Dr. jur. Karl Ulrich Voss, Kuckenberg 34, 51399 Burscheid

 

Leserbriefe: Demokratie, Demokratiereform, Ausländerfeindlichkeit und einiges mehr

 

 

02.02.1993

Rheinischer Merkur

Militär; Demokratie
Interview der Bundesministerin der Justiz durch C. Birnbaum im Merkur Nr. 5 v. 29.01.93, S. 2

Frau Leutheusser-Schnarrenberger ist nachdrücklich zuzustimmen. Eine generelle und dann wirklich unumkehrbare Entscheidung für deutsche Militäreinsätze ohne Verteidigungscharakter setzt in der Tat einen breiten öffentlichen Konsens voraus - und letzterer nach meinem Verständnis von Demokratie eine ernsthafte öffentliche Diskussion. Genau diese haben die Parteien bisher vernachlässigt und durch fraktions- und koalitionsübergreifende Verhandlungen ersetzt.

Unabhängig von etwaigen, teils selbstgesetzten Zugzwängen: Soviel Zeit für das Volk muß sein!

04.05.1993

Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt; abgedruckt: 21.05.1993

Militärpolitik der Kirche; Demokratie
Hans-Albrecht Pflästerer im Sonntagsblatt v. 30.04.1993 ("Kneifen gilt nicht!")

Derzeit geschieht nichts weniger als das Vergessen unserer bittersten nationalen Erfahrung und der Verlust einer der wenigen Eigenarten der Bundesrepublik - der nach ungeheuren Verbrechen und Verlusten erlernten Beschränkung unserer bewaffneten Kräfte auf Verteidigung. Der Grund ist nicht, daß die Welt schlechter geworden wäre. Vielmehr bergen in einer geänderten geopolitischen Lage strategische Eingriffe nun ein geringeres Eskalationsrisiko und gleichzeitig drängen Militärorganisationen, die über Nacht ihr Feindbild verloren haben, nach neuen Aufgaben.

Bevor die Kirche diese Strategie mit Seelsorge flankiert und in den Augen der betroffenen Soldaten absegnet, muß sie sich energisch melden in der zuerst erforderlichen gesellschaftlichen Diskussion über Nutzen und genau konkretisierte Anwendungsfälle von "out of area"-Einsätzen der Bundeswehr. Kneifen gilt nicht!

14.04.1993

Die Welt

Militärpolitik; Demokratie
"out of area" - Einsätze der Bundeswehr (WELT v. 14.04.1993. S.1. Kampfeinsätze: Regierung bedrängt die SPD)

Trotz vieler beglückender Geschichtsstunden und Staatsrechtsvorlesungen quält mich ab und zu Ungewißheit in der Frage, welcher Staatsform Staatsbürger ich eigentlich bin.

Da schickt sich die stärkere der Regierungsfraktionen an, der gewichtigeren Oppositionsfraktion ein über bereits ausgehandelte Blauhelm-Missionen hinausgehendes Einsatzfeld abzunötigen und droht dabei mit der Verkürzung von Rechten des Souveräns, der Vertretung des Volkes.

Dabei ist den Handelnden ein wenig aus dem Blickfeld geraten, daß das Volk selbst mehrheitlich an der teuer bezahlten und bisher staatsprägenden Beschränkung auf Verteidigung hängen und sich berechtigt für die Effektivität der künftigen Einsätze interessieren könnte. Im letzten Wahlkampf hatten die Parteien ein ihr heutiges Vorgehen rechtfertigendes Mandat jedenfalls weder verlangt noch erhalten. Diese unbekümmerte Strategie kann sich eigentlich nur leisten, wer annimmt, daß unsere real existierende Demokratie keine Partizipationsprobleme birgt.

 

17.04.1992

Die Zeit

Militärpolitik; Demokratie
ZEIT-Debatte der "out of area"-Frage in Heft 15/1993 sowie Beiträge von R. Leicht und H. Schmidt in Heft 16/1993

Wer Staatsform nicht nur als Formalie versteht, wird sich zuallererst an dem von Beginn an sehr undemokratischen Weg nach "out of area" stoßen:

Die großen Parteien sind dem Wahlvolk auf dem Weg zum Kampfplatz bereits um einige Tageslängen voraus, die verfassungsändernde Mehrheit im Marschgepäck. Eine kleine, aber feine Vorhut der vorderen Formation hat das Schlachtgetümmel bereits zum (Ein-) Greifen nah im Visier. Über allem kreist beobachtend und beratend das höchste Gericht.

Einen bottom-up-approach - eine auf Änderung unserer bisherigen Militärdoktrin gerichtete breite Initiative aus der Bevölkerung - würde in einer derart grundlegenden und gleichzeitig komplexen Frage zwar niemand erwarten. Hier bekommen wir aber nicht einmal top-down in der grundgesetzlich - Art. 20 Abs.1 S.1 - vorausgesetzten Form: Trotz außenpolitisch bereits völlig veränderter Rahmenbedingungen haben die Parteien vor der letzten Wahl gerade kein entsprechendes Mandat eingefordert! Sie suchen auch jetzt nicht den Austausch mit der Bevölkerung, sondern beschränken sich auf Verhandlungen auf Parteiebene.

In der Sache spricht uns Helmut Schmidt (ZEIT Nr. 16) aus dem Herzen: Nicht Bosnien ist repräsentativ für die potentiell wichtigen und erfolgversprechenden Einsatzgebiete unserer heutigen und künftigen Bundeswehr. Wer anderes will, verrückt den personellen und ideologischen Querschnitt des bisher demokratischsten aller deutschen Heere merklich in Richtung "légion étrangere", "dirty dozen" oder Wehrsportgruppe.

07.06.1993

Der Spiegel

"Weder Heimat noch Fremde" im SPIEGEL 23/1993

Kinkel hätte Kohl durch einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts zur Teilnahme an den Trauerfeierlichkeiten zwangsverpflichten sollen: Der wegen der Verweigerung Kohls drohende - und auch prompt eingetretene - unermeßliche Ansehensschaden für die Bundesrepublik Deutschland hätte Kinkel nach aktuellster Rechtsprechung Recht gegeben, siehe AWACS.

 

07.06.1993

Kölner Stadt-Anzeiger

Ausländerintegration

Zur Abwesenheit des Bundeskanzlers bei den Trauerfeierlichkeiten nach dem mehrfachen Mord in Solingen:

Natürlich ist es ungleich schwieriger, die Heime von ausländischen Mitbürgern gegen feige Anschläge zu sichern, als die von Ministern. Gerade weil dies ein so simples Rechenexempel ist, besteht aber die besondere Plicht unserer Regierung, Flagge und positive Meinungsführerschaft zu zeigen. Unser Kanzler in dieser Situation: ein Ohnemichel, der national wie international tief enttäuscht hat.

 

08.06.1993

FOCUS; abgedruckt: FOCUS 25/1993

Ausländerintegration;
"Angst vor dem Krieg auf der Straße"; FOCUS 23/1993

Er weht wieder. Er knattert sogar häßlich im aufkommenden Wind, der Mantel der Geschichte. Unserem prominentesten Historiker hat es niemand erklärt. Der hat sich flugs geduckt, hat kein Zeugnis abgelegt und durch Passivität ein zumindest mißverständliches Signal gesetzt - weltweit! Zum Staatsmann qualifizieren nicht nur die guten Wetterlagen.

06.08.1993

Die Welt; abgedruckt: 15.6.1993

Ausländerpolitik;
Brandanschläge auf Türken (Welt v. 08.06.1993, S. 1: "Kohl: Deshalb blieb ich ...", S.6: Kremp:"Verwüstung der Seelen")

Schandtaten, die aus der Mitte eines sozialen Verbandes heraus verübt werden, einer möglichst kleinen Gruppe mit geringer Identifikationseignung zuzuweisen, ist menschlich. Die eskalierende Zahl der Taten und die soziale Diversität der Täter sprechen aber deutlich für ein Strukturproblem. Darauf hat H. Kremp - über die Ursachen kann man streiten - zutreffend hingewiesen. Die Täter von morgen sind unter uns, bei uns.

Unser Staat kann eine große Zahl möglicher Opfer nicht mit präventiven polizeilichen Mitteln von einem diffusen Täterpotential schützen, vor allem nicht schnell. Gerade darum ist das mindeste, daß jeder an seinem Platz - und die Staatsführung zuerst - unzweideutiges Zeugnis für ein Zusammenleben mit ausländischen Mitbürgern ablegt. Der Kanzler hat die Realität gescheut und mit seinem Fehlen ein grob mißverständliches Signal gesetzt.

 

23.08.1993

Kölner Stadt-Anzeiger

Militärpolitik; Ausländerfeindlichkeit
"Hehre Ziele und die wirtschaftliche Sicherheit des Staatsdieners" von Günther M. Wiedemann im Stadt-Anzeiger v. 20.08.1993 (

Der angedeutete Trend bei den Verweigererzahlen ist mit größter Vorsicht zu genießen: Der Rückgang der letzten Monate ist nach Erfahrung des zuständigen Bundesministeriums für Frauen und Jugend (nicht: Familienministerium) ein reiner Saison-Effekt. Die voraussehbare Entwicklung wird zu einem mit dem Vorjahr in etwa vergleichbaren Gesamtergebnis führen. Das ebenfalls sachverständige Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr in München erwartet sogar weiteren Aufwuchs der Verweigererzahlen.

Brisanter noch ist aber die Frage der Auswirkung der neuen Ausrichtung der Bundeswehr auf deren ideologischen Querschnitt: Bezogen auf den Bevölkerungsdurchschnitt identifiziert eine aktuelle Studie des genannten Bundeswehr-Instituts schon jetzt eine deutliche Verschiebung des Bewerberpotentials der Bundeswehr hin zur rechten Seite des politischen Spektrums (SOWI-Arbeitspapier Nr. 77, März 1993). Die Studie warnt vor der Gefahr zunehmender Attraktivität der Bundeswehr für junge Männer, die den demokratischen Zielen und Werten kaum oder gar nicht verbunden sind. Überraschen muß das freilich niemanden: Welche Anziehungskraft auch nur paramilitärische Ausbildung auf die extreme Rechte ausübt, hat die kürzlich aufgedeckte rechtsradikale Unterwanderung der Freiwilligen Polizeireserve Berlins warnend gezeigt.

25.08.1993

Rheinischer Merkur; abgedruckt: 10.9.1993

Militärpolitik; Ausländerfeindlichkeit
T. Kielinger im Merkur v. 20.08.93, S. 1 ("Wofür noch Verteidigung?")

Es mindert eigene Betroffenheit und ist daher höchst verführerisch, die erweiterten Aufgaben der Bundeswehr auf ein Berufsheer zu delegieren. Aber es ist gefährlich:

Zum einen verlöre der Staat ein für die angemessene Handhabung seiner militärischen Werkzeuge wichtiges feedback: der Staat darf letztlich nur anordnen, was er persönlich - idealiter unter repräsentativem Engagement der Bürger - auch in die Tat umzusetzen bereit ist. Die unkritische Verfügbarkeit einer légion étrangere oder eines dirty dozen, die noch dazu an laufenden Beweisen der eigenen Effizienz interessiert sein müssen, ist eine viel zu geringe Hürde.

Zum zweiten: Die Gemeinschaft darf nicht den Eindruck erwekken, sie wolle einigen wenigen Bürgern das Recht auf Leben und physische oder psychische Unversehrtheit abkaufen. Gerade in Zeiten wachsender Arbeitslosigkeit und insbesondere in den neuen Bundesländern würde dies wie eine Verleitung zur Prostitution besonders schutzwürdiger Rechte wirken (die sehr attraktiven Zulagen nach dem neuen Auslandsverwendungsgesetz haben bereits genau diesen Beigeschmack).

Und schließlich: Eine Berufsarmee entfernt sich weiter von der Idee einer Bundeswehr, die möglichst die Einstellungen der Bevölkerung wiederspiegelt. Eine aktuelle Studie des Sozial-wissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr in München identifiziert schon jetzt eine deutliche Verschiebung des Bewerberpotentials der Bundeswehr hin zur rechten Seite des politischen Spektrums und warnt vor der Gefahr zunehmender Attraktivität der Bundeswehr für junge Männer, die den demokratischen Zielen und Werten kaum oder gar nicht verbunden sind (SOWI-Arbeitspapier Nr. 77, März 1993). Diese Tendenz wird durch Schaffung einer Berufsarmee, die auch Aufgaben einer Fremdenlegion erfüllen soll, gewaltig angefacht. Die Vorstellung, von Rechtsradikalen bei einem Auslandseinsatz vertreten zu werden, ruft bei mir erhebliche Beklemmungen hervor.

 

29.12.1993

Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 4.1.1994

Medien;
Stadt-Anzeiger v. 29.12.1993

Im Zusammenhang mit dem Kommentar von Barbara Cepielik im Stadt-Anzeiger v. 29.12.1993 ("Lust auf Katastrophen") möchte ich für Nüchternheit und etwas Selbstkritik werben: Die Menschen sind nicht besser und nicht schlechter als in einer Gesellschaft zu erwarten steht, die das Elend Dritter als Konsumgut behandelt und handelt. Nicht zuletzt von der Multiplikatorwirkung für uns Heerscharen von angebundenen Gaffern und Spannern leben auch die Druckmedien und nirgends war schlammiges Wasser so ästhetisch schön und anziehend eingefangen wie auf der weihnachtlichen Titelseite des Stadt-Anzeigers. Muddy news are good news und das Pressehaus ist manchmal ein Glashaus.

 

06.01.1994

Der Spiegel

Schäuble-Interview "Starker oder schwacher Staat" im SPIEGEL 1/1994

Schäubles Überlegungen zur Bundeswehr machen verblüffenden Sinn, wenn wir sie im Kontext seiner vorrangigen Themen - Wirtschaft, Arbeitslosigkeit und innere Sicherheit - nur ein wenig fortspinnen: Die Union nimmt gegen alle wahlbedingten Lippenbekenntnisse mittlererweile einen hohen Sockel von Arbeitslosen als schicksalhaft systembedingt hin. Konsequent muß sie bei einiger Voraussicht Maßnahmen erwägen, die die Gesellschaft gegen den aus breiter sozialer Demontage mit statistischer Unausweichlichkeit erwachsenden Sprengstoff härtet. Es ist nun einmal wenig wahrscheinlich, daß diese wuchernden Heerscharen ihr Los dauerhaft in Frieden und Würde ertragen. Dies gilt auch und gerade für Bewohner der neuen Besitzungen im Osten.

So erscheint das Weltbild der heutigen Union von der Bedrohung durch externe ebenso wie durch interne Armutskriege geprägt. Das Allheilmittel gegen äußere wie innere Un-Sicherheit heißt aus Sicht der Union dann vielleicht folgerichtig: Bundeswehr. Denken - so auch Schäuble - darf man ja wohl noch!

 

20.01.1994

FOCUS; abgedruckt: FOCUS 6/1994

Artikel über Wolfgang Schäuble in FOCUS 3/1994

Statt DER CHEF hätte die Überschrift auch IL PRINCIPE lauten können. Ein Juristenkollege Schäubles hatte unter diesem Titel im 16. Jahrhundert eine noch heute gerngelesene Rezeptur für den Machterhalt ersonnen - für den ganz gewöhnlichen, von christlicher Ethik abgekoppelten Machterhalt. Der Kollege hatte sich ebenfalls mit innerer Verwaltung und auch mit dem Militär befaßt und ihm waren die Herstellung von nationaler Einheit und Größe brennende Anliegen.

Wer war's? Niccolò Machiavelli.

21.04.1994

Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 6.5.1994

Militärpolitik; Demokratie
Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht betreffend neue Aufgaben der Bundeswehr

Die derzeitige Auseinandersetzung zwischen den Parteien vor dem Bundesverfassungsgericht zu out-of-area Einsätzen der Bundeswehr betrifft nur eine Vorfrage: "Wie weit darf die Bundeswehr gehen?"

Die Hauptfrage aber ist eine politische und wird durch den Richterspruch nicht etwa miterledigt: "Wie weit soll die Bundeswehr gehen?" Diese Frage kann nur in einem politischen Prozeß zwischen den Parteien und den Bürgern geklärt werden. Nur dann sind Aufgeschlossenheit und verläßlicher Rückhalt für die Bundeswehr zu gewinnen, die diese in einer grundlegend geänderten Umgebung dringend benötigt.

22.06.1994

Kölner Stadt-Anzeiger

Lobbyismus;
Bericht über die zum Nutzen der Bierbrauer entschärfte Neufassung des Gaststättengesetzes im Stadt-Anzeiger v. 18./19.06.1994 (S.3: "Ein bierseliger Bückling Bonns")

Es gibt tatsächlich noch ein fortgeschrittenes Stadium der durch Flugbenzin- und Amigo-Affairen berühmt gewordenen Bananenrepublik: die mörderische Bierrepublik, die den Profit ihrer Brauer & Consorten völlig ungeschminkt über die Sicherheit und Gesundheit der eigenen Jugend setzt.

28.06.1994

Kölner Stadt-Anzeiger

Verfassungsreform;
Schäuble-Interview im KStAnz. v. 24.04.1994

Schäuble ist mit dem Grundgesetz recht zufrieden. Eine stärkere Teilhabe der Bürger an der Gesetzgebung etwa steht trotz aller Politikverdrossenheit nicht auf seiner Agenda. Mehr Bürgerbeteiligung braucht allerdings auch nicht, wer sich der richtigen Lösungen - z. B. im Bereich der Arbeitslosigkeit - so sicher ist wie Schäuble. Im Zweifelsfall kann er auf die Bürger völlig verzichten: "Eine verantwortliche Politik muß notwendige Entscheidungen auch gegen Widerstände in der öffentlichen Meinung zu treffen bereit sein." So nachzulesen im Grundsatzprogramm der CDU v. 23.02.1994 unter Nr. 109.

 

15.7.1994
DER SPIEGEL; abgedruckt: SPIEGEL 31/1994

Militärpolitik; Demokratie
SPIEGEL 29/1994: Deutsche Blauhelme in aller Welt?

Die Bundeswehr darf nun alles. Was aber präzise soll sie? Sollen es werbewirksame, aber halbherzige und leider wenig effektive humanitäre Missionen sein und/oder eher eigennützige Aufträge im wohlverstandenen Interesse der Eingreifenden wie in Kuwait? Wenn unsere Demokratie noch einen Schuß Pulver wert ist, hören wir das von den Parteistrategen noch vor der Wahl!

19.12.1994

Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 27.12.1994

Militärpolitik; Demokratie
Leitartikel v. Thomas Meyer im Stadt-Anzeiger v. 17./18.12.1994 ("Schwerer Gang nach Bosnien")

Angesichts einer breiten Zustimmung der Deutschen zur humanitären Hilfe in Bosnien halte ich die von Herrn Meyer angeführte "Ohne-uns-Herrlichkeit" nicht für unser eigentliches Problem. Lähmend wirkt etwas ganz anderes: die Regierung hat bisher einzelfallbezogene, teils überraschende Beschlüsse getroffen - vom Adria-Einsatz des Zerstörers Bayern über die Beteiligung in Somalia bis zur anstehenden Entsendung von Tornados nach Bosnien. Auch nach dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts setzt sie auf solche ad-hoc-Entscheidungen.

Dagegen haben die Bürger und besonders die Soldaten Interesse an Berechenbarkeit und an der Sicherheit vor unerklärten Motiven: die politisch gewollten und demokratisch mitgetragenen Einsatzziele und Einsatzformen der Bundeswehr müssen nun endlich klar und abschließend definiert werden. Bei diesen Zielen dürfte die Hilfe für Menschen in größter Not sehr wichtig sein. Aber ganz sicher nicht alles andere, was man mit Waffen auch noch anstellen kann.

 

15.03.1995

Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 17.3.1995

Militärpolitik; Demokratie
Roman Herzogs Appell zur Gestaltung der deutschen Außenpolitik (Stadt-Anzeiger v. 14.03.1995)

Besser, der Bundespräsident hätte bereits für den letzten Wahlkampf eine ernsthafte Debatte der Ziele und Werkzeuge unserer Außenpolitik angemahnt - und eine nüchterne Bilanz der neuen Rolle der Bundeswehr. Noch besser, er würde sich nun energisch für eine gesetzliche Regelung der Fälle militärischen Eingreifens einsetzen. Wir Bürger sollten vorher wissen, ob wir Verantwortung für Menschenleben oder für Aktienkurse übernehmen sollen.

 

29.11.1995

Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 5.12.1995

Militärpolitik; Demokratie
Kabinettbeschluß zur Beteiligung an der Friedenstruppe in Bosnien; Stadt-Anzeiger v. 29.11.1995

Die Bundesregierung hat mit ihrer out of area –Politik ein ungeschriebenes Grundrecht gekippt. Dieses hatte einmal zum Inhalt: der Staat darf seine Bürger nicht als Werkzeug in den Konflikten dritter Staaten einsetzen - in Konflikten, deren innere Ursachen und Interessenlagen Bürger praktisch nicht überprüfen können. Für die Mehrheit der deutschen Juristen war dies bis zum Jahre 1994 unzweifelhaftes Verfassungsrecht.

Ein weiterer Verfassungssatz ist zum Glück noch anerkannt: für die Bürger einschneidende Maßnahmen dürfen nur auf der Grundlage eines allgemein gültigen Gesetzes angeordnet werden, das Art und Umfang des Eingriffs präzise regelt. Konkret: Es muß verbindlich feststehen, ob wir Menschen wie in Bosnien schützen wollen und/oder Ölrechte wie in Kuwait. Einzelfallentscheidungen sind beguem für eine nach außen gefällige Politik, aber das genaue Gegenteil von Bürgerschutz. Bürger sollten ihre Haut so teuer wie möglich zu Markte tragen: fordern wir von unseren Politikern sehr nachdrücklich eine Regelung zu ,,out of area"!

 

25.02.1996

Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 1.3.1996

Militärpolitik; Demokratie
Diskussion über die Wehrpflicht (Wiedemann in KStAnz. v. 24.02.1996, S.2. "Brauchen wir die Wehrpflicht")

Vehementer Protest, Herr Wiedemann: Die Berufsarmee ist nicht wünschenswert und sie ist auch nicht unausweichlich.

An deutschen Stammtischen und in deutschen Partei-Biotopen wuchern die out-of-area-Feldherren. Sie würden jederzeit die Haut anderer zu Markte treiben - für Ordnung, Freiheit, Menschenrechte und/oder Rohstoffversorgung. Mit gleicher Entschiedenheit freilich würde die Mehrzahl davon ein persönliches militärisches Risiko verweigern. Eine Söldnerarmee käme gerade recht: sie würde ihnen den inneren Widerspruch ersparen.

Aber eine Demokratie braucht Rückkoppelung, braucht Betroffenheit und das Schmerzgefühl eines militärischen Eingriffs. Wir brauchen nicht weniger, wir brauchen mehr Wehrpflichtige, und wir brauchen Einsatzformen und Einsatzziele, die ein dauerhaftes Engagement aus allen gesellschaftlichen Gruppen möglich machen. Joschka Fischer, Lothar Rühe und Günther M. Wiedemannn könnten die ersten sein.

 

08.03.1996

DIE ZEIT

Militärpolitik; Demokratie
Theo Sommer in der ZEIT Nr. 10 v. 01.03.1996 (Zeit zum letzten Zapfenstreich?)

Die Entscheidung zwischen Wehrpflicht und Berufsheer hat sehr wohl mit Demokratie zu tun und auch mit Moral: Eine Demokratie muß nicht nur repräsentativ planen, sondern sie muß gerade in bedrohlichen Situationen auch repräsentativ handeln. Das altrömische Kopf-und-Glieder-Modell war uns in der Schule zu recht als arrogant erschienen.

Es kann auch hier kein Vorbild sein, etwa nach der Devise: wir brauchen mehr militärischen Biß - und werden schon genug junge Leute dafür finden. Dies würden am ehesten solche sein, denen unsere Gesellschaft keine andere vernünftige Arbeit, keine zivile Perspektive bieten kann oder will. Es wäre ein wenig wie Verleitung zur Prostitution.

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung

11.04.1996

Miltärpolitik; Demokratie
Ronald D. Asmus in der FAZ v. 11.04.1996 (S. 11: "Kein Kult der Zurückhaltung mehr")

Die aktuelle Studie zum Meinungsbild der deutschen Elite zur Außen- und Sicherheitspolitik ist sehr aufschlußreich. Eines der für die Politik wichtigsten Ergebnisse: der eklatante Unterschied in der Bewertung von Kampfeinsätzen der Bundeswehr außerhalb des Bündnisgebietes mit ca. 80% Zustimmung bei der gesellschaftlichen Elite gegenüber nur 20% bei der allgemeinen Bevölkerung.

Es liegt nahe, den Bruch mit dem intensiven top-down-Effekt bei der fundamentalen Änderung der deutschen Außenpolitik zu erklären. Eine breite Diskussion hat es nicht vor der Neuorientierung, sondern höchstens konsekutiv gegeben, in zwei zwischenzeitlichen Bundestagswahlkämpfen hatte das gewichtige Thema keinerlei Prominenz und trotz des Gesetzesvorbehalts unserer Verfassung existiert bis heute keine generelle Regelung der potentiell einschneidenden Tatbestände - nur verteidigungspolitische Richtlinien und ad-hoc-Entscheidungen des Parlaments.

Zumindest das legislative Defizit kann und muß unverzüglich behoben werden, um die Identifikation der Bevölkerung mit den neuen Aufgaben der Bundeswehr in demokratischem Prozeß zu verbessern.

02.09.1996

Kölner Stadt-Anzeiger

sexuelle Ausbeutung von Kindern;
Kommentar im Stadt-Anzeiger v. 31.08.1996, S.2

Die Debatte zur sexuellen Ausbeutung von Kindern hat zwei Mißklänge: Wieso meldet sich die Politik so spät, teils erst nach blutigen Verbrechen? Und muß das wichtige Aufgreifen eines breiten Problems unbedingt einhergehen mit detaillierten Berichten der Medien aus dem privaten Bereich der Opfer? Ein Erklärungsversuch: Es sind zentrale moderne Leitbilder, die die sexuelle Ausbeutung von Kindern fördern und medienwirksam machen: die marktmächtigen Konsum- und Verwöhnerwartungen einer Zeit, die ihre Umwelt, Dinge und auch Menschen rücksichtslos verkauft und verbraucht. Kinder sind seit alters her - und hier wie andernorts - eher Ding als Mensch. Für eine zunehmend auf Genußsucht getrimmte Gesellschaft sind sie willkommenes Opfer einer verbrauchenden, entwürdigenden Sexualität.

08.09.1996

Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 13.9.1996

Rauchen

Zu dem Leitartikel im Stadt-Anzeiger v. 7./8.9.1996 über die Verteufelung von Rauchern:
Freier Rauch für freie Bürger? Na gut - soziale Repression gegenüber gesellschaftlich mitverursachter Abhängigkeit macht in der Tat wenig Sinn. Nulltolerant bin ich aber hinsichtlich des Einstiegs: ich sehe keinen Sinn darin, die Lungen meiner Kinder dem Wohlleben - und den PR-Fonds - irgendeines Tabakbarons zu weihen (der das Sucht- und Schädigungspotential nach dem besten Stand der Wissenschaft kennt und seine eigene Nachkommen als verantwortlicher Vater vom Rauchen abhalten wird). Der weltbekannte Reklame-Cowboy sah es am Ende genauso.

02.11.1997

Frankfurter Allgemeine; abgedruckt: 7.11.1997

Ausländerpolitik; Doppelte Staatsangehörigkeit;
Leitartikel der FAZ v. 30.10.1997 ("Einbürgerungs-Offensive" von Eckardt Fuhr)

Ich danke für den zukunftsweisenden Artikel. Unser Staat bejaht und fördert Welt-Offenheit, Mobilität und Internationalisierung. Da mutet es inkonsequent an, bei der Nationalität ohne Beachtung von tatsächlichen Überschneidungen nach Mein und Dein zu sortieren und die maximale Loyalität der Landsleute zu beschwören.

Wozu konkret wird unbedingte Loyalität gebraucht? Kriegerische Konflikte mit unseren Zuwanderungs- oder Abwanderungsländern stehen nicht zu erwarten. Und für die Frage der Rechtsanwendung - z.B. welches Recht gilt in gemischt-nationalen Familien? - ist das Konzept der eineindeutigen nationalen Zuordnung überflüssig, manchmal sogar verfälschend: Hier leistet das in vielen Nachbarstaaten lange praktizierte und im Kindschaftsrecht kraft Konvention ohnehin weithin geltende Recht der effektiven Nationalität bzw. des Lebensmittelpunkts die eindeutig lebensnäheren Dienste.

Man kann getrost beginnen, den ausländischen Bürgern eine einladende Brücke in unsere Gemeinschaft zu bauen. Nicht alle werden dadurch integriert - aber deutlich weniger in eine abwartende, manchmal stolze, manchmal feindliche Reserve abgeleitet.

 

12.11.1997

Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt:11.11.1997

Ausländerpolitik; Doppelte Staatsangehörigkeit;
Bericht im Stadtanzeiger v. 1./2.11 zu neuen Vorschlägen der CDU

Unser Staat bejaht und fördert Weltoffenheit, Mobilität und Internationalisierung. Da mutet die Position der CDU-Mehrheit inkonsequent an, bei der Nationalität ohne Beachtung von tatsächlichen Überschneidungen nach Mein und Dein zu sortieren und die maximale Loyalität der Landsleute zu beschwören.

Wozu konkret wird unbedingte Loyalität gebraucht? Kriegerische Konflikte mit unseren Zuwanderungs- oder Abwanderungsländern stehen nicht zu erwarten. Und für die Frage der Rechtsanwendung - z.B. welches Recht gilt in gemischt-nationalen Familien? - ist das Konzept der eineindeutigen nationalen Zuordnung überflüssig, manchmal sogar verfälschend: Hier leistet das in vielen Nachbarstaaten lange praktizierte und im Kindschaftsrecht kraft Konvention ohnehin weithin geltende Recht der effektiven Nationalität bzw. des Lebensmittelpunkts die eindeutig lebensnäheren Dienste.

Schließlich: die Bürger schulden weniger einem abstrakten Staatswesen Loyalität als ihren lebendigen Mitbürgern - und der Staat schuldet sie den Bürgern, die ihn am Leben erhalten. Wir können und müssen es wagen, einladend auf unsere ausländischen Mitbürger zuzugehen.

 

29.12.1997

Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 2.1.1998

Utopien/Visionen

Kölner Stadt-Anzeiger v. 20./21.12.1997 ("Das Leben ohne Utopie?")

Ihrem Leitartikel v. 20./21.12.1997 widerspreche ich nachdrücklich: Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus scheint es leicht, Utopien jeder Art und Güte zu verdammen und die Geschichtsbücher zu schließen. Aber es ist falsch. Wir leben nicht in einem endgültigen Zustand, von dem aus jeder Schritt in den Abgrund führt. Und es ist auch alles andere als sicher, daß der gegenwärtige Zustand ein dauerhaft menschenwürdiges Leben gewährleistet.

Ich halte es für fragwürdig, die Ideen und Ziele sozialer Utopien ungeprüft fallen zu lassen wegen Inhumanität, die in ihrem Namen und zu ihrer Verbreitung begangen wurde. Schauen wir auf die Geschichte der Bekenntnisreligionen. Die Kreuzritter mögen unmoralisch und egoistisch gehandelt haben - aber das macht doch nicht logisch zwingend den positiven Wert christlich-sozialer Gebote zunichte!

Auch unsere staatliche Verfassung enthält einen unverzichtbaren Teil Utopie: ewig annäherungsbedürftige Leitbilder sind etwa das zentrale Gleichheitsgebot und sogar das Demokratiegebot selbst. Der Vollständigkeit halber: auch das Leitbild der Marktwirtschaft gehört ehrlicherweise in die sonst als anrüchig empfundene Umgebung der Ideologien und Utopien.

Kurzum, wir brauchen Ziele, Träume und Utopien. Und nicht nur Visionen, die bevorzugt technologisch geprägt sind. Sonst versteinern Geschichte und Gesellschaft.

 

7.1.1998

Kölner Stadt-Anzeiger

Ausländerpolitik; Nicht-Christen in der CDU/CSU?
Berichterstattung über die Dreikönigspredigt von Kardinal Meisner im KStAnz. v. 7.1.1998

Eine Anmerkung zur Dreikönigspredigt von Kardinal Meisner, soweit diese im Kölner Stadtanzeiger dargestellt ist:

Die heiligen drei Könige wären offenbar keine Christen nach Kardinal Meisners stark institutionell geprägtem Geschmack. Und doch waren sie christlicher als die meisten heutigen Register-Christen. Ich hätte keine Probleme, sie in einer christlichen Partei zu sehen, wie auch viele andere Menschen, mit denen ich Werte und Ziele teile, zB Muslime und Juden. Auf die Verwaltung dieser Werte hat die Kirche kein Patent. Sonst wäre sie festgefügter und versteinerter als ein Dom - und selbst der ist ständig im Bau.

 

15.05.1998

Kölner Stadt-Anzeiger

Umwelt; Wahlkampf;
Stadt-Anzeiger v. 15.05.1998 zur geänderten Wahlplattform der Bündnis-Grünen

Schade, daß sich die Bündnis-Grünen die 5 DM haben austreiben lassen! Das war ein Kontrapunkt, der im Wahlkampf Diskussion und sogar Bewegung gebracht hat. Sowas ist mir tausendmal lieber als thematisch sachtes Klopfen auf den Geigenboden, lieber als allseits eingeebnete und glattgerührte Politik. Und vor allem lieber als ein Generalvertreter, der zu Wahlzeiten - vielleicht auch sonst - am liebsten Frei-Benzin ausschenken würde.

 

26.5.1998

FOCUS

VIAGRA in FOCUS 21/1998

Wir sollten VIAGRA als Gelegenheit für einen politischen Generationswechsel begreifen: wenn sich die erfahrenen Polit-Heroen auf ihre wahre Kraft besinnen, haben Jüngere eine Chance – zumindest zeitweise.

 

18.9.1998

Frankfurter Allgemeine; abgedruckt: 23.9.1998

Wahlkampf; Äußerung v. Fr. BM Nolte zur Mehrwertsteuererhöhung

Das eigentlich Bemerkenswerte ist nicht die Äußerung der jungen Ministerin zu Steuerplänen der Regierung; Offenheit wünscht man sich immer und von allen Seiten. Bemerkenswert ist vielmehr das reflexartig einsetzende Johlen, Bellen, Krächzen und Pfeifen des gesamten politischen Spektrums. Wie seinerzeit bei der 5-Liter-Episode der GRÜNEN führt es zur ruckartigen Rücknahme einer vielleicht nachdenkenswerten, aber vermittlungsbedürftigen Position und zur parteiübergreifenden Konditionierung: der Wahlbürger verträgt und verdient nur leichteste Kost, am besten keine mit Inhalt.

Neu ist das nicht. Entscheidende politische Weichenstellungen des letzten Jahrzehnts - der ökonomische Rahmen der Wiedervereinigung, der Verzicht auf eine Verfassungsreform, die grundlegende Erweiterung des Bundeswehrauftrages und die Asylrechtskorrektur - haben nie auf einer Wahlkampfagenda der bedeutenden Parteien oder zur anderweitigen Abstimmung mit den Bürgern gestanden.

Das erodiert das Fundament der Demokratie. Unsere Staatsform wird immer weniger als Werkzeug der inhaltlichen Beteiligung an der Macht und immer mehr als gefällige Erklärung der Herrschaft verstanden.

 

28.9.1998

Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 2.10.1998

Wahlergebnis;
Koalitionsaussagen der Union

CDU/CSU und FDP erteilen dem künftigen Kanzler unmittelbar nach der Wahl eine eindeutige Abfuhr. Dies nimmt Schröder eine glaubhafte Koalitionsalternative und stärkt im gleichen Zuge die Einflußnahme Fischers auf das Regierungsprogramm. Eine Deutung liegt nahe: der bisherigen Koalition käme ein nach ihrer Bewertung unrealistisches und zum Scheitern verurteiltes Programm nicht ungelegen - je schlimmer, desto besser. Menschlich mag das verständlich sein. Aber die brüske Abgrenzung verlängert den Lagerwahlkampf und die hochstilisierte politische Polarisierung in die Zukunft. Sie ist ein schlechtes Beispiel der Verantwortung für Deutschland.

 

14.10.1998

DIE ZEIT

Verfassungsreform;
Leitartikel von Jan Roß aus der Zeit v. 8. Oktober 1998 (Nr.42; "Stunde der Politik")

Ein gutes Projekt: die Wiederbelebung der Politik. Und es ist nur konsequent für eine Regierung, die in die Verantwortung gewählt worden ist. Aber das Projekt gehört nach unten ausgebaut durch eine beherzte Diskussion über die Reform der Demokratie. Sonst kann es kaum breite Begeisterung und nachhaltige Legitimation erzeugen.

Die 49er Verfassung hat unseren Staat bewußt stabil und weitgehend "civibus absolutus", von den Bürgern losgelöst angelegt – im Interesse einer unumkehrbaren Westbindung und gegen einen damals unkalkulierbaren Nationalismus. Die staatstragenden Parteien haben sich darin eingerichtet und haben das Merkmal der "Repräsentativität" zu einem unantastbaren Qualitätskriterium erhoben, das einen wechselseitigen inhaltlichen Austausch mit den Bürgern nicht braucht.

Unerheblich, ob die anfänglichen Bedenken gegen direktere Demokratieformen je berechtigt waren; inzwischen – und insbesondere mit dieser selbstbewußten Wahl – haben die Bürger in Ost und West ihre politische Reifeprüfung abgelegt. Es ist nun Zeit für einen vitalen öffentlichen Diskurs über Möglichkeiten und Formen einer stärker inhaltlichen und strukturellen Einbindung der Bürger, z.B. qua Volksbegehren und eine Direktwahl des Staatsoberhauptes. Und die Parteien? Die Parteien sollten in einer neuen Bürger- und Partnerorientierung konkurrieren und wachsen! Politik und Demokratie bedingen einander.

29.12.1998

Kölner Stadt-Anzeiger

Verfassungsreform;
zur Entwicklung der Demokratie; in Anlehnung an Kommentar von Martin E. Süskind im KStA v. 24.12.1998 ("Menschenwerk in der Politik"):

In der Tat: Demokratie funktioniert nicht ohne genügend begeisterte Demokraten. Nun, da die ersten hundert Tage der Festfreude und der Eingewöhnung fast verstrichen sind, sollte die neue Regierung den begeisternden Gedanken an die Reform unserer Demokratie wagen.

Das 49er Grundgesetz wollte nicht mehr als ein Provisorium sein. Es hatte den Staat bewußt stabil und weitgehend "civibus absolutus", von den Bürgern losgelöst angelegt – im Interesse einer verläßlichen Westbindung und gegen einen damals befürchteten noch andauernden Nationalismus. Die Parteien haben sich in diesem Provisorium gut eingerichtet; sie haben das zeitbedingte Merkmal der repräsentativen Demokratie zu einem Qualitätskriterium erhoben, das den kontinuierlichen Austausch mit den Bürgern gerade nicht braucht.

Ich denke, die Bürger in Ost und West haben längst ihre politische Reifeprüfung abgelegt. Es ist Zeit für eine lebhafte Diskussion über die Möglichkeiten und Formen einer direkteren Demokratie, über die Einbindung der Bürger, z.B. durch Volksbegehren zur Bundesgesetzgebung oder die unmittelbare Wahl des Staatsoberhauptes. Und die Parteien? Die Parteien sollten in einer neuen Bürger- und Partnerorientierung konkurrieren und wachsen. Die Begeisterung ist sicher und das Gefühl der Ohnmacht schwindet!

29.01.1999

Kölner Stadt-Anzeiger

Ausländerpolitik; Verfassungsreform;
Unterschriftenaktion der Union zum Staatsangehörigkeitsrecht und Kandidatur von Fr. Prof. Dr. Schipanski für das Amt des Staatsoberhaupts (u.a. KStA v. 25. U. 26.01.1999: "Lob und ganz neue Bonner Töne"; "Rüttgers lehnt Schilys Vorschlag ab")

Zwei Themen, die auch den verbesserungsbedürftigen Wirkungsgrad unserer Demokratie betreffen: die Staatsangehörigkeitsdebatte und die anstehende Präsidentenwahl.

Bei der ersten Frage setzt die Union auf eine Unterschriftenkampagne, damit auf eine Aktion mit eingebaut einseitigem Ergebnis. Dies zielt nicht auf ein differenziertes Meinungsbild. Gegen das nach 50 Jahren Grundgesetz naheliegendes Reformziel – Volksentscheid und damit stärkere bürgerliche Mitbestimmung der Inhalte – setzt Rüttgers schlechte Erfahrungen. Seine persönlichen Erfahrungen können es kaum sein.

Für die Präsidentschaft hat die Union eine attraktive Kandidatin benannt. Mit Eigenschaften, die ihr Konkurrent – vor allem in der Kürze der Zeit – nicht erwerben kann: parteilos, ost-erfahren, wissenschaftlich und weiblich. Ich würde sie sehr gerne wählen können. Aber die direkte Wahl des Staatsoberhaupts, die sich Frankreich schon lange gönnt, steht weder auf der Aktionsliste der politisch-väterlichen CDU noch auf der der SPD.

 

30.07.1999

Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt 17.8.1999

Demokratie; Diäten (zu KStA v. 29.7.1999, S. 6)

Sie berichteten, daß der Unternehmensberater Roland Berger meint: "Kein Volk der Welt kann es sich leisten, nicht von den Besten im Lande regiert zu werden - und die müssen angemessen verdienen."

Ich dachte bis heute, daß wir unsere Herrschaft wählen. Und da erscheint mir eine Herrschaft der Gewöhnlichen doch deutlich sicherer als eine Herrschaft der Exquisiten, sonst auch schon mal als Aristokratie bezeichnet. Abgesehen davon, daß wer am meisten bekommt, nicht notwendig das meiste verdient. Aber ich gebe zu: der shareholder-value-Gedanke kann bei der Bilanzsumme der Deutschland-AG einen headhunter wie Roland Berger durchaus schwindelig machen.

 

21.09.2000
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 27.9.2000
Förderung direkterer Demokratie (Günter Bannas: "Fast alles oder nichts", F.A.Z. v. 19.9.2000)

"Alles oder nichts" mag spannend sein für Quizsendungen. Für die politische Evolution der Bürgerbeteiligung taugt es nicht. Auch die Emanzipation eines Kindes geschieht – wenn sie denn gelingen soll – nicht durch abrupte Konfrontation mit nie erlebter Verantwortung, sondern in einzelnen befähigenden Schritten.

Es gibt viele und alte Befürchtungen. Gerade in Deutschland wirkt die Angst vor einer Pöbelherrschaft wie eine historische Klammer. Sie reicht herüber aus der Kaiserzeit in eine wieder offen Demokratie-kritische Haltung spätestens seit Ende der Zwanziger Jahre. Der Argwohn gegen die Bürgermenge setzte sich fort in einer elitär-autoritären Tendenz selbst des deutschen Widerstandes und mündete in eine betont stabile, technokratische und bürgerferne Form, unsere repräsentative Demokratie. Die totalitäre Phase mit ihrer Verachtung aller bürgerlichen Rechte hat sogar langfristig die Kluft zwischen Bürgern und Staat verfestigt – und gleichzeitig die Bürger traumatisch entpolitisiert.

Mancher mag sich klammheimlich darüber freuen, wenn heute Grüne die Außenpolitik vor Volkes Mitwirkung bewahren wollen oder Rote die staatlichen Finanzen. Aber sind es wirklich die großen Fragen, die sich für Diskussion und Willensbildung der Bürger am wenigsten eignen? Verheugens Verbindung von politischer Mitwirkung, Kompetenzgewinn und Mitverantwortung der Bürger für die Gestaltung Europas ist völlig schlüssig. Dissonant erscheint dies höchstens vor dem Hintergrund, dass die bisherigen Fundamentalfragen Europas immer ohne Bürgerbeteiligung entschieden worden sind. Und die Steuern? Vielen ist entfallen, dass die herrschaftliche Steuerbitte an die Stände, die vom 13. bis 17. Jahrhundert gebräuchliche "Bede", eine mitteleuropäische Wurzel der Demokratie ist. Oder dass in unserer hochkomplexen Zeit die Schweizer mit ihrer direkten Demokratie auch zu Steuerfragen für eine Arbeitslosigkeit unter 4 % gestimmt haben!

Ich möchte für die Emanzipation der Bürger werben und für eine wirkliche politische Willens- und Verantwortungsbildung. Traut euch!

 

22.11.2000
DIE ZEIT
Diskussion über die "Leitkultur" (DIE ZEIT Nr. 47 v. 16.11.2000: Josef Joffe "Lust auf Leit")

Vielleicht ist es das wirklich eine mögliche Form der Leitkultur: Zu bestimmen, was gerade nicht dazugehört ("Fremde jagen; Synagogen anzünden, Obdachlose töten"). Dann möchte ich gerne den entscheidenden Schritt weiter gehen: Leitkultur kann auch sein, keine Leitkultur heraus zu hängen.

Kultur ist immer auch Code und Symbolik mit dem Zweck – oder zumindest mit der Wirkung – drinnen und draußen abzugrenzen. Gerade das wichtigste Element friedlichen Zusammenlebens kann von lauter Kultur leicht zugeschüttet werden. Es ist die Erfahrung gemeinsamen Menschseins jenseits ethnischer, kultureller und ökonomischer Färbung, das Erlebnis der Identifikation mit vorher Fremdem.

 

11.12.2000
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 15.12.2000
Präsidentenwahl in den USA

Die Bewertung der US-Präsidentenwahl sollten wir eigentlich den Amerikanern überlassen. Eigentlich. Aber das immer wieder ruckweise weiterlaufende Wahlkarussell hat viel mit dem Verständnis von Demokratie in unserer amerikanischen Leitkultur zu tun – und dann auch mit deutscher "Leitkultur".

Am verblüffendsten erscheint mir: Der Streit tobt im Wesentlichen zwischen zwei Privatmännern. Bush und Gore kämpfen für ihre höchst eigenen Ambitionen – und bedienen sich dabei mancher loyaler Hilfen aus Regierung
oder Justiz. Der Wähler selbst scheint kein sehr effizientes Forum zu haben, um zu klären, wie es seiner zentralen demokratischen Stimme ergangen ist. Vielleicht sagt man dem Souverän am Ende sogar, der Kampf der Titanen habe die von der Verfassung verordnete Zeit der Einsprüche verbraucht; nun müssten endlich wieder Ruhe und Ordnung herrschen.

Man sollte zwei Rechtssätze in Erinnerung rufen: Zweideutigkeit geht zu Lasten des Gestalters. Und: Schäden sollte immer derjenige tragen, der am effizientesten Schadensverhinderung betreiben kann. Will sagen: Wenn der Staat offensichtlich fehlleitende Wahlprozeduren verursacht hat, muss im Verhältnis Wähler/Staat eben der Staat die erforderlichen Verfahren zur Überprüfung und Korrektur gewährleisten. Ein Vertrösten auf rechtliche Nachbesserungen – vielleicht – vor der nächstfolgenden Wahl reicht nicht. Gerichte sind auch nicht damit überfordert, in den nun erkannten Problemgruppen verfassungsgemäße Kriterien für die Stimmbewertung festzulegen. Diese Kriterien wären selbst im Normalfall geboten, wenn die Differenz der offiziell gezählten Stimmen größer wäre als die potenzielle Irrtums-Marge.

 

11.12.2000
TIME
US presidential election (TIME no. 24 of December 11, 2000, p. 38 ff "May it please the court")

In principle the evaluation of the US presidential election should be left to the Americans. But that voting and judicial roundabout has much to do with the understanding of democracy in America. And America simply is – and acts as – Europe‘s guiding culture.

Really astonishing appears to me: The controversy essentially raves between two private men. Bush and Gore fight for own ambitions - and ask and get some loyal assistance from government or courts. The voter on the other side does not seem to have a very efficient forum, in order to clarify the fate of his personal democratic voice. It might even happen to him finally being told, that over the struggle of the great chiefs the time the constitution designated for examination and investigation – so sorry – has expired and peace and order have to prevail.

We should remember two quite simple rules of law, an older and a newer one: Ambiguitas (venit) contra stipulatorem. And: Any damage should best be allocated with him, who can prevent or even minimize it in the most efficient way. What I would like to express: If the state caused obviously falseleading election procedures and forms, then in the relation between voter and state it is the state that must ensure sufficient procedures for examination and correction. It seems not very fair to put the voters off on some legal projects in some unnown future. And the courts are perfectly fit to determine criteria for the correct evaluation of votes in accordance with state and federal law. These criteria would even be required under normal conditions, if the margin of error was not that near to the margin of victory as these days.

 

14.03.2001
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt: 20.3.2001
Beteiligung der Bürger an unserer Demokratie (Stadt-Anzeiger v. 13.4.2001; Markus Decker: "Beteiligung schafft Nähe")

Entkernt, müde, fern – so sehen viele Bürger ihre real existierende Demokratie. Gerade der Nachwuchs wendet sich ab. Eine Reform täte gut: Bürger könnten selbst über Gesetze abstimmen, endlich die eigene Verfassung annehmen, vielleicht das Staatsoberhaupt wählen. Der Gewinn läge in einer belebenden Konkurrenz zur etablierten, "repräsentativen" Polit-Szene und insbesondere in einer hautnahen politischen Bildung der Bürger, in einer Art "demokratischen Trainings on the job". Und mehr Flops gäbe es wohl auch nicht als bei der angestammten verbandsnahen Politik.

Aber das alles reicht noch nicht. Oder es wäre nur ein Feigenblatt. Denn das Normal-Verfahren für Gesetze, für Steuern, für staatliche Investitionen und für die Verwaltung bleibt auf unabsehbare Zeit der bisherige Weg: über das Parlament und damit über die politischen Parteien. Auch und gerade hier brauchen wir daher eine einladende Öffnung und Beteiligung. Die Parteien müssen die ganz normalen Bürger als politische Impulsgeber, als Ressource begreifen und intensiv und mit offenen Armen schon in ihre Ideenfindung und Programmbildung einbeziehen. Sonst geht die Zeit ganz an ihnen vorbei.