetunion, der Irak gegen den Iran und dies vielleicht bald ein zweites Mal, die Taliban (und ein gewisser Saudi namens Bin Laden) wurden gegen die Sowjetunion in Stellung gebracht, die Nord-Allianz gegen die Taliban - und nun schickt sich die Nord-Allianz an, unsere Welt mit Opiaten zu überschwemmen. Unsere Fähigkeit, eine komplexe Welt mit militärischen Mitteln nachhaltig zu gestalten, erinnert trotz gewohnt schnellen Beifalls doch mehr an die Selbstüberschätzung eines Zauberlehrlings. Nachzutragen ist: Selbst ein Hitler hatte aus amerikanischer Sicht zeitweilig als förderungswürdig gegolten: als dynamischer Modernisierer und als strammes Bollwerk gegen den von Osten heraufziehenden Kommunismus. Damals hatte Faschismus auch Eliten fasziniert.
4.1.2005
Kölner
Stadt-Anzeiger
Zur Evolution menschlicher Intelligenz; Beitrag
'Der Mensch bleibt einzigartig' (KStA v. 4.1.2005, S. 42)
Bevor wir vor Stolz platzen: Über die letzten 10.000 Jahre hat die durchschnittliche Gehirnmasse des homo sapiens schon wieder messbar abgenommen. Variabilität kann halt in mehrere Richtungen gehen. Unseren Häuptlingen - sprachlich ja eigentlich auch zu deuten als 'Menschen mit kleinem Kopf' - könnte schon bald die selbst aufgesetzte Schöpfungskrone über die Ohren rutschen. Nebenbei hatte unser Vetter aus dem Neandertal mehr Hirn im Kasten als wir jemals besaßen; und dennoch sieht man ihn heute so selten.
2.1.2005
Kölner
Stadt-Anzeiger, abgedruckt 6.1.2005
Flutkatastrophe, u.a.
Kommentar von Lutz Feierabend ‘Die Illusion von der
beherrschbaren Natur’ (KStA v. 31.12.2004, S. 4) u. zur
Rede des Bundespräsidenten
Spenden? Ja. Wer kann, sollte den Überlebenden helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Wer spendet, ist auch nicht blöd. Aber beten? Ich glaube nicht an einen Gott, den wir durch Bitten umstimmen könnten oder müssten. Beten sollten wir höchstens für die Einsicht westlicher Politiker. Denn auch die politische Ebene kann auf liebgewonnene Böller verzichten. Flugzeugträger, Raketen, Raumstationen, Marsmissionen und Fusionsreaktoren lassen sich mit Millionen bedrohter Leben rund um die Erde aufwiegen. Und eine rücksichtsvollere Weltwirtschaftspolitik, in der der Teufel nicht immer den größten Haufen bereichert, ist dreimal wichtiger und nachhaltiger als die Wiederherstellung des Tourismus in gleicher Art und Güte. Sie würde die Welt gegen Heimsuchung und gegen Hass zugleich stärken.
und, viele Leserbriefe vorher:
29.09.1992
Kölner
Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 02.10.1992
Militär; Absage
der "V 2 - Gedenkfeier" in Peenemünde (KStAnz. v.
29.09.1992)
Hätten wir am Deutschlandtag die Schöpfer der V 2 hochleben lassen, hätten wir auch die der Scud mitgefeiert. Die Scud ist wie die Mehrzahl der heute weltweit ausgerichteten Trägersysteme legitimer Nachfahre der V 2. Scud und V 2 sind brutale Massenvernichtungswaffen, die unter einem verantwortungslosen Regime bewußt zum Schaden der Zivilbevölkerung eines anderen Landes entwickelt und eingesetzt worden sind.
Demgegenüber ist der vorgebliche Kontext ziviler (!) Raumfahrtforschung, der etwa den jungen Wernher von Braun begeistert und geblendet haben mag, als Begründung eines V 2 - Festes geradezu absurd. Die Forschung hat sich gegen diese Wirtschaftsidee im doppelten Sinne auch ausdrücklich verwahrt.
Der Vorschlag war, wenn auch der count-down schweren Herzens in letzter Sekunde abgebrochen wurde, bereits eine verheerende Wunderwaffe gegen das Ansehen des neuen Deutschland im Ausland und unserer Repräsentanten im Inland.