Karl Ulrich Voss, Burscheid: Meine Leserbriefe im Jahre 2010
Stand:
Januar 2011
(41) 31.12.2010
DER SPIEGEL
Befindlichkeit der Bundeswehr; Interview mit Egon Ramms (Ulrike Demmer u. Dirk
Kurbjuweit "Soldaten wollen geliebt werden", SPIEGEL 52/2010, S. 23f):
Nun kann man unseren Soldaten eines
nicht nachsagen: Dass sie mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Verfassung
stünden, wie Herr Ramms meint. Aber das ist auch nicht ihre Schuld. Die
Bundeswehr hat seit 1990 eine Wandlung vollzogen wie seit ihrer Gründung nicht,
ist heute Armee im Einsatz "mit scharfem Schuss". Unsere Verfassung
hat dabei nicht einmal einen Streifschuss abbekommen. Sie liegt in ihren
einschlägigen Artikeln - Artt. 20, 24, 26, 59, 87a, 115a und dem gesamten
Grundrechtsabschnitt - noch schlafend da, wie im ewigen Frieden.
Im Grunde ist eine liebevolle Lösung
einfach: Wenn Politiker grundrechtsrelevantes Handeln des Staates nicht in eine
generelle Norm gießen können, wenn sie es nicht einmal im Einzelfall erklären
können oder wollen, dann müssen sie darauf verzichten. Und dürfen nicht
Demokratie als Farce inszenieren - mit Bündnis-gerechten, aber
Rechtsstaats-fernen ad-hoc-Zustimmungen. Das ist auch kein Vorbild für
Landstriche, die wir nach unserem Muster zivilisieren wollen.
(40) 29.12.2010
Spektrum der Wissenschaften, abgedruckt im Februar-Heft 2011
Militär-Robotik; P. W. Singer "Der ferngesteuerte Krieg" (Spektrum
12/2010, S. 70ff)
Es ist nicht ungewöhnlich, dass
Machthaber Kriegshandlungen entformalisieren, camouflieren oder distanzieren.
So können sie diese elegant aus der rechtlichen oder öffentlichen bzw.
demokratischen Kontrolle heraushalten, können die auf Dauer verräterische
Schmerzleitung weitestgehend kappen. So dienen fernwirkende oder automatisierte
Waffen, Söldnersysteme, das so genannte targeting/decapitating und der Verzicht
auf Kriegserklärungen damit ähnlichen Interessen, sind aber alle ähnlich
kurzsichtig. Schon Kant brandmarkte in seiner hellsichtigen Schrift "Zum
ewigen Frieden" alle Feindseligkeiten, die ohnmächtigen Hass schüren und
das wechselseitige Vertrauen in einem künftigen Frieden unmöglich machen, als
"ehrlose Stratagemen", etwa auch die Anstellung von Meuchelmördern.
Heute müsste er konsequenterweise die Drohnen einbeziehen. Kurzsichtig sind
alle diese Strategien, weil der mit einem ähnlichen Denkapparat gesegnete
Gegner nur neue Wege ersinnen muss und wird, um die Kriegswirkung seinerseits
wieder zurück zum Volk, zum eigentlichen Ressourcengeber zu tragen, etwa durch
Terrorismus. Spanien war ein Beispiel.
Kant gab den entgegen gesetzten
Fingerzeig, indem entweder das Volk unmittelbar über die Kriegshandlungen
entscheiden sollte oder er - mit einem Augenzwinkern - die Rückkehr zum guten
alten Zweikampf der Häuptlinge empfahl, wo Plan, Ausführung und rückkoppelndes
Schmerzempfinden ohne jeglichen Signalverlust oder Irrtum in einer Person
zusammen fallen, wo verheerende und endlose Waffengänge dann per definitionem
ausgeschlossen sind.
Quelle
Immanuel Kant, Zum Ewigen Frieden, 2. Aufl. 1796:
- ehrlose Stratagemen: Präliminar-Artikel Nr. 6 (Reclam-Ausgabe v. 1984, S. 7),
- Beistimmung der Bürger zur Kriegserklärung: erster Definitiv-Artikel (Reclam
S. 12f),
- Zweikampf: zweiter Definitiv-Artikel, bei und in der Fußnote (Reclam S. 16f)
Siehe auch http://de.wikipedia.org/wiki/Zum_ewigen_Frieden
m.w.N.
(39) 29.12.2010
Süddeutsche Zeitung
"Peking will weniger Neuwagen zulassen" (Süddeutsche v. 28.12.2010,
S. 1 u. Kommentar Karl-Heinz Büschemann "Enttäuschung in Fernost", S.
20)
Müssten wir es uns bieten lassen,
wenn die Chinesen unsere etwas retardierte KFZ-Technik aus ihren Ballungsräumen
fernhalten wollten? Nimmermehr! Schon der gute alte Kaiser Willem hat bei
ähnlichen Eigenmächtigkeiten kein Pardon gegeben. Und sagt nicht unser Bundeswehr-Weißbuch
2006 deutlichst, wie auch die geltenden Verteidigungspolitischen Richtlinien
2003, dass wir unseren lebhaften Außenhandel verteidigen müssen? Jawoll - und
Schiffe, die Landziele bekämpfen können, die haben wir in weiser Voraussicht auch
längst wieder angeschafft; Kanonenboote hießen die früher.
Andererseits: Das Weißbuch 2006
spricht auch von den Folgen von Umweltzerstörung, denen wir wehren müssen. Das
könnte etwa sein, wenn die Chinesen zu viel Auto führen oder in Scharen ein
verschmutztes China verlassen würden, auf dem Weg in unser sauberes
Deutschland.
Was lernen wir daraus? Im Grunde
können wir uns immer munter verteidigen. Ein gutes Gefühl. Wie früher, vor dem
Grundgesetz. Nur ist China heute ein anderes.
Quellen:
Weißbuch 2006, S. 19ff: http://www.bmvg.de/fileserving/PortalFiles/C1256EF40036B05B/W26UYEPW631INFODE/WB2006_oB_sig.pdf.pdf
VPR 2003, S. 20ff: http://www.bmvg.de/fileserving/PortalFiles/C1256EF40036B05B/N264JEUC110MMISDE/VPR_BROSCHUERE.PDF
Hunnenrede von Wilhelm II., gehalten am 27.7.1900 bei Verabschiedung des
deutschen Südostasiatischen Expeditionskorps in Bremerhaven: http://de.wikipedia.org/wiki/Hunnenrede
(38)
22.12.2010
Newsweek, published Jan 10/17, 2011, see article / my comment underneath
assassination of nuclear scientists of
Unfortunately,
there is a bad tradition in assassination projects deriving from
What's
worse: Those dirty tricks are deadly poisonous to the underlying values of the
West - values dating back to the Roman "Leges Duodecim Tabularum".
Even that very ancient code of 450 a.C.n. constituted, that no free man was
allowed to be killed without a judicial decision.
In
his booklet with the somewhat ironic title "Eternal Peace" Immanuel
Kant addressed means like assassination as an inherent obstacle to future
peace, right on his first pages: "No state shall, during war, permit such
acts of hostility which would make mutual confidence in the subsequent peace
impossible: such are the employment of assassins (percussores), poisoners
(venefici), breach of capitulation, and incitement to treason (perduellio) in
the opposing state". Or take Kant's Categorical Imperative: "Act only
according to that maxim whereby you can, at the same time, will that it should
become a universal law." And ask, whether we in the West should and would
accept assassination as a ubiquitous instrument of foreign policy. Knowing a
little about Hassan-i Sabbah, father of terrorism, I wouldn't propose.
Sources:
Trying to hit Adenauer: http://www.faz.net/s/RubFC06D389EE76479E9E76425072B196C3/Doc~E35BBCD5A37DA47809AD4F6A865C6332B~ATpl~Ecommon~Scontent.html
Duodecim Tabulae: http://www.hs-augsburg.de/~harsch/Chronologia/Lsante05/LegesXII/leg_ta09.html
Kant / Perpetual Peace: http://en.wikipedia.org/wiki/Perpetual_peace
Kant / Categorical Imperative: http://en.wikipedia.org/wiki/Categorical_imperative
History of assassinism: http://en.wikipedia.org/wiki/Assassins
My reader’s letter was published in
an abridged version, needing some additional comment:
http://www.newsweek.com/2010/12/13/killing-the-killers.html#comments
I’d like to obviate
misunderstandings in respect of my reader’s letter addressed to the “Killing
the Killers” article and published in the Jan 10/17 issue.
My reference for a “bad tradition of assassinations” had been the proven attack
on the German chancellor and clear philo-Semite Konrad Adenauer ordered by
Menachem Begin in the early Fifties. That reference was skipped whilst editing
and now the letter seems to point at the pre-war assassination of the German
diplomat Ernst vom Rath by the Jewish refugee Herschel Grynszpan mentioned in a
letter printed right on top of my comment.
To make it very clear: This is a completely different setting and none of the
respective conclusions in that letter seem very convincing to me: I very much
doubt that the 1938 pogrom in
Nevertheless there is a quite disturbing, even tragic aspect, and in that
limited context the Grynszpan-case may be cited here: I guess that the today
behaviour of Israel as a community is not to be understood without the
collective trauma of pogroms going on for centuries and culminating in the
holocaust, becoming a conditio sine qua non and a founding myth for the State
of Israel. This may have imprinted a deep xenophobia on the whole of a people,
feeling completely secure only amongst birds of a feather and being cruel to
others, even to those without any might. This may explain some of the “David
vs. Goliath” - techniques and not wanting to justify it I think there is much less
fault in that than in the organization of genocide. But cruelty seems to
reproduce especially on the side of former victims and may then be most
detrimental on and on. I would like to alter this path.
(37)
13.12.2010
DER SPIEGEL
wikileaks / Assange; Manfred Ertel, Marco Evers, Erich Pollath, Marc Hujer,
Marcel Rosenbach, Gregor Peter Schmitz, Hilmar Schmundt“ Der etwas andere
Krieg" (SPIEGEL 50/2010 v. 13.12.2010, S. 86ff):
China hätte die Debatte um moderne
Menschen- und Bürgerrechte kreativ erweitern können, hätte es Julian Assange
für seinen quasi antipodischen Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Leere Stühle
bei Verleihungen gehören inzwischen ja sowieso zum guten Ton. Okay - es hätte
ein paar lausige Yottabyte Selbstironie gebraucht, aber galaktisches Gelächter
wäre garantiert.
P.S. Näheres zur Maßeinheit
Yottabyte: http://en.wikipedia.org/wiki/Yottabyte
(36) 2.12.2010
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 8.12.2010
"Anschläge auf iranische Atomforscher"; F.A.Z. v. 30.11.2010, S. 6
"Targeting" und "decapitating"
oder das gezielte Ausschalten von strategisch interessanten Einzelpersonen, das
hat sich in den letzten Jahren in die Militärstrategien eingeschlichen, nach
ein wenig Konversionszeit auch in unser bürgerliches Denken. Eine Meldung wie
die aktuelle zu tödlichen Anschlägen auf iranische Atomforscher nimmt man heute
fast gelangweilt auf. Oder schon beifällig: Wie clever, vielleicht sogar
verhältnismäßig, könnte es doch helfen, einen handhaften Kriegseinsatz mit dann
wesentlich einschneidenderen Folgen zu vermeiden. Tatsächlich aber wären wir zu
den bösartigsten Formen des Terrorismus herabgestiegen, wie wir sie historisch
von den Assassinen kennen, und hätten zentrale Werte des Westens verraten.
Handelten wir so, dann wäre nicht
sehr abwegig zu denken: Auch die Katastrophe von Kundus mit allen ihren
Geheimnisschleiern könnte nur eine etwas aus dem Ruder gelaufene Bärenfalle
oder Leimrute gewesen sein - angelegt und exekutiert, um den Distrikt auf einen
Schlag von führenden Taliban zu säubern. In diese Richtung zeigte jedenfalls
der Versuch einer realpolitischen Rechtfertigung in den Wochen unmittelbar
danach: Seht her, Widerstand und Anschläge sind doch nachhaltig eingeschränkt
worden, die Zweck-Opfer-Bilanz daher eindeutig positiv!
Unter uns sagen wir gerne, der Zweck
heilige die Mittel. Nach außen aber bringen wir durch unsere Mittel unseren
Zweck ums Leben.
P.S. zu den Assassinen: http://de.wikipedia.org/wiki/Assassinen
(35) 1.12.2010
DIE WELT
"Atomkraftwerk Buschir im Januar betriebsbereit", WELT v. 29.11.2010,
S. 5
Der Bau des Kernkraftwerkes Buschehr
begann i.J. 1975. Erinnernswert scheint mir zu sein: Die damalige iranische
Führung war hinsichtlich der Wahrung der Menschenrechte ähnlich umstritten und
rief im Nahen Osten wegen militärischer Machtentfaltung vergleichbare Ängste
hervor wie die heutige. Allerdings wurde sie damals vom Westen unterstützt und
auch aktuell dürfte ein Gutteil der in Buschehr verbauten Technik aus dem
Westen stammen - weswegen Buschehr für den auf Siemens-Steuerungen optimierten
Computervirus "Stuxnet" besonders empfänglich gewesen sein soll.
Viele unserer Besorgnisse und
Herausforderungen lassen sich offenbar auf das unermüdliche Wirken außen- und
sicherheitspolitischer Zauberlehrlinge zurückführen.
P.S. zur Geschichte des KKW
Buschehr: http://de.wikipedia.org/wiki/Kernkraftwerk_Buschehr
(34) 17.11.2010
Süddeutsche Zeitung
CIA und Nationalsozialisten; Christian Wernicke "Unterschlupf in den
USA" (Süddeutsche 16.11.2010, S. 6) und Nicolas Richter u. Willi Winkler
"Nützliche Verbrecher" (Süddeutsche v. 17.11.2010, S. 11)
Man könnte es eine zeitlose
technologische Blutsbrüderschaft zwischen Deutschland und den USA nennen und zu
finden ist sie in bester Museums-pädagogischer Aufmachung in Washington, direkt
unterhalb des Capitol Hill und gratis dazu: Im National Air & Space Museum
stehen die erste Stufe einer Saturn Vb und eine flugfähige V2 einträchtig
nebeneinander. In der Nähe eine kleine Dokumentation der V2-Einschläge in
Europa und der mörderischen Zwangsarbeit im Mittelbau Dora, mit jeweils fast
identischen Opferzahlen. Aber auch ein prophetischen Zeitungsartikel aus den
Vierzigern, der die Technik deutscher Träger und amerikanischer Atombomben
waffensystemisch zusammen-denkt. Zehn Meter entfernt prangt ein großer Zeppelin
mit schreiend-roten Hakenkreuz-Emblemen, in einer Halle daneben führt eine
Me 262 die Evolutionslinie amerikanischer Kampfjets an und noch etwas
weiter - in Sichtentfernung zu den Gebrüdern Wright - schwebt Otto Lilienthal
unter der Decke.
Mehr Verbindung geht kaum. Oder
vielleicht doch. Der Transatlantikflieger Charles Lindbergh erhielt noch Mitte
1938 den höchsten nationalsozialistischen Auslandsorden - ebenso übrigens wie
Henry Ford, dessen antisemitisches Pamphlet "The International Jew"
vom Beginn der Zwanziger Jahre den heranwachsenden Nationalsozialisten
transatlantische Erweckungserlebnisse und verschwörungstheoretische
Denkschablonen verschafft hatte - so Baldur von Schirach im Nürnberger Prozess
- und der an seinen später kaum kriegsversehrten Kölner Fließbändern Lastwagen
für die Wehrmacht produzierte. Und - nun beginnt sich der unübersichtlich große
Kreis langsam zu schließen - Lindbergh war von dem amerikanischen
Militärattaché Truman Smith nach Deutschland gelotst worden, pflegte bald
bestes Einvernehmen mit Vertretern von Luftwaffe und Luftfahrtindustrie. Smith
hatte seit seinen ersten Begegnungen im Jahre 1922 Hitler wegen seines kantigen
Antikommunismus umworben, hatte ihm auch strategisch nützliche Mitstreiter wie
den kultivierten deutsch-amerikanischen Verleger Ernst Franz Sedwick Hanfstängl
zugeführt. Die CIA gab es damals noch nicht. Smith's Organisation war ihr
Vorläufer. Und sie setzte schon ebenso leichtfertig aufs falsche Pferd.
Das Technokratische vernetzt sich
offenbar viel nachhaltiger als das Demokratische, als das Rechtsstaatliche oder
gar das Humanistische. Manichäisches Schwarz-Weiß-Denken und technologische
Sieg-Phantasien gehen Hand in Hand. Davon lassen wir auch heute nicht ab, im
Zeitalter von Drohnen, Streubomben und Cyber-War.
P.S.
link zum National Air and Space Museum:
http://www.nasm.si.edu/museum/ ;
zu Hanfstängl und Smith: http://en.wikipedia.org/wiki/Ernst_Hanfstaengl
zur Kooperation zwischen Smith und Lindbergh: http://www.ecommcode2.com/hoover/research/historicalmaterials/other/smith.htm
sowie den vollständigen Abdruck der Memoiren u. Berichte von Truman Smith in einer Kurzbesprechung
hier: http://www.foreignaffairs.com/articles/39008/fritz-stern/berlin-alert-the-memoirs-and-reports-of-truman-smith
Zum von Henry Ford zwischen 1920
u. 1922 herausgegebenen antisemitischen Pamphlet „The International Jew“ und
dem Einfluss auf die Nazi-Bewegung: http://de.wikipedia.org/wiki/The_International_Jew.
Eine berüchtigte antisemitische Geschichtsfälschung, die nahtlos in die
Verschwörungstheorien der Nationalsozialisten einging, waren die „Protocols of
the Learned Elders of Zion“; sie waren in dem hier dokumentierten Kapitel
besonders perfide behandelt: http://iamthewitness.com/books/Henry.Ford/The.International.Jew/ij12.html.
Hitlers US-amerikanische Ausgabe von „Mein Kampf“ hat später Ford’s Pamphlet
eingehend zitiert.
(33) 12.11.2010
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 18.11.2010
Wehrverfassung; Beitrag von Peter Blechschmidt: "Opposition: Guttenberg
verletzt Grundgesetz", Süddeutsche 11.11.2010, S. 5
Na sicher verletzt unser
Verteidigungsminister das Grundgesetz. Wie seine Vorgänger auch. Schon Strucks
Verteidigungspolitische Richtlinien von 2003, die noch heute gelten, weisen bei
der Risikoanalyse auf die besondere Verletzlichkeit der deutschen Wirtschaft
hin, auf ihre Abhängigkeit von Transportrouten (VPR v. 21.5.2003, S. 21, Nr.
27).
Das Dumme ist nur: Nichts davon
steht in einem Gesetz oder gar in einer Verfassung oder ist mit den Bürgern
debattiert. In klarem Deutsch, wie es künftig das Grundgesetz zur Mahnung an
alle ethnischen Dänen, Sorben oder Baden-Württemberger verlangen soll.
Richtlinien sind, wie auch
Weißbücher, die Sprachform der Exekutive. Sie sind rechtsstaatlich und
demokratisch betrachtet bestenfalls Unterholz und für die Bürger - und viele
Politiker, siehe Thomas Oppermann - meist schwer zu durchdringen. Was wir
brauchen, ist bekennender Verfassungspatriotismus: Gesellschaftliche Debatte,
dann Regelungsvorschlag mit Abwägung der zu schützenden und der
einzuschränkenden Rechte, dann Gesetz, besser noch: klare Verfassungsänderung.
Und wenn dann auch noch das internationale Recht eindeutig gemacht ist, dann
können wir auf den Weltmeeren beruhigt Piraten bekämpfen. Vorher nicht.
P.S.:
Text der VPR 2003: www.vo2s.de/mi_vpr-2003.pdf
(32) 11.11.2010
DIE WELT
Wehrverfassung; "Guttenberg: Handelsinteressen militärisch sichern",
WELT 10.11.2010, S. 2 (Paraphe tju)
Warum der Stress? Die militärische
Sicherung globaler Logistik ist Fakt, auch nach den geltenden
Verteidigungspolitischen Richtlinien v. 21.5.2003. Strucks (sic!) Regelwerk
stellt im Rahmen der Risikoanalyse ausdrücklich die besondere Abhängigkeit der
nationalen Wirtschaft von internationalen Transportwegen und -mitteln heraus
(S. 21 / Nr. 27). Allseitig tolerierter Fakt ist es also.
Recht ist es damit aber noch nicht.
Richtlinien sind - wie auch Weißbücher - das Mundwerk der Exekutive, nicht der
Legislative oder gar des Verfassungsgesetzgebers. Und auch das fehlt bis heute,
was in einer Demokratie allein zu grundlegend neuem Recht führen kann;
Bundespräsident a.D. Dr. Köhler hatte es in seiner sehr bemerkenswerten Rede
zum Fünfzigsten der Bundeswehr angemahnt, auf der Kommandeurtagung am
10.10.2005: Eine veritable gesellschaftliche Debatte zu dem, was militärische
Gewalt heute können soll. Etwa nach dem Maßstab der großen Debatten zur
Wiederbewaffnung, zum Notstand oder zum NATO-Doppelbeschluss - für
Verfassungspatrioten ein klares Muss.
P.S.: link zu den VPR 2003
http://www.bmvg.de/fileserving/PortalFiles/C1256EF40036B05B/N264JEUC110MMISDE/VPR_BROSCHUERE.PDF
(31) 18.10.2010
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 23./24.10.2010 (Satz 2)
Ausländerfeindlichkeit; Stadt-Anzeiger zur FES-Studie zur Zunahme
rechtsextremer Tendenzen (KStA v. 14.10.2010, S. 1 u. 7 "Deutschland rückt
nach rechts" u. "Die Angst vor Überfremdung"):
Ausländer sind, was wir daraus
machen - z.B. Inländer. Muslime sind, was sie sind - Mitmenschen.
P.S. link zur Studie von Oliver
Decker et. al., (c) Friedrich-Ebert-Stiftung Sept./Okt. 2010
http://library.fes.de/pdf-files/do/07504.pdf
(30) 4.9.2010
BILD
Sarrazin-Debattte; Claus Jacobi „Mein Tagebuch – Deutschland schafft sich ab“,
BILD v. 4.9.2010, S. 2
Völlig Recht hat er, der Claus
Jacobi: Die Deutschen haben das rechte Buch zur rechten Zeit gewählt. Und es
war einmal ein Buch, geschrieben von einem zornigen Mann mit viel Zeit und
Muße. Ein ermüdend langes und von vorne bis hinten unkorrektes Buch - in dem
aber jeder etwas fand, was seit Jahren aus ihm herausschreien wollte. Aus den
Händen gerissen wurde dem zornigen Mann das lärmende Buch, von Arbeitern,
Bürgern und auch Journalisten. Dem Mann brachte es später Millionen, was
wenigen bekannt wurde. Viel später zeugte es bekanntermaßen millionenfachen Tod
und mehrhundertjährigen Ehrverlust. Fast hätte sich Deutschland ganz
abgeschafft, mit einem rechten Buch zur rechten Zeit.
(29) 19.9.2010
Rheinischer Merkur
Hitlers Aufstieg; Joachim Riecker "Nur ein Propagandatrick" u. Peter
Meier-Bergfeld "Bibliothek des Grauens" (Rheinischer Merkur 32/2010
v. 12.8.2010, S. 6)
Mit Joachim Riecker sehe ich die
Deutung Hitlers als ausschließliche Selbst- oder Fremdinszenierung als verkürzt
an. Sein Charisma war völlig real und wirkte im großen wie im kleinen Kreis:
Bezeugtermaßen kamen nicht nur völlig demoralisierte Stalingrad-Kämpfer,
sondern sogar gestandene englische Spitzenpolitiker von Hitlergesprächen völlig
verwandelt, eingenommen oder "geläutert" zurück. Da war mehr als
Propaganda. Hitlers Resonanzboden ging auch schon von vornherein weit über
Deutschland hinaus: Schon 1922 führte der amerikanische Nachrichtenoffizier
Truman Smith ein ihn überwiegend begeisterndes Interview mit dem aufstrebenden
lokalen Parteiführer. Smith setzte unmittelbar danach den kultivierten,
weltläufigen und bestens vernetzten Münchener Verlegerssohn Ernst Franz Sedwick
Hanfstaengl auf die Schienen, dessen Hilfe bei der raschen Integration Hitlers
in höchste Kreise kaum zu überschätzen ist. Der Antisemitismus, den Hitler auf
Smiths Nachfrage völlig offen erklärt hatte, wurde zwar nicht von Smith
geteilt, war aber damals in weiten Teilen Europas und Amerikas verwurzelt, in
Polen in der Zwischenkriegszeit wohl gar ausgeprägter als in Deutschland. Und
das von Henry Ford zwar nicht verfasste, aber immerhin initiierte und
herausgegebene grob antisemitische Dreiband-Traktat "The International
Jew" a.d.J. 1920 hatte, wie Hess viel später im Nürnberger Prozess
anmerkte, mit seinen paranoiden Verschwörungstheorien prägende und bestärkende
Wirkung für den aufkeimenden Nationalsozialismus gehabt (1). Hitlers
amerikanische Ausgabe von "Mein Kampf" hat sich dann auch auf das von
Ford gesponsorte Pamphlet bezogen.
Zustimmen möchte ich auch, dass der
zu kurz greift, der als Agens reine Machtinteressen sieht und jedes politische
Ziel verneint. Sebastian Haffner hat in seinen brillanten "Anmerkungen zu
Hitler" u.a. auf die egalitären Ziele Hitlers hingewiesen, die ihn
gesellschaftspolitisch sogar näher beim kommunistischen Stalin als beim
ständisch-faschistischen Mussolini einordnen lassen (2). Eine Konsequenz von
Hitlers "Volksgemeinschaft" war, dass der Krieg widerspruchslose
Breschen in Familien aller Klassen und Bildungsstände geschlagen hat. Weitere
politische Positionen waren m.E. die damals in Europa ebenfalls endemische und
selbst am 20. Juli 1944 nicht in Frage gestellte Auffassung, dass demokratische
Systeme endgültig abgewirtschaftet hätten; diesen Aspekt hat auch Mommsen
hervorgehoben (3). Auch als reinen Populisten kann man Hitler nicht einordnen:
Wie in der Ruhrgebietsfrage hatte Hitler auch zu den Reparationen eine
keineswegs dem Volk vom Munde abgeschaute Haltung: In dem erwähnten 1922er
Interview erklärte er, zwar den Umfang der Reparationen verhandeln zu wollen,
dann aber das Ergebnis als Frage der Ehre zu begleichen. Dies und insbesondere
seine klar antibolschewistische Positionierung, die in Smiths Memoiren an
mehreren Stellen herausgehoben wird, scheinen den amerikanischen
Nachrichtenoffizier im Jahre 1922 nachhaltig beeindruckt zu haben,
möglicherweise auch diejenigen, denen er sodann berichtete.
Das alles kann und soll die
Verbrechen der Zeit zwischen 1933 und 1945 und Hitlers persönliche
Verantwortung dafür nicht relativieren. Aber es mag doch mit erklären, dass
selbst bildungsbeflissene Schichten willigst einem Menschen folgten, der es wie
kein anderer verstand, die psychischen Kräfte des raschen Wechsels der
Aggregatzustände nach dem verlorenen ersten Weltkrieg aufzunehmen und zu
bündeln. Dabei hat ihm ganz offenbar eine besondere Disposition geholfen, die
der Psychologe Koch-Hillebrecht als eidetische Begabung beschrieben hat (4):
Hitler hatte danach nicht lediglich ein sehr gutes Gedächtnis, sondern konnte,
als wäre er mit einem multiplen Teleprompter ausgerüstet, praktisch alles
einmal Gelesene und Wahrgenommene jederzeit druckreif abrufen. Koch-Hillebrecht
vergleicht Hitler hier und in anderen Merkmalen der Persönlichkeit mit Thomas
Mann, der seinerseits über Hitler gesagt haben soll: "Der Bursche ist eine
Katastrophe; das ist kein Grund, ihn als Charakter und als Schicksal nicht
interessant zu finden." Koch-Hillebrecht erklärt auch Hitlers Scheitern
zum Teil mit der beschriebenen Veranlagung: Was ihm in den Anfangszeiten
Entschlossenheit und schnelle Siege vermittelt habe, habe ihn zunehmend in ein
versteinertes Gedächtnis eingemauert. Er habe sich, wie ein einmal abgefeuertes
Geschoss, nie wirklich auf veränderte Rahmenbedingungen einstellen können und
Deutschland konnte dies ebenso wenig, solange es Hitler gab. Er ist, an
dauerhafter Zustimmung gemessen, vermutlich repräsentativer gewesen als es
Politiker heutiger Demokratien sind oder auch nur sein möchten.
P.S.:
Zu Truman Smith siehe "Berlin Alert. The Memoirs
and Reports of Truman Smith", Hrsg. v. Robert Hessen, 1984, insbes. S. 47, 60-66, 161, 163
Siehe ferner zu den Angaben im Text:
(1) http://de.wikipedia.org/wiki/The_International_Jew,
Auszug z.B. in http://iamthewitness.com/books/Henry.Ford/The.International.Jew/ij12.html
(2) Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler, 1978, Kap. 2, S. 49
(3) Hans Mommsen, Alternative zu Hitler, 2000, S. 8
(4) Manfred Koch-Hillebrecht, Homo Hitler. Psychogramm des deutschen Diktators,
1999, insbes. S. 93-210
(28) 24.8.2010
Frankfurter Allgemeine Zeitung, abgedruckt 4.9.2010
Bundeswehr-Reform u. Aussetzen der Wehrpflicht; Berthold Kohlers Leitglosse
"Rückzugsgefechte" (F.A.Z. v. 24.8.2010, S. 1):
Hat da jemand die Wehrpflicht
verzockt und nebenbei den Markenkern der Christdemokraten? Ganz neu ist die
Reform-Tendenz ja nicht: Seit 1990 sehen wir die Bundeswehr - und die NATO - in
einer kontinuierlichen Findungsphase, auf den verschiedensten Konfliktfeldern
und mit ständig runderneuerten und teilweise entschlackten Organisationsformen
und Rüstungen. Längst verfügen wir Deutschen wieder über Kriegsschiffe, die
Landziele bekämpfen können, und über durchtrainierte Eingreiftruppen.
'Kanonenboote' und 'Expeditionskorps' sagte man dazu um die vorletzte
Jahrtausendwende herum, etwa beim kolonialen Niederringen des Boxeraufstandes.
Bald lohnt wohl wieder, Kaiser Wilhelms damalige 'Hunnenrede' nachzulesen.
Erfolgsmeldungen der neuen
ambitionierten Außen- und Sicherheitspolitik sind dagegen rar, am ehesten noch
bei der blitzartigen "Operation Libelle". Warum wir uns dann schon
wieder auf neue martialische Herausforderungen einstellen sollen, dabei die
profilgebende und zu den Abgeordneten rückkoppelnde Wehrpflicht über die Planke
jagen müssen und letztlich eine neue Republik einläuten, all das bleibt mir
ehrlich gesagt völlig unklar. "Volenti non fit iniuria!" oder
"Berufssoldaten kann man alles antragen!"? Das sollte es eigentlich
nicht sein. Geht's dann bei der Reform tatsächlich nur um das Geld, das wir
nicht mehr haben, und um die Lebenslüge auswärtiger Potenz, die oft beschworene
neue Normalität?
P.S.: Zur Hunnenrede von Wilhelm
II., gehalten am 27.7.1900 bei Verabschiedung des deutschen Südostasiatischen
Expeditionskorps in Bremerhaven: http://de.wikipedia.org/wiki/Hunnenrede
(27) 11.8.2010
DER SPIEGEL
Afghanistan; TIME-Titel; zu: Mathieu von Rohr "Die Ikone", DER
SPIEGEL 32/2010 v. 9.8.2010, S. 128
Die sowjetische Besatzung
Afghanistans hatte die Rechte der Frauen ganz im heutigen Sinne unterstützt.
Nach dem gewaltsamen Ende jener Mission gab es ähnliche und mehr Gräueltaten
wie auf dem packenden Frontispiz von TIME. Das Ende der sowjetischen Phase
haben die USA provoziert, vielleicht gar schon den Einmarsch mit dem Ziel eines
späteren Desasters. Einschließlich collateral damages - soviel zur Moral.
P.S.:
Siehe auch das Zeitzeugnis von Zbigniew Brzezinski, dem sicherheitspolitischen
Berater Jimmy Carters, in einem Interview des Pariser Nouvel Observateur. Er
beschreibt, motiviert und rechtfertigt dort die so genannte "Bärenfalle"
und ihre Konsequenzen für den islamischen Fundamentalismus:
http://hebdo.nouvelobs.com/sommaire/documents/008877/oui-la-cia-est-entree-en-afghanistan-avant-les-russes.html
(26)
9.8.2010
TIME
Subject: Aryn Baker "What happens if we leave
What
happened when the Sowjets left
P.S.:
These things remind me badly of a most self assured interview given by Jimmy
Carter's adviser Zbigniew Brzezinski to the Paris Nouvel Observateur -
illustrating the role of the West in throwing the Sowjets into and out of
Afghanistan, also known as the "bear trap":
http://hebdo.nouvelobs.com/sommaire/documents/008877/oui-la-cia-est-entree-en-afghanistan-avant-les-russes.html
Those who pulled the ropes deliberately - and sustainably - strengthened Islam
forces not known for any chivalrous attitudes. Probably they had judged the
imminent slash against womens' rights a minor collateral damage.
(25) 5.8.2010
Süddeutsche Zeitung; abgedruckt 12.8.2010
Afghanistan-Strategie; Nico Frieds Beitrag „Westerwelle verteidigt gezielte
Tötungen“ (Süddeutsche Zeitung 5.8.2010, S. 1):
Seine Staatsrechtsvorlesungen hat
unser Außenminister verpasst, verträumt oder verdrängt. Sonst wäre ihm die
Rechtslage nicht ganz so eindeutig erschienen und die verschärfte Vorgehensweise
der Exekutive nicht ganz so legal. Vielmehr wären ihm massive Widersprüche
eines im Februar 2010 beschlossenen gezielten Bekämpfens von Aufständischen zum
Eingemachten unserer Verfassung aufgefallen. Als da wären: Die Exekutive kann
kein eigenes Recht kochen, insbesondere nicht den Eingriff in grundlegende
Bürger- und Menschenrechte ausrufen, so als wäre es eine etwas fortentwickelte
Verwaltungspraxis. Genauer: Eine vom Kabinett – ich ergänze: in eigener
höchster Not – selbst vorgenommene rechtliche Neubewertung des
Afghanistan-Einsatzes kann nicht selbstverständlich in Lebens- und
Freiheitsrechte aus Art. 2 Abs. 2 oder in Justizgrundrechte aus Artt. 103, 104
Grundgesetz eingreifen, womöglich sogar mittelbar den Art. 102 – Abschaffung
der Todesstrafe – aushebeln. Auch wenn es „nur“ um unbotmäßige Ausländer gehen
sollte. Selbst diese sind nämlich durch unsere Verfassung vor unserer Regierung
geschützt.
In seinem 2008er Urteil zur
Luftraumüberwachung hatte das Bundesverfassungsgericht der Exekutive noch
ausdrücklich ins Stammbuch geschrieben: Grenzfälle eines möglichen Einsatzes
könnten nicht im Lichte exekutiver Gestaltungsfreiräume oder nach der Räson
einer Bündnismechanik wie etwa der im Verfassungsstreit angeführten
„Bündnisroutine“ beantwortet werden. Der Bundesregierung käme eine
Einschätzungsprärogative ausschließlich für den Eilfall zu und auch da nur
vorläufig.
Die Regierung will das zunehmend
sieche Afghanistan-Projekt offenbar gesünder und gesünder beten, versagt sich aber
eine offene Analyse der bisherigen Therapie und kann am Ende wohl nur
achselzuckend den ungewollten Exitus feststellen. Vielleicht denkt sie
hinsichtlich des Verhältnisses Verfassung / Auslandseinsatz auch ähnlich
dialektisch wie es ein Katechismus tat, der im ersten Weltkrieg gerne von
Feldgeistlichen eingesetzt wurde. Dort war das 5. Gebot mit einer die Seelsorge
erleichternden Fußnote versehen: "Gilt nicht im Kriege!"
P.S.
Wortlaut der zitierten Entscheidung des BVerfG an der betreffenden Stelle (2
BvE 1/03, 7.5.2008,
http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es20080507_2bve000103.html):
(Rn. 72) Diese
Verantwortungsverteilung zwischen Parlament und Regierung hat Auswirkungen auf
die Frage, wie Grenzfälle eines möglichen Einsatzes bewaffneter Streitkräfte zu
beurteilen sind. Sie kann nicht im Lichte exekutiver Gestaltungsfreiräume oder
nach der Räson einer Bündnismechanik wie etwa der von der Antragsgegnerin
angeführten „Bündnisroutine“ beantwortet werden. Angesichts der Funktion und Bedeutung
des wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts darf seine Reichweite nicht
restriktiv bestimmt werden. Vielmehr ist der Parlamentsvorbehalt entgegen der
im vorliegenden Verfahren vertretenen Auffassung der Antragsgegnerin vom
Bundesverfassungsgericht im Zweifel parlamentsfreundlich auszulegen (vgl. zum
entsprechenden Regel-Ausnahme-Verhältnis auch Epping, AöR 124 <1999>, S.
423 <455 f.>; Schmidt-Radefeldt, a.a.O., S. 166 f.). Insbesondere kann
das Eingreifen des Parlamentsvorbehalts nicht unter Berufung auf
Gestaltungsspielräume der Exekutive maßgeblich von den politischen und
militärischen Bewertungen und Prognosen der Bundesregierung abhängig gemacht
werden; eine Einschätzungsprärogative kann der Exekutive lediglich für den
Eilfall und damit nur einstweilen überlassen sein (vgl. BVerfGE 108, 34 <44
f.>).
Weitere Anm. dazu:
Auch der aktuelle ISAF-Antrag der Bundesregierung vom 9.2.2010 hebt keine
rechtliche Neubewertung und Verschärfung des Einsatzes hervor, betont vielmehr
die verstärkt zivilen und zivilschützenden Komponenten der Mission, s. http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/006/1700654.pdf
. Die Wendung „nicht internationaler bewaffneter Konflikt findet sich dort gar
nicht; damit hat auch der folgende konstitutive Bundestagsbeschluss v.
26.2.2010 (http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/17/17025.pdf
) diese Sichtweise nicht etwa "legitimiert" oder gar "legalisiert".
(24) 4.8.2010
DER SPIEGEL
Afghanistan; Kooperation deutscher und amerikanischer Dienste; Ulrike Demmer et
al. "Abschusslisten Made in Germany" (DER SPIEGEL 31/2010, S. 28ff)
Die anfänglichen Trippelschritte
zurück zur militärpolitischen "Normalität" Deutschlands führen
angesichts zunehmender Hoffnungslosigkeit des Afghanistan-Projekts beschleunigt
zurück zum Geist der Hunnenrede Wilhelms II. Dem Expeditionskorps, das den
chinesischen Boxeraufstand niederschlagen sollte, hatte der Kaiser im Juli 1900
gegen den "gut bewaffneten, grausamen Feind" eingeschärft:
"Pardon wird nicht gegeben. Gefangene werden nicht gemacht!"
Anzumerken ist noch: Das
Bundesverfassungsgericht hat in seiner letzten einschlägigen Entscheidung v.
7.5.2008 eine im Zweifel parlamentsfreundliche Praxis des Parlamentsvorbehalts
angemahnt. Grenzfälle eines möglichen Einsatzes könnten gerade nicht im Lichte
exekutiver Gestaltungsfreiräume oder nach der Räson einer Bündnismechanik
beantwortet werden. Das diskrete Verfahren bei Einsatz von Spezialkräften -
Information jeweils nur der Vorsitzenden, stellvertretenden Vorsitzenden und
der Obleute von Auswärtigem Ausschuss und Verteidigungsausschuss - wurde sodann
in einem offenen Berichterstattergespräch des ersten Ausschusses am 25.9.2008
als mit dem Informationsanspruch des Plenums nicht vereinbar qualifiziert.
Geändert hat sich freilich bis heute nichts.
Da war selbst der Kaiser offener.
P.S. / Quellen:
Hunnenrede:
http://de.wikipedia.org/wiki/Hunnenrede
Zum Obleuteverfahren:
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/053/1605317.pdf
Entscheidung BVerfG v. 7.5.2008 (2
BvE 1/03):
http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es20080507_2bve000103.html
Offenes BE-Gespräch des
GO-Ausschusses am 25.9.2008:
http://www.vo2s.de/mi_go08pr.pdf
(23) 15.7.2010
Süddeutsche Zeitung
Umwelt; Markus Balser / Michael Bauchmüller "Die Ära des billigen Öls geht
zu Ende" (Süddeutsche v. 8.7.2010, S. 17)
Das sprudelnde Leck eine
'Naturkatastrophe'? Das mag man apologetisch nennen. Vielleicht aber ist es
aber eine feinsinnige Sprachrevolution und meint den Menschen oder sein Handeln
als Zumutung für die Natur. Dann könnten wir etwa auch die Wolken von
Tschernobyl oder von Bhopal und vielleicht sogar Agent Orange als
Naturkatastrophen verstehen.
(22) 2.7.2010
Süddeutsche Zeitung
Deutsches Museum; Sebastian Beck„Unterm Zahnrad der Zeit“ (Süddeutsche Zeitung
v. 1.7.2010, S. 11)
Das Deutsche Museum schleppt sich
schon lange an seiner eisenhaltigen Tradition müde. Als Schüler bekam ich 1967
von der damaligen Carl-Duisberg-Gesellschaft eine ganze Museums-Woche
spendiert. Ich erinnere mich an die hübsch in einen gewundenen Treppenaufgang
hineingezwirbelte A4 alias V2, an die Me 262, die mir wie ein schicker Karman
Ghia vorkam, und an eine enervierend vollständige Sammlung von Zündsystemen für
Zwei- und Viertaktmotoren, in endlosen wie herzlosen Dioramen aufgereiht, viele
oder gar alle mit einem roten Knopf unter den Fensterchen für stereotype
Interaktion, alles in einem schummrig abgedunkelten Saal von Theatergröße.
Der Besuch hat nicht den
intendierten Erfolg gezeitigt: Das Deutsche Museum hat mich wohl sogar von
einem Ingenieur-Studium abgehalten. Eine ganz andere Ausstellung hätte mich
zurückgewinnen können – aber da war’s schon zu spät: Das war die geniale
HEUREKA, eine temporäre Präsentation von Wissenschaft, Technik, Geschichte und
modernen Anwendungen in der Nähe von Zürich im Sommer 1991. Angeordnet in
riesigen, aber eleganten und gut durchleuchteten Zelten in der Architektur des
Münchner Olympiastadions und mit vielen attraktiven, exemplarischen und vor
allem erinnerungsfähigen Experimenten, eingebettet in satte Natur. Unsere
Kinder schwärmen noch heute davon.
P.S.:
Mit der A4 / V2 und ebenso der Me 262 gab’s dann viel später ein Wiedersehen im
hellen und fast schon zu fröhlichen Washingtoner Air & Space Museum
(Eintritt frei!). Dort steht von Brauns Geschoss neben der Bodengruppe einer
Saturn V B und der Düsenjäger ist eingereiht als eine Art Anstoß zu den
nachfolgenden US-Jets; Lilienthal und ein großer mit leuchtenden Hakenkreuzen
gezierter Zeppelin grüßen von der Decke. Was eine gewisse Verwandtschaft und
einen versteckten oder gar offenen Respekt schon der damaligen Technokratien
nahelegen mag. Henry Ford, der noch 1938 vom Dritten Reich hoch dekoriert
wurde, war ein verbindendes Beispiel. Aber das nur nebenbei.
Zur Heureka: http://de.wikipedia.org/wiki/Heureka_(Ausstellung)
(21) 28.6.2010
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 21.7.2010
Wehrpflicht; Leserstandpunkt K. U. Voss „Die Politik muss die Hand ins Feuer
legen!“
Was für eine Bundeswehr will ich?
Eine, die bei ihren Einsätzen genauso repräsentativ ist und handelt wie die
Politiker, die diese Einsätze beschließen oder unterstützen. In der genau die
gesellschaftlichen und weltanschaulichen Strömungen vertreten sind, die auch zu
den Einsatzbeschlüssen führen und die von den Einsätzen in irgendeiner Weise
profitieren. Die sollte man antreffen, wo es wehtun kann – an der Front und
nicht nur in der Etappe. Das garantiert die beste Rückkopplung zwischen Planung
und Ausführung und umgekehrt.
Ich habe Verständnis für Politiker,
die sagen: "Jedes stehende Heer sorgt für Konflikte, ob mit oder ohne Wehrpflichtige,
und Deutschland braucht keine Armee." Das ist nicht meine Position, aber
sie ist immerhin konsequent. Nicht authentisch erscheinen mir dagegen
diejenigen, die da meinen: "Ich werde schon genug robuste Typen finden für
das, was ich militärisch durchsetzen will, und zwar außerhalb meiner Bekannt-
und Wählerschaft."
Wir mögen noch nicht bei einer
Unterschicht-Armee angekommen sein. Aber es gibt schon heute einen statistisch
hoch signifikanten Zusammenhang zwischen den Herkunftsregionen der Soldaten und
der dortigen Arbeitslosigkeit. In der Realität verteidigen die Söhne und
Töchter Mecklenburg-Vorpommerns die Freiheit ihrer Altersgenossen aus
Baden-Württemberg, die ihr Brot ziviler verdienen können. Und das, obwohl man
im Osten über die Auslandseinsätze kritischer denkt als im Westen. Das und die
attraktiven Auslandszulage haben sehr viel von Verleitung zur Prostitution; die
Berufsarmee würde es weiter verfestigen. Nicht vertrauen sollte man übrigens
darauf, dass die Neuausrichtung der Bundeswehr ohne jeden Einfluss auf deren
ideologisches Spektrum bleibt. Schon 1993 verwiesen Umfrageergebnisse auf die
Gefahr, dass „die Bundeswehr zunehmend für junge Männer attraktiv ist, die den
demokratischen Prinzipien und Werten kaum oder gar nicht verbunden sind.“
Blicken wir wieder auf Rom, aber
nicht auf die spätrömische Dekadenz, sondern auf die sagenhafte Frühzeit der
Republik, ca. 500 Jahre vor Christi Geburt. Porsenna, Fürst des etruskischen
Clusium, belagert Rom, will den vor kurzem verjagten Tarquinius Superbus dort
wieder einsetzen. Gerade hat man ihm Gaius Mucius vorgeführt, einen junger
Römer, der sich in das Lager geschlichen hatte und anstelle Porsennas
irrtümlich dessen Schreiber erdolcht hatte. Gaius Mucius legt seelenruhig seine
rechte Hand auf einen glühenden Rost und erklärt, wie er seien noch mindestens
weitere dreihundert junge Römer zum Letzten entschlossen. Porsenna hat, wie die
Legende sagt, vor so viel virtus kapituliert und ist schon am nächsten Tage
abgezogen. Bei Gaius Mucius – Scaevola oder Linkshand haben die Römer seinem
Namen danach hinzugefügt – fällt alles in einer Person zusammen: Plan,
Ausführung und Schmerzempfinden. Das gibt Respekt. Und Wirkung. Darum bin ich
von Herzen für die Wehrpflicht.
(20) 8.6.2010
DER SPIEGEL
Rücktritt und Neuwahl unseres Staatsoberhaupts (SPIEGEL Nr. 23 v. 7.6.2010, S.
18ff, 26f, 57)
Da hält der Mann die bisher
einfühlsamste Rede zur prekären Beziehung zwischen Militär, Politik und
Bürgern, am 10.10.2005, pocht dabei auf die lange überfällige
Übersetzungsarbeit der Parteien. Hätten diese ihren Job getan – es hätte sich
niemand über Köhlers Worte echauffieren dürfen. Die gingen ganz konform mit
Rühes Verteidigungspoltischen Richtlinien v. 26.11.1992 (dort 8.8), Strucks
erneuerten Richtlinien v. 21.5.2003 (dort Nrn. 27, 37) und Jungs Weißbuch v.
25.10.2006 (dort unter 1.2).
Ich würde den Köhler wiederwählen.
Aber wir dürfen ja nicht mitspielen.
P.S.:
Zu den mehr als 20 bis heute unbeantworteten Fragen aus der sehr
einsichtsvollen Rede des Bundespräsidenten am 10. Oktober 2005 zum
Fünfzigjährigen der Bundeswehr: http://www.bundespraesident.de/Anlage/original_630701/Rede-Kommandeurtagung.pdf
(19) 16.5.2009
DIE ZEIT, aktuelle Studie des MPI für evolutionäre Anthropologie zum
Neandertaler-Genom; zum Beitrag von Ulrich Bahnsen "Die Formel
Sapiens", (DIE ZEIT Nr. 20/2010 v. 12.5.2010, S. 39f)
Nachdem in den letzten Jahren immer
mehr vormals als typisch menschlich begriffene Strategien bei anderen Säugern
identifiziert worden waren, aber auch bei Vögeln und Kraken, kann es tröstlich
sein, aus der aktuellen Studie des MPI für evolutionäre Anthropologie so etwas
wie intellektuelle Alleinstellungsmerkmale unserer Art herauszulesen. Aber was
mag das im Ego des weißen Mannes anrichten: Nun ist er nachweislich enger mit
einem wenig grazilen Vormenschen von eher unklarer Sprachbegabung verwandt als
sein vormals gering geschätzter afrikanischer Bruder!
Schade, dass wir kein Video über die
Berührungs- und Reibungsflächen der menschlichen Vettern haben. Vielleicht aber
gibt es dies doch schon lange, ganz unscheinbar in unseren Überlieferungen,
Mythen, Traditionen und Religionen: Man sollte einmal systematisch die Erzählungen
und Bräuche aus eben den Regionen auswerten, wo Mensch und Neandertaler
nachweislich koexistiert haben. In den mündlich teils über Jahrtausende
weitergebenen Bildern könnten sich signifikante Spuren der Fremden finden. Mein
Geheimtipp: Ein buckliger Teufel. Auch die traditionellen, eifersüchtigen
Verbote der Heirat außerhalb der eigenen Gruppe - insbesondere der Heirat von
fremden Männern - mag darin eine frühe Ursache haben. Vielleicht ist unsere
gewaltbereite Xenophobie, ist der Hang zu Vernichtungskriegen das Erbe einer
Phase, in der mehrere Menschenarten um knappe Ressourcen konkurrierten.
P.S. für Herrn Bahnsen:
Ich bin nicht sicher, ob man aus den vorliegenden Ergebnissen bereits ableiten
kann, der Neandertaler sei dem Menschen "an Schöpfungsgeist ganz offenbar
unterlegen" gewesen. Zumindest das bloße Überleben unserer Version sagt
dazu wenig. Schaut man auf die uns umgebenden Lebensformen unterschiedlichster
Konstruktion, sollte man folgern, dass Intelligenz kein primäres Evolutionsziel
ist oder die weitere Ausprägung kein notwendiger evolutionärer Vorteil
(nebenbei nimmt das durchschnittliche Hirnkammervolumen unserer Spezies seit
etwa 10.000 Jahren wieder kontinuierlich ab - möglicherweise wird gerade Hirn
durch Kultur/Gesellschaft substituiert, was sich im Medienzeitalter noch
beschleunigen mag; Letzteres ist ohne Ironie geschrieben). Der Erfolg unserer
Spezies mag schlicht dem Umstand geschuldet sein, dass wir zur rechten Zeit im
richtigen Tal richtig abgebogen sind.
Was mir aber noch wichtiger zu sein scheint: Auch unsere Menschenform
hat ihre wesentlichen zivilisatorischen Fortschritte nicht eng gekoppelt an
eine signifikante Weiterentwickung des genetischen Inventars gemacht. So sind
die Dispositionen für differenzierte Sprache, für Symbolismus, Wissenschaft und
Handwerk nach Erkenntnissen, die m.E. nicht durch die aktuellen Ergebnisse der
MPI-Gruppe in Frage gestellt werden, über Zehntausende von Jahren ungenutzt
geblieben. Ein am ehesten "software"-artiges Ereignis hat eine dann
erdrutschartige kulturelle Evolution getriggert. Anm.: Das mag auch das
plötzliche (erneute) und sich dramatisch zuspitzende Zusammentreffen mit einem
anderen, prinzipiell kompetenten Menschentyp, mit einer "fremden
Intelligenz" gewesen sein.
Interessante Fragen wären für mich noch,
·
ob
auch das Neandertaler-Genom Spuren der "Mesalliancen" aus der
Zeit 100.000 a.D. aufweist, ob also
auch Neandertalerinnen im Spiel waren, was
ich rein statistisch unterstelle, und
·
ob
der genetische Zufluss nur bei dem frühen Zusammentreffen (100.000) biologisch
möglich war und sich die Genome beim finalen Zusammentreffen (ca. 30.000)
bereits soweit auseinander entwickelt hatten, dass eine Zeugung fruchtbarer
Nachkommen ausscheiden musste.
Übrigens möchte ich annehmen, dass
jedenfalls zum frühen Zeitpunkt (100.000) ein Mindestmaß von wechselseitiger
Kommunikation möglich gewesen ist. Anderenfalls hätte die Zahl der Kontakte
sicherlich nicht für einen nachhaltigen Beitrag zum sapiens-Genom ausgereicht.
(18) 10.5.2010
DER SPIEGEL
Afghanistan-Debatte; zu Herfried Müncklers Essay "Der tückische
David" (SPIEGEL 19/2010 v.10.5.2010, S. 28f)
Ein demokratischer Staat muss über
Beginn und Ende eines Krieges vernehmbar debattieren können. Sonst macht es
überhaupt keinen Sinn, diese Lebensform durch Krieger zu vermarkten. Und wenn
man die Zeit als tückische Waffe versteht, dann sind es Ort und Zusammenhang
erst recht: Wie die aus der Küstenregion nach Juda eingefallenen Philister
stehen auch wir in Kundus außerhalb unserer logistischen und kulturellen
Heimat. Das kann eine intelligente Aufklärung nur begrenzt und jedenfalls nicht
Kriegs-entscheidend ändern, auch nicht das Sammeln von vergänglichen
Loyalitätsanzeichen vor Ort.
(17) 4.5.2010
Süddeutsche Zeitung
Elektromobilität; zu Michael Bauchmüllers Beitrag "Im Tal der
Realitäten" (Süddeutsche v. 4.5.2010, S. 4)
Vor fast fünfzig Jahren las ich
meinem schönen "Durch die weite Welt", dem Pflicht-Jahrbuch für
Jungen&Technik, einen Beitrag zur Brennstoffzelle, mit schickem Labormuster
im Bild. Sie war schon damals intensiv beforscht und ist seitdem immer gerade
vor dem Durchbruch in die tägliche Praxis. Irgendein Natur- oder sonstiges
Gesetz scheint gerade das aber störrisch zu hintertreiben.
Zu den praktisch ungelösten Fragen
der Elektromobilität gehört übrigens auch, ob man winters mit saukalten Füßen
fahren will oder einen nochmals drastisch verringerten Aktionsradius in Kauf
nehmen möchte. Drum ist es schlüssig, (a) nicht auf einen blitzschnell wirkenden
politischen Zauber zu setzen und (b) sich die stromlose Beförderung warm zu
halten.
(16) 4.5.2010
DER SPIEGEL
Afghanistan / Euro-Krise; Matthias Matussek "Ein gerechter Krieg" und
Alexander Jung u.a. „Die letzte aller Blasen" (SPIEGEL 18/2010 v. 3.5.2010,
S. 34 u. 60ff)
Ein Nebennutzen der Finanzkrise
könnte sein: Den gerechten und selbstgerechten Kriegen geht die Luft aus. Dem
Waffenhandel auch. Klar: Soldaten verdienen Unterstützung. Nur in der
Reihenfolge, deren Anlass die Schöpfer des Grundgesetzes vor Augen hatten, und
in der richtigen Währung: (1) Demokratische Debatte (2) Aktualisierung der
Verfassung und materiell-rechtliche Grundlage zum Eingriff in Grundrechte (3)
Mandat.
(15) 30.4.2010
BILD
Staatspleite in Griechenland; J.-W. Schäfer "Warum helfen wir diesen
Griechen-Milliardär?“ (BILD 30.4.2010, S. 1f)
Wir helfen natürlich nicht nur
diesen (diesem?) Griechen-Milliardär. Das fast produktionslose Griechenland ist
auch ein angenehmer Großabnehmer u.a. für deutsche Elektrotechnik, deutsche Nobel-Karossen
und deutsche Wehrtechnik. Bei den Waffen gehört es sogar – direkt nach jenem
geliebten Feind jenseits der Ägäis – zu unseren allerbesten Kunden und macht
uns die Taschen voll.
SIPRI zum Waffenhandel 2008
http://www.handelsblatt.com/newsticker/politik/ruestung-sipri-deutschland-verdoppelt-ruestungsexporte;2545898
Anm.: Die Front-Schlagzeile dieser
BILD-Ausgabe lautete in ca. 240-Punkt Schriftgröße tatsächlich "Warum
helfen wir diesen
Griechen-Milliardär?“ BILD bildet.
(14) 30.4.2010
DAS PARLAMENT
Afghanistan-Debatte; "Klares Bekenntnis gefordert", Das Parlament v.
26.4.2010, S. 1 u. Debattendokumentation
Das Grundgesetz verstehe ich als das
Buch, das die bürgerrelevanten Wegentscheidungen Deutschlands ebenso
kontinuierlich wie unmissverständlich ausweist. Und den darin postulierten
Vorbehalt des materiellen Gesetzes sehe ich als wesenstypische Eingrenzung der
Gewaltmittel eines Rechtsstaats - auch weil hier es um teils nicht revisible
Eingriffe in Grund- und Lebensrechte geht und weil nur ein
Gesetzgebungsverfahren die gebotene gesellschaftliche Debatte erzeugen kann.
Dann aber möchte ich der apodiktischen, wenn nicht barschen Feststellung
unserer Kanzlerin, das Afghanistan-Mandat sei "über jeden vernünftigen
völkerrechtlichen oder verfassungsrechtlichen Zweifel erhaben", eine
Halbwertzeit zubilligen wie der früher gebetsmühlenhaft bekräftigten Ankündigung,
die "Renten (wären) sicher".
Oder aber ich wäre, solange ich für
potenziell lebensbedrohende staatliche Handlungsformen eine geänderte
Verfassung und eine rechtlich wie gerichtlich nachvollziehbare
Eingriffsgrundlage fordere, ein unvernünftiger Verfassungspatriot.
(13)
21.4.2010
TIME
Somali pirates; Nicholas Wadhams "The down-and-out lives of former Somali
pirates" (TIME April 19. 2010, p. 4)
It
may be added: Too often the first lives of former Somali pirates were the lives
of simple fishermen, then pauperized by aggressive fishing fleets of developed
countries. That's what
we're fighting for.
(12) 16.4.2010
DIE WELT
Afghanistan: gesellschaftliche Debatte; Thomas Schmidt "Die Bürger
überzeugen" (DIE WELT v. 16.4.2010, S. 6)
Höchst richtig: Das Thema Afghanistan
gehört auf die Marktplätze. Und in die Straßenbahnen, Lokale, Vereine und
Schulen, gerne auch mit den gelben Solidaritäts-Schleifen und -Bändern.
Aber nicht mit Ausrufezeichen.
Sondern mit dem ehrlichen Angebot zum demokratischen Diskurs, bis die zentralen
Fragezeichen aus Dr. Köhlers Rede zum Fünfzigjährigen unserer Bundeswehr
befriedigend abgearbeitet sind. Als da waren: Welchen Schutz verspricht die
neue Sicherheitspolitik für die Bürger? Welche Gefahren birgt sie? Ist der
Nutzen die Kosten wert? Welche politischen Alternativen bestehen? Woran messen
wir den Erfolg stabilisierender Strategien und wie vermeiden wir den Anschein
eines Besatzers? Und insbesondere: Erfordert der tiefgreifende Wandel des
militärischen Auftrags nicht verfassungspolitisch, wenn nicht gar
verfassungsrechtlich einen bewussten neuen Konsens der Gesellschaft? Das und
nur das wäre nachhaltig wirkende gesellschaftliche und politische Solidarität
mit denen, die umsetzen müssen - dort, wo es sehr wehtun kann.
Speziell am aktuellen Geschehen
alarmiert mich: Bei dem Vorfall am Karfreitag in Kundus ebenso wie bei dem
neuerlichen am 15.4. in Baghlan wurden mehrstündige Gefechte rapportiert. Wie
schon bei dem fast distanziert zu nennenden Vortasten am 3./4.9.2009 –
Tanklaster – legt dies eine real sehr eingeschränkte militärische
Entfaltungsmöglichkeit nahe. Sie kann wohl auch durch Panzerhaubitzen und
besser gepanzerte Fahrzeuge höchstens inkrementell verbessert werden, und auch
dann nur um den Preis ebenso wachsender Risiken für die Zivilbevölkerung. Wenn
dieses Dilemma besteht, stellt sich die Einsatzfrage umso dringender.
P.S.:
Zu den mehr als 20 bis heute unbeantworteten Fragen aus der sehr
einsichtsvollen Rede des Bundespräsidenten am 10. Oktober 2005 zum
Fünfzigjährigen der Bundeswehr: http://www.bundespraesident.de/Anlage/original_630701/Rede-Kommandeurtagung.pdf
(11) 14.4.2010
DIE WELT
Entwicklung der Bundeswehr; Thorsten Jungholt "Guttenberg modernisiert die
Bundeswehr" (DIE WELT v. 13.4.2010, S. 2) Ernst-Christoph Meier
"Ferner Freund" (a.a.O. S. 7)
Eine außen- und
sicherheitspolitische Defizitanalyse muss, soll sie nachhaltig wirken, breiter
angelegt sein als Karl-Theodor zu Guttenbergs Auftrag, mit den vorhandenen
Ressourcen mehr militärische Handlungsfähigkeit, sprich mehr und/oder
effizienteren Auslandseinsatz zu organisieren.
Schon auf der Kommandeurtagung 2005
hatte Bundespräsident Dr. Köhler ein "freundliches Desinteresse" der
Bürger an der Bundeswehr diagnostiziert und überzeugende politische
Übersetzungsarbeit angemahnt, später auch nochmals speziell zu Afghanistan. Sie
ist, wie es auch Ernst-Christoph Meier in der WELT schreibt, unabweisbar, um
den Graben zwischen dem institutionellen Renommee der Bundeswehr und der
niedrigen Akzeptanz ihrer konkreten Aufgaben belastbar zu schließen. Dazu
gehört auch eine ehrliche öffentliche Evaluation der bisherigen Missionen und
ihrer Erfolgs- wie Misserfolgsfaktoren.
Eine Bundeskanzlerin sollte nicht
erneut im Rahmen einer Trauerfeier feststellen müssen, ein Einsatz gestalte
sich weitaus schwieriger, als man acht Jahre vorher gedacht habe. Denn dann
bliebe auch eine ausdrückliche Verneigung vor Toten ein leeres, unterschiedslos
multiplizierbares Ritual.
(10) 13.4.2010
DIE ZEIT
Afghanistan-Einsatz; ZEIT Nr. 15 v. 8.4.2010 (Matthias Nass "Ein schöner
Freund", S. 1; Ulrich Ladurner "Die Stadt und die Mörder", S.
17; Anita Blasberg / Winfried Nachtwei "Wir müssen uns ehrlich
machen", S. 18)
Ob, wie Winfried Nachtwei meint, ein
akkurateres Lagebild, mehr Kontinuität vor Ort und mehr Berliner Aufmerksamkeit
eine gut gemeinte Mission gerettet hätten? Ich glaube nicht daran. Im Grunde
ist es eine Frage politischer Ökologie, genauer der Zeit und der Ressourcen: Um
ein Land wie Afghanistan in einem befriedeten und befriedigenden Zustand nach
dem Bild westlicher Kulturen zu halten, bedürfte es eines dauerhaften
materiellen Inputs, militärisch, aber insbesondere ökonomisch. Diesen Aufwand
will der Westen nicht leisten. Vielleicht kann er es auch schon gar nicht mehr.
Und Afghanistan zu einer ökonomisch selbsttragenden "Schweiz des mittleren
Ostens" zu machen? Das ist ein sehr alter Traum, der aber nur bei einer
Stabilbaukasten-Mentalität schlüssig erscheint. Die derzeit hoch gehandelte
"Übergabe in Verantwortung" und selbst Karsais verblüffende Volten
sind letztlich ein Abgesang auf den untauglichen Versuch eines solchen
"state engineering".
Zeit wäre es, da gebe ich Winfried
Nachtwei sehr nachdrücklich Recht, für eine nüchterne Evaluation der
ambitionierten Außen- und Sicherheitspolitik, und zwar aller Missionen seit
1992. Die deutsche Friedens- und Konfliktforschung könnte sich dabei sehr
verdient machen. Dabei würde sich möglicherweise ergeben, dass die von Matthias
Nass letztgenannten Missions-Motive – Bündnisloyalität und Isolationsangst –
die alles übergreifenden Einsatzgründe sind. Sie haben allerdings am wenigsten
zu tun mit dem Schutz der Menschenrechte, die der Westen nach außen im Schilde
führt.
(9) 30.3.2010
DIE ZEIT
Exportüberschuss; "Prügel für den Streber", ZEIT v. 25.3.2010
Vor einigen Jahren hatte ein Buch
des renommierten Autors Robert Harris einige Probleme, einen deutschen Verleger
zu finden. Es war der history-fiction-Roman "Fatherland" mit einer
wohl schwer verdaulichen Pointe: Deutschland hat einen bombastischen Erfolg,
gleich ob es den Krieg verloren hat oder - wie bei Harris - ihn gewonnen hätte.
Manches heute erinnert mich an diese Geschichte.
Deutschland hat gerade einen Platz
auf dem Treppchen der Waffen-handelnden Nationen erobert. "Merchants of
Death" nennt man das manchmal. Und bei Griechenland schließt sich der
Kreis: Griechenland ist - wie sein Erbfeind jenseits der Ägäis - Top-Kunde für
deutsche Militaria. Und wenn dies den griechischen Haushalt nicht bereits
zugrunde gerichtet hat, so hat es doch gierig daran mitgewirkt.
Alles dies und die aktuellen
Korruptionsvorwürfe zusammengenommen, muss ich auf den aggressiven deutschen
Außenhandel nicht stolz sein. Zumal all dies offenbar nicht dazu beitragen
konnte, die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Klüfte im Inland
zu schließen. Eher im Gegenteil.
(8) 27.3.2010
Süddeutsche Zeitung
Exportüberschuss; zu: Thomas Fromm: Zu fett Gas gegeben, Süddeutsche Zeitung v.
25.3.2010, S. 2
Drei Meldungen der vergangenen Tage,
die zusammen einen eigentümlichen Missklang ergeben: (1) Deutschland entrüstet
sich kollektiv gegen den französischen, doch ganz sicher nur neidgetriebenen
Vorwurf einer aggressiven Exportpolitik. (2) Deutschland hat nach der aktuellen
sipri-Bilanz die Bronze-Medaille der merchants of death errungen, also den
dritten Platz im internationalen Waffenhandel. (3) Deutsche
Vorzeige-Unternehmen haben sich in viele Länder hinein-bestochen.
Menschen, die sich zu den Realisten
rechnen, mögen achselzuckend auf die Arbeitsplatzsicherung durch Export verweisen,
zumal von high tech wie in der Rüstung. Auch das hat eine wenig beachtete
Kehrseite: Gerade wegen der komparativ hohen Wertschöpfung etwa bei der
Produktion von Rüstungsgütern und wegen der regelmäßigen Finanzierung durch
gegenläufige Warenströme im Rahmen von offset-agreements kosten Waffen-Deals
netto Arbeitsplätze. Unerwartet, aber nachweisbar.
Und speziell im Falle Griechenlands
schließt sich der Kreis: Das Land kennt nicht nur Lebensarbeitszeiten, die uns
heute seltsam erscheinen. Es hat auch einen völlig aufgeblähten Militär-Etat,
an dem u.a. die deutsche Industrie mit Gier und Inbrunst saugt. Und der den
Niedergang zumindest mit bewirkt hat. Darum sollte sich Deutschland ernsthaft
fragen, ob es nicht auch anders kann, ob es zum Wachstum auf Kosten anderer
verdammt ist.
(7) 4.3.2010
DIE ZEIT
Polit-Sponsoring; Robert Leicht: "Rüttgers Club" (DIE ZEIT Nr. 10 v.
4.3.2010, S. 1)
Danke, Herr Leicht! Geldflüsse von
juristischen Personen zu Parteien schaffen in der Tat keinen erkennbaren
demokratischen Mehrwert. Es ist auch Zeit, die Lobby zu entzaubern. Sie ist
keine in der Not eingerichtete Nachhilfeschule für zurückgebliebene Politiker.
Die Lobby ist der Wandelplatz der Sponsoren und Einfluss-Agenten, die hier auch
nicht am Markt werbend tätig sind, die nicht ihre Produkte, sondern ihre
Interessen absetzen. Und die Lobby ist überall - auf Parteitagen, auf Messen
und Konferenzen und in Pakten und Partnerships, in weltläufigen Delegationen
und bei Preis- und Ordensverleihungen, mit Schirmherren, Paten und
Key-Note-Speakern, in teils hellen, in teils halbdunklen und feuchtwarmem
Biotopen aus Machtreichtum und Reichtumsmacht. Medien - selbst ein Stück
Wirtschaft und ein Stück Politik - spielen im Sponsor-Geschäft die oft
willkommene Multiplikatoren-Rolle.
Gegenüber dem Sponsor sollten wir
den Mäzen oder den Stifter loben, die deutlich näher am Ehrenamt sind. Sicher
will auch der Mäzen gestalten und Goodwill schaffen. Aber eben nicht subkutan
über die exklusive Nähe zu Politikern, sondern in aller Regel mit der
unmittelbaren und offenen Förderung eines gesellschaftlichen Ziels.
(6) 3.3.2010
Süddeutsche Zeitung
Debatte um das Sponsoring von politischen Parteien (u.a. Süddeutsche v.
3.3.2010, S. 5 "Transparenz beim Sponsoring")
Dass der Macht-Reichtum der Politik
und die Reichtums-Macht der Wirtschaft einander anziehend finden – attraktiver jedenfalls als Armut und
Einflusslosigkeit – und dass sie sich gerne gegenseitig bedingen, das ist
nichts so Ungewöhnliches. So ist halt die Welt. Auch ein Vorgänger des heutigen
Düsseldorfer Ministerpräsidenten, einer, der noch in zugigen Eckkneipen mit der
Basis Skat drosch, der hatte sich ganz gerührt von einem nahestehenden
Geldinstitut ein unbestelltes, gleichwohl vielstelliges Geburtstagsständchen
ausrichten lassen. Erstaunlicher ist schon, dass die gerne so genannte
Public-Private-Partnership mit allen ihren beiläufig-schwülen Versuchungen und
angefütterten Loyalitäten noch immer den Ruf eines wohlfeilen Problemlösers
genießt.
Transparenz allein kann Verführung
nicht ausschließen: Ein Informations-Mehrangebot führt auch nicht notwendig zu
aktueller und breiter Informiertheit. Im Gegenteil kann daraus mehr
Unübersichtlichkeit folgen. Verlässlicher schiene mir daher das unbedingte
demokratische Selbstverständnis: Wir pflegen eine Demokratie realer Bürger und
jedenfalls juristische Personen dürfen die Chancen politischer Präsentation
nicht durch Zuwendungen manipulieren und dürfen Machtverhältnisse nicht im
korporativen Interesse zementieren. Dass die Denkmuster in den USA insoweit
andere sind, das braucht uns nicht zu beirren. Auch nicht, dass mancher
"event" dann nicht mehr ganz so chic und locker herüber kommen wird.
(5) 22.2.2010
Frankfurter Allgemeine Zeitung, abgedruckt 26.2.2010
soziale Sicherung; "Warum nicht Schnee schippen?" (F.AZ. v.
22.2.2010, S. 1f)
Aus nahe liegenden Gründen wäre der
Fall Roms durch Schneeschippen kaum zu kippen gewesen. Ein smarter Orator hätte
aber sicher schnell das tagtägliche
Ausräumen der cloaca maxima
aufgetischt.
Nur hätte vermutlich auch dies zur
wirtschaftlichen Gesundung wenig beigetragen. Denn die Probleme der späten
Republik ebenso wie der fortgeschrittenen Kaiserzeit waren eher eine
Globalisierung - die Verlagerung der Wertschöpfung an die Peripherie, in die
Kolonien - , die billige Sklavenarbeit und eine kontinuierliche Konzentration
des Grundbesitzes im Kernland, damit eine zunehmende Depravierung auch der
römischen Mittelschichten. Géza Alföldy hat diesen Prozess in seiner
herausragenden "Römischen Sozialgeschichte" überzeugend dokumentiert.
Dekadenz konnten sich höchstens
diejenigen leisten, die noch geraume Zeit fern der ökonomischen Wirklichkeit
Luxus zelebrierten oder sinnentleerte Reden schwangen. Wie sich die Bilder
gleichen.
(4) 1.2.2010
FOCUS, abgedruckt 8.2.2010
Wiedervereinigung; "Wer hilft dem Westen?" (FOCUS 5/2010, S. 42ff)
Packendes Bild: Dort die Zone
goldenen Glanzes, hier zerzaustes Gefieder. Aber das Bild trügt ein wenig: Was
immer an Aufbau-Gold herübergereicht wurde und wird, es war auch Teil eines
westdeutschen Konjunkturpakets und ist zum wesentlichen Teil flugs
zurückgerollt - als Erträge, als Löhne, als Steuern.
Es ist auch nicht ein adipöser
Osten, der westliche Kommunen aushungert und verlottern lässt. Es sind Bund und
Länder, die die Kommunen aus Eigennutz auf volatile Steuern gesetzt haben. Und
es sind Kommunalpolitiker, die sich und ihre Wiederwahlchancen an glitzernden
Projekten festmachen – die die Budgets und die Bürger zu häufig auf Jahre in
Schuldhaft nehmen.
Goldene Nasen sind halt weit verbreitet.
Eine besondere "Gegenleistung" wird übrigens häufig übersehen: Der
Osten stellt deutlich überproportional Soldaten; es sind am ehesten sie, die
unsere Sicherheit am Hindukusch verteidigen. Sie kommen bevorzugt aus
arbeitslosen, aus gar nicht goldigen Landstrichen. Und dienen dort, wo es sehr
wehtun kann.
(3) 14.1.2010
DIE WELT
Antisemitismus und Antiislamismus; Essay "Sind Muslime die Juden von
heute?" von Henryk M. Broder (DIE WELT 13.1.2010, S. 7)
Mark
Twain sagte: „History doesn’t repeat itself. But it does rhyme!”. Und so wäre ein Gleichsetzen von
Antisemitismus mit Vorurteilen gegen Muslime ebenso unfruchtbar wie der fast
eifersüchtige Alleinverfolgtseinanspruch, den man aus Henryk Broders
schäumendem Essay herauslesen könnte.
Einen gegenüber Juden wie Muslimen
ähnlichen, resonanten Ton der Xenophobie herauszuhören und Annahmen über die
mögliche Entwicklung zu diskutieren, das aber ist nicht nur zulässig, es ist
notwendig. Die eigentliche Frage ist doch: Der Transfer von negativen, entwürdigenden
Einstellungen und Aggressionen gegen „den Juden“ der Propaganda des frühen 20.
Jahrhunderts auf „den Juden an der Ecke“ funktionierte wie von selbst und
garantierte das Wegsehen beim sozialen Mord, wenn nicht das Mitmachen beim
physischen Mord – zu einem wesentlichen Teil ja an Aschkenasim, auf die die
giftigen Stereotype erst recht nicht passten. Warum sollte die gedankliche
Zuweisung von extremistischen Dispositionen, die ja auch den blutigen
Militäreinsatz in Afghanistan auf unbestimmte Zeit trägt, an „den Türken an der
Ecke“ nun weniger gut gelingen? Weil unser Deutschland nach Tausenden von
Jahren plötzlich kollektiv xenophil geworden wäre? Weil wir Muslime
verschiedener Historien, Herkünfte und Bekenntnisse zu unterscheiden geneigt
wären?
Eher unwahrscheinlich; verlässlicher
scheint es mir anzunehmen, dass die meisten Deutschen ebenso verächtlich und
typisierend über Muslime denken, wie es etwa Ralph Giordano im Streit um die
Kölner Großmoschee einmal unverblümt aussprach, u.a. mit einem Vergleich aus
dem Tierreich. Und auch hier hätte Mark Twain festgestellt: Geschichte reimt
sich.
P.S.: Link zum Streitgespräch Ralph Giordano /
Bekir Alboga v. 16.5.2007: http://www.ksta.de/html/artikel/1176113436263.shtml
(2) 8.1.2010
DIE WELT
Traumatisierung von Soldaten; Interview mit Thomas Zimmermann "Der lange
Schatten des Krieges" (DIE WELT 8.1.2010, S. 3)
Das Interview macht klar: Neben den
sonstigen Lasten eines kriegerischen Konflikts oder eines Krieges häufen sich
in einer der beiden Waagschalen auch die Erfahrungen, Erinnerungen und Traumata
derjenigen, die ihn vor Ort ausführen. Wobei es überproportional viele
Erfahrungen von jungen Männern und Frauen aus arbeitslosen Landstrichen
Deutschlands sind, die zu einem guten Teil keine andere Alternative haben.
Was aber liegt in der anderen
Waagschale? Sold, ja. Aber gesellschaftliche Anerkennung, die der Psychiater zu
Recht als zentral ansieht? Die ist kaum zu erwarten, solange dieser Krieg einer
zunehmend zweifelnden Bevölkerung praktisch nicht erläutert wird. Auf dieses
eminente politische Defizit hat unser Bundespräsident bereits 2005 mahnend
hingewiesen und dies 2009 konkret zu Afghanistan wiederholt.
Eine Anmerkung: Mit der
Rekrutierungs-Werbung der Bundeswehr für moderne Einsätze betreiben wir –
nüchtern betrachtet – eine Art Verleitung zur Prostitution.
P.S.:
·
Die
beigefügten Einplanungszahlen hat mir das Sozialwissenschaftliche Institut der
Bundeswehr für das Einberufungsjahr 2002 zur Verfügung gestellt. In der
nachfolgenden Tabelle sind sodann die Verpflichtungszahlen mit den
Arbeitslosigkeitszahlen verknüpft; die zusammenfassende Übersicht auf dem
Tabellenblatt 1 zeigt den signifikanten Kontext. Ein Vergleich:
Baden-Württemberg stellte bei 10,6 Mio. Einwohnern 619
Unteroffiziere/Mannschaften, Mecklenburg-Vorpommern bei 1,7 Mio. Einwohnern
aber 1.032 Soldaten dieser Laufbahnen. Daraus ergibt sich eine ca. um den Faktor
10 höhere Wahrscheinlichkeit für den Dienst u. gfs. einen Auslandseinsatz.
Oder aber: MV verteidigt am Hindukusch die Freiheit BW’s.
Anm.: Die
überproportionale Herkunft des Bw-Nachwuchses aus den NBL verursacht zusammen
mit dem rapiden Bevölkerungsschwund gerade in den für die Werbung viel
versprechenden Regionen das schnell wachsende Rekrutierungsproblem der
Bundeswehr, über das seit zwei Jahren verstärkt diskutiert wird und das nun
durch die Wirtschaftskrise, dies wäre allerdings eine etwas zynische Bewertung,
etwas abgefedert werden könnte.
·
Zu
den Forderungen von Prof. Dr. Köhler am 10.10.2005:
http://www.bundespraesident.de/Anlage/original_630701/Rede-Kommandeurtagung.pdf
·
Zur
Äußerung anlässlich des Truppenbesuchs des Bundespräsidenten am 28.8.2009:
hier.
(1) 6.1.2010
Süddeutsche Zeitung; Reaktion im Sprachlabor der Süddeutschen am 16./17.1.2010
(siehe unten)
"Was bringt das neue Jahrzehnt?" / "Streiflicht"
(Süddeutsche 31.12.2009, S. 10 / S. 1)
Man hört und liest es zwar in diesen
Tagen fast überall, aber es gehört zu den populären Irrtümern und es ist eine
Art iubilatio praecox: Ein neues Jahrzehnt können wir erst am 1. Januar 2011
feiern. Wie auch unser Jahrtausend noch keine zehn Jahre alt ist, jedenfalls
wenn wir der traditionellen Zählweise folgen. Die führt man gemeinhin auf
Dionysius Exiguus zurück, den gelehrten Erfinder des Jahres des Herrn.
Ich weiß, das klingt - wie man bei
uns sagen würde - drießhüßchensjenau und etwas freudlos. Und es macht mangels
eines Jahres Null sogar den Astronomen gewisse Probleme.
P.S.: http://de.wikipedia.org/wiki/Jahrtausend;
http://www.heiligenlexikon.de/BiographienD/Dionysius_Exiguus.html
Sprachlabor der Süddeutschen Zeitung
am 16./17.1.2010:
„Leser Dr. V. ist beileibe nicht der Einzige, der seit Sylvester/Neujahr daran
erinnert hat, dass das neue Jahrzehnt erst am 1. Januar 2011 zu feiern ist. Da
er aber hinzufügte, sein Hinweis klinge vielleicht freudlos und – alles mal
herhören – ‚drießhüßchensgenau’, sei der Kasus noch einmal festgehalten. Ende
Dezember werden wir, so Gott will, drießhüßchensgenau darauf zurückkommen.“
Und ein paar Sammlerstücke aus
früheren Jahren:
Die Mutter aller (meiner)
Leserbriefe:
29.9.1992
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 2.10.1992
Militär; Absage der "V 2 - Gedenkfeier" in Peenemünde (KStA. v.
29.9.1992)
Hätten wir am Deutschlandtag die
Schöpfer der V 2 hochleben lassen, hätten wir auch die der Scud mitgefeiert.
Die Scud ist wie die Mehrzahl der heute weltweit ausgerichteten Trägersysteme
legitimer Nachfahre der V 2. Scud und V 2 sind brutale
Massenvernichtungswaffen, die unter einem verantwortungslosen Regime bewußt zum
Schaden der Zivilbevölkerung eines anderen Landes entwickelt und eingesetzt
worden sind.
Demgegenüber ist der vorgebliche
Kontext ziviler (!) Raumfahrtforschung, der etwa den jungen Wernher von Braun
begeistert und geblendet haben mag, als Begründung eines V 2 - Festes geradezu
absurd. Die Forschung hat sich gegen diese Wirtschaftsidee im doppelten Sinne
auch ausdrücklich verwahrt.
Der Vorschlag war, wenn auch der
count-down schweren Herzens in letzter Sekunde abgebrochen wurde, bereits eine
verheerende Wunderwaffe gegen das Ansehen des neuen Deutschland im Ausland und
unserer Repräsentanten im Inland.
Der
Leserbrief mit dem besten Verzögerungszünder:
29.5.2008
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt 30./31.5.2009,
also bereits ein Jahr später
Wahl des Bundespräsidenten; Kandidaturen Hort Köhler / Gesine Schwan (KStA v.
27.-29.4.2008, u.a. Franz Sommerfeld "Mit Gesine Schwan nach links",
KStA v. 27.5.2008, S. 4)
Entscheidend
ist, so weiland ein großer Kanzler, was hinten raus kommt. Mehr Demokratie
kommt raus, wenn bei einer Wahl die Wahl besteht. Das andere haben wir früher -
meist nach Osten blickend - gerne als "Abnicken" verspottet und
versuchen es selbst im Miniaturmaßstab der Schuldemokratie nach Kräften zu
vermeiden.
Und
die Gefahr durch die ewig Linken? Na ja, wenn man böse Ränke und abgekartete
Spiele fürchtet oder wenn man ein barockes Theater von mehr als tausend
wohlbestallten Spesenrittern von Herzen verhindern will, dann gibt es doch eine
ganz natürliche Lösung: Die Wahl des obersten Bürgers durch die Bürger selbst.
Wäre sicher auch die bessere Remedur gegen deren nachhaltige Verdrossenheit.
Und
der am weitesten gereiste:
22.08.1995
NIKKEI WEEKLY, JAPAN; abgedruckt: 28.8.1995
Mititärpolitik; Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki; THE NIKKEI WEEKLY of
August 14, 1995
I refer to reports on WW II and
especially to two letters to the editor printed in THE NIKKEI WEEKLY of August
14, 1995 (page 6). It is my impression that those two letters offer a
unilateral and quite insulting interpretation of the motives behind the drop of
atomic bombs onto Hiroshima and Nagasaki fifty years ago (e.g. N. Hale: "a
merciful decision"). So I would like to show an alternative view,:
It is certainly true, that Japanese
military leaders commenced the hostilities against the
The echoes of that demonstration of
power strongly outlived that event. We hear them over and over again - from
Irak, from
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