Dr. jur.
Karl Ulrich Voss, Burscheid:
> 150 seit 1992 veröffentlichte Leserbriefe
zur Außen- und Sicherheitspolitik und zu ihrer gesellschaftlichen Debatte
Stand: August 2024,
Reihenfolge nach jeweiligem Datum der Veröffentlichung
(197) 21.10.2024
Dolomiten / Zeitung der Südtiroler, abgedruckt am 23.10.2024
Nahost-Konflikt u. Blauhelme im Libanon; Stephan Kaußens Kommentar "Krieg,
Waffen, Frieden?" in den Dolomiten v. 18.10.2024 auf S. 3
Meine volle Zustimmung: Wenn die Blauhelme im Libanon
weiter Flagge zeigen würden, dann wäre das Eskalationsrisiko geringer und die
UNO-Idee würde gestärkt. Leider aber sehen gerade die Reichen und Mächtigen
dieser Welt überstaatliche Institutionen wie UNO oder auch OSZE eher im
Sinkflug, wenn nicht Absturz – während bei ihnen die Interessen-geleiteten
Körperschaften wie die NATO und die ihnen nahestehenden Konglomerate der
"Wehrwirtschaft" immer höher im Kurs stehen.
Recht hellsichtig hatte der scheidende Präsident Eisenhower
in seiner farewell address eine solche machtvolle Netzbildung als
größtes Risiko für Demokratie und Weltfrieden beschrieben.
P.S.
Ich verstehe nicht viel von der Geschichte Italiens. Aber mir scheint immer,
dass die besondere Historie und der heutige große Erfolg der Kohabitation
unterschiedlicher Ethnien zwischen Brenner und Salurner Klause – einem Ettore Tolomei zum Trotz – ein
hervorragendes Modell für die Lösung einiger "moderner" Konflikte
sein müsste. Eisenhowers oben zitierte farewell address mit der Warnung
vor einem übermächtigen militärisch-industriellen Komplex ist u.a. hier m.w.N.
gut dokumentiert: https://en.m.wikipedia.org/wiki/Eisenhower%27s_farewell_address .
(196) 18.8.2024
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 24.8.2024
Russland/Ukraine u. Vorfall in Köln-Wahn; Berichte und einem Gastkommentar in
den Ausgaben v. 15. u. 16.8.2024 (15.8.2024: Meldung „Sabotageverdacht in
Kölner Kaserne – Offenbar Angriff auf Trinkwasser des Fliegerhorsts Wahn –
Beteiligung Russlands vermutet“; 16.8.2024: Meldung „Verdacht auf Sabotage
nicht erhärtet“; Gastkommentar v. Winfried Böttcher „Irrglaube an die Logik der
Abschreckung“)
Der Gastkommentar von Winfried Böttcher „Irrglaube an die
Logik der Abschreckung“ in der Ausgabe v. 16.8.2024 ist ein wenig verstörend:
Der Mainstream der öffentlichen Meinung besagt nach meinem Eindruck, nur unsere
verstärkte Drohung mit Gewaltanwendung könne den aktuellen
russisch-ukrainischen Konflikt lösen. Punkt. Aber Böttcher legt sehr
nachvollziehbar dar, dass verstärkte Abschreckung hier keineswegs Sicherheit
garantieren müsse – und dass gerade eine Demokratie Wert auf den vorherigen
Diskurs über Aufrüstung und etwaige Alternativen legen muss.
Ich möchte ihm Recht geben; wir haben uns wohl
festgefahren. Die zunächst ungeklärte Begebenheit am Wahner Flughafen vor
wenigen Tagen zeigte eine sehr gefährliche Nervosität. Wie in einem bedingten
Reflex diente sie praktisch ungefiltert als Beleg für eine neue Stufe hybrider
russischer Kriegführung - und dann zum prompten Aufsatteln bei Unverständnis
und Misstrauen. Verkürzt könnte es heißen: „Der Mörder ist heute im Zweifel der
Russe.“
M.E. ist längst überfällig, die bisherige Strategie
nüchtern zu debattieren und neue Pfade zu erkunden, ohne eine Eskalation von
Drohungen und Risiken. Wenn ein beiläufiges Wort des Kanzlers ausreichen
sollte, ggf. schicksalhafte Rüstungsentscheidungen dieser Tragweite zu
triggern, dann verraten wir die Geschäftsgrundlage unserer Demokratie und damit
unsere Werte.
P.S.:
Meine ausdrückliche Anerkennung, dass der Stadt-Anzeiger auch Positionen wie
die von Herrn Böttcher zu Wort kommen lässt – wie schon in seinem sehr
nachdenklich stimmenden Kommentar „Die Denkblockade durchbrechen“ in der
Ausgabe v. 23.2.2023. Damit fördern Sie dankenswert den Diskurs und eine
demokratische politische Willensbildung.
(195) 19.7.2024
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 23.7.2024
Nachrüstung der NATO; Gastbeitrag „Abschreckung sichert Frieden“ von Prof. Dr.
Dr. Jochen Sautermeister in der Ausgabe v. 19.7.2024, S. 4
Selbstverständlich ist es eine vertretbare Position: Mehr
Stärke verspräche mehr Abschreckung, verspräche mehr Sicherheit. Aber Adressat
ist hier offenbar eher die Etappe bzw. die Heimatfront. Wir hier sollten
„Eskalation“, genauer eigentlich: Eskalations-Gefahr besser nicht in den Mund
nehmen. Zumal die just angekündigte Rüstung nur eine – erst durch vorherige
Aggression der Gegenseite entstandene – Lücke schlösse, mehr halt nicht.
Für das Stabilisieren einer zu plastisch gewordenen
Weltlage scheint mir aber der Versuch viel wichtiger zu sein, sich in das
Gegenüber zu versetzen: Das kollektive und sehr vitale Gedächtnis Russlands
umfasst mehrere groß angelegte Invasionen von Westen, mit jeweils Millionen
Opfern, ein ungebrochenes Heranwachsen des NATO-Territoriums deutlich unter die
Mittelstreckendistanz, ferner mehrere destabilisierende Expeditionen von
NATO-Staaten out of area in jüngerer Vergangenheit. Und es würde
etwa einen NATO-Hafen auf der Krim als Albtraum, aber als heute partout nicht
mehr unwahrscheinlich qualifizieren.
In dieser Situation sollten wir ergebnisoffen debattieren
und demokratisch entscheiden dürfen: Kann die angekündigte Aufstellung von
besonders zielgenauen und schwer abfangbaren Mittelstreckenwaffen die
wechselseitigen Besorgnisse eher dämpfen oder weiter aktualisieren? Ist die
NATO oder wären nicht vielmehr UN bzw. OSZE die am wenigsten parteiischen
Akteure?
(194) 9.6.2024
DAS PARLAMENT, abgedruckt 15.6.2024
EU-Wahl 2024; zu Thomas Gutschkers Beitrag „Neue Prioritäten“ in der Ausgabe
Nr. 24 v. 8.6.2024, S. 3
Rechtzeitig vor der EU-Wahl lag das aktuelle „Parlament“ im
Briefkasten. So weit, so gut. Nur Thomas Gutschkers Beitrag „Neue Prioritäten“
hätte mich dann fast noch vom Wahlgang abgehalten, insbesondere die
Titel-Unterzeile: „Verteidigung und Sicherheit rücken ins Zentrum, der Green
Deal soll nicht auf Kosten der Wettbewerbsfähigkeit gehen“. Nichts davon
entspricht für mich einem weltoffenen, nachhaltigen, zukunftsfähigen und vital
vernetzten Europa. Gewählt habe ich natürlich, im Vertrauen auf einen günstigeren
Verlauf.
Unbestritten stehen direkte Demokratie und insbesondere
eine intensive Bürgerbeteiligung in einem Zielkonflikt zu Struktur und Historie
der Union. Das erklärt auch arge Unsicherheiten der Wählerinnen und Wähler, wie
sie sich in verlässlich wachsender Nutzung eines Wahl-O-Mat offenbaren.
Vielleicht kann man die Ebene der Wähler*innen und den EU-Leitbildprozess
künftig besser verzahnen, wenn man in gehörigem Abstand vor der Wahl eine
repräsentative Befragung zum Entwurf der jeweils neuen Strategischen Agenda durchführt.
Und das Ergebnis ubiquitär veröffentlicht.
Quelle etwa:
https://www.consilium.europa.
(193) 26.2.2024
DAS PARLAMENT, abgedruckt 18.5.2024
TAURUS; zu Beiträgen in der Ausgabe v. 24.2.2024, S. 1 (Alexander Heinrich
„Eine Frage der Reichweite“ u. Christian Zentner „Suche nach Antworten“)
Die „Suche nach Antworten“ signalisiert viele offene,
zumindest nicht im Konsens zu beantwortende Fragen. Speziell die Causa Taurus
müsste vielen Zeitgenossen auf dem Magen liegen, da der Taurus seinem legitimen
Ahnherrn sehr gleicht – der designierten Wunderwaffe und Flügelbombe V1, die
anfangs Höllenhund heißen sollte.
Wie die Abgeordnete Gabriela Heinrich möchte ich von dem
Einsatz des Taurus keine Wunder erwarten, insbesondere keine signifikante
Verkürzung der Kriegshandlungen, keine Entspannung und keine Verminderung der
militärischen oder zivilen Opferzahlen in der Ukraine. Eher verspräche dies –
wie es Paul Watzlawick in seiner unsterblichen „Anleitung zum Unglücklichsein“
schlüssig beschrieb – rasch „mehr desselben Elends“. Der traurige zweite
Jahrestag der russischen Invasion sollte uns m.E. nicht zu einem „weiter und
härter“ bewegen, sondern zu einem klugen Pfadwechsel mit fühlbar mehr
OSZE-Einsatz. Ich denke, diese Erwartung wird von sehr vielen Menschen dieser
Welt geteilt.
P.S. / Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/
https://de.wikipedia.org/wiki/
Paul Watzlawick, Anleitung zum Unglücklichsein, Piper / München, 4. Auflage
2023, S. 27ff (29)
(192) 14.5.2024
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 18.5.2024, s. auch https://www.faz.net/aktuell/politik/briefe-an-die-herausgeber/briefe-an-die-herausgeber-vom-18-mai-2024-19726689.html
Wehrdienst; Berthold Kohlers Leitkommentar „Die Wiedergeburt der
Wehrpflicht" (Ausgabe v. 10.5.2024, S. 1)
Die Idee einer Wiedergeburt der Wehrpflicht ist sicher
einem neuen Gefühl der existenziellen Bedrohung aus dem Osten geschuldet – auch
das eine Renaissance. Aber das neue Denken ist hier ebenfalls Funktion großer
Hoffnungen, die nach 1989 mehr und mehr enttäuscht wurden: Zu Beginn der
Neunziger hat sich die Bundeswehr auftragsgemäß massiv gewandelt, zu einem
weltweiten und bereits präventiv antretenden Akteur. Man mag darüber rätseln,
ob wir in dieser Phase die Herausgeforderten waren oder vielleicht eher die
Herausforderer. Strucks revolutionäres, aber kaum so empfundenes Diktum von der
„Verteidigung auch am Hindukusch“ war jedenfalls von Anfang an kein gutes
Vorbild für die weltweite Anwendung des kategorischen Imperativs oder der
„golden rule“ auf unser Beispiel.
Die damals zu schützenden, räumlich und zeitlich stark erweiterten
Interessen standen von Anfang an im Gegensatz zur Wehrpflicht: Die Heimat gegen
einen gegenwärtigen militärischen Angriff zu verteidigen – das war die
anerkannte Berufung des „Bürgers in Uniform“. Nicht etwa die robuste Vorsorge
zur stetigen Versorgung mit Rohstoffen, der bewaffnete Schutz von fernen
Minderheiten oder Menschenrechten. Weswegen es in einer bestimmten Phase der
Republik leichter fiel und ganz schlüssig wurde, nicht auch noch mit
Wehrpflichtigen planen zu müssen. Wehrpflichtigen, die sich im entscheidenden
Moment absentieren könnten.
Insbesondere der Hindukusch hat die neuen Skizzen,
Prioritäten und Investitionen nicht gedankt, dann mehrfach nicht Somalia oder
Mali. Die frustrierenden Lerneinheiten haben gedanklich den Weg geebnet; die
erneut im Osten geortete Bedrohung hat es vollendet: Wehren und sich wehren
können ist das aktuelle Gebot. Kant offeriert in seinem unsterblichen „Ewigen
Frieden“ sogar noch eine griffige Begründung für die Wehrpflicht: Wenn er
nämlich ein wenig ironisch den „Kampf der Häuptlinge“ favorisiert, damit die Gewalt-hemmende
Wirkung unmittelbarer Rückkopplung zwischen Plan und Schmerz lobt. Und damit
auch das Volksheer gegenüber der Berufsarmee.
Allerdings hat Kant an gleicher Stelle – und ebenfalls
wegen des hemmenden Effekts – dringend dazu geraten, die Bürgerinnen und Bürger
in den Dingen von Krieg und Frieden zu beteiligen. Diejenigen nämlich, die die
kümmerlichen Lasten der Kriege zu tragen und zu ertragen hätten. Darum möchte
ich den Parteien ans Herz legen, ihre Vorstellungen von den Aufgaben der
Bundeswehr und ihrer besten Organisation nunmehr am demokratisch vorgesehenen
Platz auszutragen - bei den Wahlen. Nicht so schnell wie möglich. Denn auch das
beredte Schweigen unserer Außen- und Sicherheitspolitiker haben wir wiederholt
ertragen, ohne befriedigendes Ergebnis.
Quellen etwa:
Die zitierten Kant-Stellen beziehen sich auf die
Erstauflage des „Ewigen Friedens“, Königsberg 1795, dort auf S. 9 u. Fußnote
daselbst („“So antwortete ein bulgarischer Fürst…“) und auf S. 23f („Wenn
[wie es in dieser Verfassung nicht anders sein kann] die Beystimmung der
Staatsbürger dazu erfordert wird, …“). In der Reclam-Universal-Bibliothek
Nr. 1501 (2. Aufl. Königsberg 1796) wären es die Seiten 12f und 17; dort
inhaltlich gleichlautend; lediglich ist der Text der 2. Auflage ein wenig
anders angeordnet.
Eine hervorragend belegte Darstellung des Verhältnisses
erweiterter Aufgaben der Bundeswehr zur Wehrpflicht findet sich etwa in der
Abhandlung von Markus Winkler „Die Reichweite der allgemeinen Wehrpflicht“,
NVwZ 1993, S. 1151-1157
(191) 10.4.2024
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 23.4.2024
Ausländer-Kriminalität; afp-Meldung „Faeser will Abschiebungen beschleunigen“,
Kommentar „Problem erkannt, aber nicht gelöst“ von Eva Quadbeck und Steven
Geyers Bericht „Mehr Kriminalität durch Ausländer?“ (Ausgabe v. 10.4.2024, S.
1, 4 u. 6)
Der gute Teil der Nachricht: Kriminalität wird nüchtern als
gesellschaftliche Erkrankung begriffen, als Problemlage aus Unterprivilegierung
und gewaltsamer Teilhabe. Und nicht als quasi angeborener Makel von Fremden.
Der schlechte Teil: Die zugrundeliegende, zu einer
schwierigen Anpassung zwingende Migration geht zu einem wesentlichen Anteil auf
unser eigenes Konto, durch selbst verursachten Wanderungs-Sog und
Wanderungs-Druck. Sei es, dass wir zum ökonomischen Nutzen in großen Zahlen
„Gast“-Arbeit eingeworben haben und wieder einwerben. Sei es, dass wir in den
letzten dreißig Jahren durch - zu häufig frustrierte - militärische Einsätze
zur Destabilisierung ganzer Regionen beigetragen haben, im Nahen und Mittleren
Osten, aber gerade auch auf dem Balkan.
Die naheliegende leichte Übung ist, die nun Auffälligen zu
verjagen. Das anspruchsvollere und seit Jahrzehnten ungelöste Problem ist die
brüderliche, aber aufmerksame Aufnahme einer komplexen und teilweise brisanten
Mischung.
(190) 29.1.2024
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 5.2.2024
Proteste gegen die AfD; Jasper von Altenbockums Kommentar „Unbehagen in einer
neuen Zeit “ (Ausgabe v. 19. 1.2024, S. 1)
Die neue „Bewegung“, wie sie sich just sogar weit entfernt
von Magistralen und Kapitalen formiert, birgt m.E. auch neue Chancen für die
politischen Helden und Kärrner. Wohl zum ersten Mal seit Geburt der Republik
stützen flächendeckende, bunte Demonstrationen unser gesellschaftliches,
wirtschaftliches und politisches Geschäftsmodell. Ob das Modell dieser Hilfe
objektiv bedurft hätte, das mag man gerne bezweifeln. Diese neue „Bewegung“ mag
aber heute die Furcht unserer Verfassungsgeber vor einer Ochlokratie relativieren,
vor der Herrschaft des Pöbels. Und sie widerlegt gleichzeitig den giftigsten
Universal-Quantor der AfD: Dass nämlich alle bisherigen Regierungen zu jeder
Zeit civibus absolutus bzw. weit vom Volk abgehoben geplant und verfügt
hätten.
Vielleicht gelangt die eher traditionelle politische
Schicht sogar zu der Einschätzung, dass das Volk derzeit ein Zeugnis der Reife
ablegt und sich für mehr kontinuierliche Mitwirkung qualifiziert, etwa nach
Muster des gerade im Bundestag erprobten Bürgergutachtens. Die Erfahrungen
schon weiter gereifter Demokratien wie der Schweiz oder der USA würden dem
nicht widersprechen.
P.S.
Warum ich diesen Leserbrief – auch – bei der Außen- und Sicherheitspolitik
einreihe? Das liegt an Immanuel Kants „Zum
Ewigen Frieden“, wo er im ersten Definitivartikel sehr
nachvollziehbar ausführt:
„Wenn (wie
es in dieser Verfassung nicht anders sein kann) die
Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, »ob Krieg
sein solle, oder nicht«, so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle
Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten (als da sind: selbst
zu fechten; die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Habe herzugeben; die
Verwüstung, die er hinter sich läßt, kümmerlich zu verbessern; zum Übermaße des
Übels endlich noch eine, den Frieden selbst verbitternde, nie (wegen naher
immer neuer Kriege) zu tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen), sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel
anzufangen: Da hingegen in einer Verfassung, wo der Untertan nicht
Staatsbürger, die also nicht republikanisch ist, es die unbedenklichste Sache
von der Welt ist, weil das Oberhaupt nicht Staatsgenosse, sondern
Staatseigentümer ist, an seinen Tafeln, Jagden, Lustschlössern, Hoffesten u. d.
gl. durch den Krieg nicht das mindeste einbüßt, diesen also wie eine Art von
Lustpartie aus unbedeutenden Ursachen beschließen, und der Anständigkeit wegen
dem dazu allezeit fertigen diplomatischen Korps die Rechtfertigung desselben
gleichgültig überlassen kann.“
Dem ist auch nach mehr als 200 Jahren nichts hinzuzufügen.
(189) 19.1.2023
DIE ZEIT, veröffentlicht am 25.1.2024 im Internet-angebot der ZEIT: https://blog.zeit.de/leserbriefe/2024/01/25/18-januar-2024-ausgabe-4/
Ukraine; Leitartikel „Tja“ von Anna Sauerbrey in der Ausgabe No. 4 v.
18.1.2024, S. 1
Die These ist sehr alt, wird in jüngster Zeit allerdings
stark vervielfältigt: Früheres, entschlosseneres und massiveres Eingreifen und
eine progressive Bewaffnung würde schlimmeres Leid verhüten. Ebenso wie der
heute so beliebte Terminus „Zeitenwende“ blendet dieses Denkmodell aber das
„Vorher“ und bisherige Erfahrungen als schon überholt aus.
Die Realität mag ganz anders aussehen: Die raumgreifende
und gerne präventive, bisweilen auch sehr blutige Interventionspolitik seit
1993 hat sehr wenige bleibende Erfolge, dafür aber viele Opfer gezeitigt. Und
auch im Falle der Ukraine dürfte die Welt heute völlig anders aussehen, hätte
man die OSZE zumindest ebenso wie die NATO wertgeschätzt und ausgestattet. Auch
das Besonnene kann Stärke und muss keine Schwäche signalisieren.
(188) 24.12.2023
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 28.12.2023
Weihnachtsbaum und deutsche Leitkultur; Gespräch von Gerhard Voogt mit der
Bundestagsabgeordneten Serap Güler ("Unser Programm passt zu jedem
Kandidaten", Ausgabe v. 22.12.2023, S. 32)
Der Weihnachtsbaum hat viel mehr Migrationsgeschichte, als
sich Serap Güler und insbesondere Friedrich Merz so denken, in rastloser Sorge
um die deutsche Leitkultur: Hierzulande recht in Mode und in viele Wohnzimmer
kam die Tanne erst nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71. Der preußische
König kannte den schönen Lichterbaum von seinen englischen Vettern und Cousinen
und hatte ihn zum Trost und für die Resilienz der Soldaten in den Unterständen
und Lazaretten aufstellen lassen. Etwa im Rheinland hatte die Schmucktanne
zuvor noch als eine protestantische oder gar nordische Marotte gegolten. Und in
die Dome und Kirchen war sie erst ganz zuletzt eingerückt.
Immerhin mag man es heute auch positiv sehen: Als kulturübergreifender
Integrations-Anzeiger ist der Weihnachtsbaum deutlich versöhnlicher und weniger
beladen als das Kreuz. Deswegen möchte ich ihn auch eher als Ausdruck einer
weltumspannenden "Merry-Christmas-Bewegung" deuten. Ebenso wie
die vielen Päckchen und das leuchtende Rot des noch immer recht obskuren
Weihnachtsmanns.
(187) 13.12.2023
DIE ZEIT, veröffentlicht am 14.12.2023 im Internet-Angebot der ZEIT= https://blog.zeit.de/leserbriefe/2023/12/14/7-dezember-2023-ausgabe-52/
Kissinger; zu den Beiträgen „Wucht“ von Bernd Ulrich und „Die Macht und die
Zeitung“ von Matthias Nass (Ausgabe No. 52 v. 7.12.2023, S. 4 und 10)
Respekt bei der Jugend, lokal wie global? Den ehrlichen
Versuch gerade am Beispiel Kissingers wäre es wert, völlig unpathetisch: „Ja,
wir verfolgen Interessen.“ „Nein, wir tragen keinen Heiligenschein!“ „Ja, dabei
ist manches grausam schiefgelaufen!“ Kissinger würde noch hinzusetzen:
Deutlich mehr sei unter dem Strich geglückt; und man solle den ganzen Menschen
sehen, das gesamte Repertoire.
Vielleicht würde selbst das eine payback time nicht
auf alle Zeiten hinausschieben, nicht für alle Regionen. Aber es kann etwas von
der Wucht brechen. Und es gäbe Zeit, über die Konditionen zu verhandeln, ganz
ohne selbst-täuschende messianische Anwandlungen.
(186) 30.11.2023
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 5.12.2023
Ukraine; Kommentar „Aufrüsten statt verhandeln“ von Can Merey und Bericht „Die
härteste Zeit für Soldaten“ von Sven Christian Schulz (Ausgabe v. 29.11.2023,
S. 4 u. 6)
Wenn wir kriegsfähiger werden statt verhandlungsfähiger,
dann wäre schon das eine sehr schlechte Nachricht für die globale Sicherheit.
Hier ist es im Grunde ärger: Im Effekt geht es um einen
Stellvertreter-Konflikt, der nicht für uns persönlich, sondern für andere
hoch blutig verläuft. Und ich sehe tatsächlich nicht, dass wir
Verhandlungs-Optionen wie etwa ein weitgehendes Autonomie-Statut nach Vorbild
Südtirols ausgereizt hätten. Gerade aus der sicheren Etappe sollten wir nicht
weiteren jungen Menschen zu Tausenden den Tod schicken – auf beiden Seiten.
Richtig, dies ist die härteste Zeit – und die Lage erinnert
fatal an ausweglos verfestigte Fronten und an die berüchtigten „Blutpumpen“
oder „Knochenmühlen“ im Ersten Weltkrieg, am Lagazuoi in den Dolomiten ebenso
wie in Verdun. Damals wollte etwa der deutsche Chemie-Manager Carl Duisberg den
Knoten durchschlagen und setzte den Einsatz von Kampfgasen durch; die Folgen
hat André Malraux in seinem Büchlein „Guerre et Fraternité“ zeitlos und ohne
jedes manichäische Feindbild notiert. Besser als weiterer hundertfacher Tod am
Tag scheint mir – auch hier – in jedem Fall unser sehr ernsthaftes und
schöpferisches Drängen auf Verhandlung.
P.S.:
Tatsächlich erscheinen mir weitere und sogar intensivierte Waffenlieferungen
wie ein Paradebeispiel der nur schwer zu vermeidenden Handlungsform „Mehr
desselben“, die der große österreichisch-amerikanische Psychotherapeut Paul
Watzlawick in seiner „Anleitung zum Unglücklichsein“ analysiert hatte:
„Die lebenswichtige Notwendigkeit der Anpassung führt
unweigerlich zur Ausbildung bestimmter Verhaltensmuster, deren Zweck
idealerweise ein möglichst erfolgreiches und leidensfreies Überleben ist. Aus
Gründen, die den Verhaltensforschern noch recht schleierhaft sind, neigen aber
Tiere wie Menschen dazu, diese jeweils bestmöglichen Anpassungen als die auf
ewig einzig möglichen zu betrachten. Das führt zu einer zweifachen Blindheit:
Erstens dafür, dass im Laufe der Zeit die betreffende Anpassung eben nicht mehr
die bestmögliche ist, und zweitens dafür, dass es neben ihr schon immer eine
ganze Reihe anderer Lösungen gegeben hat oder zumindest nun gibt.
Diese doppelte Blindheit hat zwei Folgen: Erstens macht sie
die Patentlösung immer erfolgloser und die Lage immer schwieriger, und zweitens
führt der steigende Leidensdruck zur scheinbar einzig logischen
Schlussfolgerung, nämlich der Überzeugung, noch nicht genug zur Lösung getan zu
haben. Man wendet also mehr derselben „Lösung“ an und erreicht damit genau mehr
desselben Elends.“ (Anleitung zum Unglücklichsein, Kap. 2, 4. Unterkapitel
"Der verlorene Schlüssel, oder mehr desselben" = S. 28f in meiner
betagten Ausgabe von 1997)
Wie gesagt, mit der Besonderheit der vorliegenden
Fallgestaltung: Die potenziell verhaltenskorrigierenden Schmerzfolgen koppeln
hier nicht einmal unmittelbar zu den Handelnden – in der Etappe – zurück. Ein
derart gedämpfter Regelkreis wird eine gewaltmindernde bzw. blutstillende
Verhaltensanpassung umso stärker verzögern. Sehr schlechte Aussichten für das
Leben vor Ort.
(185) 12.9.2023
DIE ZEIT, veröffentlicht 15.9.2023 im Internet-Angebot der ZEIT = https://blog.zeit.de/leserbriefe/2023/09/14/7-september-2023-ausgabe-38/
Ukraine; Interview von Stefan Willeke mit Anon Hofreiter „Panzer-Toni ist kein
schöner Spitzname“ (Ausgabe No. 38 v. 7.9.2032)
Hofreiters Zerrissenheit mag stellvertretend für die
gesamte Regierung stehen – mit Ausnahme vielleicht der FDP, die mit dem Zustand
der Welt am sorglosesten umging und umgeht. Die Bündnisgrünen aber und
wesentliche Teile der SPD: Zur falschen Zeit am falschen Platz erwischt;
ungewollt Schulter an Schulter mit der Waffenlobby oder den Schafzüchtern. Und
vielleicht auch deshalb mit besonderer Inbrunst an der Seite der ukrainischen
Regierung, weil das Afghanistan-Projekt so jämmerlich und schimpflich gescheitert
war. Parole: "Schwamm drüber!".
Dies zeigt das Dilemma wohl am deutlichsten: Es gibt auch
keinen eigenen Plan, was das friedliche Zusammenleben der Ethnien, Sprachen und
Kulturen in der Ukraine nach Ende der Kampfhandlungen angeht, früher oder
später. Und mit dem sehr realen Risiko, dass es dann auf eine selbstgewisse
Reinigung hinausläuft. Und auf einen NATO-Stützpunkt auf der Krim.
(184) 4.9.2023
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 7.9.2023
Ukraine; Kommentar „Kriegszeiten keine Wahlzeiten“ von Jan Sternberg (Ausgabe
v. 4.9.2023, S. 4)
Das sehe ich völlig anders. Wir sollten Wolodymyr Selenskyj
im Gegenteil ermutigen, etwaige Hindernisse abzubauen und die anstehenden
turnusmäßigen Wahlen zu realisieren. Die sehr wahrscheinliche Bestätigung der
Regierung ist dabei von geringerer Bedeutung. Viel wichtiger ist die Konkurrenz
der politischen Kräfte des gesamten politischen Spektrums um Strategien für die
mittel- und langfristige Koexistenz der Gruppen, Sprachen und Kulturen der
Ukraine, nicht zuletzt als Signal für äußere Unterstützer und Gegner.
Denn darin läge offenbar ein eklatanter Widerspruch: Wir
unterstützen aktiv die Fortführung des Krieges – für weitere Monate, vielleicht
für Jahre. Damit würden wir gleichzeitig den nach demokratischer
Grundauffassung zentralen Prozess zur Legitimation exekutiven Handelns
aussetzen helfen, eben die Wahlen. Wir würden damit die ununterbrochene
Legitimationskette in Frage stellen, die selbst schwerste Eingriffe in
fundamentale Menschenrechte, darunter etwa das Töten im Kriege, rechtfertigen
kann.
Selbstverständlich existiert auch kein Naturrecht für
Regierungen, während eines Krieges die eigene Amtszeit automatisch zu
verlängern. Zwar hatte Großbritannien während des 2. Weltkriegs tatsächlich die
Wahl ausgesetzt, aber in den USA wurde am 7.11.1944 gewählt. Letzte Anmerkung:
Hätte die westlich orientierte afghanische Regierung in den letzten zwanzig
Jahren keine Wahlen organisiert, wir hätten dies zu Recht als Schwäche
ausgelegt.
Quellen etwa:
https://de.wikipedia.org/wiki/
https://de.wikipedia.org/wiki/
(183) 24.5.2023
DIE ZEIT, veröffentlicht am 26.5.2023 im Internet-Angebot der ZEIT = https://blog.zeit.de/leserbriefe/2023/05/26/17-mai-2023-ausgabe-21/
Kriegskommunikation der Ukraine; Anna Sauerbrey „Wir sagen jetzt Du“ (Ausgabe
No. 21 v. 17.5.2023, S. 1“)
Danke für das offene Wort. Tatsächlich scheint heute recht belanglos,
was an Präsident Selenskyjs Touren und Botschaften authentisch ist und was
clevere Polit-PR. Kiew ist hip, und Moskau ist verkalkt, vergreist und
verbittert, quasi im DOS-Modus steckengeblieben.
Egal ist wohl auch, was gerade man nicht sagt und
selten fragt: Ob die ukrainische Elite ein Modell für die langfristige
Koexistenz mit der großen Zahl ethnischer Russen in der Schublade hat. Oder wie
Ukrainer und Russen selbst darüber denken. Ob man dauerhaft Front-Staatler und
Minuteman sein will oder – was sich historisch ebenfalls anbieten würde –
Mittler. Mit einem lockeren „Du“ für Ost und West.
(182) 10.4.2023
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT am 14.4.2023 = https://blog.zeit.de/leserbriefe/2023/04/14/05-april-2023-ausgabe-15/
KI; Leitartikel von Peter Neumann „Sind wir denn dumm?“ (Ausgabe No. 15 v.
5.4.2023, S. 1)
Natürlich sind wir nicht dumm. Aber wir werden immer
dümmer, seit unvordenklicher Zeit. Noch der Vetter aus dem Neandertal hatte ein
komfortableres Hirnkammer-Volumen und nach gefestigten anthropologischen Daten
schrumpft unser Denkstübchen zusehends weiter – seit der festen
Siedlungsbildung vor ca. 10.000 Jahren und wegen der dann zunehmenden Arbeits-
und Denk-Teilung. Für manche noch gruseliger: Laut zuletzt norwegischen
Erhebungen schwächelt jetzt auch unser Intelligenzquotient. Unsere unzähligen
digitalen Orientierungs- und Erinnerungs-Helferlein machen es wohl möglich.
Künstliche Intelligenz dürfte da nichts so Neues sein.
Allerdings mag sie unsere Fähigkeit stärken, die Welt unbedacht aus den Angeln
zu heben – grundstürzend oder neudeutsch: disruptiv. Dort sehe ich drei
zentrale Risikobereiche: Gen-Engineering, Geo-Engineering und
Policy-Engineering, also den Versuch, mit Stabilbaukasten-Mentalität unsere
Erbanlagen, unser Geosystem oder unsere bürgerliche Kontrolle manipulativ zu
„optimieren“.
Auch ein Moratorium macht wohl wenig Sinn – die Dienste
dieser Welt sind unseren bürgerlichen Phantasien typischerweise weit voraus.
Wie setzte es eine Schlagzeile schon beim Brexit zurecht: „The Bots Want to
Leave Europe!“
Quellen etwa:
https://edition.cnn.com/2018/
https://www.n-tv.de/wissen/
(181) 10.2.2023
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 7.3.2023
Ukraine-Krieg; Matthias Kochs Leitartikel „Eine atlantische Strategie fehlt“
(Ausgabe v. 10.2.2023, S. 4)
Das sehe ich genauso – eine Strategie fehlt noch. Und sie
müsste, um im Westen stabile Mehrheiten und im Osten Akzeptanz zu finden, schon
heute über das etwaige Ende der Kampfhandlungen hinausdenken. Ein zentraler
Aspekt wird dabei sein: Wie sollen in einer wieder einheitlich beherrschten
Ukraine die Ethnien zusammenleben? Wollen wir Stabilität durch kulturelle
Vereinheitlichung, ggf. durch Umerziehung oder Verlagerung erreichen? Oder
wollen wir – was unseren grundlegenden Werten deutlich näher läge – ein Neben-
und Miteinander aktiv fördern, etwa durch ein in der Verfassung verbrieftes
Autonomie-Statut nach dem Vorbild Südtirols? Die erste Variante wird den Weg zu
einem Waffenstillstand verzögern, die zweite beschleunigen. Und die zweite
Variante wäre gleichzeitig ein deeskalierendes Modell für das Zusammenleben von
Russen und Ukrainern in der Diaspora.
In keinem Fall sollten wir zum strategischen Ziel erklären,
Putin zu Fall oder Moskau ins Schleudern zu bringen. Es sei denn, wir wollten
den blutigen Konflikt open ended verlängern, auf Kosten der Ukrainer
jeder Ethnie.
(180) 19.2.2023
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 21.2.2023
Lösung des Ukraine-Konflikts; Interview von Joachim Frank mit Margot Käßmann in
der Ausgabe v. 18./19.2.2023, S. 4 („Es geht nicht um den Sieg“)
Um die abschließende Frage von Joachim Frank an Margot
Käßmann aus meiner Sicht zu beantworten: (1) Territoriale Integrität der
Ukraine in den Grenzen der Staatsgründung i.J. 1991. (2) Autonomiestatut für
mehrheitlich von ethnischen Russen bewohnte Gebiete nach dem Vorbild Südtirols,
für 10 Jahre international überwacht. (3) Abbau des Flottenstützpunktes auf der
Krim binnen fünf Jahren und kein NATO-Stützpunkt für die kommenden 50 Jahre.
Einen solchen Ansatz zu versuchen, das wäre in jedem Fall
humaner, als während des nächsten Jahres die Million slawischer Opfer voll zu
machen, und dabei angestrengt mit erhobenem Zeigefinger wegzusehen. Da gebe ich
Frau Käßmann völlig recht.
(179) 8.2.2023
RGA Volksbote, abgedruckt 14.2.2023
Frühzeit des Nationalsozialismus; Notiz „Neuzugang im Stadtarchiv“ von Nadja
Lehman (Ausgabe Burscheid v. 4.2.2023)
Die Briefe des General Ludendorff an seine frühere
Ordonnanz Rudolf Peters können zeigen: Burscheid war mit der Nase dabei, als
Weltgeschichte geschrieben wurde. Mitumfasst ist hier die damals in Deutschland
noch völlig ergebnisoffene Phase nach 1914, als sich sowohl
national-konservative als auch national-radikale Kreise mit
Weltverschwörungstheorien etwa des Henry Ford infiziert hatten – speziell nach
den berüchtigten „Protokollen der Weisen von Zion“. Die hatte Ford in seinem
offen antisemitischen Pamphlet „The International Jew – The World’s Foremost
Problem“ weit verbreitet. Ludendorffs Brief v. 8.1.1924 knüpft
möglicherweise genau dort an.
Baldur von Schirach hat Fords Schrift noch in den
Nürnberger Prozessen nach 1945 zitiert, als eine Art Bibel der jungen Nazis.
Die nun aufgetauchte Sammlung verspricht eine hoch interessante Lektüre und
viele neue Einblicke dazu, was damals geschah und ob und wie man noch hätte
gegensteuern können!
Quellen
https://de.wikipedia.org/wiki/
Siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/
(178) 29.1.2023
DIE ZEIT, veröffentlicht am 3.2.2023 im Internet-Angebot der ZEIT = https://blog.zeit.de/leserbriefe/2023/02/03/26-januar-2023-ausgabe-5/
Ukraine-Krieg; zu Alice Botas Leitartikel „Die Vertrauensfrage“ (DIE ZEIT No. 5
v. 26.1.2023, S. 1)
Der Ukraine-Krieg beschert uns eine besonders dankbare Form
der Machtprojektion, die ideale Distanzwaffe bzw. den modernen Longbow: 100.000
Schuss Artillerie im Monat, davon immer mehr und stärkere Projektile aus
unseren Waffenschmieden – und dabei ein rein slawisches Blutopfer ohne eigene
Gefahr, selbst ohne nennenswerte Risiken bei kommenden Wahlen.
Kant hat in seinem „Ewigen Frieden“ vor mehr als 200 Jahren
einen ebenso schmerzfreien Mechanismus sarkastisch beschrieben: ‚So gab ein
bulgarischer Fürst dem griechischen Kayser, der gutmüthigerweise seinen Streit
mit ihm durch einen Zweykampf ausmachen wollte, zur Antwort: „Ein Schmidt,
der Zangen hat, wird das glühende Eisen aus den Kohlen nicht mit seinen Händen
herauslangen.“ ‘
Kant hielt zu Recht sehr viel auf dämpfende Rückkopplung –
auf Plan, Tat und Schmerz in ein und derselben Person. Massive
Waffenlieferungen ohne realitätsnahe Strategie bedeuten sehr viel Schmerz
anderer, open ended, und ob das Vertrauen in eine nach unserem Standard
wertegeleitete Politik Kiews gerechtfertigt sein wird, das weiß derzeit
niemand. (Quelle aus Kants „Zum Ewigen Frieden“: Original 1795, S. 32; in der
Reclam-Universalbibliothek Nr. 1501, S. 17).
P.S.:
Kant empfiehlt einen wirksamen Rückkopplungsmechanismus nochmals ausdrücklich
bei der Entscheidung über den Krieg selbst. Sie erfordere die ausdrückliche „Beystimmung
der Staatsbürger“, um nämlich Kriege „wie eine Art von Lustparthie aus
unbedeutenden Ursachen“ bzw. nach Lust und Laune der Herrscher zu verhüten
(Original S. 23f, Reclam S. 12f).
(177) 6.1.2022
DIE ZEIT, veröffentlicht am 13.1.2023 im Internet-Angebot der ZEIT unter https://blog.zeit.de/leserbriefe/2023/01/13/5-januar-2023-2-ausgabe/
Demokratie; Beitrag von Samiha Shafy „Wie lässt sich die Demokratie beleben?“
(der elfte Vorschlag unter "Zwölf Ideen für eine bessere Zukunft";
DIE ZEIT No. 2 v. 5.1.2023, S. 32)
Wie verführerisch: eine Demokratie nach Themen, nicht nach Köpfen,
Kapitalen oder Institutionen! An kommunalen Fragen ist das sogar lange erprobt,
im Rahmen der sogenannten Dienel’schen Planungszellen oder Bürgergutachten; sie
produzieren anerkannt praktikable und akzeptierte Lösungen.
Aber ginge das denn auch in einer Königsdisziplin, etwa in
der Außen- und Sicherheitspolitik? Kant sagt: „Ja!“ und nennt in seiner Schrift
„Zum ewigen Frieden“ gleich den Vorteil eines unmittelbar rückgekoppelten
Schmerzes: „Wenn … die Zustimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu
beschließen, ob Krieg sein solle, so ist nichts natürlicher als dass, da sie
alle Drangsale des Krieges selbst beschließen müssten, (als da sind …,) sie
sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen.“
Das gegenteilige role model sind Parlamentarier vom
Kaliber eines Dr. Wolfgang Schäuble, heute in seiner 14. Wahlperiode. Zu Beginn
der Neunziger war er einer der profiliertesten Befürworter des Aufbruchs der
Bundeswehr in die Ära von Auslandseinsätzen mit scharfem Schuss. Diese besondere
Errungenschaft ist ungeachtet massiver Fehlschläge und vielfacher Verluste und
Traumata bis heute nicht ernsthaft hinterfragt.
P.S.:
Bei einem Sommerfest des Bundesministers des Innern saß ich einmal neben Herrn
Schäuble im Bonner Graurheindorf auf einer Bierbank. Nun: Ich bewundere seine
virtuose Eloquenz, seine Standfestigkeit und seine persönliche Lebensleistung.
Allerdings meine ich: Nach zwei Wahlperioden hätte er seine Energie – und
ebenso regelmäßig jede/r andere Abgeordnete – sachgerechter anderen
Lebenszielen gewidmet, zum Nutzen aller. Ein im ausgedehnten Abgeordnetenleben
angereichertes Vernetzungswissen ist m.E. unvermeidlich nachteilig für eine
unvoreingenommene, sachorientierte Analyse politischer Problemstellungen. Die
ausgedehnte Anwesenheit schafft ihre eigene Blase, macht überdies bekannt und
leichter ansprechbar, schnürt ab und formt letztlich immer weniger repräsentativ.
Auf dem inspirierenden Weg zu dem von Hélène Landemore
angeregten System ohne demokratische Elite könnten wir vielleicht schon
einmal die parlamentarischen Halbwertzeiten einkürzen und uns damit deutlich
mehr demokratische Konvektion gönnen 😉
Quellen:
-
Bürgergutachten/Planungszelle:
https://de.wikipedia.org/wiki/
-
Immanuel
Kant, Zum Ewigen Frieden:
Zweiter Abschnitt, Erster Definitivartikel (Reclam-Ausgabe S. 12f), siehe auch http://philosophiebuch.de/
-
Zu
MdB Wolfgang Schäubles prägender Rolle und als Beispiel manichäischer u.
polemischer Rhetorik in der einleitenden Phase der out-of-area-Debatte siehe
insbesondere den Redebeitrag in der Plenarsitzung v. 21.4.1993 zu
UNOSOM II (Sitzung 12/151, Protokoll S. 12933ff = https://dserver.bundestag.de/btp/12/12151.pdf#P.12933) und Schäubles
polarisierende Kontroverse mit MdB Konrad Weiß / B’90-Grüne (Protokoll
S. 12946f = https://dserver.bundestag.de/btp/12/12151.pdf#P.12946)
(176) 28.12.2022
DIE ZEIT, abgedruckt 5.1.2023
Krisen-Weihnacht; Leitartikel von Giovanni di Lorenzo „Eine Auszeit, keine
Weltflucht“ (DIE ZEIT No. 53 v. 22.12.2022, S. 1)
Ein fantastisches Motto, dieses „Deutschland
funktioniert!“. Gar nicht utopisch: Deutschland organisiert sich transparent
und berechenbar, es plant mindestens mittelfristig, es übt sich in Erhaltung
und Maintainance statt in schöpferischer Zerstörung, intern wie extern. Hinzu
gehört aber Bereitschaft zu fortwährender Evaluation und Reflektion. Während
wir uns die Ukraine-Hilfe auf die Habenseite schreiben, müssen wir Versäumnisse
und Schäden nach unserer jahrzehntelangen Hilfe am Hindukusch nicht verdrängen.
Und wir sollten – da könnten das ältere und das jüngere
Projekt zusammenführen – in der Tat jeden leidenschaftlichen
Vermittlungsversuch für Menschen in Not wagen, ohne Auszeit, ohne Weltflucht.
Fast so, als wären wir neutral.
(175) 9.11.2022
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internetangebot der ZEIT am 11.11.2022 = https://blog.zeit.de/leserbriefe/2022/11/11/3-november-2022-ausgabe-45/
Iran; „Sieg der Mutigen“ von Navid Kermani (ZEIT-Ausgabe No. 45 v. 3.11.2022,
S. 1)
Im Iran könne nur noch die Demokratie für
Stabilität sorgen? Wohl ebenso wie Navid Kermani wünschte ich: Wir bekämen
einen Reset hin in die Zeit des demokratisch gewählten iranischen Premiers Dr.
Mohammad Mossadegh. Zurück in jene Zeit vor der Operation Ajax und vor einem
sodann völlig entrückten und in seinem Machterhalt brutalen Schah Reza Pahlewi.
Vor einem historisch nicht sehr erstaunlichen Umsturz in den Gottesstaat. Vor
dem unerhört blutigen Golfkrieg zwischen Irak und Iran, den ein westlicher Außenminister
recht zynisch so kommentiert haben soll: „A pity they can’t both lose!“
Angesichts der massiven bedingten Reflexe
daraus greift es m.E. zu kurz, als letztes Hindernis vor einer Demokratie „nur“
Hunderttausende glaubensfeste Milizionäre zu sehen. Bzw. als einziges
ernstzunehmendes Hemmnis einer flächendeckenden Zivilgesellschaft, wie sie uns
halbwegs vertraut vorkäme. Das Manichäische liegt in dieser Region nahe;
tatsächlich hat Mani seine Religion mit der unversöhnlichen Opposition von Gut
und Böse ja im Perserreich des 3. Jahrhunderts geformt. Es wird einen völlig
neuen Vertrauen schaffenden diplomatischen Ansatz brauchen – über den wir
ausweislich unserer oberflächlichen Performanz in Afghanistan noch nicht in
Ansätzen verfügen – wenn eben wir einen friedlichen Übergang in Teheran und in
der Fläche fördern wollen. Und die rechtstechnische Lösung wird keine aus dem
Werkzeugkasten des westlichen Statebuilding sein.
Seltsame Gleichzeitigkeit im Übrigen: Die
Golfstaaten und insbesondere Katar werden zum ersten Mal seit Jahrzehnten ein
leichtes Mitleid mit dem iranischen Regime fühlen, sehen sie sich doch ebenso
breiter Kultur- und Menschenrechtskritik ausgesetzt. Den jeweiligen Eliten mag
heute die westliche Herausforderung schon deutlich brisanter erscheinen als der
für uns so bewährte Gegensatz zwischen Sunniten und Schiiten, zwischen
Wahhabiten und Hanafiten, Hanbaliten, Malikiten und weiteren differenzierten
Lehren. Das mag zu neuen Allianzen führen und jeder nachhaltigen Modernisierung
ebenso verdeckt wie finanzstark und zäh entgegenwirken.
(174) 31.10.2022
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt
3.11.2022
Ukraine, Rede von Bundespräsident Steinmeier am 28.10.2022; Berthold Kohlers
Kommentar „Dann wird Deutschland die Prüfung bestehen“ (Frankfurter Allgemeine
v. 29.10.2022, S. 1)
Mit den Zeitenwenden ist es immer so eine
Sache. Mit einiger Wahrscheinlichkeit werden mehr als eine Milliarde Menschen
dieser Welt bei näherem Hinsehen den 7. Mai 1999 als den für sie größeren
Epochenbruch bewerten, darunter sehr viele junge Menschen. Am 7. Mai war im
Rahmen der bereits am 24. März 1999 aufgenommenen Operation Allied Force die
chinesische Botschaft in Belgrad bombardiert worden. Der Ort – eine weitere
europäische Hauptstadt. Die Zeit – weit vor Kiew. Die Operation (sic!) OAF, die
man auch als Strafexpedition gegen slawischen Nationalismus einordnen mag, sie
war also mitten in denjenigen Spannungs- oder Krisenbogen gefallen, den der
Bundespräsident am 28. Oktober 2022 bewusst oder unbewusst aufgemacht hat, den
Bogen nämlich zwischen der glücklichen Wiedervereinigung und der brutalen
russischen Invasion in die Ukraine. Spätestens 1999 war allen Mitspielern des
Great Game klar geworden: Ein ambitionierter Westen will beim Durchsetzen
seiner Werte- und Ordnungsvorstellungen und bei der progressiven Wahrung seiner
wohlverstanden Interessen künftig alles sein, nur nicht zimperlich – gerne aber
dominant. Und der Westen war tatsächlich nicht zimperlich, diverse empfindliche
Misserfolge und einige hunderttausend zivile Opfer eingeschlossen.
Genau das wäre aber doch eine kluge
Ausgangsbasis für die Diplomatie, die der Bundespräsident leider ad calendas
graecas verschieben will – beide Lager evaluieren ihr fruchtloses Tun und
stellen gemeinsam fest: In einer zunehmend vernetzten Welt, die weiß Gott
nachhaltigere Probleme kennt, dort haben militärische Operationen und formale
Änderungen des Welt-Katasters keinen bilanzierbaren Vorteil. Oder: Sie sind
höchstens dazu angetan, die Halbwertzeit unserer industriellen Kulturen
drastisch zu verkürzen.
(173) 3.10.2022
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT am 8.10.2022 = https://blog.zeit.de/leserbriefe/2022/10/08/29-september-2022-ausgabe-40/
zu den Beiträgen von Giovanni di Lorenzo und Roberto Saviano („Die neue Flamme“
und „Sie zielt auf den Bauch“, DIE ZEIT No. 40 v. 29.9.2022 S. 1 u. 8)
Ich bin gerne bei den Guten. In den letzten
Jahren fällt mir diese Verortung immer schwerer. Zumal mit einer –
wahrscheinlichen – italienischen Ministerpräsidentin, die mit unter die Haut
gehender Sprache „Dio, patria, famiglia!“ propagiert. Die möglicherweise
Guiseppe Mazzini, Gabriele d’Annuncio und Benito Mussolini ganz oder in Teilen
ausblendet, nicht aber ihre Werte: Elitär, identitär und verteufelnd.
Seltsam genug: Das europäische Projekt hat
wenig tiefgehenden Identifizierung erarbeitet. Es kann selbst in einem
Kernstaat bei signifikanten Schichten unerwartet schnell zur Disposition
gestellt werden. Wie überhaupt mehrjährige Prognosen heute weitgehend sinnfrei
erscheinen.
(172) 28.9.2022
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 30.9.2022
zum Kommentar von Andreas Niesmann „Wir sind verwundbar“ (Kölner Stadt-Anzeiger
v. 28.9.2022, S. 4)
Schwere Zeiten machen das Denken
übersichtlicher: Der Mörder ist heute immer der Russe. Aber Feindbilder machen
noch keine treffsichere Strategie aus. Natürlich: das diffuse Motiv
„Verunsicherung“ lässt sich jedem in die Tasche schieben, auch Putin. Daneben
aber mag es hier hunderte spezifische und lebensnahe Interessenlagen geben,
etwa von konkurrierenden Energieanbietern, von Diensten, von Spekulanten.
„Follow the money!“ ist für das Eingrenzen des Täterkreises zumeist ein guter
Rat.
Das Problem ist gleichwohl genereller: Es geht
nicht nur um die gerade attackierten Gasleitungen, es geht um eine zunehmend
verletzbare globale Infrastruktur – etwa ebenso um Tiefseekabel, die mit heute
verfügbaren U-Drohnen erreichbar sind. Eine mit Realitätsbezug geplante
Sicherheit der Infrastruktur wird nicht primär auf Abschreckung setzen, sondern
auf eine Vernetzung, die Teilausfälle für definierte Zeiten toleriert. Oder
allgemeiner: Wir sollten nicht nur mit zusammengekniffenen Augen gen Osten blicken,
sondern rundum, tagtäglich, und sollten jeweils auf Plan B oder C schalten
können.
(171) 23.9.2022
Das Parlament, abgedruckt 4.10.2022
zur „Kehrseite“ der Ausgabe Nr. 37-38 v. 12.9.2022 (S. 12)
Recht zufällig führt die Kehrseite der Ausgabe
Nr. 37-38 Personalia zweier gemeinsam besonders prägender Politiker zusammen –
den 80. Geburtstag von Wolfgang Schäuble und den kürzlichen Tod von Karl
Lamers. Zusammen hatten sie den Weg zu Auslandsmissionen der Bundeswehr
geebnet, die etwas fremdelnd zu Beginn der Neunziger noch „out of
area“-Einsätze genannt wurden. Wesentliche Narrative zu dem damals neuen
Instrument kennzeichneten schon die ersten Debatten, etwa zu UNOSOM II –
darunter eine humanitäre Zielstellung oder ein noch weiter zu festigender
Beweis der Bündnisfähigkeit.
Nach inzwischen deutlich mehr als einhundert
Einsatzentscheidungen des Bundestages sollte dieses Gestaltungswerkzeug
systematisch und unabhängig evaluiert werden, nach Nutzen und Lasten. Nicht
etwa nur auf Afghanistan fokussierend – der vollständige Blick wäre wichtig für
eine verantwortliche Politik-Entwicklung, für sachlich legitimierende Wahlen
und damit für unsere Demokratie.
(170) 29.8.2022
Das Parlament, abgedruckt 26.9.2022
zum Artikel von Nina Jeglinski „Anschluss halten“ und zum Leitartikel von
Johanna Metz „Zeit zum Umdenken“ (Das Parlament No. 34-35 v. 22.8.2022, S. 1)
Nachhaltigkeit als deutsches Geschäftsmodell
auf den Weltmärkten? Zweierlei könnte heute im Wege stehen: Zum einen
galoppieren wir Stampede-artig aus „einer Welt“ mit ihren gemeinsamen und
arbeitsteiligen Marktplätzen in eine schwer kalkulierbare Zukunft. Mit
mindestens drei Welten auf einem Globus: West, Ost und viel Volatiles
dazwischen. Dazu bräuchte es zuallererst einen grundlegenden und rapiden Umbau
unseres Geschäftsmodells, mit in wichtigen Branchen halbierten Ex- und
Importen. Zum anderen ist Nachhaltigkeit zwar zu lange aufgeschoben und heute
umso dringender; sie ist aber erkennbar kein aktuelles Primärziel mehr, siehe
z.B. das bald in signifikanten Mengen rund um die Welt verschiffte, teils per
Cracking gewonnene Flüssiggas. Oder auch: Gegenüber Blockdenken und
Systemintelligenz wird Nachhaltigkeit klar zweiter Sieger bleiben.
Zum Vergleich: Eine fulminante Entwicklung
hatte der Standort zu Zeiten erfahren, als Deutschland eine Brückenfunktion
lebte. Sie verlieh und erforderte eine gewisse auch geistige Unabhängigkeit.
Beim Umdenken sollten wir daran anknüpfen. Es würde gegen eine manichäisch
verengte Weltsicht helfen und die Welt würde insgesamt ein besserer
Zukunfts-Standort. Ricardo bräuchte sich nicht im
Grabe herumdrehen.
(169) 23.8.2022
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 30.8.2022
zum Beitrag von Uli Kreikebaum „Umstrittene Diva“ (Kölner Stadt-Anzeiger v.
23.8.2022, S. 20)
Es ist sicher glasklar: Nach einem solchen
Netrebko-Maßstab müssten wir zuallererst ein posthumes Auftrittsverbot über
Heinz Rühmann, Gustav Gründgens, wohl auch über Heinz Erhardt verhängen – und
über eine mehrfache Hundertschaft deutscher Künstler, Politiker und
Geschäftsleute der ersten Garde. Sie alle haben sich nicht einmal „halbherzig“
distanziert, als es drauf ankam, haben sogar aktiv geholfen, ein offen
totalitäres System zu stärken und zu verlängern. Gestört hat uns das bisher
wenig.
Vielleicht würden wir bei Jopi Heesters
anfangen; bei Ausländern fällt ein Verdikt erfahrungsgemäß nicht ganz so
schwer. Direkt danach sollten wir aber das Richard-Wagner-Festspielhaus
einebnen, vielleicht auch schnell die Walhalla; dafür gäbe es gleich mehrere
sehr triftige Gründe. Aber um Konsequenz geht es hier nicht. Sondern um
tagesaktuelle Haltung. Wie immer.
P.S.:
Den zitierten Vergleich der Historikerin Tatiana Dettmer empfinde ich als arg
schal und effekthascherisch. Man mag das gegenwärtige russische System aus den
verschiedensten stichhaltigen Gründen ablehnen, aber verglichen mit dem
faschistischen Deutschland und dessen millionenfachen Mordtaten bleibt das
heutige Russland dennoch ein 'aliud'. Es ist kein einfaches 'minus' bzw. es
gehört nicht zur historisch gleichen Kategorie. Übrigens auch verglichen
mit dem Blutzoll von mehreren hunderttausend zivilen Toten, durch den die
ambitionierten militärischen Missionen atlantischer Bündnispartner nach 1989
erkauft wurden - bei jeweils äußerst schmalen bleibenden Erfolgen und teils
höchst fadenscheinigen bzw. leicht falsifizierbaren Einsatz-Motiven. Insoweit
könnte man mit deutlich besserer Berechtigung von Angehörigen der gleichen
Klasse sprechen. Oder von 'birds of a feather' ;-)
(168) 17.8.2022
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT am 19.8.2022 = https://blog.zeit.de/leserbriefe/2022/08/19/11-august-2022-33-ausgabe/
zum Artikel von Jörg Lau et al. „An der goldenen Kette“ (Ausgabe No. 33 v.
11.8.2022, S. 19ff)
Das ist neu, wie so vieles in unseren Tagen:
Die globalisierte Arbeitsteilung, das Ausnutzen eines ökonomischen,
arbeitsrechtlichen oder arbeitsorganisatorischen Gradienten soll ein Risiko
sein! Gerade wenn man sich mit großen, mit gar nach Hegemonie strebenden
Staaten einlässt! Plötzlich, sogar unterhalb von kurzen Bilanzperioden, sei
darum kalter Entzug angesagt.
Muss Ricardo denn wirklich auf den Misthaufen?
Was ist heute ganz und gar neu? Abgesehen von einem zugegeben psychotischen
Zustand der internationalen Diplomatie. Also: China steckt einen Cordon
sanitaire ab – aber mit geringerem Anspruch als nach der Monroe-Doktrin oder
ihren Fortentwicklungen. Oder: China schaut verärgert und begehrlich auf eine
vorgelagerte Insel. Zumindest bisher indessen: Ohne konkrete Absichten für eine
Schweinebucht-Affaire.
Wie ich es sehe, ist nicht die Zeit für ein
globales Schisma, sei es politisch, kulturell oder wirtschaftlich. Wenn wir
überleben wollen, sollten wir jede Möglichkeit nutzen, zueinander zu finden.
Eine epidemische Sprachlosigkeit wie 1913 bewirkt das Gegenteil.
(167) 4.7.2022
DIE ZEIT, veröffentlicht 8.7.2022 im Internet-Angebot der ZEIT = https://blog.zeit.de/leserbriefe/2022/07/08/30-juni-2022-ausgabe-27/
zu zwei Beiträgen in der Ausgabe No. 27 v. 30.6.2022 (Nadine Ahr et al. „In
einer anderen Welt“, S. 13ff, u. offener Brief von Jakob Augstein et al.
„Waffenstillstand jetzt!“, S. 48)
Denken und lernen wir denn nicht fortlaufend
um, und zwar höchst flexibel? Nach 1945 – ein neuer Freund im Westen, beim
nämlichen, eher noch stärker erbitterten Feind im Osten. Nach 1990 –
ambitioniert eine ganze Welt neu zu ordnen, notfalls mit äußerer Gewalt, mit
scharfem Schuss. Nach 2001 – den Islam einzuhausen. Nach 2014 – den Feind im
Osten wiederentdecken, dazu einen Feind im fernen Osten. Jedes einzelne Mal
unter dedizierter, aber nimmersatter Rüstung.
Vor lauter Umdenken und Umrüsten: Lernen wir
irgendetwas von Lehrmeister Krieg? Wenn ja, müssten wir mit der m.E.
überzeugenden Begründung des am 30. Juni abgedruckten offenen Briefes
unverzüglich in Verhandlungen eintreten, um Europa eine Chance zu geben. Statt
um den Untergang Russlands zu pokern.
(166) 7.5.2022
DIE ZEIT, veröffentlicht 20.5.2022 im Internet-Angebot der ZEIT = https://blog.zeit.de/leserbriefe/2022/05/20/12-mai-2022-ausgabe-20/
zum Beitrag von Martin Machowecz „Gerne in die Kaserne“ in der Ausgabe No. 20
v. 12.5.2022
Der juristisch entscheidende Grund für das
Aussetzen der Wehrpflicht hängt lose mit dem zweitgenannten Motiv zusammen – „die
Wehrpflicht sei aus der Zeit gefallen, zu martialisch, ein im Verhältnis zum
Nutzen zu starker Eingriff ins Leben“. Tatsächlich durften Wehrpflichtige allerhöchstens
freiwillig in Einsätze einbezogen werden, die keine unmittelbare militärische
Bedrohung des Staats- oder Bündnisgebiets abwenden sollten. Als nach 1990 der
Warschauer Pakt nur noch tot über dem Zaun hing, hatte sich aber das westliche
Bündnis ein ganz neues Fähigkeitsfeld außerhalb einer Verteidigung nach
bisherigem Verständnis erschlossen, zunächst ein wenig schamhaft hier „out of
area“ genannt. Es zielte nicht mehr auf die Sicherung von Linien ab, sondern
auf das Herstellen von Basen und Brückenköpfen, nach nine-eleven dann auf das
bereits präventive Behandeln von globalen Krisen unterschiedlichster Art.
Eine zu hohe Konzentration von Wehrpflichtigen
stellte ganz praktisch die Bündnisfähigkeit in Frage. Und umgekehrt: Ein Abbau
der Wehrpflicht versprach gleichzeitig eine geminderte demokratische
Rückkopplung aus der Mitte der Gesellschaft zur Politik. Wenn mal irgendwo
irgendwas kritisch werden würde; wie am Kundus. Und weil sich die Bundeswehr
stetig von den Bürgern entfernt hatte, konnte dann auch ein
Verteidigungsminister der CDU mal ganz ungeniert einen Kanzlerkandidaten der
SPD dafür loben, dass dieser die Sicherheitspolitik aus einem
Bundestagswahlkampf heraushalten wollte! Ja, was hat das Getümmel hinter den
sieben Bergen bei den sieben Zwergen auch noch mit uns bzw. mit einer
demokratischen Wahl zu tun?
Nun: Gerade wegen der künftig besseren
Rückkopplung wäre das Wieder-Einsetzen der Wehrpflicht keine so schlechte Idee,
vielleicht auch zur irgendwann nahenden Verteidigung des Vaterlandes. Aber
einer Illusion sollten wir nicht aufsitzen: Dass „out of area“ nun weniger
würde oder gar auszuschließen wäre: Der vermutlich dynamisch weiter anziehende
politische, militärische, wirtschaftliche und kulturelle Konflikt zwischen West
und Ost wird die Stellvertreter-Kriege und wird die globale Interessenwahrung
nur umso wahrscheinlicher machen. Und anders als vor 1989 sind wir dann direkt
vorne verlangt, dort, wo es wehtun kann. Dafür werden wir weiter die robusteren
Naturen benötigen, werden damit voraussichtlich eine Zwei-Klassen-Armee
unterhalten. Es wäre sehr anzuraten, dafür schon einmal die seit 1992
eingefahrenen Erfahrungen systematisch zu analysieren, anfangend bei Somalia,
endend bei Afghanistan. Oder Mali. Oder Darfur. Das steht prinzipiell bereits
im (noch) aktuellen Weißbuch.
P.S.:
Quelle zum Ende des zweiten Absatz oben: https://www.presseportal.de/
„Verteidigungsminister Thomas de Maizière
(CDU) hat es begrüßt, dass SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück die
Sicherheitspolitik aus dem Wahlkampf heraushalten will. Das dürfe allerdings
nicht nur für die Auslandseinsätze gelten, sondern genauso für die Neuausrichtung
der Bundeswehr, sagte er den Zeitungen der Funke-Mediengruppe - vormals
WAZ-Mediengruppe. "Kontinuität ist sehr wichtig für die Soldaten",
erklärte er. Von der SPD kämen durchaus unterschiedliche Signale. Ihre
Verteidigungspolitiker redeten mitunter anders als Steinbrück. "Die SPD
wird sich aber schon auf Steinbrücks Linie einigen", fügte er hinzu.“
(165) 3.1.2022
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 14.1.2022
zum Kommentar v. Frank Nägele „China macht vor nichts halt“ (Kölner
Stadt-Anzeiger v. 31.12.2021 / 1.1. u. 2.1.2022, S. 17)
Sieht Frank Nägele das abgrundtiefe Böse auch
in arabischen Ölstaaten, wenn diese ihre Frauen und Mädchen nach Kräften vom
öffentlichen Sport fernhalten? Nun: Wir sollten nicht annehmen oder gar
verlangen, dass jahrtausendealte Kulturstaaten nach den gleichen Prinzipien
funktionieren wie der Okzident. Das hat etwa auch in Afghanistan sehr schlecht
funktioniert.
Tätowierungen tragen in China mehrere Stigmata:
Früher hat man damit Kriminelle allseits sichtbar gezeichnet und Tattoos wurden
und werden mit der organisierten Kriminalität verbunden. Nebenbei: Die
chinesische Administration versucht auch andere "Extravaganzen" zu
beschränken, etwa gefärbte oder schräg frisierte Haare und das Tragen von
symbolhaftem Schmuck – und gerade das Letztere hat ja auch deutsche
Verwaltungen Tag und Nacht beschäftigt. Also: Ich plädiere für das gelassene
Aushalten von Koexistenz und für weniger Feindbilder, für eine aktive
Deeskalation bei den neuen „gelben Gefahren“. Auch Sport ist relevanter Teil
und große Chance einer völkerverbindenden Diplomatie.
(164)
28.8.2021
DER SPIEGEL, abgedruckt 4.9.2021
Afghanistan; Beitrag v. Christoph Reuter „Fluch des Triumphs“ (DER SPIEGEL Nr.
35 v. 28.8.2021, S. 72ff)
„Tarnen, Täuschen und Verpissen“ ist okay in
der Grundausbildung, aber keine Option für Afghanistan. Klar: Wir könnten den
Taliban nun fasziniert beim vorausgesagten Kontrollverlust zuschauen, könnten
vielleicht mit klammheimlicher Freude noch nachhelfen. Aber das wäre strohdumm.
Wir müssen die Region stabilisieren, müssen eine neue schwärende Terrorwunde
verhindern. Die Welt ist seit 1990 kleiner geworden und die Vorwarnzeit kürzer.
Gerade die Neuauflage eines Stellvertreter-Bürgerkriegs wie zwischen Gulbuddin
Hekmatyār, Ahmad Schah Massoud und Abdul Raschid Dostum wäre fatal; das
hat das Land nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft 1989 schon
einmal pulverisiert und vergiftet. Waisenknaben sind die Taliban bestimmt
nicht. Aber auch einige unserer traditionellen Freunde sind keine
Klosterschülerinnen und bei uns selbst habe ich zunehmend Zweifel.
P.S.:
Im Zusammenhang mit dem Irak/Iran-Konflikt zitiert man Kissinger mit einem sehr
zynischen Spruch: „It’s a pity both sides can’t lose.“ Es
wurde eine klassische self fulfilling prophecy: Am Ende haben dort
tatsächlich beide Seiten verloren und wir mit ihnen. Heute sind die Risiken
noch massiv gesteigert.
(163)
24.8.2021
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT: https://blog.zeit.de/leserbriefe/2021/08/27/19-august-2021-ausgabe-34/
Afghanistan; Samiha Shafy „Aus der Traum“ u. Ulrich Ladurner „Doppelfehler“
(DIE ZEIT No. 34 v. 19.8.2021, S. 1)
Nach 9/11 war es m.E. wieder mehr der Geist von
Huntingtons „Clash of Civilizations“ als der von Fukuyamas „End of
History“. Geschäftsmodell dieser Intervention war nicht das
selbstverständliche und hier nur etwas vorweggenommene Konvergieren, sondern
die bewusste Konfrontation. Und die Pose des Westens war dann auch tatsächlich
eine paternalistische, nicht ein Begegnen auf Augenhöhe. Etwa: „Guck nicht so
dumm, guck so wie wir!“ Wenn wir je ein repräsentatives Meinungsbild brauchten,
dann haben wir – ebenso wie vordem die Russen – auf Kabul fokussiert,
bestenfalls auf die Provinzhauptstädte, und auf die von uns alimentierten
Eliten, nie weiter oder tiefer. Das hätte gestört.
Ein intimer Kenner des afghanischen war
theater, der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat hatte es
im März 2012 (sic!) äußerst nüchtern bewertet: Als kameradschaftliche Hilfe für
die USA habe die Expedition funktioniert – aber eben nicht als
zivilisatorisches Unterstützen der Menschen vor Ort. Ja, Kameradschaft ist
wichtig. Weil man vielleicht später einmal darauf zurückkommen will. Aber es
bleibt eine Sekundärtugend und eine Art Geschäft oder Selbst-Versicherung.
Genauso wird es auch die Mehrheit der Afghaninnen und Afghanen am bitteren Ende
eines vagen Traums gesehen haben. Dafür dann noch sterben?
(162)
17.8.2021
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 24.8.2021
Afghanistan; Berichten u. Kommentaren anlässlich des rapiden Rückzugs aus
Afghanistan: Tomas Avenarius u. Tobias Matern „Kapitulation vor den Taliban“;
Björn Finke „Hilflos in Brüssel“, Nicolas Richter „Unwürdiges Ende“ (Ausgabe v.
16.8.2021, S. 2 u. 4)
Die Perspektiven für Afghanistan könnten die besten seit vielen Generationen sein: In einer sich dynamisch entwickelnden Region hat dieses Land heute eine multiple Drehscheiben-Funktion und kann um das Beste aus mehreren Welten pokern, besser jedenfalls als derzeit die meisten afrikanischen Staaten.
Wenn die Afghanen nun die richtigen Karten spielen, sie könnten sich doch noch auf die versprochene Schweiz am Hindukusch zu entwickeln. Könnten steinreich werden wie die Saudis – die die Taliban ohnehin schon länger als Bollwerk gegen die verhassten Schiiten anleiten, alimentieren und armieren – und wie bei den Golfstaaten würden wir dann nur zu gerne über Defizite bei der Stellung der Frau, beim Achten von Menschenrechten und rechtsstaatlichen Garantien hinwegsehen. So kann es laufen; die ersten Aktien werden sicher schon gedruckt.
Das Leid aber werden Ortskräfte und
Sympathisanten tragen, die mutterseelenallein vor Ort bleiben. Unser Herr
Laschet in spe warnt ja schon mit feinem Gespür vor neuen Flüchtlingswellen und
in ganz ähnliche Richtung zielte bereits das Gleichnis aus altem afghanischem
Erzählgut, das unser früherer Verteidigungsminister de Maizière beim
feierlichen Schließen des Stützpunktes Kundus am 6.10.2013 zum Besten gegeben
hatte, kurz gefasst: Bleibet im Lande und nähret euch redlich! Vielleicht macht
sich jemand mit Regierungsverantwortungs-
P.S. Links zum
letzten Absatz:
http://uliswahlblog.blogspot.
https://www.sueddeutsche.de/
(161) 3.7.2021
DAS PARLAMENT, abgedruckt 12.7.2021
Ende des Afghanistan-Einsatzes (DAS PARLAMENT, Ausgabe Nr. 26/27 v. 28.6.2021, insbesondere: „Lehren
aus Afghanistan“, „Harte Lektionen“, und „Düstere Aussichten“)
Was sind die Lehren, mit einer Einsatzerfahrung
von heute mehr als 25 Jahren? Meine Bilanz ist recht ernüchternd: Seit UNOSOM
II konnten die Streitkräfte die in sie gesetzten Erwartungen in
unterschiedlichen Allianzen nicht erfüllen – nicht erfüllen, was zentrale
Missionsziele anbetrifft, nicht, was die jeweilige Dauer anbetrifft und
insbesondere auch nicht, was die Präzision und das Verhüten humaner Schäden
anbetrifft. Bringt man es auf den Punkt, so verlief nur eine einzige Operation
wirklich überzeugend, blieb auch ohne bekannte „collateral damages“. Dies war
der ultrakurze deutsche Evakuierungseinsatz LIBELLE am 14. März 1997. Aber
selbst dieser Eingriff wäre durch frühzeitige Reaktion der diplomatischen
Vertretung wohl zu vermeiden gewesen.
Die harten Lektionen aus dem Gebrauch
auswärtiger Gewalt müssen wir am Ende auch im Hauptbuch der Nation, in unserem
Grundgesetz wiederfinden – spätestens als ein Arbeitsergebnis der 20.
Legislatur. Denn auch die Grundannahmen des Streitkräfteurteils a.d.J. 1994 mit
seinem pragmatischen Dispens von der Anwendung des Art. 19 GG sind heute sehr
in Frage gestellt.
P.S.
Zur Operation LIBELLE siehe etwa https://de.wikipedia.org/wiki/
(160) 3.7.2021
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT = https://blog.zeit.de/leserbriefe/2021/07/09/1-juli-2021-ausgabe-27/
und abgedruckt in der Ausgabe No. 29 v. 15.7.2021
Abzug aus Afghanistan (Ausgabe No. 27 v. 1.7.2021, S. 2f: Peter Dausend, Lea
Frehse u. Talib Sha Amiri „Der schlimmste Feind ist die Vergeblichkeit“)
Was bleibt? Diese Frage bezieht sich nun nicht
nur auf RESOLUTE SUPPORT, sondern ebenso auf UNOSOM II. Beide Missionen bilden
eine verblüffende Parabel, die mehr als 25 Einsatzjahre überspannt und
verklammert: Auch UNOSOM II musste hastig abgebrochen werden, weil ein weiterer
Aufenthalt brandgefährlich geworden wäre. Was nebenbei zeigt: Wenn Deutschland
sich seitdem im Kampf bewährt hat, wenn es, wie es einmal hieß „das Töten
gelernt“ hat, dann in einer Trittbrettfahrer-Position.
Schon bei UNOSOM II gab es auch den ersten für
uns bekannten collateral damage, jenen jungen Somali Abdullahi Farah
Mohamed, den Wachen des Feldlagers in Belet Uen vor Tagesanbruch des 21.1.1994
erschossen hatten. Und wie etwa im Falle der jungen afghanischen Mutter Bibi
Khanum, die am 28.8.2008 versehentlich mit zweien ihrer Kinder an einem
Streckenposten bei Kundus getötet worden war, hatte die Bundeswehr für den
menschlichen Verlust das traditionelle „Blutgeld“ verhandelt und gezahlt – und
musste dies im weiteren Einsatz noch vielfach wiederholen, mit einer sehr
speziellen, kaum altruistisch oder empathisch zu nennenden Professionalisierung
in Ethnologie.
Ja, wenn man sich anstrengt, dann wird man auch
positive Einzelfolgen der Einsätze finden können. Viele aber davon verblassen
extrem schnell oder sind lange verblichen. Eigentlich erinnern die Missionen in
der Rückschau erschreckend an die selbstgerechten militärischen
Strafexpeditionen des Neunzehnten und des beginnenden Zwanzigsten Jahrhunderts,
konkret auch an die Rede des letzten deutschen Kaisers am 27.7.1900, als er in
Bremerhaven das deutsche Einsatzkorps zum Niederschlagen des Boxeraufstands nach
China verabschiedete. An diese Rede, die uns Deutschen den nicht mehr weg zu
waschenden nom de guerre „die Hunnen“ eingetragen hat - aufgefrischt am
4.9.2009 an einer Kundus-Furt.
Als Lektion zumindest der letzten 25 Jahre
sollten wir das Grundgesetz wieder beim Wort nehmen und uns – und unsere
NATO-Beihilfe – auf Verteidigung gegen gegenwärtige militärische Angriffe
beschränken. Und sollte diese Verteidigung 2% des Bruttoinlandsprodukts kosten,
dann sollten wir das beisteuern. Aber eben nur mit diesem Nachweis.
P.S.
Hunnenrede am 27.7.1900: https://de.wikipedia.org/wiki/
UNOSOM II; erster dokumentierter ziviler Personenschaden: siehe Bundestags-Drs.
12/6989 https://dserver.bundestag.de/
(159) 17.6.2021
DIE ZEIT, veröffentlicht in der Internet-Angebot der ZEIT https://blog.zeit.de/
NATO-Strategie; Leitartikel „Es ist nicht nur China“ von Jörg Lau in der
Ausgabe No. 25 v. 17.6.2021
Es ist nicht nur China – aber die Front gegen China
ist brutal genug. Und sehr kontraproduktiv: Nehmen wir nur kurz an, den Westen
plagten Zukunftsängste und er müsste seine Verfahren, Strukturen und Werte
kritisch analysieren. In dem sonst gerne bemühten Wettbewerb würde ihm das
manichäische Verteufeln eines etwaigen Opponenten aber wenig helfen; zumindest
trüge das nicht weit. Es könnte ihn davon abhalten, eigene Optimierungen zu
bedenken – vielleicht ein direkteres, responsiveres und für junge Menschen
attraktives Demokratiemodell anstelle des über Jahrzehnte stabil
durchgesinterten Systems hoher Repräsentation mit angebauter Lobby.
Es mag sich ferner lohnen, sich nur für
Augenblicke in das Geschichtsbild eines ganz durchschnittlichen
Festland-Chinesen zu versetzen. Diesem sind die „Ungleichen Verträge“ nach den
beiden Opiumkriegen und das Hongkong-Oktroi des 19. Jahrhunderts ähnlich ins
Langzeit-Gedächtnis gebrannt wie einem Deutschen die Versailler Verträge oder
das militärische Besetzen des Ruhrgebiets. Das wird ihm ganz aktuell Angst
machen.
Nur: Das alles muss im Kalkül der NATO, die
selbst eine hochaktive Lobby ist und eine solche hat, nicht stören und nicht
schaden: Sollte China auf das Gerassel mit herbeigesehnten neuen Panzerketten
und Schiffsschrauben ganz menschlich reagieren, d.h. mit eigener Rüstung, dann
kann man launig "nachrüsten", und zwar bei den ganz großen Gebinden,
bei Schiffen, U-Booten und der Infrastruktur zur power projection. Und
das mutwillige Destabilisieren ganzer Räume, ein massiver ziviler Blutzoll und
im Millionenmaßstab losgetretene Migration: Hat dergleichen in den letzten 25
Jahren das blau schimmernde stählerne Ansehen gemindert? Hat sich jemand daran
gemacht, das Interventionsgeschehen nach Ende der letzten (!)
Blockkonfrontation systematisch nach Nutzen und Lasten zu evaluieren? Wenn die
NATO je ein Stabilitätsanker war, dann ist ihre Trosse lang zersplissen und
zerrissen.
P.S.: Ein zu Sorge Anlass gebendes Beispiel aus
der jüngeren Vergangeheit ist das gezielte Ausgrenzen der Chinesen bei Aufbau
und Nutzung der ISS. Im Grunde hat es Motivation und autonome Kompetenz Chinas
nur gesteigert. Chinas neue, unabhängige Fähigkeiten mögen dann argumentativ
("warnend") für einen neuen SDI-Ansatz des Westens genutzt werden,
wie er in den aktuellen NATO-Verlautbarungen auch schon anklingt und der - ob
er diesmal zum Ziele führt oder nicht - die internationalen Beziehungen und das
Sicherheitsgefühl von Milliarden Individuen über Jahrzehnte massiv lädieren
wird.
(158) 26.2.2021
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt
4.3.2021
Afghanistan; Kommentar von Christian Meier „Ziele für Afghanistan“ und Bericht
„Afghanistan-Einsatz bis 2022“ (Frankfurter Allgemeine v. 25.2.2021, S. 1 u. 5)
Das ist das nicht endende Dilemma des
Afghanistan-Einsatzes: Ein Abrücken der Truppe ist ebenso wenig mit Ziel, Sinn
und Werten zu füllen wie das das weitere Ausharren. Schon im März 2012 hatte
der frühere Generalinspekteur Harald Kujat die Stabilisierungsziele der
Verbündeten offen als gescheitert erklärt. Wenn das Auswärtige Amt nun eine
erneute Verlängerung damit begründet, abermals auf „bessere Ausstiegschancen“
zu warten, dann erinnert mich das an die Zeitschleife des Groundhog Day.
(157) 29.12.2020
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 5.1.2021
Kampfdrohnen; Interview von Andreas Niesmann mit Rolf Mützenich über eine
gesellschaftliche Debatte zu Kampfdrohnen (Kölner Stadt-Anzeiger v. 28.12.2020,
S. 8)
Es gibt
einen sehr praktischen Aspekt beim Einsatz von Kampfdrohnen. Man könnte es
nennen: „Stinkefinger-Effekt“. Diese Drohnen sind die Botschaft an alle
Aufständischen dieser Welt: „Seht her – wir tun das, weil wir's können. Ohne
Risiko für uns!“
Was macht
dann ein aufgebrachter Aufständischer, früher oder später? Er sprengt
Weihnachtsmärkte mit Wählern in die Luft. Weil er ja die Hersteller, Generäle,
Soldaten und Abgeordneten nicht unmittelbar erreichen kann. So wenig wie
Churchill einen Hitler und dessen V2 erreichen konnte. Und dann bin ich wieder
bei Herrn Mützenich: Wir sollten sehr intensiv darüber sprechen: Ob wir das
wirklich wollen.
(156)
13.11.2020
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT: https://blog.zeit.de/leserbriefe/2020/11/20/12-november-2020-ausgabe-47/
zum
Interview von Jörg Lau mit Ursula von der Leyen „Das werden wir uns nicht mehr
nehmen lassen“ (DIE ZEIT Ausgabe No. 47 v. 12.11.2020, S. 2)
„Nicht
mehr nehmen lassen!“ – das fühlt sich ja an wie ein Akt der Emanzipation, wie
das eigentliche Ende der Nachkriegszeit. Erst Russland und nun die USA,
eigentlich ja auch England: Alle ein Stück weiter weggerückt.
Frankreich,
dazumal der unwahrscheinlichste Partner, Frankreich bleibt nahe. Zu hoffen ist
nur: Ursula von der Leyen behält Recht mit dem Vorrang von Investition vor
Intervention. Wir machen also nicht einfach weiter mit lange enttäuschten
Instrumenten wie ISAF und Consorten. Sondern wir werten die war theaters
der letzten Jahrzehnte gemeinsam aus nach Kosten, Nutzen und Schäden. Will
sagen: Wir sind bereit, neu und diesmal ziviler zu gestalten.
(155) 11.7.2020
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT: https://blog.zeit.de/leserbriefe/2020/07/17/9-juli-2020-ausgabe-29/
Debatte um KSK und Wehrpflicht; Leitartikel von Peter Dausend „Braucht keiner“
(DIE ZEIT No. 29 v. 9.7.2020, S. 1)
Völlig richtig: Wehrpflicht oder nicht, das
kann bei den Elitesoldaten nichts unmittelbar ändern. Ganz allgemein aber gilt
auf dem Beschäftigungsmarkt, an dem mit Wohl und Wehe auch die Bundeswehr
teilnimmt: Die Arbeitsplatzbeschreibung definiert das Bewerberfeld. Wagemutige
Aufgaben brauchen, suchen und finden einen robusten Bewerbertypus. 1993, als
sich Einsätze „out of area“ abzeichneten, untersuchte das
Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr den weltanschaulichen
Querschnitt des künftigen Nachwuchses. Die Studie dazu warnte dann vor
zunehmender Attraktivität „für junge Männer, die den demokratischen Zielen kaum
oder gar nicht verbunden sind“, vor Bewerbern, die in die Bundeswehr drängen,
um eine aus ihrer Sicht zu wenig autoritäre, zu „lasche“ Führung „zu ändern“.
Alles dies „auch und gerade“ unter den potenziellen Freiwilligen und dies wäre
bei einem „eventuellen Übergang zum Freiwilligensystem“ besonders im Auge zu
behalten. Das Papier forderte vorsorglich auch die Dienstaufsicht auf, „Gruppen
mit homogener Rechtsorientierung“ vorzubeugen. Der heutige Befund ist geeignet,
die Prognose in weiten Teilen zu bestätigen.
Wir sollten zur bisherigen Außen- und
Sicherheitspolitik – auch insoweit Zustimmung zum Leitartikel – endlich die
Sinnfrage stellen. Das führt übrigens auch zu versteckten trade-offs einer
Dienstpflicht: Der wehrpflichtige grüne Offizier Winfried Nachtwei fordert seit
langem eine systematische Evaluation der Auslandseinsätze. Diesen kritisch
prüfenden Blick, den braucht jede Partei. Gerade wenn wir der Bundeswehr und
ihrer inneren Führung nun ein betont rechtsstaatliches Rückgrat geben wollen.
Am besten gleich eines nach Art. 19 GG, so wie es das BVerfG kürzlich zum BND
klar gemacht hat.
Quellen:
(Zu Abs. 1 des Leserbriefs)
Heinz-Ulrich Kohr, „Rechts zur
Bundeswehr, links zum Zivildienst. Orientierungsmuster von Heranwachsenden in
den Alten und Neuen Bundesländern“, SOWI-Arbeitspapier Nr. 77; München, März
1993: die Zitate stammen aus der Zusammenfassung unter 6.4 und 7. der Studie,
daselbst S. 25ff; Link: http://www.mgfa.de/html/einsatzunterstuetzung/downloads/ap077.pdf?PHPSESSID
(Zu Abs. 2 am Ende; Hervorhebungen in
den Urteilsgründen von mir)
BND-Urteil des Ersten Senats des BVerfG vom 19.
Mai 2020 - 1 BvR 2835/17 - https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/05/rs20200519_1bvr283517.html
(Rn. 88) Art. 1 Abs. 3 GG begründet eine
umfassende Bindung der deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte des
Grundgesetzes. Einschränkende Anforderungen, die die Grundrechtsbindung von einem
territorialen Bezug zum Bundesgebiet oder der Ausübung spezifischer
Hoheitsbefugnisse abhängig machen, lassen sich der Vorschrift nicht
entnehmen. …
(91) Die Grundrechte binden die staatliche
Gewalt vielmehr umfassend und insgesamt, unabhängig von bestimmten Funktionen,
Handlungsformen oder Gegenständen staatlicher Aufgabenwahrnehmung (vgl.
Hölscheidt, Jura 2017, S. 148 <150 f.>). Das Verständnis der staatlichen
Gewalt ist dabei weit zu fassen und erstreckt sich nicht nur auf imperative
Maßnahmen oder solche, die durch Hoheitsbefugnisse unterlegt sind. Alle
Entscheidungen, die auf den jeweiligen staatlichen Entscheidungsebenen den
Anspruch erheben können, autorisiert im Namen aller Bürgerinnen und Bürger
getroffen zu werden, sind von der Grundrechtsbindung erfasst. …
(94) In Art. 1 Abs. 2 GG bekennt sich das
Grundgesetz zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als
Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit
in der Welt. Die Grundrechte des Grundgesetzes werden so in den Zusammenhang
internationaler Menschenrechtsgewährleistungen gestellt, die über die
Staatsgrenzen hinweg auf einen Schutz abzielen, der dem Menschen als Menschen
gilt. Entsprechend schließen Art. 1 Abs. 2 und Art. 1 Abs. 3 GG an die
Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG an. In Anknüpfung an diese im Ansatz
universalistische Einbindung des Grundrechtsschutzes trifft das Grundgesetz für
die positivrechtliche Ausgestaltung der Grundrechte im Einzelnen bewusst eine
Unterscheidung zwischen Deutschenrechten und Menschenrechten. Das legt aber nicht
nahe, auch die Menschenrechte auf innerstaatliche Sachverhalte oder auf
staatliches Handeln im Inland zu begrenzen. Ein solches Verständnis findet auch
im Wortlaut des Grundgesetzes keinen Anhaltspunkt.
(154) 4.7.2020
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 9.7.2020
Debatte um KSK; Bericht und Kommentar von Peter Carstens „Psychologen für die
Elitekämpfer“ und „In der Verantwortung“; Kommentar von Pascal Kober „Wir sind
den Soldaten eine Antwort schuldig“ (Ausgabe v. 2.7.2020, S.2 u. 10)
Die Aufgabe definiert das Bewerberprofil. Das
ist auch jenseits des Militärischen so und keine Verteidigungsministerin kann
dies ändern. Gewagte Aufgaben produzieren nun einmal ein bevorzugt
Abenteuer-affines Bewerberfeld. Wer einen Kampfauftrag zu erfüllen hat, wer in
unübersichtlichen und lebensbedrohenden Situationen kurzfristig und kaltblütig
existenzielle Entscheidungen zu fällen hat, der wird darin nicht einmal etwas
Besonderes sehen.
Diese Erkenntnis ist weder neu noch ist sie
fachfremd, sie ist auch jederzeit digital abrufbar. Anfang der Neunziger Jahre
deuteten sich militärische Einsätze jenseits des Bündnisgebiet an; in diesem
Zusammenhang kam eine Studie des damals noch in München beheimateten
Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr heraus, das 2013 im
nunmehrigen Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der
Bundeswehr mit Sitz in Potsdam aufgegangen ist: „Rechts zur Bundeswehr, links
zum Zivildienst? Orientierungsmuster von Heranwachsenden in den Alten und Neuen
Bundesländern Ende 1992“. Hier etwas Klartext aus der akkuraten und
repräsentativen Befragung unter den für das Rekrutieren in Betracht kommenden
Alterskohorten: „Die Daten verweisen auf die Gefahr, dass die Bundeswehr
zunehmend für junge Männer attraktiv ist, die den demokratischen Zielen und
Werten kaum oder gar nicht verbunden sind. Da faktisch eine Situation besteht,
die auch für Wehrpflichtige (die es damals ja noch waren) die
Wahlfreiheit eröffnet, ist damit zu rechnen, dass auch die anstehenden
Wehrpflichtigen ein höchst problematisches Potenzial in die Bundeswehr tragen
werden.“
Nach Aussetzen der Wehrpflicht kann dies nicht
besser geworden sein, eher im Gegenteil. So richtig stockt der Atem aber bei
einer direkt folgenden Erkenntnis: „Die Gruppendiskussion mit jungen
Rechtsextremen hat gezeigt, dass diese sich von der Bundeswehr zwar angezogen
fühlen, dass ihnen die Führung aber bei Weitem zu wenig autoritär, zu ‚lasch‘
erscheint. Sie wollen u.a. in die Bundeswehr, um dies zu ändern.“
Kann man solcher innerer Gegebenheit durch
regelmäßiges abstraktes öffentliches Würdigen begegnen, insbesondere durch
Würdigungen der gefährlichen Arbeit von Elitesoldaten? Eher nicht, manche
würden sich wohl sogar in ihrer Weltsicht falsch bestätigt fühlen. Wenn es mehr
durchschnittliche Bürger und Bürgerinnen in den Streitkräften braucht, dann ist
mehr Fluktuation, also eine Art Wärmetausch der Spezialkräfte sicher ein
Beitrag. Aber strukturelle Änderungen und mehr qualifizierte Bewerbungen aus
der Mitte der Gesellschaft sind erst wieder zu erwarten, wenn der
Bundeswehrauftrag gesetzlich definiert und damit klar begrenzt ist – und nicht
mehr volatil wie der Herbstnebel am Hindukusch.
Eine strukturelle Lösung wäre der Weg über Art.
19 GG, den das Verfassungsgericht zumindest für den Auslandsnachrichtendienst
just gewiesen hat. Also ein für alle nachvollziehbares
Bundeswehraufgabengesetz, das angestrebte Ziele und hinzunehmende Opfer ausweist.
Allerdings wäre dies auch nicht mehr die Verantwortung einer
Verteidigungsministerin; aber es würde dann auch die derzeit sehr offene und
schwer zu administrierende innere Führung mit einem rechtsstaatlichen Rückgrat
versehen. Und vielleicht kann man in einem Zug gleich evaluieren, welchen
konkreten Erfolg und welche Lasten die unzähligen kritischen Einsatzsituationen
in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren denn gezeitigt haben - gerade auch zum
psychischen und physischen Schaden der Spezialkräfte.
Zitierte Quelle:
Heinz-Ulrich Kohr, „Rechts zur
Bundeswehr, links zum Zivildienst. Orientierungsmuster von Heranwachsenden in
den Alten und Neuen Bundesländern“, SOWI-Arbeitspapier Nr. 77; München, März
1993
Die Zitate in Abs. 2 u. 3 oben sind der Zusammenfassung unter 6.4 der Studie
entnommen, daselbst S. 25.
Link: http://www.mgfa.de/html/einsatzunterstuetzung/downloads/ap077.pdf?PHPSESSID
(153) 18.6.2020
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 30.6.2020
Etwaiger US-Truppenabzug (Daniel Brössler u. Matthias Kolb „US-Militärpolitik
irritiert Verbündete“, Kurt Kister „Vereistes Verhältnis“, Matthias Kolb „Sehr
viel zu erklären“ (Süddeutsche v. 17.6.2020, S. 1, 4 u. 8)
Völlig richtig: Um deutsche
NATO-Mitgliedschaftsgebühren kann es hier nicht gehen, da sind wir nicht im
Rückstand. Aber es ist auch nicht eine etwa unterfinanzierte gemeinsame
Verteidigung – denn dass in die prägenden Aktivitäten der militärischen Partner
der letzten 20 Jahren zu wenig Geld geflossen wäre, dass genau deshalb in
Afghanistan, im Irak, in Libyen oder in Syrien und auf dem Balkan so wenig
nachhaltige Sicherheit herausgekommen ist, das behauptet derzeit wohl niemand.
Auch nicht, dass diese Einsätze überhaupt Verteidigung gegen einen
gegenwärtigen militärischen Angriff gewesen wären oder heute seien. Was soll
das Manöver denn dann, was führen Leute wie Trump und Grenell im Schilde?
Am wahrscheinlichsten: Es ist schlichte
Außenwirtschaftspolitik. Wir sehen das bullyhafte Einwerben von Ressourcen und
Aufträgen für einen unersättlichen Organismus, den ein scheidender Präsident
mit einschlägigen soldatischen Vorerfahrungen einmal als den
"militärisch-industriellen Komplex" analysiert hat. Ein Wesen, das
sich aus den tödlichsten Trieben und Ängsten ernährt und nach 1945 nie
wirkliche Konversion erlebt hat. Vielleicht ist es auch hilfreich, sich daran
zu erinnern: Das nämliche Argument, also: wir täten zu wenig für unsere
Verteidigung, hatte bereits im Zuge des Korea-Krieges zur zeitweise undenkbaren
deutschen Wiederbewaffnung und zum Beschaffen reichhaltiger Militaria geführt.
Quelle:
Zu Präsident Dwight D. Eisenhowers farewell
address v. 17.1.1961 siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Eisenhower%27s_farewell_address
Auszug:
… Now this conjunction of an immense military establishment
and a large arms industry is new in the American experience. The total
influence—economic, political, even spiritual—is felt in every city, every
Statehouse, every office of the Federal government. We recognize the imperative
need for this development. Yet, we must not fail to comprehend its grave
implications. Our toil, resources, and livelihood are all involved. So is the
very structure of our society.
In the councils of government, we must guard against the acquisition of
unwarranted influence, whether sought or unsought, by the military-industrial
complex. The potential for the disastrous rise of misplaced power exists and
will persist. We must never let the weight of this combination endanger our
liberties or democratic processes. We should take nothing for granted. Only an
alert and knowledgeable citizenry can compel the proper meshing of the huge
industrial and military machinery of defense with our peaceful methods and
goals, so that security and liberty may prosper together. …
(152)
15.6.2020
Das Parlament, abgedruckt 20.7.2020
Bundesverfassungsgericht zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung; Artikel „Zank
um die Kontrolle“ (Ausgabe Nr. 23-25/2020 v. 2.6.2020)
Die Folgen der
aktuellen Entscheidung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung sind ggf.
komplexer als die Fragen eines „Wie?“ und „Durch wen?“ künftiger Kontrolle.
Denn zum ersten Mal ist hier klar erkannt: Exekutives Handeln unterliegt auch
im Ausland den rechtsstaatlichen Mindestanforderungen des Art. 19 GG. Genauer:
Grundrechtseingriffe sind auch insoweit vorab zu normieren, dabei ist jedes
inkriminierte Grundrecht klar auszuweisen.
Nun – wenn diese
Garantie für das Telekommunikationsgeheimnis und für die Pressefreiheit
zutrifft, dann sollte sie „a fortiori“, also nur umso mehr für einen
existenziellen, alle anderen Rechte erst ermöglichenden Status wie für das
Lebensrecht gelten. Auswärtige Gewalt müsste dann insgesamt in dieser Qualität
eingehegt sein, damit gerade auch die potenziell irreversibel einschneidende
militärische Gewalt. Zumindest aber bräuchte es eine klarstellende
Interpretation, die das Streitkräfte-Urteil von 1994 – das Art. 19 GG nicht
einmal erwähnt – und das Aufklärungs-Urteil von 2020 untereinander kompatibel
gestalten müsste.
Quelle:
Aktuelle Entscheidung (Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung) unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/05/rs20200519_1bvr283517.html;
das folgenreiche Streitkräfte-Urteil d. Jahres 1994 ist bis heute nur auf einem
Schweizer Server dokumentiert, s. https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv090286.html;
siehe immerhin die einschlägige Pressemitteilung unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/1994/bvg94-029.html
(151)
22.2.2020
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT: https://blog.zeit.de/leserbriefe/2020/02/28/20-februar-ausgabe-9/
Münchner Sicherheitskonferenz; Josef Joffes Leitartikel „Macht Politik“ (Die
Zeit No. 9 v. 20.2.2020, S. 1)
Ein
sehr irritierender Dreiklang: Auschwitz, Dresden, München. Gräuel, Grauen,
Sicherheit? München steht wohl eher für neue Unsicherheit, für das Verlernen
lebenswichtiger Lektionen.
Ich
bin stolz darauf, wenn die Mehrheit der Deutschen den Krieg in Afghanistan
ablehnt, den monotonen Münchner Appellen zum Trotz. Vermutlich verbinden Bürger
die bestialische Feuerhölle von Kunduz auch einfühlsamer mit der von Dresden,
als es Regierungen, Parlamente, Gerichte und Präsidenten je könnten. Kunduz war
für mehr als 100 Afghanen vom Kind bis zum Greis keine Drohung, sondern
grauenhafteste Realität.
(150)
12.2.2020
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 17.2.2020
Thüringer Wahl; Leitartikel von Berthold Kohler „Die Sekundärexplosion“ (F.A.Z.
v. 11.2.2020, S. 1)
Mehr
noch als an eine Sekundärexplosion erinnern mich die Erfurter Chaos-Tage an den
klassischen Schuss ins eigene Knie, und dies gleich mehrfach. Die thüringische
CDU – und ebenso die FDP – war offenbar so sehr von Kopfjäger-Instinkten
beherrscht, dass voraussehbare eigene und gewichtigere collateral damages
völlig außer Kalkulation blieben.
Was
nun? Brächte ein weiteres erregtes Debattieren von Personalien denn vor Ort
wirklich weiter? Vermutlich liegt das Problem doch eher in einer Stimmung bei
signifikanten Anteilen der Wählerschaft, bei der Wiedervereinigung irgendwie
zweitklassig, kolonisiert, manipuliert und nicht respektiert herausgekommen zu
sein – ein Gefühl, das die AfD immer genüsslicher ausbeutet, verstärkt und mit
Ängsten und Feindbildern garniert. Warum den Wählern nun nicht ein Angebot
machen, das die AfD so eben nicht machen kann oder will – das gute alte
Verfassungsprojekt? Beim Einigungsvertrag ist eine Hausaufgabe aus der früheren
Präambel bequemerweise unter die Schreibunterlage geschoben worden: Im Zuge der
Wiedervereinigung sollten eigentlich alle Deutschen das ja ausdrücklich nur
„für eine Übergangszeit“ geschriebene Grundgesetz durch eine finale und
gemeinsame Verfassung ersetzen.
Mehr
als ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung sind nun genügend
Erfahrungen zusammenzutragen, um die geschriebenen und die ungeschriebenen
Grundsätze unserer Verfassung – etwa auch beim Ausüben auswärtiger Gewalt –
offen zu debattieren und nach Erkenntnisstand sauber zu regeln. Ein solcher
Prozess würde den Bürgern aller Bundesländer einigenden und befriedigenden
Respekt erweisen und würde über noch so gewichtige Personalien weit
hinausweisen.
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Präambel_des_Grundgesetzes_für_die_Bundesrepublik_Deutschland
(149)
11.12.2019
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 17.12.2019
Afghanistan; Bericht von Karl Doemens „US-Militär hat Kriegseinsatz beschönigt“
und Kommentar von Damir Fras „Aus Vietnam nichts gelernt“ (Kölner
Stadt-Anzeiger v. 10.11.2019, S. 6 und v. 11.12., S. 4)
Es
ist schon schlüssig, wenn der amerikanische Präsident bei den Verbündeten vital
wachsende Waffen-Etats einfordert. Eine nationale Industrie, die lt. aktuellen
SIPRI-Zahlen klar mehr als die Hälfte an weltweit verkaufter Rüstung und
militärischer Dienstleistung produziert – das ist ein gewaltiger Organismus und
der braucht auf Dauer gesicherte Nahrung. Eher untergeordnet interessieren
dagegen offenbar Plan, Ziel und Erfolg der nach 1990 intensivierten robusten
Außen- und Sicherheitspolitik. Die Enthüllungen aus amerikanischen
Militärkreisen bestätigen es nun nachdrücklich.
Dies
kann man aber auch im Inland nachvollziehen: Mit dem dritten
Fortschrittsbericht der Bundesregierung zu Afghanistan war im November 2014
zwar Schluss mit den Berichten, nicht aber Schluss mit dem Einsatz. Und der
dritte Bericht war schon bereits erstaunlich desillusioniert, gerade was das
Stabilisierungsziel anbetrifft. Die so gern beschworene Wertegemeinschaft des
Westens führt vielleicht doch zuallererst die materiellen Werte im Schilde.
Quellen:
3.
Fortschrittsbericht v. Nov. 2014
https://www.auswaertiges-amt.de/blob/250822/7e778863db3c698185562904e87daea5/141119-fortschrittsbericht-afg-2014-data.pdf
SIPRI-Zahlen
2019:
https://www.sipri.org/sites/default/files/2019-12/1912_fs_top_100_2018.pdf,
siehe u.a. S. 4 zu den internationalen Anteilen, speziell USA
(148)
10.11.2019
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 19.11.2019
Außen- und Sicherheitspolitik; Bericht u. Kommentar von Daniela Vates „AKK will
mehr Soldaten ins Ausland schicken“ bzw. „Im Stadium des Wunschtraums“; Bericht
v. Ulrich Steinkohl „Pompeo ruft zum Kampf für Freiheit auf“ (Kölner
Stadt-Anzeiger v. 8.11.2019 S. 5 u. 4; Ausgabe v. 9.10.11.2019 S. 6)
Dass
wir Waffen kaufen können – oder in dem aktuellen Bild: die Muskeln aufbauen –
das will ich schon glauben.
Ob
wir allerdings bereits unser Hirn für Analyse und Prognose eingesetzt haben,
das bezweifele ich doch nachdrücklich. Wohin wollen wir denn unsere Außen- und
Sicherheitspolitik noch hin erweitern? Sie reicht gemäß Weißbuch doch bereits
von Pol zu Pol, den Marianengraben vielleicht noch ausgenommen. Und was sind
unsere anschlussfähigen Erfolgsmodelle unter den Auslandseinsätzen?
Afghanistan? Irak? Libyen? Mali? Somalia? Sudan?
Und
wie wollen wir garantieren, dass weitere Einsätze mit scharfem Schuss nicht
weitere Fluchtwellen lostreten – wie bisher im Millionenmaßstab vom Balkan, aus
dem Nahen und Mittleren Osten oder aus dem Maghreb? Gäbe es Alternativen auch
ohne auswärtige Gewalt?
(147)
24.7.2019
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 29.7.2019
Bundeswehr-Etat; Kommentar v. Gordon Repinski „Die Frage nach der
Verantwortung“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 23.7.2019, S. 4)
Genau um diese Frage geht es, auch für unseren Rechtsstaat: Was soll die Bundeswehr künftig leisten? Die natürlichste Annäherung – für Parlamentarier und ebenso für Bürger – wäre eine öffentliche Evaluation der inzwischen über zwanzigjährigen Historie militärischer Einsätze jenseits der Verteidigung gegen aktuelle militärische Angriffe. Etwa: Welche Einsätze waren gegenüber den ersten Planungen mehr oder weniger erfolgreich? Was waren Erträge, was waren Lasten und was waren neu ausgelöste Risiken? Was förderte unmittelbar eigene Interessen, wo stand der Komment des Bündnisses im Vordergrund?
Die Blaupause für ein solches Audit fehlt leider bis heute, trotz der erheblichen zwischenzeitlichen Kosten und militärischen wie zivilen Opferzahlen; das aktuelle Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr meldet dazu eher kleinlaut: „Es bedarf strategischer Entscheidungen, ob, wann und in welchem Maße sich Deutschland engagiert. Deswegen wird der Ausbau unserer Strategiefähigkeit konsequent weiterverfolgt. Dabei geht es auch um die Entwicklung von Kriterien, die Messbarkeit und Evaluierbarkeit ermöglichen“ (Weißbuch 2016, Nr. 4.1, S. 57; Heraushebung des Autors).
Entwickelt hat sich meines Wissens bisher noch immer nichts. Wäre das nicht eine gute Gelegenheit für alle Parteien, konkrete differenzierte Strategien zum Einsatz auswärtiger Gewalt anzubieten, in bester demokratischer Konkurrenz für eine später oder früher anstehende Wahl?
(146)
24.8.2018
Das Parlament, abgedruckt 17.9.2018
Debatte um Dienstpflichten; Beiträge von Jörg Biallas „Hohn zum Dank“,
Alexander Weinlein „Orientierung im Gelände“, Johanna Metz „Die letzte Instanz“
(Das Parlament v. 20.8.2018, S. 1 u. 4)
Zäsur, das braucht es wohl erneut: Die Neunziger hatten der Truppe ein im Wortsinn gewaltig erweitertes Portfolio beschert – räumlich hinaus in ein nun global verstandenes Vorfeld, zeitlich vorgezogen in die Phase bloß drohender Risiken und strukturell nunmehr auch auf trivialere Kriegsziele erstreckt, weit unterhalb gegenwärtiger militärischer Angriffe im vormaligen Verständnis des Art. 87a. Personell hat es die Bundeswehr auf eine Berufsarmee reduziert, was eine unwiderstehliche Logik aus der erwähnten Trivialisierung bezieht. Nichts davon allerdings vermeldet die Verfassung, ganz anders als noch bei der Wiederbewaffnung, als sich das Parlament tatsächlich als die erste, nicht als die letzte Instanz verstand.
Viel Weisheit läge m.E. in dem Verfahren, das man am Herrenchiemsee für alle in Grundrechte einschneidende Staatsaufgaben aus frischer Erinnerung vorgesehen hatte; es ist noch heute in Art. 19 nachzulesen: Neue Aufgaben der (hier) auswärtigen Gewalt erst demokratisch debattieren, dann konstitutionell und legislativ definieren, will sagen: kategorisch begrenzen, dann die exekutiv erforderlichen Strukturen schaffen, erforderlichenfalls später faktenbasiert nachregulieren.
Man nennt das auch Gesetzesvorbehalt und dieser Weg ist jeder programmierten ad-hoc-Entscheidung rechtsstaatlich und beim Grundrechtsschutz weit überlegen, mag er auch Bündnis-Automatismen und schnelle Schüsse ein wenig erschweren.
(145)
17.8.2018
DIE ZEIT, veröffentlicht im online-Angebot der ZEIT: https://blog.zeit.de/leserbriefe/2018/08/20/16-august-2018-ausgabe-34/
Hiroshima; Josef Joffes Zeitgeist-Kommentar: „Tödliche
Patzer“ (DIE ZEIT No. 34/2018 v. 16.8.2018, S. 8)
Leichte Kost – ich weiß nicht recht: Uran für Hiroshima, Plutonium für Nagasaki, letzteres ganz automatisch, ohne einen neuen Befehl des Präsidenten, und einige hunderttausend tote Zivilisten. Das alles die banalen Folgen eines sprachmittelnden Patzers, ohne den die Weltgeschichte anders verlaufen wäre?
Vielleicht hat eine missverständliche oder gar missleitende Übersetzung tatsächlich zur Katastrophe beigetragen. Entscheidend aber war, wie so erschreckend oft, eine willfährige Stimmung, ein lange zur Saat bereiteter Boden: Ein merklicher Teil der amerikanischen Wähler wollte 1945 Japan und sogar die Japaner ausgelöscht sehen. Die Administration war bereits auf neuen oder eigentlich wieder auf den alten Wegen aus den Zwanzigern und wollte am Beispiel der Japaner die Bolschewiken zu Tode erschrecken, speziell aber Stalin in Potsdam. Die Militärtechniker wiederum wollten zwei konkurrierende Bombendesigns testen, am besten „in vivo“. Ein noch unerfahrener und bis dahin uneingeweihter Truman hatte so viel Entschlossenheit nichts entgegenzusetzen.
Eine ähnlich verstörende Engführung wie hier im Zeitgeist hatte vor einigen Jahren eine Dokumentation der bayrischen Staatsregierung (!) zum Obersalzberg parat: Der Genozid der Vernichtungslager sei der NS-Führung erst von den KZ-Lagerleitungen nahegelegt worden, die der logistischen Probleme nicht mehr Herr gewesen wären. Oder: eine Hölle aus Seuchen und Mangelversorgung habe im Grunde technokratisch in die Hölle des Holocaust geführt. Auch hier: Man mag einen solchen Mechanismus ja für möglich oder flankierend tätig halten. Aber wachsen und wirken konnte er nur unter der alles entscheidenden Kultur des Hasses und der Entmenschlichung.
Also: Tatsächlich keine leichte Kost, jedenfalls mit dem hohen Risiko, verhängnisvoll apologetisch zu wirken.
P.S.:
Quelle zur Haltung von Teilen der amerikanischen Zivilbevölkerung im zweiten
Weltkrieg z.B.:
https://www.weltwoche.ch/
Zur
o.g. von Josef Joffe zitierten Quelle bzgl. einer falschen Übersetzung, die zur
Entscheidung Trumans geführt haben soll: Mark Polizzotti, New York Times of
July 28, 2018:
https://www.nytimes.com/2018/07/28/opinion/sunday/why-mistranslation-matters.html
(144) 6.8.2018
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 11.8.2018
neue Dienstpflichten; Joachim Käppner und Jens Schneider („ ‚Ein Abenteuer,
eine Schule des Lebens’ “, „Unsinn oder Gemeinsinn?“, Süddeutsche v. 6.8.2019,
S. 1 u. 4)
Die Außen- und Sicherheitspolitik der letzten 20 Jahre und das speziell für Auslandseinsätze eingeschliffene parlamentarische Verfahren, sie sind recht selbstähnlich: Ad hoc, unsystematisch bis kryptisch, anlassgetrieben und bei keinem einzigen Einsatz aus einer gegenwärtigen existentiellen Bedrohung begründet. Die militärische Beschaffung – unter zunehmender Ziellosigkeit hoffnungslos. Die innere Führung – zwischen vielen moving targets herumirrend. Ist es ein Wunder, dass dem Barras die Bürger in Uniform abhanden gekommen sind?
Wenn dieser Trend heute im größeren Rahmen einer allgemeinen Dienstpflicht zurückgebogen werden soll, so ist dies für mich teils billige Trittbrettfahrerei – derer, die im Konvoi ebenfalls Ressourcen abstauben wollen oder müssen. Oder es ist ein Vertuschen, wenn nicht Verdrängen. Denn das Grundproblem wird bleiben: Für den eingeschworenen Gemeinsinn eines Militärbündnisses braucht es Söldner viel eher als Bürger in Uniform. Denn die Letzteren könnten nach einer rechtsstaatlich klaren Aufgabendefinition fragen, will sagen: nach einer transparenten Aufgabenbegrenzung.
(143) 6.8.2018
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 10.8.2018
neue Dienstpflichten; Markus Decker „CDU diskutiert über Wehrpflicht“ und
„Zugrunde reformiert“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 6.8.2018, S. 1 u. 4)
Zugrunde reformiert – Ähnliches kann man selbst im Fazit des aktuellen Weißbuchs zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr nachlesen: Danach werde die Bundeswehr „perspektivisch mit Herausforderungen konfrontiert, auf die sie weder hinreichend eingestellt noch nachhaltig vorbereitet ist.“ Originalton Ende. Wer bitte sollte sich künftig dorthin melden, wenn sich im Rahmen einer allgemeinen Dienstpflicht unkritische zivilgesellschaftliche Alternativen eröffneten?
Vielleicht
aber bringt jemand mal den politischen Mut auf, die Einsatz-Erfahrungen der
letzten 25 Jahre zu evaluieren, sodann eine rechtsstaatlich klare
Bw-Aufgabenstruktur vorzuschlagen – voraussichtlich weniger universell und
global als heute, aber realitätsbezogener im Vollzug, mit geringeren Dilemmata
bei der Ausrüstung und insbesondere wieder attraktiver für Bewerber und
Bewerberinnen aus der bürgerlichen Mitte.
Quelle zum ersten Abs.: Weißbuch 2016, S. 137
(142)
16.7.2018
DER SPIEGEL, abgedruckt 21.7.2018
NATO-Gipfel; Markus Becker et al. „Friendly Fire“;
Interview v. Christiane Hoffmann mit Timothy Garton Ash „… Ernst der Stunde …“
(SPIEGEL Nr. 29 v. 14.7.2018, S. 17ff u. 29ff)
Rüstung
treibt Arbeitsplätze treibt Wiederwahl. Das weiß Trump.
Rüstung treibt Krisen treibt Krieg. Das weiß Kant.
Großartig, sagt Trump: Krieg treibt Wiederaufbau-Deals und Rüstung.
Und so weiter...
(141)
14.7.2018
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 4.8.2018
NATO-Gipfel; Kommentar von Klaus-Dieter Frankenberger „Die Lasten teilen“ u.
Bericht von Lorenz Hemicker und Michael Stabenow „Trump lässt die Puppen
tanzen“, F.A.Z. v. 13.7.2018, S. 1 u. 2)
Ich hoffe, meine Nachfragen wirken nicht demokratisch unbescheiden: Hätten mehr und bessere Waffen die kennzeichnenden Krisen der letzten Zeit nachhaltiger gelöst, hätten sie weniger Migration ausgelöst? Können wir ausschließen, dass die magischen 2% oder gar 4% geplanter Rüstungsanteil an der Wirtschaftskraft nicht zuallererst Arbeitsplätze in rüstungsexportierenden westlichen Staaten fördern sollen – wobei mir recht egal wäre, ob die Rüstung als Auf-, Nach- oder Ausrüstung daherkommt?
Leider gibt es bis heute kein Evaluationsverfahren für militärische Einsätze – und dies trotz der vielfach irreversiblen Folgen auswärtiger Gewalt für grundlegende Menschenrechte. Im aktuellen Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr hat sich bestenfalls eine kleine Vorhut der Autoren an das Problem einer systematischen Auswertung von Zielen, Ergebnissen und Folgen der Auslandseinsätze herangerobbt. Sie meldet von dort ein wenig Zukunftsmusik: „Es bedarf strategischer Entscheidungen, ob, wann und in welchem Maße sich Deutschland engagiert. Deswegen wird der Ausbau unserer Strategiefähigkeit konsequent weiterverfolgt. Dabei geht es auch um die Entwicklung (sic!) von Kriterien, die Messbarkeit und Evaluierbarkeit ermöglichen“ (Weißbuch 2016, Nr. 4.1, S. 57). Entwicklungsprozesse laufen – immerhin nach 20 Jahren Praxis einer Armee im Einsatz, einer Armee mit scharfem Schuss!
Ohne eine nachvollziehbare Analyse von Plänen, Taten und Folgen weiter in Militaria zu investieren, das ist mit einer christlichen Wertordnung schwer vereinbar. Genau diese aber führen wir bei den Missionen gerne im Schilde.
(140)
12.7.2018
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 17.7.2018
2%-Ziel der NATO; Bericht v. Thorsten Knuf „Merkel weist Trumps Vorwürfe
zurück“ und Kommentar v. Damir Fras „Trumps Kampfbahn“ (Kölner Stadt-Anzeiger
v. 12.7.2018, S. 6 u. 4)
Trump will bei seiner Forderung zu den Militäretats wohl nicht nur lose verknüpfte wirtschaftliche Interessen fördern, etwa die von potenziellen US-Energielieferanten. Er assistiert noch viel unmittelbarer – und zwar der eigenen Waffenlobby. Wenn nämlich das weltgrößte Waffenbündnis breit aufrüstet, dann bekommt der mit Abstand weltgrößte Waffenexporteur – die USA – die Sahnestücke der attraktiven Staatsaufträge.
Die ganz andere Frage ist: Werden neue und mehr Waffen denn nun diejenige Sicherheit schaffen, die westliche Staaten in den letzten 20 Jahren gerade nicht festigen konnten – nicht im Irak, in Afghanistan oder in Libyen, wohl auch nicht im Südsudan? Ist das alles überhaupt Verteidigung? War das Parlament bei dem NATO-Deal beteiligt, bei dieser höchst wesentlichen Angelegenheit? Oder: Sollten wir nicht 4% unserer Wirtschaftsleistung viel effizienter und nicht zuletzt christlich in die Entwicklungshilfe investieren?
(139)
18.2.2018
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt am 28.2.2018
Münchner Sicherheitskonferenz; Beilage „Sicherheit 2018“ in der Süddeutschen v.
15.2.2018, insbesondere Beiträge „Über die Neuvermessung der Welt“ und „Lüge
wird Wahrheit“ von Stefan Kornelius bzw. „Leere Lehren“ von Joachim Käppner
(Süddeutsche v. 15.2.2018, S. 9, 11)
Man könnte sich wacker des Eindrucks erwehren, unsere prominentesten Ängste wie die vor Terrorismus, vor Migration, vor Destabilisierung, vor Degradation oder vor wieder virulentem Ost-West-Antagonismus, sie wären nicht von uns selbst getriggert, auch nicht von relevanten Partitionen westlicher Gesellschaften. Die Erfahrungen der letzten gut dreißig Jahre machen es mir indes immer schwerer, an solchen eigenen Verursachungsbeiträgen vorbeizuschauen.
Was sich die nächste durch Wahl legitimierte Regierung vornehmen sollte, das ist nicht die Vergewisserung in der fernen Vergangenheit, nicht mal die Neuvermessung der frühen Nachkriegsgeschichte. Die allerjüngste Vergangenheit täte mir schon völlig reichen – beherzt die 190 Kabinettbeschlüsse zu Auslandseinsätzen und die zugehörigen ca. 4000 Seiten eng bedruckter Parlamentsprotokolle zu evaluieren: Was hatten die wechselnden Regierungen und Mehrheiten durch die einzelnen Einsätze mit scharfem Schuss bezweckt, was haben sie in welcher Frist erreicht oder gerade nicht erreicht, was hat das alles gekostet – in Leben und Gesundheit, in Umwelt, in Geld, in disruption & displacement.
Evidenzbasierte Politik und die wirksamste Präventation gegen fake news, sie sähen für mich genau so aus. Insbesondere, wenn wir uns sicherheitspolitisch gesprochen nun bald noch größere Stiefel anziehen wollen oder sollen. Sicher unnötig anzumerken: Unsere hochqualifizierte Friedens- und Konfliktforschung wäre mit einem Auftrag zur systematischen Analyse, wenn er denn käme, keineswegs überfordert.
(138) 9.2.2018
DIE ZEIT, veröffentlicht im Online-Angebot der ZEIT: http://blog.zeit.de/leserbriefe/2018/02/12/08-februar-2018-ausgabe-7/
polnisches Holocaust-Gesetz; Josef Joffes Zeitgeist-Kolumne „Geschichtszensur“
(DIE ZEIT No 7 v. 8.2.2018, S. 10)
Sehe ich ebenso: Geschichte oder Wahrheit brauchen, ja, sie vertragen keine Legitimation oder Verordnung.
Gleichwohl ist die Lufthoheit über die Vergangenheit allgegenwärtiges Bildungsziel. Und auch dort herrscht traurige Reduktion, ganz ohne Zensur. Wenn man aus aktuellem Anlass einen rassistischen Hype für die Zwischenkriegsjahre nicht nur in Deutschland, sondern auch anderswo in Europa ausmacht, dann bleibt ein für die jungen Nazis ganz wesentliches Vorbild ausgeklammert. Der transatlantische Sehnsuchtspartner USA hatte ihnen noch ein wenig mehr zu bieten als die kontinentalen Nachbarn: Ein mit wissenschaftlichem Eifer betriebenes Euthanasie-Programm, die „Jim-Crow“-Rassegesetze der Südstaaten als Simile eigener Regelungen und etwa auch noch eine robuste Landnahme im Westen und Süden Nordamerikas. Und es gab angehimmelte Idole wie Charles Lindbergh, noch mehr allerdings Henry Ford: Dessen antisemitische Schmähschriften verschlangen und verwerteten die jungen Nazis, seinen autokratisch-technokratischen Erfolg bewunderten sie; im Gegenzug ließen sich Lindbergh und Ford noch 1938 mit dem exquisiten deutschen Adler-Orden adeln.
Apropos Lufthoheit: Wer heute durch das National Air and Space Museum gleich neben dem Washingtoner Capitol wandert, der kann mit leichtem Magendrücken das nachhaltige technokratische Band erkennen – neben der Bodengruppe einer Saturn Vb reckt sich eine A4-Rakete (eigentlich V2, hier dezent zurücklackiert), im Nachbarraum führt eine Messerschmitt 262 die Evolution der US-Jets an, daneben prangt mit leuchtend schwarz-roten Hakenkreuzen das Hindenburg-Luftschiff und über den Wright-Brüdern legt sich Lilienthal im Hängegleiter in die Kurve.
Quelle zum Einfluss des US-Rechts auf die
Nürnberger Gesetze:
http://www.law.nyu.edu/sites/
(137) 14.5.2017
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 25.5.2017
Bundeswehrskandale und Wiedereinführung der Wehrpflicht; Daniela Vates „Falsche
Überhöhung“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 12.5.2017, S. 4)
Richtig: Von einer
reanimierten Wehrpflicht das Ende aller Bundeswehrskandale zu erwarten, das
wäre ein realitätsfernes Überschätzen. Das Problem liegt anders, es hat dennoch
mit der Wehrbeteiligung, eigentlich mit der Kernaufgabe „Wehren“ zu tun. Bereits
1993 warnte eine Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr
davor: Unsere Armee werde „zunehmend für junge Männer attraktiv, die den
demokratischen Prinzipien und Werten kaum oder gar nicht verbunden sind“. Und
da faktisch eine Situation bestehe, die für Wehrpflichtige die Wahlfreiheit
eröffne, nämlich ‚zum Bund’ oder ‚Zivi’, sei damit zu rechnen, dass „auch die
anstehenden Wehrpflichtigen ein höchst problematisches Potential in die
Bundeswehr tragen werden“. Das Problem der Attraktivität für
Modernitätsverlierer stelle sich aber nicht nur für die Wehrpflichtigen,
sondern auch und gerade für die Freiwilligen. Daher werde man bei dem damals
bereits diskutierten Übergang zum Freiwilligensystem „hier unter politischer
Perspektive besondere Umsicht walten lassen müssen.“
Tatsächlich aber
verkümmerte die Anziehungskraft für Bewerber aus der bürgerlichen Mitte schon
Mitte der Neunziger Jahre in dem Maße rapide weiter, in dem das
Aufgabenspektrum und auch das Einsatzgebiet der Bundeswehr grenzenloser und
unkonturierter wurden. Dies war auch abzulesen an den zwischenzeitlich
herausgegebenen Weißbüchern und verteidigungspolitischen Richtlinien, die im
Rahmen der „inneren Führung“ immer weniger strukturier- und vermittelbar
gerieten.
Wenn wir auf dem Weg
zur Bürgerarmee weiterkommen wollen, dann müssen wir die Aufgaben der
Bundeswehr endlich offen gesellschaftlich debattieren, gerade im anstehenden
Wahlkampf und mit allen Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre, dabei auch den
Zusammenhang zwischen Auslandseinsätzen, Destabilisierung und Flucht
ausleuchten. Dabei könnten wir zu Zielen zurückfinden, mit denen sich die
bürgerliche Mitte nun wieder aktiv identifizieren kann – etwa das Wehren bzw.
die Verteidigung gegen einen gegenwärtigen militärischen Angriff im bis 1990
allgemein geltenden Verständnis. Eine wiederbelebte Wehrpflicht kann bei einem
stärkeren Verwurzeln der Bundeswehr im Bürgertum helfen. Garantieren kann sie
das nicht, insbesondere nicht als isoliertes und symbolhaftes Projekt.
Zitate aus:
Heinz-Ulrich Kohr, RECHTS ZUR BUNDESWEHR, LINKS ZUM ZIVILDIENST?
ORIENTIERUNGSMUSTER VON HERANWACHSENDEN IN DEN ALTEN UND NEUEN BUNDESLÄNDERN
ENDE 1992 (SOWI-Arbeitspapier Nr. 77; München, März 1993) = http://www.mgfa-potsdam.de/
(136) 11.4.2017
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 28.4.2017
US-Luftschlag gegen die syrische Luftwaffenbasis al-Scheirat am 6.4.2017;
Kommentar von Berthold Kohler „Trumps kleiner Krieg“ (Frankfurter Allgemeine v.
8.4.2017, S. 1)
Es könnten die
wichtigsten fake news im politischen
Leben des Donald Trump gewesen sein: Assad habe erneut Giftgas gegen sein Volk
eingesetzt, auch gegen Alte, Frauen und Babys. Ob der Täter nun ein vollends
durchgedrehter Assad war oder ob’s eben die Dschihadisten waren, dann weniger
verrückt und mit einem für mich viel besser nachvollziehbaren false-flag-Motiv, das spielte wohl nicht
die Hauptrolle.
Es taugte in jedem Fall
und unabhängig von näherer Überprüfung – da stimme ich Berthold Kohler völlig
zu – für ein potentes Reset. Für Trump daheim und für die USA im nahen,
mittleren und sogar fernen Osten. Über Nacht haben die Medien Trump zum
Präsidenten, Feldherrn und Geostrategen gekürt. Selbst für die Operationen
unmittelbar vor Ort fiel noch etwas ab: Denn wer will jetzt noch nach den
hässlichen collateral human damages
US-geführter Luftschläge fragen, die in den vergangenen Monaten signifikant
zugenommen haben? Was für ein nützlicher kleiner Krieg!
(135) 15.4.2017
DIE ZEIT, veröffentlicht im Online-Angebot der ZEIT = http://blog.zeit.de/leserbriefe/2017/04/14/12-april-2017-ausgabe-16/
zum US-Luftschlag gegen die syrische Luftwaffenbasis al-Scheirat; Rubrik
Zeitgeist von Josef Joffe „Trump 2.0“ (DIE ZEIT v. 15.4.2017, S. 6 = http://www.zeit.de/2017/16/angriff-usa-donald-trump-syrien-zeitgeist)
Ich hätte sie so gerne,
diese Standfestigkeit – oder die beruhigte Teilhabe an diesem Zeitgeist in
klaren Kontrastfarben: In Syrien genau ein Schlächter, ein Russe sein
Helfershelfer, in Amerika ein Braver, der sich nun anschickt, die Dinge wieder
zu unserem Besten zu richten. Dem man das jedenfalls zutrauen kann.
In den mir
verbleibenden ein, zwei Jahrzehnten werde ich zu diesem Glauben wohl nicht
finden können, nach der Erfahrung der letzten sechzig Jahre.
(134) 10.4.2017
DIE ZEIT; veröffentlicht im Online-Angebot der ZEIT = http://blog.zeit.de/leserbriefe/2017/04/07/06-april-2017-ausgabe-15/
Giftgas-Angriff auf die syrische Stadt Chan Scheichun am 4.4.2017; Andrea Böhm,
„Ist das unser Antiterrorkampf?“ (DIE ZEIT No. 15/2017 v. 6.4.2017, S. 4)
Die ZEIT vermerkt, das
syrische Regime habe am 4. April, „wie es aussieht“, „erneut“ einen
Giftgasangriff verübt. So mag es gewesen sein, es ist aber weit entfernt von
einem wahrscheinlichen Ablauf. Assad war gegenüber der Opposition militärisch
klar in Vorhand und ein Kriegsverbrechen konnte - ohne erkennbaren taktischen
Gewinn - allenfalls eines triggern: Den rapiden Wandel der Stimmung und Haltung
in den USA, gerade bei einem impulsiven, narzisstischen und bisher eher
glücklosen Präsidenten. Der andere Erklärungsversuch wäre: Assad sei ein
Psychopath und nutze jede noch so geringe Chance, ungestraft davon zu kommen,
unverzüglich für neue Mordzüge, auch gegen Frauen und Kinder. Aber selbst im
Nahen Osten und an der Spitze einer Oligarchie könnte sich ein solches
krankhaftes Persönlichkeitsbild nicht über Jahrzehnte halten.
Einigen Nutzen von
diesem Horror, von dem dann prompt eingetretenen Stimmungswandel des Westens
und von einem etwaigen Zusammenbruch der gegenwärtigen syrischen Administration
konnten sich immerhin diejenigen versprechen, die sich auch sonst nicht für humane
Rücksicht bekannt machen: Etwa die der Al Qaida zugewandte Nusra-Front. Es
würde auch keine besondere Herausforderung für diese oder ähnliche Gruppen
bedeuten, sich die typischen zwei Komponenten von Sarin durch interessierte,
leistungsfähige und sachkundige Dienste zuspielen zu lassen.
Klar: Ich weiß es nicht
und ich hätte Skrupel, ohne nachvollziehbaren Beweis einen mutmaßlich
Schuldigen zu benennen. Verurteilen kann ich allerdings eine Politik, die seit
vielen Jahren auf Destabilisieren und Ablösen eines Regimes wettet, ohne eine
auch nur entfernte Hoffnung auf Konsolidierung am Tage danach. Und ohne
insbesondere vor Wahlen nachvollziehbar zu evaluieren: War unser
Antiterrorkampf erfolgreich? Hat er die nach Tausenden zählenden zivilen Opfer,
hat er das Traumatisieren der am Kampf Beteiligten gerechtfertigt? Hat er eine
ökonomisch gerechtere und eine militärisch stabilere Weltordnung gefördert?
Solche Fragen beruhigt zu bejahen, das fiele mir heute sehr schwer.
(133) 10.4.2017
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 18.4.2017
US-Angriff auf die syrische Luftwaffenbasis Al-Schairat am 6.4.2017 (Karl
Doemens „Fehlstarter wird zum Feldherrn“, Christian Rath „Ein UN-Mandat ist
zwingend erforderlich“, KStA v. 10.4.2017, S. 2 u. 3); US-Angriff auf eine
Schule bei Al-Mansura am 20.3.2017 mit ca. 30 zivilen Toten (Thorsten Knuf
„Tödliche Hilfe aus der Luft“ und „Offen zu Fehlern bekennen“, KStA v.
31.3.2017, S. 3 u. 4)
Mit sehr wenigen
Ausnahmen unterstellen die Berichte und Kommentare nach dem 4. April: Als
politischer Verantwortlicher oder gar als persönlicher Veranlasser des
Giftgas-Einsatzes kommt ausschließlich Assad in Betracht. Aber warum ist man
sich so völlig sicher, vor irgendwelchen professionellen Untersuchungsbefunden?
Gerade in dieser Phase? Assad war auf dem Vormarsch und die militärische
Opposition auf dem Rückzug, jedenfalls in der fast verzweifelten Defensive. Why
to change a running system? Ohne einen erkennbaren taktischen Vorteil?
Assad wäre ein
notorischer Psychopath und Schlächter, der jede noch so geringe Chance auf ein
Davonkommen zu neuen Mordzügen nutzt? Eine eher unrealistische oder bewusst
plakative Darstellung; ein solches Persönlichkeitsbild kann sich nicht über
Jahrzehnte in einer führenden Position behaupten, auch und gerade nicht in
Syrien. Auf der anderen Seite – bei der militärischen Opposition – bestand
dagegen ein höchst vitales Interesse, das Kräfteverhältnis signifikant zu
verändern, etwa so, wie es nun auch gekommen ist. Selbst ein Distanzieren der
Schutzmacht Russland war und ist bei einem näheren Nachweis der Täterschaft ja
keineswegs ausgeschlossen.
Bleibt die Behauptung,
allein die syrische Administration verfüge über die Fähigkeiten, das Giftgas
einzusetzen. Auch das ist aber nicht stichhaltig. Die Herstellung von Sarin ist
heute leider kein besonderes Kunststück, setzt allerdings eine gewisse Risikobereitschaft
voraus. Selbst dies lässt sich umgehen, wenn das Gift von außen beigestellt
wird, typischerweise in zwei für sich nicht hochgefährlichen Komponenten.
Zahlungskräftige Gönner bei reichen Regierungen und fachkundige Förderer bei
den Diensten stehen auch für extremistische Gruppierungen bekanntermaßen
bereit, und die Dienste fühlen sich auch typischerweise nicht den
Menschenrechten verpflichtet, höchstens einer hochflexiblen
Zweck-Mittel-Abwägung. Ich sage nicht, dass es so war – nur, dass es mit
zumindest ebenso großer Wahrscheinlichkeit so sein konnte, ebenso im Falle der
Giftgas-Tragödie bei Ghouta i.J. 2013.
Dass Trump eine solche
Chance für ein potentes viriles Signal und für den Reset seiner völlig
verpfuschten Startphase nutzen könnte, auch das war gut kalkulierbar. Und so
ist es unter breitestem Applaus auch gekommen, Völkerrecht hin oder her; Trump
bekam sogar die beste Presse seines Lebens. Dass die USA und auch Deutschland
noch vor wenigen Tagen wegen der am 20. März bei einem Luftschlag verursachten
syrischen Zivilopfer im Fokus standen, das muss ein ganz anderes Erdzeitalter
gewesen sein; vergeben und vergessen. Am 8. April starben bei einem Luftschlag
gegen Raqqa, weithin unbeachtet, weitere Zivilisten, auch Kinder.
Anm.: Die Einschätzung
des Kölner Stadt-Anzeigers entspricht der fast ausnahmslosen Schuldzuweisung in
den deutschen Medien an die syrische Administration; eine sehr lesenswerte
kritischere Analyse präsentiert etwa die Deutsche Welle: http://www.dw.com/de/assads-giftgas/a-38326578
(132) 11.10.2016
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 17.10.2016
Luftschlag von Kundus; Entscheidung des BGH zum Ausschluss deutscher Haftung;
Wolfgang Janisch „Deutschland mag nicht haften“ (SZ vom 7.10.2016, S. 1 u.
4)
Sehr, sehr richtig:
Deutschland will partout nicht haften. Aber nach unserer Verfassungsgeschichte
und Werteordnung dürften wir das staatliche Verletzen elementarer
Menschenrechte gar nicht ausblenden. Oder uns gar damit herausreden, solche
Ansprüche mögen doch bitte nach überkommenem Brauch auf diplomatischem Wege von
einer Landesregierung vorgetragen werden. Einer Regierung, die de facto von uns
abhängig ist, ja fast einen Satrapen-Status hat und schon auf verlorenem Posten
kämpft.
Der Bundesgerichtshof
argumentiert in seiner Pressemitteilung: Bei der in wilhelminischer Zeit
formulierten Amtshaftungsvorschrift habe der Gesetzgeber nicht an Haftung für
Kriegshandlungen gedacht; auch bis zum Ende der Nazizeit wäre niemand auf eine
solche kühne Idee gekommen! Da hat er wohl Recht. Aber will ich mich denn
überhaupt an der von 1870 bis 1945 herrschenden Denke orientieren? Nein. Ich
will einen zeitgemäßen, wirksamen Schutz der Menschenrechte, von Inländern wie
Ausländern, und zwar unter Abwägung der Rechte, die durch militärische Einsätze
geschützt werden sollen und solcher, die eben dadurch geschädigt werden können.
Am besten nach Maßgabe von Art. 19 unserer Verfassung, unserer
rechtsstaatlichen Lektion nach entfesselter mörderischer Staatsgewalt. Das
hieße hier, die erlaubten Einsatztatbestände vorhersehbar, überprüfbar und
abschließend zu normieren.
Solange es das noch
nicht gibt, sollten wir mindestens für die humanitären Schäden unseres Handelns
einstehen müssen. Krieg ist teuer, Kriegsfolgen auch – wobei die
Opferentschädigung noch den allergeringsten Teil ausmacht. Das sollten wir
sorgsam einplanen und finanzieren müssen. Und wenn wir mit Kameraden, Kumpanen
oder Spießgesellen aus anderer Herren Länder ins Feld ziehen, dann sollten wir
von vornherein wissen und einkalkulieren: Wir haften auch für das mit, was
diese pexieren. Denn in der Gruppe Unrecht zu tun, das ist üblicherweise kein
tauglicher Entschuldigungsgrund.
Quelle:
BGH-PM Nr. 176/2016 zur Entscheidung v. 6.10.2016, Az. III ZR
140/15 = http://juris.
P.S.
Der Duktus der BGH-Entscheidung erinnert mit seiner „Genuss-ohne-Reue“-Anmutung
und einer flankierenden, exkulpierenden Rolle der Diplomatie verdächtig an den
von Kant karikierten Fürsten, der leichtfüßig und unbesorgt von Krieg zu Krieg
eilt:
Da hingegen in einer Verfassung,
wo der Unterthan nicht Staatsbürger, diese also nicht republikanisch ist, es
die unbedenklichste Sache von der Welt ist, weil das Oberhaupt nicht
Staatsgenosse, sondern Staatseigenthümer ist, an seinen Tafeln, Jagden, Lustschlössern,
Hoffesten u. d. gl. durch den Krieg nicht das mindeste einbüßt, diesen also wie
eine Art von Lustparthie aus unbedeutenden Ursachen beschließen, und der
Anständigkeit wegen dem dazu allezeit fertigen diplomatischen Corps die
Rechtfertigung desselben gleichgültig überlassen kann (Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, 1795,
Erster Definitivartikel zum ewigen Frieden: Die bürgerliche Verfassung in jedem
Staate soll republikanisch seyn; zitiert nach http://philosophiebuch.de/
(131) 3.3.2016
DIE ZEIT, veröffentlicht im Online-Angebot der ZEIT = http://blog.zeit.de/leserbriefe/2016/03/01/25-februar-2016-ausgabe-10/
Titelthema der ZEIT v. 25.2.2016 / No. 10 „Krieg in Syrien. Verstehen Sie noch,
worum es geht?“
Aufgebracht und
kampfeslustig waren Majestät, als er am 27. Juli 1900 das deutsche Kontingent
zum Niederkämpfen des chinesischen Boxeraufstandes losschickte, zur Mutter
aller deutschen militärischen Expeditionen. Und er befahl die kompromisslose
Härte Attilas, auf dass nie wieder ein Chinese einen Deutschen schief ansehen
werde. Am 29.8.1914 titelte die Times, die deutschen Hunnen hätten Leuven, das
belgische Oxford verwüstet. Greuelgeschichten von abgehackten Kinderhänden,
abgeschnittenen Brüsten und vergewaltigten Nonnen machten die Runde; alles das
ist noch heute als „Rape of Belgium“ im kollektiven Bewusstsein, als
Vergewaltigung eines neutralen Landes – und seiner Bürger. Mit der Flammenhölle
am Kundus, die wir am 4. September 2009 für mehr als 100 Afghanen angerichtet
haben, werden wir das Hunnen-Image bei vielen aktualisiert haben, aus heutiger
Sicht auch ohne Sinn und realistisches Ziel.
Ob ein unbeteiligter
Dreizehnjähriger von Schergen Assads gefoltert und getötet wurde, ob das Regime
in unmittelbarer Nähe von internationalen Beobachtern Giftgas gegen Zivilisten
eingesetzt hat? Sinn hätte beides nicht gemacht und es ähnelt auch den „smoking guns“, deren mediale Wirkungen
die beiden Interventionen gegen Saddam Hussein ausgelöst hatten und
nachträglich falsifiziert wurden. Es ist aus meiner Sicht nicht Erfolg
versprechend, Konfliktgründe massiv zu personalisieren, so als ob ein „regime change“ notwendige oder gar
ausreichende Bedingung für die Konfliktlösung wäre. Sie waren es nicht beim
Kaiser, nicht bei Saddam Hussein und vermutlich auch nicht bei Baschar
al-Assad. Konsequent müssten wir hier auch Bush den Zweiten, Cheney und
Rumsfeld ins Visier nehmen.
Ein wenig mehr
Erklärung der verfahrenen Lage in Syrien scheint mir zu bieten: Die USA und
andere Staaten haben bereits in den 1980er Jahren (sic!) wirtschaftliche,
finanzielle und diplomatische Sanktionen gegen Syrien etabliert, und zwar wegen
der besonderen Verwicklung des Landes in terroristische Aktivitäten – niemals
aber gegen Saudi-Arabien oder Pakistan. Syrien ist wie die Mehrzahl der Staaten
des Nahen Ostens massiv auf die Einfuhr von Nahrungsmitteln angewiesen. Die
breiten Demonstrationen 2010/2011 waren auch durch die bereits beeinträchtigte
Versorgung und durch eine Weltmarkt-bedingte sprunghafte Verteuerung gerade der
Nahrungsmittel ausgelöst. Die Perspektiven? Sie sind auch wegen des dynamischen
Klimawandels für die gesamte Region sehr negativ – damit werden es auch die
Anreize für Migration bleiben, ganz unabhängig der Politik der dortigen Regimes
in den ihnen gesetzten Leitplanken.
(130)
24.2.2016
DIE ZEIT, veröffentlicht im Online-Angebot der ZEIT = http://blog.zeit.de/leserbriefe/2016/02/18/18-februar-2016-ausgabe-9/
Außen- und Sicherheitspolitik; Matthias Nass „Kein kalter Krieg“ und zum
Interview von Jörg Lau u. Bernd Ullrich mit Joschka Fischer „Jetzt reden wir
über alles“ (DIE ZEIT Nr. 9 v. 18.2.2016, S. 1, S. 6f)
Es liest sich ein wenig so, als sähen wir noch
keinen Kalten Krieg. Was fehlt denn noch? Zwischen 1945 und 1990 gab es weiß
Gott stärker entspannte Phasen als heute. Und weniger Manichäismen bzw. den
naiven Glauben, ohne X, Y und Z und insbesondere ohne den ewigen Russen wäre es
um die Welt besser bestellt.
Wenn wir nüchtern evaluieren, warum der Druck
auf die Länder des reichen Nordens nicht mehr weggehen wird, dann finden wir
schnell Ursachen, die mit uns selbst nicht weniger als mit anderen zu tun
haben. Ein bemerkenswertes Zeitzeugnis stammt recht genau von der Mitte
zwischen heute und der Zeitenwende 1990. Ein renommierter deutscher Publizist
hatte i.J. 2003 ganz ungeniert einer deutschen Beteiligung am zweiten
Irak-Krieg aus gesundem Erwerbsstreben das Wort geredet – „Der Weg ins Abseits“
hatte sein warnender, fast drohender Beitrag gehießen und er hatte nach meiner
Wahrnehmung einem sehr großen Teil der Politik aus dem Herzen gesprochen. Sehr
irritierend münkelt nun auch Joschka Fischer über den Verlust der letzten
heroischen Einsatzbereitschaft und verweist dann resignierend auf einen
hundertjährigen inneren Sortierungsbedarf des Nahen Ostens.
Pardon: Nein! Dies sind nicht die Alternativen:
Zuschlagen und Beute machen können oder Raushalten. Was es braucht, ist eine
nicht an shareholder values oder
Rückflüssen orientierte Außen- und Sicherheitspolitik, ist das faire Suchen von
Verhandlung auf einem Niveau von Ebenbürtigkeit und ist der Verzicht auf
robuste Werkzeuge. Denn diese haben sich in den letzten zwanzig Jahren – auch
unter Beteiligung des Interviewpartners Fischer – ausnahmslos als Fehlschlag
auf der ganzen Linie erwiesen: militärisch, ökonomisch und sogar beim Schutz
der Menschenrechte. Die dezidiert zivile Karte sollten wir auch und gerade in
einer Phase spielen, in der wir an aggressiver Abkühlung nicht mehr vorbeisehen
können.
Im 2. Absatz zitierte Quelle:
Alfred Neven DuMont „Der Weg ins Abseits“, Kommentar v. 14.2.2003, http://www.ksta.de/debatte/
(129)
15.2.2016
DIE WELT, abgedruckt 17.2.2016
Außen- und Sicherheitspolitik; Clemens Wergin „Die
neue Weltunordnung“ (DIE WELT v. 15.2.2016, S. 3)
Richtig: Entfremdung
und Vertrauensverlust zwischen Eliten und Bürgern schwächen gerade die
demokratische Regierung, das Sägen an den Stuhlbeinen einer anerkannten
Regierungschefin zumal. Drum braucht es dringend eine nüchterne und mit den
Bürgern debattierte Bilanz der geopolitischen Strategie seit Beginn der
Neunziger Jahre.
Dabei ist eine These
zumindest nicht von vornherein abwegig: Auch die zunehmend robuste Außen- und
Sicherheitspolitik hat die beklagte neue Weltunordnung befeuert – gescheiterte
Interventionen, die gescheiterte oder scheiternde Staaten und Regionen zur Folge
hatten, massive zivile Verluste und unabsehbare Wanderungen zudem. Irak,
Afghanistan, Libyen sind Beispiele; dazu Syrien, wenn wir eine zumindest
fahrlässig destabilisierende Diplomatie mitrechnen wollen. Ob dann ein weiter
verstärktes Auftreten im eigenen Sicherheitsumfeld das richtige Mittel ist oder
ob dies nicht mehr Desselben darstellen würde, darüber sollte man in einer
lernbereiten Demokratie debattieren.
(128)
21.10.2015
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 5.11.2015
Flüchtlingsdebatte; Heribert Prantls Kommentar „Merkel auf dem Rückzug“
(Süddeutsche v. 19.10.2015, S. 4)
Wenn unsere Kanzlerin ein Engel der
Flüchtlings-Aufnahme bleiben wollte, es stünde ihr ein sehr ehrenwertes
Argument zu Gebot, nämlich die Übernahme von Verantwortung für unser Tun: Die
allermeisten der zu uns strebenden Männer, Frauen und Kinder formen eine exakt
gegenläufige Bewegung zu früheren oder teils noch laufenden Interventionen des
Westens, seien es militärische Eingriffe, seien es destabilisierende
diplomatische Initiativen – siehe Syrien, Afghanistan, Irak und die
Balkan-Region.
Nehmen wir die Zahlen, die die auch im
Bundestag gern gelesene Zeitschrift „Das Parlament“ im September 2015 nannte,
so hatten mehr als zwei Drittel der diesjährigen Asylbewerber bis Ende Juli
einen solchen Interventions-Hintergrund und es stammt gar mehr als ein Drittel
wieder vom Balkan, dessen wir uns ja gleich zu Beginn der Neunziger Jahre mit
einer nun raumgreifenden Außen- und Sicherheitspolitik angenommen hatten.
Was sollte uns der Lehrmeister Krieg sagen?
Etwa „Weiter so!“ und „Um die humanitären Folgen nicht kümmern!“? Oder besser
doch, dass wir als Zauberlehrlinge unterwegs waren und sind?
Quelle zu den genannten Zahlen:
Das Parlament Nr. 38/39 v. 14.9.2015, S. 1, http://www.das-parlament.de/
(127)
21.10.2015
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 30.10.2015
Flüchtlingsdebatte; Günter Bannas „Einfache Antworten helfen nicht“ und Daniel
Deckers „Verdruss in Köln“ (Frankfurter Allgemeine v. 20.10.2015, S. 1)
Die Politik steht vor einem Dilemma: Sie kann
eine zunehmend unbeherrschbare Flüchtlingssituation nicht ohne einen eigenen
schmerzlichen Lernprozess erklären: Die ganz hohen Flüchtlingswellen branden
derzeit just aus jenen Regionen heran, die Deutschland oder die seine
Verbündeten in den letzten beiden Jahrzehnten qua erweiterte Außen- und
Sicherheitspolitik umgestalten wollten, teils durch militärische Einsätze „out
of area“, teils durch resolute, auf Regime- und Systemwechsel zielende
Diplomatie. Als da wären insbesondere: Syrien, Irak und Afghanistan mit
zusammen 32% der Asylbewerber von Januar bis Juli 2015 – oder der Balkan, unser
erstes sicherheitspolitisches Gesellenstück nach der 1989er Zeitenwende, mit
heute wieder 39% Anteil. Nicht zu vergessen ein zerbrochenes Libyen, nun der
Flüchtlingskanal der Wahl für Subsahara-Afrika.
Altgediente Politiker werden sich noch
erinnern, etwa ein Wolfgang Schäuble: Er hatte in der Plenardebatte vom
21.4.1993 zum damaligen Somalia-Einsatz mit beißender Polemik diejenigen
abgekanzelt, die an einer Interpretation von Landesverteidigung oder an einer
erklärten Friedenspolitik festhalten wollten, wie es noch kurz zuvor unter
Politikern und Juristen mehrheitliches Verständnis gewesen war. Ohnehin: Eine
Mehrheit von Bürgerinnen und Bürgern für eine erweiterte Außen- und
Sicherheitspolitik hat es m.E. bis heute nie gegeben, speziell auch nicht zum
ISAF-Einsatz in Afghanistan. Nicht ohne Konsequenz hatte es dann auch vor der
letzten Bundestagswahl ein schulterklopfendes Einvernehmen zwischen dem
damaligen Kanzlerkandidaten Steinbrück und dem damaligen Verteidigungsminister
de Maizière gegeben mit dem Ziel, die Auslandseinsätze und auch die
Neustrukturierung der Bundeswehr "aus dem Wahlkampf herauszuhalten".
Drum wäre jetzt ein grundlegender Sinneswandel erforderlich, und zwar eine
Neuorientierung sowohl in der Politik-Bürger-Kommunikation als auch zum Nutzen
und zu den mittelfristigen Folgen der militärischen Option. Für einen Politiker
in Amt und Würden wäre dies eine Quadratur des Kreises und wäre kaum ohne
nochmaligen Politik- oder Politikerverdruss lösbar.
Das eigentlich Erschreckende aber ist: Auch
beim Klimawandel kann man mit einiger Berechtigung uns Industriestaaten als
Veranlasser und Taktgeber identifizieren. Und der Klimawandel mag Migration,
Angst und Hass in noch anderen Größenordnungen als heute auslösen; zu den
Prognosen siehe auch den druckfrischen OECD-Bericht „Climate Change Mitigation.
Policies and Progress“. In diesem Wetter werden dann ganz andere Politiker
gefordert sein.
Quellen
·
Zu
den genannten Asylbewerber-Anteilen:
Das Parlament Nr. 38/39 v. 14.9.2015, S. 1, http://www.das-parlament.de/
·
Plenardebatte
zu UNOSOM II am 21.4.1993 mit Redebeiträgen von MdB Schäuble auf S. 12933ff,
12946; http://dip21.bundestag.de/
·
Thomas
de Maizière am 8.5.2013 zur WAZ-Mediengruppe:
http://www.presseportal.de/pm/
·
OECD Bericht v.
20.10.2015 „Climate Change Mitigation. Policies and Progress“, http://www.oecd.org/
(126)
24.9.2015
Das Parlament, abgedruckt 5.10.2015
Flüchtlinge; Claus Peter Kosfeld, „Einfach mal anpacken“ und zur Dokumentation
der Generaldebatte zum Haushalt 2016 am 9.9.2015 (Das Parlament Nr. 38/39 v.
14.9.2015)
Es fällt
schwer, daran vorbeizusehen: Die Staaten, in denen der Westen in den letzten
Jahrzehnten durch raumgreifende Außen- und Sicherheitspolitik einen
Regimewechsel herbeiführen wollte oder sogar erzielt hat – sei es durch robuste
äußere Gewalt out of area, sei es
durch entschlossene Diplomatie – sie gehören heute zu den schwärendsten
Fluchtpunkten: Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien, wieder anwachsend auch der
Balkan. Wir können die Zahlen aus der Grafik zu den Flüchtlingsströmen auf der
Deckseite des „Parlaments“ nüchtern saldieren. Dann finden wir ca. 140.000
Männer, Frauen und Kinder mit Interventions-Geschichte bzw. signifikante mehr
als 70% der Asylbewerber i.J. 2015 bis Ende Juli. Allein vom Balkan, einer als
längst abgearbeitet wahrgenommenen Krisen- und Interventionsregion, waren es
wieder etwa 76.000 oder fast 40% der Gesamtzahl.
Zu einem
möglichen eigenen kausalen Anteil unserer Einsatzentscheidungen am Schicksal
der Flüchtlinge hat sich in der achtstündigen Debatte nur Gregor Gysi geäußert.
Der Krieg ist ein schlechter Lehrmeister, wenn er weit entfernt wütet und wenn
die menschlichen Folgen nur mit Verzögerung zu uns durchsickern. Wie ließ sich
der damalige Verteidigungsminister Jung in seinem Weißbuch 2006 zitieren: „Wir
müssen Krisen und Konflikten rechtzeitig dort begegnen, wo sie entstehen und
dadurch ihre negativen Wirkungen von Europa und unseren Bürgern weitgehend
fernhalten.“ Er hat die Problemlösungsfähigkeit der Industriestaaten massiv
überschätzt.
P.S.
Das
Jung-Zitat findet sich im Weißbuch 2006 auf S. 18.
Das
Weißbuch selbst bezieht sich in Kap. 1.2 „Die strategischen Rahmenbedingungen –
Globale Herausforderungen, Chancen, Risiken und Gefährdungen“ mehrfach auf Risiken
von Wanderungsbewegungen, allerdings jeweils nur auf Migration infolge (ggfs.
reaktionsbedürftiger) schlechter Rahmenbedingungen des Einsatzgebietes, nicht
aber auf einen Flüchtlingsstrom, den ein misslingender deutscher Waffeneinsatz
auslösen oder verstärken könnte, siehe dort S. 19, 20, 22.
(125)
6.8.2015
DIE WELT, abgedruckt 8.8.2015
Hiroshima; Dietrich Alexander „Das ‚Gesicht von Hiroshima‘ kann nicht vergessen
(DIE WELT v. 6.8.2015, S. 8)
Fortgeschrittene
Teleskope liefern mehr und mehr Hinweise auf Verwandte unseres Planeten in
anderen Sonnensystemen; einige davon stuft die Forschung gar als noch
stabilere, noch fruchtbarere „Super-Erden“ ein. Wenn aber solche Inkubatoren im
Kosmos eher die Regel zu sein scheinen als die Ausnahme, wo um alles in der
Welt sind sie dann, die klugen Bewohner dieser Welten – oder zumindest ihre
Lebenszeichen?
Die
gerade wegen Hiroshima und Nagasaki immer überzeugendere Antwort stimmt nicht
eben optimistisch: Technische Zivilisationen löschen sich mit in ihrer
Entwicklung zunehmender Wahrscheinlichkeit selbst aus. Deswegen dürfen wir
Sunao Tsuboi und seine Lebenszeichen nicht schnell vergessen.
(124)
24.7.2015
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 4.8.2015
Rücktritt von Wolfgang Bosbach vom Vorsitz des Innenausschusses; Kommentar von
Tobias Peter „Es stehen viele Kühe quer im Stall“ (KStA v. 24.7.2015, S. 4)
Die
Rückgabe eines politischen Amtes hat für mich etwas Erfrischendes; sie ist
Voraussetzung für politische Konvektion und leider viel zu selten. So weit so
gut und durchaus ehrenhaft. Bei näherem Hinsehen bleibt mir dennoch ein „Aber“:
Wo war
der Mahner Bosbach, als die Deutschen den Griechen – und sinnigerweise parallel
ihrem Lieblingsfeind jenseits der Ägäis – für Unsummen Waffen verkauften, in
einer Phase bereits dynamisch anwachsenden Handels- und Staatsdefizits und bei
ebenso wuchernder Jugendarbeitslosigkeit? Ein Deutscher muss über den
Zusammenhang zwischen volkswirtschaftlichem Niedergang und politischer
Differenzierung und Radikalisierung nicht lange grübeln, speziell nicht als
profilierter Innenpolitiker.
Syriza
darf man getrost als direkte Folge eines jahrzehntelangen Niedergangs werten
und das war hinsichtlich der inneren Sicherheit in Griechenland – und pardon:
auch in Deutschland – sogar noch die politisch zivilisiertere Variante
möglicher Entwicklung.
(123)
27.3.2015
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 10.4.2015
Bundeswehr-Spezialkräfte; Christoph Hickmann, „Hart an der Grenze“ (Süddeutsche
Zeitung v. 24.3.2015, S. 3)
Aufständische
Terroristen und Spezialkräfte bilden gemeinsam ein perpetuum mobile der
auswärtigen Gewalt: Wo Kriege nicht mehr erklärt werden, wo Kriegsgründe
diffuser und letztlich eigennütziger werden, wo Einsatzkräfte zunehmend ohne
Parlament und Bürger auskommen, da ist die zivile Geisel oder ist der Anschlag
im öffentlichen Raum das zynische, aber letztlich konsequente Mittel der Wahl.
Remedur ist dann der nicht mehr konventionelle Kampfstil, den Spezialkräfte
nochmals weiter entfernt von der bürgerlichen oder parlamentarischen Kontrolle
gelehrt bekommen und ausüben. Die im Beitrag beschriebene Auswahl und
Ausbildung, das elitenhafte Selbstverständnis und die nach außen abschottende
Kameradschaft – sie unterscheiden sich von Chris Kyles biografischen Eindrücken
(„American Sniper“) nur
graduell, aber nicht grundsätzlich.
In
Grunde reden wir von „German snipers“ und genau von dem, vor dessen Giftwirkung
Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ mit guten Gründen gewarnt hatte:
Vertrauenswidrige Strategien wie Meucheln und Giftmischen, die dann jedem
nachhaltigen Frieden entgegenstehen. Mindestens ebenso fatal ist die
zersetzende Wirkung für den Rechtsstaat und die repräsentative Demokratie –
wenn nämlich fundamentale Rechte ohne konkrete Eingriffsgrundlage verletzt
werden und selbst die Parlamentskontrolle nicht greift. Das
Bundesverfassungsgericht hat in seiner 2008er Entscheidung zur Beteiligung an
der Luftsicherung der Türkei warnend auf mögliche „Eigengesetzlichkeiten der
Bündnissolidarität“ hingewiesen und darauf, dass die Mitwirkung des Bundestages
nicht „im Lichte exekutiver Gestaltungsfreiräume oder nach der Räson einer
Bündnismechanik“ bestimmt werden dürfe, sondern „im Zweifel
parlamentsfreundlich“, auch wegen des immanenten „politische(n) Eskalations-
und Verstrickungspotenzial(s)“. In einer folgenden Anhörung des Bundestages am
25.9.2008 haben sodann alle beteiligten Experten die stark beschränkte
Information über den Einsatz von Spezialkräften im Wege des eingefahrenen
sogenannten Obleuteverfahrens als nicht rechtmäßig und als korrekturbedürftig
eingeschätzt. Verändert hat sich danach nichts. Beim Drama am Kundus am
4.9.2009 war die Task Force 47 an der verhängnisvollen Entscheidung zur
Bombardierung der Tanklaster beteiligt.
Wichtig
scheint mir: Fast jeder führt hier geradezu instinktiv Geheimhaltung ins Feld –
um die jeweiligen Operationen und eben auch die Beteiligten selbst zu schützen.
Aber Geheimhaltung isoliert die Menschen in Spezialkräften auch vor genau dem
Schutz, den ihnen das „Parlament des Heeres“ schuldet, und fördert gerade jenen
einigelnden Komment und ein verqueres Verständnis von Professionalität und
Leistungsbeweis. Transparenz wäre jedenfalls in der Rückschau gefahrlos möglich
und ein demokratischer Mehrwert. Um nochmals Kants „Ewigen Frieden“ zu
zitieren: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren
Maxime sich nicht mit der Publicität verträgt, sind unrecht."
Quellen:
Die
Kant-Zitate stammen aus "Zum Ewigen Frieden" (2. Auflage 1796), 6.
Präliminarartikel (Reclam-Ausgabe S. 7f) und Anhang II. (Reclam S. 50), siehe
ansonsten http://philosophiebuch.de/
Bundesverfassungsgericht
v. 7.5.2008, Az. 2 BvE 1/03 (Beteiligung an der vorsorglichen Luftüberwachung
der Türkei gegen mögliche Angriffe aus dem Irak): http://www.
Oben
zitierte Anhörung des Bundestages am 25.9.2008 u.a. zur parlamentarischen
Kontrolle von Spezialkräften:
http://www.vo2s.de/mi_pbg-anh.
Das
Obleute-Verfahren findet sich kurz beschrieben in dieser Antwort der
Bundesregierung 14.11.2014 auf eine parlamentarische Anfrage (S.54):
http://dip21.bundestag.de/
(122)
19.2.2015
DIE WELT, abgedruckt 20.2.2015
Weißbuch 2016; Thorsten Jungholt „Von der Leyen schreibt ein Buch ‚ohne Tabus‘
“ (DIE WELT 18.2.2015, S. 4)
So blind
war das Weißbuch 2006 nun auch wieder nicht: Terrorismus, Cyberwar und
Migration zählte es bereits ausdrücklich zu unseren Sicherheitsrisiken,
Staatsversagen sowieso. Und die Kanzlerin hatte im Vorwort sogar eine breite
gesellschaftliche Debatte angemahnt – was dann freilich durch den zeitgleich
diskutierten „Kabuler Schädelskandal“ völlig verpuffte.
Das
allerdings stand so nicht im Weißbuch: Dass Migration auch kausale Folge
auswärtiger Gewalt sein kann, Menschenrechtsverletzungen ebenso. Wenn ich denn
einen Wunsch äußern darf: Evaluation wird kein Tabu sein und das Weißbuch 2016
wird nüchtern Nutzen und Lasten des zwischenzeitlichen Einsatzgeschehens
bilanzieren, z.B. anhand der sich heute aufdrängenden Frage „ISAF – was
bleibt?“
Mehr
deutsche Verantwortung – gut. Dann aber auch intelligentere deutsche
Verantwortung durch Nachschau und Nachsorge!
(121) 26.9.2014
DIE WELT, abgedruckt 30.9.2014
Islamischer Staat / IS; Uwe Schmitt "Das Herz der Finsternis" (DIE
WELT v. 26.9.2014, S. 1)
Ja, der Begriff
"Islamischer Staat" tut weh. Aber dies irritiert doch nachhaltig: Was
immer es für ein Gebilde ist – es ist offenbar so verfestigt und organisiert,
dass es lokalisierbare, angreifbare Infrastrukturen besitzt, eine vernetzte
Wirtschaft, personell wie technisch effiziente Kampfverbände und eine
signifikante Menge von inländischen und ausländischen Unterstützern, dabei von
Gruppen wie von Individuen, die auch nicht durchgehend einen revolutionären,
terroristischen Hintergrund haben.
Irgendetwas in der
Behandlung durch die Dienste und durch die Diplomatie ist hier sehr schief
gelaufen und läuft auch derzeit noch grausam schief. Ich habe den Eindruck, der
Westen stolpert wie schon in der Folge von 9/11 nach einem Drehbuch, das er
nicht selbst geschrieben hat und das er auch nicht völlig durchschaut.
Im Kern wäre dies ein
klarer Anwendungsfall der Theorie der "responsibilty to
protect". Es rächt sich bitter, dass dieses Institut in den
vergangenen Jahren nicht als völkerrechtlich akzeptiertes Instrument abgestimmt
worden ist. Auch der aktuelle Einsatz ist nun nur faktisch, aber eben nicht
rechtlich durch eine bunte Koalition unbestimmter Halbwertzeit mühsam
legitimiert.
(120) 5.8.2014
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 21.8.2014
Krieg gegen den Terror; Tomas Avenarius "Die große Bedrohung"
(Süddeutsche Zeitung v. 4.8.2014, S. 4)
Die
Bilanz des Kriegs gegen den Terror ist niederschmetternd. Aber die militärische
Option war auch zu einer Zeit nicht viel überzeugender, als man noch das Ende
der Geschichte voraussagte und das unwillkürliche Einschwenken aller relevanten
internationalen Spieler auf ein westliches Entwicklungsmodell. Selbst vor 1990
waren m.E. nur solche Eingriffe jedenfalls zeitweise hilfreich, bei denen sich
ein militärtechnischer Vorsprung und eine gewichtige interne Unterstützung
gegenseitig stützten oder ein Riese einen Zwerg niederkämpfte; selbst dort gab
es noch traumatische Überraschungen.
Nach
meiner Bewertung ist der Westen in den letzten Jahrzehnten schon intellektuell
nicht aus der Reserve gekommen, hat im Gegenteil mit klobigen und über die
Jahre nicht systematisch reflektierten Einsätzen die Sache seiner kaum
verstandenen Gegner gestärkt und gestärkt. Natürlich: Er kann existente
Ordnungen zerstören, sehr wirkungsvoll irritierenderweise sogar gerade solche
Staatenwesen, die nach unseren eigenen Messskalen vergleichbar weit entwickelt
sind - wie Irak und Libyen. Aber er kann offenbar keine neuen Ordnungen mehr
stiften, die tiefer wurzeln als es das tägliche Nachrichtenwesen erkennbar
machen kann. Dazu fehlt ihm wohl ein überzeugendes, ein insbesondere
uneigennütziges und humanes Narrativ.
(119) 6.6.2014
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 14./15.6.2014
Bundeswehr-Reforminitiative der Verteidigungsministerin; Christoph Hickmann
„Unser Heer soll schöner werden“, Süddeutsche Zeitung 31.5./2.6.2014, S. 2 und
„Um Einsätze geht es leider nicht“, Interview mit Harald Kujat ebenda;
Kommentar „Kameraden, keine Kollegen“, Süddeutsche 2.6.2014, S. 4
Christoph Hickmanns
Kommentar „Kameraden, keine Kollegen“ spricht mir aus der Seele: Nicht das
bloße Anderssein von Soldaten ist gute Werbung – sonst spräche man auch die
Falschen an. Entscheidend ist eine Arbeitsplatzbeschreibung, sprich der
konkrete Auftrag der Bundeswehr und seine kalkulierbaren Grenzen. An Herrn
Kujat gerichtet: Der Auftrag ist genau die Gretchenfrage, die diejenigen
Offiziere seit 1993 von Jahr zu Jahr schwerer beantworten können, die das
Konzept der inneren Führung vermitteln sollen. Die Beschaffung von mehr
Material ersetzt keine Antwort darauf.
Im letzten Wahlkampf
hat der damalige Verteidigungsminister das Thema „Schöner wehren“ noch nicht
aufgetischt. Er hatte sogar seinen politischen Verantwortungsbereich – im
Konsens mit dem Kanzlerkandidaten der SPD – für die 2013er Wahl insgesamt stumm
geschaltet. Demokratisch betrachtet kommt die Debatte daher post festum, ebenso wie der nun schon zweimalige
Impuls des Bundespräsidenten für mehr militärischen Elan.
(118) 3.6.2014
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 9.6.2014
Bundeswehr-Reforminitiative der Verteidigungsministerin; Kommentar von Thomas
Kröter „Kampffähig dank Flachbildschirmen“ (Kölner Stadt-Anzeiger 3.6.2014, S.
4)
Es braucht sicher
größeren Tiefgang, als Flachbildschirme ihn bieten, und noch mehr
Nachhaltigkeit, als Frauenpresse-Events auf Fregatten sie vorbereiten kann.
Wenn das Ziel sein soll, dass viele bürgerliche Mütter ihrem Nachwuchs eine
militärische Karriere nahelegen.
Sicher, eine gewisse
Versetzungssicherkeit mag ein Baustein sein. Aber was doch am ehesten
aufgearbeitet gehört – vielleicht sogar durch Hilfe von zivilen Beratern – das
ist der bislang viel zu diffuse militärische Auftrag. Das heraldische Zeichen
des Verteidigungsministeriums ist seit 1990 ein Nebelfeld mit fünf sich
kreuzenden Auslands-Interventionen. Welche Krise, welchen Konflikt soll der
unter persönlichen Opfern aufgezogene Nachwuchs als nächsten kurieren helfen,
vor Ort? Dort, wo es richtig wehtun kann? Wenn wir ehrlich sind, dann haben die
Mütter nicht viel in der Hand: Bestenfalls verschwommene Bedrohungsszenarien
aus dem Weißbuch oder aus den Verteidigungspoltischen Richtlinien, die mit
ihrem Schwerpunkt bei Globalisierungs-Risiken irritierend an attac-Analysen
erinnern.
Klare Befehle
erleichtern den Gehorsam. Und ein klarer Auftrag würde den Mamas einen
verantwortungsvollen Fingerzeig erleichtern.
(117) 3.2.2014
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 11.2.2014
Appell des Bundespräsidenten für mehr deutschen Engagement in der Außen- und
Sicherheitspolitik; Kommentare von Holger Schmale („Beitrag zur
Selbstverständigung“, KStA v. 1./2.2.2014, S. 4) und Steffen Hebestreit („In
der Verantwortung“, KStA v. 3.2.2014 S. 4)
Völlig richtig: Über
den richtigen Weg, unserer Verantwortung für die Welt gerecht zu werden, kann
und muss man debattieren. Den konkreten Zeitpunkt dafür definieren das
Demokratie-Gebot in Artikel 20 Absatz 1 und 2 und der Auftrag an die Parteien,
bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, in Artikel 21
unseres Grundgesetzes. Dieser Zeitpunkt ist, zumal in einer betont
repräsentativen Demokratie, ganz eindeutig: Nämlich vor der Wahl, vor der
einzig folgenreichen politischen Teilhabe des Bürgers.
Der Appell des
Bundespräsidenten kommt nun schon ein zweites Mal post festum, nach dem Fest.
Das ist besonders angreifbar, da prominente Vertreter der nun regierenden
Parteien – Thomas de Maizière und Peer Steinbrück – sich vor der Wahl dafür
ausgesprochen hatten, die Bundeswehr, ihre Neuaufstellung und die
Auslandseinsätze aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Dazu hatte der Präsident
geschwiegen, dort war er nicht unser Wächter.
Am Beginn einer
politischen Debatte muss Rechenschaft über die bei uns und anderen Staaten
vorrätigen guten und schlechten Lehren aus Interventionen jeder Art stehen. Und
ein klares und differenzierungsfähiges Handlungsprogramm jeder ernst zu
nehmenden politischen Partei, nicht bloß ein vages frühzeitiges
Reagieren-Wollen auf allfällige Krisen und Konflikte. Darauf müssen wir Bürger
bestehen.
Quelle zum zweiten
Absatz
http://www.presseportal.de/pm/55903/2468313/waz-verteidigungsminister-de-maizi-re-sicherheitspolitik-aus-dem-wahlkampf-heraushalten
(116) 3.2.2014
FOCUS, abgedruckt 10.2.2014
Appell des Bundespräsidenten für mehr deutschen Engagement in der Außen- und
Sicherheitspolitik; U. Demmer, A. Niesmann u. J. Hufelschulte „Was sollen wir
hier?“ (FOCUS 6/2014 S. 21ff) u. Gastbeitrag von Harald Kujat „Das kann nicht
unser Beitrag sein“ (ebenda S. 26f)
Danke für den
differenzierenden Beitrag! Die Illustration und der Titel passen verblüffend
gut zu dem Handzettel einer Podiumsdiskussion, die wir 1993 in unserem
Heimatort organisiert hatten: „Bundeswehr wohin? Was soll, was kann die
Bundeswehr künftig leisten?“ 1993 war die Zeit des Somalia-Einsatzes, der
seinerzeit viel kürzer lief als das Afghanistan-Engagement. UNOSOM II hatte im
Januar 1994 das erste zivile Opfer deutscher out-of-area-Einsätze gefordert und
einen notorischen Krisenherd zurück gelassen.
Unsere 1993er Fragen
sind noch heute ohne Antwort. Drum spricht rein gar nichts gegen eine offene
Debatte über Nutzen und Lasten der Auslandseinsätze. Gerade auch, was die
Afghanistan-Mission angeht: Harald Kujat hat ISAF ja schon i.J. 2011 für
gescheitert erklärt.
In einer Demokratie,
gerade in einer repräsentativen Demokratie mit ihrer stark legitimierenden
Funktion gerade des Wahltages, dort gehören Rechenschaft und ein schlüssig
daraus abgeleitetes Handlungsprogramm allerdings vor die Wahl. Nicht dahinter,
lieber Herr Präsident und werte Bundesregierung.
Quellen
- Zitierter FOCUS-Artikel
a.d.J. 2011:
http://www.focus.de/politik/
- Bei Interesse noch ein
Zeitzeugnis = Bild unseres 1993er Podiums: http://www.vo2s.de/
- Das Bild unserer
Einladung liegt hier und ihr Text
hatte gelautet:
Bundeswehr - wohin?
Was soll, was kann die Bundeswehr künftig leisten?
Sprechen Sie darüber mit Vertretern der Parteien!
MdB Dr. Eberhard Brecht, stellvertretender außenpolitischer Sprecher
der SPD-Fraktion
MdB Jörg van Essen, Vors. Landesfachausschuss f. Außen- und
Sicherheitspolitik der FDP
Hans-Joachim Falenski, außenpolitischer Sprecher der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion
Ernst-Christian Stolper, Sprecher LAG Europa-, Friedens- und
Außenpolitik, Bündnis '90 / DIE GRÜNEN NRW
Hptm. Olaf Holzhauer, Pressezentrum der Luftwaffe in Köln/Wahn
Pfarrer Olaf Jellema, Landespfarrer für Zivildienstleistende NRW
Flotillenadmiral a.D. Elmar Schmähling
Donnerstag, 25. November 1993
20.00 Uhr
Aula der Friedrich-Goetze-Grundschule in Burscheid
Auf dem Schulberg
(115) 8.1.2014
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 13.1.2014
Bestechung i.R.v. griechischen Rüstungsbeschaffungen; Hans Leyendecker, Klaus
Ott und Tasos Telloglou "Das Geld gehört dem Volk" (Süddeutsche v.
4./.5./6.1.2014, S. 19)
Über levantinisches
Gebaren sollte sich die Ponente nicht mokieren, wir haben lange aufgeholt und
überholt. Es macht nicht eben stolz auf unser ach so wertegeleitetes nationales
und europäisches Wirtschaftssystem: Dass wir nicht nur die alte ägäische Paranoia
nutzen, um einem bereits maroden Staat sinnfreie Militaria anzudrehen. Sondern
dass unser Angebot der griechischen Nachfrage noch bestechend auf die Sprünge
hilft.
Richtig, das Geld
gehört dem Volk. Aber ist es erst einmal in Staatsknete verwandelt, dann liegt
es häufig erschreckend schutzlos da. Um entweder in windigen Rüstungsdeals
verbraten zu werden - und/oder als Rettungsmaßnahme für ein Volk, das sich
genau daran verschluckt hat.
Und eine wohlfeile
Illusion aus den Sonntagsreden unserer Politiker gehört gleich mit zerstört:
Dass nämlich deutsche Rüstungsgeschäfte jedenfalls deutsche Arbeitsplätze
sichern würden. Grundfalsch. Denn per Saldo reduzieren Verkäufe dieser hoch
wertschöpfenden Produkte an ein weniger entwickeltes Land, das in aller Regel
auch mit gegenläufigen Waren- und Produktströmen finanzieren muss, die Zahl der
Arbeitsplätze des liefernden Staates. Trist, aber wahr: den Nutzen hat ganz
partikulär derjenige, der die Waffen selbst schmiedet. Wir anderen zahlen nur.
(114) 3.1.2014
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 5.1.2014
Vorschlag des Bundestagspräsidenten, die Legislaturperiode auf fünf Jahre zu
verlängern (Markus Decker "Politiker wollen länger regieren",
"Mehr Zeit zum Regieren", KStA v. 28./29.12.2013, S. 1 u. 4)
Ein erfrischender
Vorschlag von Norbert Lammert: Für die gleichen Wahlkosten 125% statt nur 100%
Regierungszeit!
Vielleicht ist dabei noch
etwas anderes drin als Elemente der direkten Demokratie, die ja leider nach den
aktuellen Absprachen der Politprofis nur geringe Realisierungschancen haben. So
könnten wir etwa nach amerikanischem Vorbild die Amtszyklen des Regierungschefs
begrenzen oder, wie in der Türkei, die Zahl der Legislaturperioden jedes
Abgeordneten. Denn nach der neuen Lammert-Formel müsste z.B. der arme Dr.
Riesenhuber, der im Alter von 40 Jahren in den 8. Bundestag eingezogen war, uns
über sein 95. Jahr hinweg dienen. Schwer vorstellbar, wie man über eine solch
gewaltige Spanne die notwendige Repräsentativität aufrecht erhalten könnte!
Und, da wir uns alle
dann auf längere Zeit verdingen würden, käme jedenfalls dies künftig nicht mehr
in Frage: Schicksalhafte Themen kurzerhand für den Wahlkampf zu tabuisieren,
wie etwa grad eben noch die Auslandseinsätze und die Reform der Bundeswehr.
P.S. Quelle zum letzten Absatz:
http://www.presseportal.de/pm/
(113) 6.12.2013
DAS PARLAMENT, abgedruckt 30.12.2013
Berichterstattung / Kommentierung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr in DAS
PARLAMENT v. 2.12.2013 (Alexander Heinrich „Mit doppeltem Einsatz“, S. 1;
Jörg Biallas „Schwerste Entscheidung“, S. 1; Pro & Contra Abzug aus
Afghanistan, S. 2; Interview mit André Wüstner, Vors. Bundeswehrverband,
„Ein enormer Kraftakt“, S. 2; Eric Chauvistré „Operation Abwarten“,
S. 3; Dokumentation laufender Auslandseinsätze S. 4f)
Wenn wir ehrlich sind:
Bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr ist in den vergangenen Jahren zu wenig
so gelaufen wie geplant. Die Kosten, der militärische ebenso wie der zivile
Blutzoll und die Dauer der Engagements waren in praktisch jedem Einzelfall höher,
einschneidender und letztlich irreversibler als prophezeit. Darum freue ich
mich über die breite Abdeckung im (Periodikum) Parlament. Aber ich bin tief
verärgert über den quasi nicht messbaren Stellenwert, den die Politik dem
Souverän, dem lebenden Wähler zugemessen hatte. Tatsächlich hatte der
amtierende Verteidigungsminister ja noch im Mai 2013 den Spitzenkandidaten der
SPD darin bestärkt, die Bundeswehr einschließlich der Auslandseinsätze und der
Neuaufstellung aus dem Wahlkampf herauszuhalten.
Das erfüllt nicht meinen Anspruch an die demokratische Behandlung von
Schicksalsfragen und auch nicht an eine Politik, die den historischen
Erfahrungen Deutschlands gerecht wird.
Aus meiner Sicht ist
nicht nur das Für und Wider einzelner Einsätze sorgfältig abzuwägen. Wenn wir
als Staat politisch gebildeter Bürger lernfähig sein wollen, dann muss die
Politik vor jeder Wahl Rechenschaft ablegen über Nutzen und Lasten und über ihr
daraus schlüssig abgeleitetes künftiges Programm für den Einsatz auswärtiger
Gewalt – mit nachvollziehbaren Grenzen für eben dieses künftige Gewalthandeln,
nicht mit Passepartouts wie „Krise“, „Konflikt“ und „Vorsorge“. Diese mögen
zwar das Mit-Entscheiden in Bündnisgremien erleichtern; sie lassen aber den
ersten, den aufgeklärtesten und für uns Bürger wichtigsten Abschnitt des
Grundgesetzes de facto leer laufen.
P.S. Quelle zur
zitierten Äußerung von Lothar de Maizière im Wahlkampf zum 18. Bundestag:
http://www.presseportal.de/pm/
Anmerkung: Das ist der Standard seit ca. 20 Jahren, siehe eine entsprechende
Positionierung von BM Kinkel gegenüber n-tv am 10.9.1993 = http://www.vo2s.de/mi_1993_
(112) 27.10.2013
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 29.10.2013
NSA-Abhörskandal, Peter Pauls „Wir sind alle Merkel“ (KStA v. 26./27.10.2013,
S. 4)
Dass das Misstrauen
gegenüber der Kanzlerin in Potenz Misstrauen gegenüber uns alle bedeute, das
stimmt m.E. nur bedingt. Die Dienste verfolgen sehr differenzierte Strategien –
und müssen dies schon aus reiner Ökonomie:
- Schlüsselpersonen wie die Kanzlerin sind zur Optimierung von
Beeinflussungs- und Verhandlungsstrategien im Fokus, wie es Susan Rice in ihrer
damaligen Funktion als UN-Botschafterin mal freimütig bekannte: Wie froh sie
doch sei über die „intelligence“ des
NSA, da sie immer „in Verhandlungen einen Schritt voraus“ sei!
- Normal Sterbliche wie wir sind eher Gegenstand einer
Rasterfahndung, mit ihren Daten aus Reisen, aus Mail- und
Internet-Kommunikation und aus dem grenzüberschreitenden Austausch der Dienste.
Online-, Telefon- und Post-Überwachung kommen dabei auch in Betracht, sind aber
nur eine Eskalationsstufe für eine begrenzte Zahl von Fällen.
- Am schlechtesten zu
greifen, aber unzweifelhaft laufende Aktivität gegnerischer wie befreundeter
Dienste ist der dritte Sektor, die Unterstützung der Wirtschaftspionage. Leider hatte hier das Zauberwort
„Terrorismusbekämpfung“ nach nine-eleven
alle Schutzdeiche eingerissen. Hier liegt aus meiner Sicht ganz wesentlicher,
aber vielfach noch ausgeblendeter politischer Reparaturbedarf.
(111) 7.10.2013
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 25.10.2013
Tag der Einheit; Beiträge von Roman Deininger "Unser Land ist keine
Insel" (Süddeutsche v. 4.10.2013, S. 5) und Nico Fried "Rückzug ins
Nirgendwo" (Süddeutsche v. 7.10.2013, S. 4)
Der Bundespräsident
verlangt mehr "Solidarität" und eine "Versicherungspolice",
die wir militärisch gesehen in Zukunft persönlich zahlen sollen. Wer genau hat
aber unsere Solidarität verdient? Ein befreundeter Staatsmann, der seine Allianz
vergrößern und damit überzeugender und schlagkräftiger gestalten will, oder
doch Menschen, deren Menschenrechte wir bei einem Einsatz im Ausland ebenso
fördern wie auch unumkehrbar verletzen können? Gaucks Appell für mehr, auch
mehr militärisches Engagement in der Außen- und Sicherheitspolitik und gegen
deutsches Ohnemicheltum könnte ich ja nachvollziehen, gäbe es so etwas wie
erfolgreiche Benchmarks aus gelungenen Einsätzen und eine klare
Handlungsstruktur nach Qualität des kategorischen Imperativs, idealiter im
vergangenen Wahlkampf zur Diskussion gestellt und durch klares Wählervotum
legitimiert. Aber genau daran hatten die Volksparteien wohl kein lebhaftes
Interesse. Hätte sonst noch im Mai Verteidigungsminister de Maizière den
Kanzlerkandidaten Steinbrück ausdrücklich dafür gelobt, dass der die
Bundeswehr, die Neuaufstellung und die Auslandseinsätze aus dem Wahlkampf
heraushalten wollte?
Ein Vorgänger Gaucks
hatte zum fünfzigjährigen Bestehen der Bundeswehr im Jahre 2005 die Form
skeptischer Fragen aus der Sicht von Wahlbürgern gewählt, darunter auch,
"welchen Schutz die neue Sicherheitspolitik verspricht, welche Gefahren
sie mit sich bringt, ob der Nutzen die Kosten wert ist und welche politischen
Alternativen Deutschland und die Deutschen bei alledem eigentlich haben".
Er hatte auf der damaligen Kommandeurtagung in München eine breite
gesellschaftliche Debatte der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik
verlangt und die Vorbereitung konkret bei Parlament, Regierung und Parteien in
Auftrag gegeben. Dies mit der sehr schlüssigen Erwägung, dass die Bürger erst
dann die "nötige demokratische Kontrolle ausüben können". Das hätte
ich mir von Joachim Gauck schon als Replik auf den im Mai regierungsseitig
verhängten verteidigungspolitischen Maulkorb gewünscht - aber spätestens am
vergangenen Sonntag, beim sang-, klang- und vor allem Rechenschafts-losen
Räumen des Feldlagers in Kundus.
P.S. Quellen zum zweiten Absatz
Vorgabe de Maizières für den 2013er Wahlkampf:
http://www.presseportal.de/pm/
Rede von Bundespräsident Horst Köhler am 10.
Oktober 2005:
http://www.bundespraesident.
(110) 4.10.2013
DIE WELT, abgedruckt 11.10.2013
Tag der Einheit; Bericht / Kommentar zu Joachim
Gaucks Rede "Die Freiheit in der Freiheit gestalten" v. 3.10.2013 (Torsten Krauel,
„Inselrepublik Deutschland“, DIE WELT v. 4.10.2013, S. 1, und Hannelore Crolly
„Deutschland ist keine Insel“, ebenda S. 4)
Sehr richtig, die
außenpolitische Debatte ist überfällig, im Grunde seit 20 Jahren. Joachim Gauck
adressiert dafür in seiner Rede zur Einheit die Bürgerinnen und Bürger. Nur:
Wie kann der Diskurs dort beginnen? Für den Wahlkampf zum 18. Deutschen Bundestag
hatten sich Lothar de Maizière und Paar Steinbrück just das Gegenteil
vorgenommen und sie waren darin auch recht erfolgreich – nämlich die Bundeswehr
aus dem Wahlkampf heraus zu halten.
Will man dagegen
bürgerliche Aufmerksamkeit und demokratische Substanz für die Aufgabe schaffen,
dann braucht es offenbar etwas anderes: Auswahlfähige, differenzierte Aussagen
der einzelnen Parteien, welche abgrenzbaren Aufgaben sie den Streitkräften in den
kommenden vier Jahren zuweisen wollen, andererseits, welche Fähigkeiten oder
Fallgruppen als Lehre aus den Einsätzen – gerade auch aus ISAF! – ausscheiden
sollen. Exakt ein solches Verfahren hatte der frühere Bundespräsident Horst
Köhler der Politik in seiner hellsichtigen Rede
zum fünfzigjährigen Bestehen der Bundeswehr am 10. Oktober 2005 ins
Stammbuch geschrieben.
(109) 21.5.2013
Kölner Stadt-Anzeiger, publiziert 21.5.2013 unter http://www.ksta.de/politik/bundesrechnungshof-schon-frueh-bedenken-gegen-drohnenprojekt-,15187246,22799754,view,DEFAULT.html
gestoppte Beschaffung der Euro-Hawk-Drohne; Mira Gajevic „Druck auf de Maizière
wächst“, u. „Der fliegende Wal ist gestrandet“; Steffen Hebestreit „Im
Blindflug“ (KStA 21.5.2013, S. 1, 2 u. 4)
Die Drohnenprojekte
sind von der Art, die Regierungschefs, Verteidigungs- und Haushaltsausschüsse
schnell und nachhaltig betören kann: Trendige technokratische Problemlösungen
mit einer eingängigen Legende, mit dem Versprechen, auswärtige Gewalt ohne Reue
und gemeinsam mit Waffen- und Rüstungspartnern projizieren zu können,
perspektivisch gar noch bei anderen Waffensystemen einige Euro sparen zu
können.
Wie ein Schelmenstück
wirkt, wenn die deutschen Drohnen nun an Verkehrsregeln scheitern. Und nicht an
dem sehr ernsthaften Argument, dass sie nur ein weiteres Beispiel eskalierender
Rüstung sind, mit eher Konflikt-stärkendem als Konflikt-lösendem oder gar
Konflikt-vorbeugendem Potenzial, und dass sie in einem völkerrechtlichen
Schattenreich operieren.
(108) 22.1.2013
DIE ZEIT, abgedruckt 31.1.2013
Mali; Andrea Böhm "Al-Kaida im Nachbarhaus" (DIE ZEIT 17.1.2013, S.
5)
Okay – mögen unsere
Politiker uns Bürger mal nicht verwöhnen, sondern intellektuell fordern, nach
bester Pädagogen-Manier: Mit einer ergebnisoffenen Debatte um die eigenen
Interessen, die eigene Rolle und die künftige Priorität unserer Außenpolitik.
Nicht nur an einem ad-hoc-Beispiel, sondern wie es sich für Demokratie und
Rechtsstaat gehört, also ganz nach Muster des kategorischen Imperativs. Dazu
gehört auch eine offene Evaluation der bisherigen Missionen, des jeweiligen
Nutzens, der Folgen und Lasten, also der „lessons learnt“. Oder: Wie effektiv
konnte Deutschland konkret welche Interessen militärisch wahren, in den bald
zwanzig Jahren „out-of-area“? Ich
befürchte nur: Unsere politische Klasse denkt noch immer so, wie es der
damalige Außenminister Kinkel im
Bundestagswahlkampf 1993/94 einmal in einem Interview mit n-tv freimütig
bekannte: „Ich möchte wirklich ungern mit diesem Thema in zwanzig Wahlkämpfe
gehen, weil dies Deutschland schadet.“ Solches Denken macht zwar das
Bündnisleben leichter, höhlt indessen die Demokratie aus.
Anzumerken bleibt: Der
Konflikt in Mali und mögliche Lösungswege sind wohl nicht ohne die ursächliche
Wirkung voran gegangener Auseinandersetzungen zu erfassen, insbesondere in
Afghanistan und im Maghreb. Belmokhtar
und Bin Ladin haben eine sehr
ähnliche Entwicklung genommen; beide wurden mit der Unterstützung von
Amerikanern und Pakistanis als hocheffiziente Mu’dschaheddin konditioniert
oder: im Dschihad gegen das sowjetische Dar al-Harb, das Haus des Krieges.
Krieg gegen den Westen, gegen das Nachbarhaus der Sowjets, ist da nur ein
minimaler Übersprung. Jeder dieser Konflikte, ob in Afghanistan, im Irak, in
Libyen oder nun in Mali taugt offenbar ohne Weiteres als Brutreaktor eines
folgenden. Das sollten wir ins Kalkül ziehen.
(107) 22.1.2013
FOCUS, abgedruckt 28.1.2013
Mali; Harald Kujat "Gute Gründe zum Handeln" (FOCUS 4/2013, S. 30)
In einem militärischen
Eingriff zu Gunsten eines bedrohten Regimes steckt das jedenfalls
stillschweigende Versprechen, man wolle das betreffende Land in die eigenen
Wirtschaftsbeziehungen einbinden und so auch dauerhaft stabilisieren,
jedenfalls nach erfolgreichem Abschluss der Kampfhandlungen. Auch Harald Kujat betont in seinem Planspiel
zu Recht den ökonomischen Teil einer Gesamtstrategie. Realitätsnah scheint mir
eine solche Perspektive im Falle Malis aber nicht zu sein – wenn dies schon bei
einem kulturell wie ökonomisch recht nahe stehenden Land wie Griechenland trotz
jahrzehntelanger systematischer Bemühung beider Seiten nicht recht glücken
will. Um gar nicht erst von einem strukturell besser vergleichbaren und
weitgehend hoffnungslosen Fall wie Afghanistan zu sprechen.
Ich sehe erhebliche
Risiken und - wenn überhaupt - dann ausschließlich gruppendynamische bzw.
bündnispolitische Gründe für ein robustes Mitwirken, und zwar nach dem eher
berüchtigten Muster "TINA"
oder: there is no alternative.
(106) 15.1.2013
DIE WELT, abgedruckt 18.1.2013
Mali; Kommentar Michael Stürmer "Spät kommt ihr" (DIE WELT 15.1.2013,
S. 3)
Wenn Konflikte dieser
Art mehr und mehr zur Regel werden, dann sollte jedenfalls ein Rechtsstaat,
sollte insbesondere eine Demokratie möglichst trennscharfe Regeln für den
Einsatz und die Grenzen militärischer Gewalt ausbilden, sollte also
Berechenbarkeit, Vertrauen und Klarheit nach innen und außen schaffen. Das
braucht auch keine 100.000 Seiten; ganz sicher würde eine einstellige Zahl
völlig reichen. Wenn es nur einmal jemand anpacken würde, dabei auch nüchtern
die Erfahrungen aus Somalia, dem Irak und Afghanistan nutzen würde. Im ersten
relevanten Bundestagswahlkampf nach der 1990er Zeitenwende hatte sich der
damalige Außenminister Kinkel noch
sehr bedeckt gehalten: Er wolle mit diesem Thema nicht in Wahlkämpfe gehen,
weil das Deutschland schade. Gerade steht wieder eine Wahl an - es ist noch
nicht zu spät.
Noch eine Anmerkung:
Die Waffen der malischen Islamisten stammen, wenn ich's recht verstehe, nicht
nur aus schlecht gesicherten Beständen Gaddafis,
sondern zu einem signifikanten Teil auch von den früheren libyschen
Aufständischen bzw. von deren Unterstützern sowie aus ähnlich gelagerten
Konflikten. Hergestellt sind sie allesamt in Industriestaaten.
(105) 5.7.2012
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 13.7.2012
Auftrag der Bundeswehr; Vorstoß von BM de Maizière für eine gesellschaftliche
Debatte des Bundeswehr-Auftrages
(Joachim Käppner, "Armee im Ungewissen", Süddeutsche v. 3.7.2012, S.
4, Daniel Brössler, "Einsatz überall", Süddeutsche v. 2.7.2012, S. 5)
Die eine Sicht: Nach 20
Jahren ist die erweiterte Außen- und Sicherheitspolitik tief eingeschliffen,
der Bundestag hat mehr als hundertmal zugestimmt und niemals dagegen, eine
Debatte kommt viel zu spät und sie könnte nur noch absegnen, aber keinen politischen
Willen mehr bilden. Absegnen im Sinne des ständigen, aber bloß binnen-ethischen
Narrativs „Mitmachen, nicht nur schmarotzerhaft profitieren!“. Oder mit dem
Ziel eines Blankoschecks für das Bündnis.
Die andere Sicht:
Zwanzig Jahre neue Militärpraxis geben allerbeste Gelegenheit zur detaillierten
demokratischen Rechenschaft: Genau was wollen und was konnten wir mit genau
welchen staatlichen Gewaltmitteln kurieren? Und wichtiger noch für einen
Rechtsstaat: Was wollen wir definitiv nicht? Die vage Vermutung de Maizières, Deutschland habe in
prinzipiell allen „Regionen der Welt etwas zu suchen“, die kann es doch nicht
sein. Man wende nur die „golden rule“ oder den kategorischen Imperativ darauf
an: Dann hätten prinzipiell alle Staaten und Regionen der Welt auch bei uns
„etwas zu suchen“. Das möchte ein Verteidigungsminister sicher nicht so recht
leiden.
Erfreulich ist immerhin
sein frisches Bekenntnis zur Demokratisierung der Außen- und
Sicherheitspolitik. Das wäre eine völlig neue Debattenkultur. Außenminister Kinkel etwa hatte im 94er Wahlkampf klar
gesagt, er wolle mit dem Thema lieber nicht „in zwanzig Wahlkämpfe gehen, weil
das Deutschland schadet.“ Und Verteidigungsminister Jung hatte im Oktober 2006 den Versuch öffentlicher Debatte
entnervt drangegeben, als BILD just am Tage der Pressekonferenz zum brandneuen
Bundeswehr-Weißbuch mit dem – damals bereits betagten – Kabuler Schädelskandal
aufgemacht hatte. Danach ist er mit dem Diskurs nie mehr in Tritt gekommen und
auch die höchst bemerkenswerte Rede Köhlers
zum fünfzigjährigen Bestehen der Bundeswehr – die Rede mit den mehr als zwanzig
Fragen zu Aufgabe und Einbettung der Streitkräfte – sie war damit folgenlos
verpufft. Die Fragen aber stehen heute noch an, nach Afghanistan mehr denn je.
·
Interview MDR / BM de Maiziére v. 1.7.2012
http://www.mdr.de/nachrichten/bundeswehr180_cpage-1_zc-aae7aa91.html
· Weißbuch 2006 (siehe
zur intendierten gesellschaftlichen Debatte insbesondere Vorwort der Kanzlerin
a.E.)
http://www.bundeswehr.de/resource/resource/MzEzNTM4MmUzMzMyMmUzMTM1MzMyZTM2MzEzMDMwMzAzMDMwMzAzMDY3NmE2ODY1NmQ2NzY4MzEyMDIwMjAyMDIw/WB_2006_dt_mB.pdf
· Rede v. BPräs Dr. Köhler v. 10.10.2005
http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2005/10/20051010_Rede.html
(104) 12.6.2012
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 18.6.2012
Reform des Parlamentsbeteiligungsgesetzes; Bericht von K.F. “CDU-Politiker
fordern Flexibilität für Bundeswehreinsätze” (Frankfurter Allgemeine 6.6.2012,
S. 5)
Das CDU-Papier v.
30.5.2012 „Europas sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit stärken. Es ist
höchste Zeit“ bezieht sich auf ein Glaubwürdigkeitsproblem deutscher
Sicherheitspolitik und zitiert dafür die deutsche Enthaltung bei der
Libyen-Resolution. Als Remedur wird nun ein vertrauensbildender Blankoscheck
empfohlen – ein jährlicher Vorratsbeschluss des Parlaments nach allgemeiner
Lagedebatte zur weiteren Ausfüllung durch den Europäischen Rat oder den
Nato-Rat.
Aber hat die deutsche
Sicherheitspolitik nicht ihr Glaubwürdigkeitsproblem zu allererst gegenüber den
Bürgern, die etwa den Afghanistan-Einsatz über mehrere Legislaturperioden mit
demoskopisch verlässlicher Mehrheit ablehnen? Müsste man nicht zumindest eine
glaubwürdige Evaluation der bisherigen und der noch laufenden Interventionen
anbieten? Von erreichten Zielen, von einer Bilanz auch der Kosten, Lasten und
Nebenfolgen spricht das Papier allerdings an keiner Stelle.
An dem Vorschlag fällt
auch auf: Das Poolen von Infrastruktur und Personal ist – ebenso wie die
kontinuierliche Häutung der Nato nach 1989 – nun überhaupt nichts Neues oder
Aufregendes. Bündnisfähigkeit war und ist in den inzwischen mehr als hundert
Einsatzdebatten das absolut am häufigsten genutzte Einzelargument. Und gerade
integrierte (AWACS-) Einsätze haben einerseits 1994 den Parlamentsvorbehalt als
bündnisspezifische Alternative zum Gesetzesvorbehalt ausgelöst; sie haben
andererseits das Verfassungsgericht im Jahre 2008 veranlasst, in der markanten
Türkei-Entscheidung ausdrücklich auf die besonderen Risiken von
„Bündnisroutine“ und „exekutiven Gestaltungsfreiräumen“, auf die
„Eigengesetzlichkeiten der Bündnissolidarität“ hinzuweisen, auf die „erheblichen
Risiken für Leben und Gesundheit deutscher Soldaten“ und auf die Funktion der
„Beteiligung der Opposition in freier politischer Debatte“. Dies mache es „der
öffentlichen Meinung besser möglich, über die politische Reichweite des
jeweiligen Einsatzes zu urteilen“. Damit dürfte der nunmehrige Vorschlag vor
Gericht niemals Bestand haben.
· CDU-Papier „Europas
sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit stärken - Es ist höchste Zeit“
http://www.roderich-
· Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts v. 7.5.2008 = 2 BvE 1/03 (siehe dort Nrn. 67-73 der
Gründe)
http://www.
(103) 16.3.2012
Frankfurter Allgemeine; abgedruckt 24.3.2012
Zukunft Afghanistans; Günther Nonnenmacher, „Afghanische Traditionen“
(Frankfurter Allgemeine v. 16.3.2012,S. 1):
„Kaum zu vermeiden“,
das mag man auch vom Beginn der Afghanistan-Mission sagen, auch zu Verlauf und
mutmaßlichem Ende derselben und sogar zu ihrem wohl gewaltsamen Nachspiel. Wäre
aber dann nicht der ideale Zeitpunkt zu überlegen oder gar mit allem verfügbaren
Verstand zu objektivieren, was an unseren Expeditionen und Missionen der
letzten zwanzig Jahre so geschickt war – was Gewinne waren und was Kosten und
Lasten?
Vielleicht gibt es doch
Lektionen, die zu wiederholen wir vermeiden können. Und zwar, bevor daraus
eigene Traditionen werden.
(102) 7.8.2011
DIE ZEIT, abgedruckt 18.8.2011
zu Jens Jessen "Unsere Kreuzritter", Henrik Eberle "Norwegens
falscher Tempelritter" u. zum Interview von Evelyn Finger mit Saskia
Wendel, DIE ZEIT Nr. 32 v. 4.8.2011, S. 49, 60:
Aus der grauenhaften
Tat in Norwegen folgt eine nicht so völlig überraschende Lehre: Es bedarf
keiner besonderen Organisation oder quasi-staatlicher Ressourcen, um massiven
Terror zu verbreiten. Und die lange Abwesenheit von Terror nach 9-11-Maßstab
ist vermutlich gar nicht unseren Diensten und einer Polizei zu danken, die
unermüdlich einen sprungbereiten und hoch aggressiven Islam in Schach halten.
So sehr das auch zu deren Ressourcen-sicherndem Selbstbild gehören mag. Wenn
nun der angebliche Feind so gar nicht seinem Feindbild entsprechen will, dann
versucht vielleicht auch niemand ernsthaft, uns in unserem so offenen Habitat
zuschädigen, jedenfalls nicht in effizient organisierter Form.
Das führt zu der
weiteren möglichen Ableitung: Das Verhalten des Attentäters ist auffällig
selbstähnlich zum Verhalten und zur organisierten Paranoia ganzer westlicher
Staaten. Diese haben in den letzten 20 Jahren - eben schon deutlich vor 2001 -
eine stetig zunehmende außenpolitische Gewaltbereitschaft entwickelt,
typischerweise gegenüber kleineren Subjekten des Völkerrechts, und sie haben in
ihr öffentlich beworbenes Repertoire auch Tabu-brechende Strategien wie das targeting und decapitating integriert, haben ferner gegenüber zivilen Opfern
ihrer Missionen eine zumeist achselzuckende Teilnahmslosigkeit aufgebaut, die
mit der Dauer, Intensität und Aussichtslosigkeit der Missionen immer weiter
zunahm. Das entspricht in etwa wieder der Denke, die während des ersten
Weltkriegs in einem gängigen Katechismus mit einer beim 5. Gebot eingedruckten
Fußnote die Feldseelsorge glättete: "Gilt nicht im Kriege!"
Insoweit kommen
endemische Xenophobie und Gewaltbereitschaft zusammen. Sie könnten bei
verrückbaren, narzisshaften und herostratischen Charakteren, zu denen der
norwegische Attentäter nach seiner eitlen Selbstdarstellung gezählt werden
dürfte, das Koordinatensystem grundlegend verschieben und Gewalt-Innovationen
triggern. Der dieser Tage häufig zitierte Timothy
McVeigh war ähnlich gestrickt. Er hatte dazu aber wohl noch
traumatisierende Gewalt-Erfahrungen, wie sie sich heute auch bei unseren
Soldaten Tag für Tag anreichern.
(101) 21.6.2011
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 1.7.2011
Bundeswehrreform; Peter Blechschmidt " 'Es ist eine Ehre, Soldat zu sein'
" (Süddeutsche 18./19.6.2011, S. 8), Sebastian Beck, "Karriere, Geld
und ein paar tödliche Risiken", (aaO), Caroline Ischinger, "Elite im
Verborgenen" (aaO S. 9)
Schwups, da ist sie ja,
die schöne neue Armee - im Wahlkampf zum 17. Bundestag nicht angekündigt,
jedenfalls nicht von der größten und derzeit die Regierung tragenden
Volkspartei. "Wahlbetrug" hieß es solchen Fällen früher gerne schon
einmal. Und von denen, die für ein pazifistisches Klientel über Jahre auf den
Fall der Wehrpflicht hingearbeitet hatten, hören wir nun schwerelos kühne
geopolitische Töne, ebenfalls so nicht angekündigt, und sie zeihen die
Regierung der Feigheit vor dem Bündnis, wg. Libyen. Die Wende weg von
wesentlichen Geschäftsgrundlagen des Wahlkampfs stammt übrigens just aus einer
Phase, die man auch eine medial-ministerielle Trunkenheitsfahrt nennen könnte.
Das Ärgste aber ist für
mich nicht einmal, dass die Reform nicht auf einer breiten gesellschaftlichen
Debatte aufsetzt, wie sie der damalige Bundespräsident zum 50. Geburtstag der
Bundeswehr schlüssig - und bis heute unerhört - gefordert hatte. Lothar
de Maiziére will uns Bürgern ja eher etwas erklären als mit uns Inhalte
auszuhandeln.
Wirklich schlimm ist:
Zur realen Umsetzung will die Regierung verstärkt die regionalen und
gesellschaftlichen Potenzialunterschiede bei Arbeit, Besitz und Bildung
ausbeuten. Oder: Wir versprechen Lebens- und Gleichheitschancen in einer Art
Lotterie, bei der Alternativlose ihre existenziellen Rechte einsetzen sollen.
Das ist kein Meisterstück eines demokratisch verfassten Rechtsstaats, der
Grundrechte effizient schützen will, und kein Simile für die Regionen und
Völker, denen wir unsere westliche Lebensform militärisch näher
bringen wollen.
Quellen / Nachweise
· Zur Position der
Parteien im Wahlkampf zum 17. Bundestag: http://www.vo2s.de/mi-
· Zu BPräs. Köhlers Rede
auf der Kommandeurtagung am 10.10.2005: http://www.bundesregierung.de/
· Zur bereits derzeit
stark asymmetrischen Rekrutierung: http://www.vo2s.de/mi_selekt.
· Zum
neuen geopolitischen Realismus-Drang der GRÜNEN s. Cem Özdemir
"Deutschland im Abseits", DIE WELT v. 30.5.2011 (http://www.welt.de/print/die_
· Zur Geheimhaltung
/ KSK siehe insbesondere die Anhörung im GO-Ausschuss am 25.9.2008: http://www.vo2s.de/mi_pbg-anh.
(100) 8.6.2011
DER SPIEGEL, abgedruckt 20.6.2011
Afghanistan-Krieg; Susanne Koelbl u. Christoph Reuter "Die Stimmung wird
kippen" (DER SPIEGEL 23/2011, S, 36)
Die Parallelen zu
Vietnam sind erschreckend: die ungenügende "intelligence", das naive
Vertrauen auf Technologie, das zu späte öffentliche Einräumen eines Krieges,
das Brandmarken des lokal verwurzelten Gegners als Terrorist und
Aufständischer, das verdrängte und durch Eskalation hinausgezögerte Scheitern -
siehe die erleuchtende Dokumentation "The
Fog of War". Und wie im Falle Vietnams geht die Wehrpflicht über die
Planke, um eine neue Art Krieg exekutierbar zu halten, führbar selbst für alte
Pazifisten. Das ist eine sehr falsch verstandene Botschaft des Lehrmeisters
Krieg.
P.S.:
Zum Dokumentarfilm „The Fog of War. Eleven Lessons from the Life of Robert S.
McNamara“ (Regie und Interview v. Errol Morris, 2003) http://en.wikipedia.org/wiki/The_Fog_of_War (Film); http://en.wikiquote.org/wiki/Robert_McNamara (Auszüge).
(99) 2.6.2011
DIE WELT, abgedruckt 6.6.2011
Bundeswehrreform; Simone Meyer "Wir haben Verantwortung" (DIE WELT v.
1.6.2011, S. 2)
Simone Meyer hat völlig
Recht: Das Rückkoppeln von dort, wo es wehtut, nach dorthin, wo militärisch
geplant, wo parlamentarisch entschieden und wo - ja: von uns! - demokratisch
gewählt wird, das funktioniert nicht effizient, zumal nicht nach Aussetzen der
Wehrpflicht.
Aber warum nicht eine
online für alle Bürger greifbare Darstellung der persönlichen Geschichten
derjenigen jungen Männer und Frauen, die in den Einsätzen ihr Leben gelassen
haben? Das jeweilige Einverständnis der Familien vorausgesetzt, wäre das
eingängiger als alle abstrakten Denkmäler, die nun einmal wenig Identifikation
und Verantwortung unterstützen können. Und es wäre ein bleibender Nachruf für
die, die eine besondere Verantwortung übernommen haben.
(98) 6.4.2011
DIE WELT, abgedruckt 9.4.2011
ungleicher Wehrbeitrag von West und Ost; Michael Wolffsohn u. Maximilian
Beenisch: "Das Militär ver-ostet" (DIE WELT v. 5.4.2011, S. 2):
Richtig, am Hindukusch
verteidigt, wenn man es pointiert sagt, die Jugend Mecklenburg-Vorpommerns die
Interessen der Landeskinder Baden-Württembergs. Ihr Wehrbeitrag war z.B. 2002
um den Faktor 10 größer! Die breite Koalition für das "Aus" der Wehrpflicht
hatte genau das verdrängt: Ihr Projekt ist wie Verleitung zur Prostitution -
Vater Staat bietet Arbeit und/oder Bildung gegen das Risiko von ernster
Verletzung oder Tod. Dabei drängen sich die Bürgerinnen und Bürger der neuen
Bundesländer nicht einmal; sie bewerten Auslandseinsätze deutlich kritischer
als ihre Vettern und Cousinen im Westen, sehen allerdings häufig keine
Alternative.
Als erstes aber müssen
wir überprüfen, was am Einsatz auswärtiger Gewalt in den letzten zwei
Jahrzehnten ein international akzeptables Erfolgsmodell wurde und was zudem
Lebensfragen des Gemeinwesens konkret gefördert hat. Viel mehr als der
dringende Wunsch, unter Freunden nicht im Abseits zu stehen, wird bei einer
systematischen Prüfung kaum heraus zu präparieren sein.
P.S.: Auswertung von
Zahlen des SOWI aus dem Jahre 2002 (Relation Arbeitslosigkeit / Wehrbeitrag der
Bundesländer): http://www.vo2s.de/mi_selekt.htm
(97) 14.2.2011
DIE WELT, abgedruckt 17.2.2011
Rekrutierung von Ausländern für die Bundeswehr; Günther Lachmann
"Bundeswehr soll auch Ausländer aufnehmen" (WELT v. 14.2.2011, S. 1):
Die Erweiterung des
Gesichtskreises der Bundeswehr auf Ausländer macht mehrfachen Sinn. Die
Fremdrekrutierung hat viel Kampfesfreude in die eigenen Reihen getragen, etwa
mit den Janitscharen
der Osmanen – das würden wir jetzt mit umgekehrten Vorzeichen nachahmen – oder
mit den Gurkha-Verbänden aus dem
Commonwealth. Ausländer ohne Wahlrecht sind auch elektoral neutral, würden
darum auch den Grünen oder der SPD nicht die Wahl-Suppe versalzen, auch nicht
bei den Konflikten mit nachhaltig geringer inländischer Akzeptanz. Und man kann
den Fremden ohne besondere Rücksicht auch solche Aufträge geben, die mit
Lebensfragen der Nation - wie früher Verteidigung - immer weniger zu tun haben,
immer mehr dagegen mit der Wahrung partikulärer Interessen.
Freunde allerdings
macht man sich damit wohl nicht.
(96) 7.1.2011
DAS PARLAMENT, abgedruckt 17.1.2011
Bürgerprotest und Bürgerbeteiligung (Ausgabe v. 3.1.2011)
Ein demokratisch
innovativer und womöglich erfreulich dämpfender Ansatz wäre, nun endlich dem
Rat Immanuel Kants aus seinem klugen Büchlein "Zum ewigen Frieden"
des Jahres 1795 zu folgen: Nämlich das Volk und damit die eigentlichen
Lastenträger darüber abstimmen zu lassen, ob Krieg sein soll. Oder - nach
Aussetzen der Wehrpflicht - wenigstens die Soldatinnen und Soldaten.
P.S.
Die zitierte Passage findet sich im 2. Abschnitt / 1. Definitivartikel der
Schrift (in der empfehlenswerten Reclam-Ausgabe auf S. 12f) und lautet:
„Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders seyn
kann) die Beystimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen,
„ob Krieg seyn solle, oder nicht," so ist nichts natürlicher, als daß, da
sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten (als da
sind: selbst zu fechten; die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Haabe
herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich läßt, kümmerlich zu verbessern;
zum Uebermaße des Uebels endlich noch eine, den Frieden selbst verbitternde,
nie (wegen naher immer neuer Kriege) zu tilgende Schuldenlast selbst zu
übernehmen), sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen.“
Siehe zum Gesamttext: http://www.sgipt.org/politpsy/vorbild/kant_zef.htm
, wo Kants
Büchlein einleitend als eine "frühe deutsche whistleblower-Schrift"
annonciert ist. Ganz zu Recht.
(95) 29.12.2010
Spektrum der Wissenschaften, abgedruckt im Februar-Heft 2011
Militär-Robotik; P. W. Singer "Der ferngesteuerte Krieg" (Spektrum
12/2010, S. 70ff)
Es ist nicht
ungewöhnlich, dass Machthaber Kriegshandlungen entformalisieren, camouflieren
oder distanzieren. So können sie diese elegant aus der rechtlichen oder
öffentlichen bzw. demokratischen Kontrolle heraushalten, können die auf Dauer
verräterische Schmerzleitung weitestgehend kappen. So dienen fernwirkende oder
automatisierte Waffen, Söldnersysteme, das so genannte targeting/decapitating
und der Verzicht auf Kriegserklärungen damit ähnlichen Interessen, sind aber
alle ähnlich kurzsichtig. Schon Kant brandmarkte in seiner hellsichtigen
Schrift "Zum ewigen Frieden" alle Feindseligkeiten, die ohnmächtigen
Hass schüren und das wechselseitige Vertrauen in einem künftigen Frieden
unmöglich machen, als "ehrlose Stratagemen", etwa auch die Anstellung
von Meuchelmördern. Heute müsste er konsequenterweise die Drohnen einbeziehen.
Kurzsichtig sind alle diese Strategien, weil der mit einem ähnlichen
Denkapparat gesegnete Gegner nur neue Wege ersinnen muss und wird, um die
Kriegswirkung seinerseits wieder zurück zum Volk, zum eigentlichen
Ressourcengeber zu tragen, etwa durch Terrorismus. Spanien war ein Beispiel.
Kant gab den entgegen
gesetzten Fingerzeig, indem entweder das Volk unmittelbar über die
Kriegshandlungen entscheiden sollte oder er - mit einem Augenzwinkern - die
Rückkehr zum guten alten Zweikampf der Häuptlinge empfahl, wo Plan, Ausführung
und rückkoppelndes Schmerzempfinden ohne jeglichen Signalverlust oder Irrtum in
einer Person zusammen fallen, wo verheerende und endlose Waffengänge dann per
definitionem ausgeschlossen sind.
Quelle
Immanuel Kant, Zum Ewigen Frieden, 2. Aufl. 1796:
- ehrlose Stratagemen: Präliminar-Artikel Nr. 6 (Reclam-Ausgabe v. 1984, S. 7),
- Beistimmung der Bürger zur Kriegserklärung: erster Definitiv-Artikel (Reclam
S. 12f),
- Zweikampf: zweiter Definitiv-Artikel, bei und in der Fußnote (Reclam S. 16f)
Siehe auch http://de.wikipedia.org/wiki/Zum_ewigen_Frieden
m.w.N.
(94) 22.12.2010
Newsweek, published Jan 10/17, 2011, see reference underneath
assassination of nuclear scientists of
Unfortunately, there is a bad tradition in assassination projects
deriving from
What's worse: Those dirty tricks are deadly poisonous to the underlying
values of the West - values dating back to the Roman "Leges Duodecim
Tabularum". Even that very ancient code of 450 a.C.n. constituted, that no
free man was allowed to be killed without a judicial decision.
In his booklet with the somewhat ironic title "Eternal Peace"
Immanuel Kant addressed means like assassination as an inherent obstacle to
future peace, right on his first pages: "No state shall, during war,
permit such acts of hostility which would make mutual confidence in the
subsequent peace impossible: such are the employment of assassins (percussores), poisoners (venefici), breach of capitulation, and
incitement to treason (perduellio) in
the opposing state". Or take Kant's Categorical Imperative: "Act only
according to that maxim whereby you can, at the same time, will that it should
become a universal law." And ask, whether we in the West should and would
accept assassination as a ubiquitous instrument of foreign policy. Knowing a
little about Hassan-i Sabbah, father of terrorism, I wouldn't propose.
Sources:
Trying to hit Adenauer: http://www.faz.net/s/RubFC06D389EE76479E9E76425072B196C3/Doc~E35BBCD5A37DA47809AD4F6A865C6332B~ATpl~Ecommon~Scontent.html
Duodecim Tabulae: http://www.hs-augsburg.de/~harsch/Chronologia/Lsante05/LegesXII/leg_ta09.html
Kant / Perpetual Peace: http://en.wikipedia.org/wiki/Perpetual_peace
Kant / Categorical Imperative: http://en.wikipedia.org/wiki/Categorical_imperative
History of assassinism: http://en.wikipedia.org/wiki/Assassins
My reader’s letter was
published in an abridged version, needing some additional comment:
http://www.newsweek.com/2010/12/13/killing-the-killers.html#comments
(93) 2.12.2010
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 8.12.2010
"Anschläge auf iranische Atomforscher"; F.A.Z. v. 30.11.2010, S. 6
"Targeting" und "decapitating" oder das gezielte
Ausschalten von strategisch interessanten Einzelpersonen, das hat sich in den
letzten Jahren in die Militärstrategien eingeschlichen, nach ein wenig
Konversionszeit auch in unser bürgerliches Denken. Eine Meldung wie die
aktuelle zu tödlichen Anschlägen auf iranische Atomforscher nimmt man heute
fast gelangweilt auf. Oder schon beifällig: Wie clever, vielleicht sogar
verhältnismäßig, könnte es doch helfen, einen handhaften Kriegseinsatz mit dann
wesentlich stärker einschneidenden Folgen zu vermeiden. Tatsächlich aber wären
wir zu den bösartigsten Formen des Terrorismus herabgestiegen, wie wir sie
historisch von den Assassinen kennen, und hätten zentrale Werte des Westens
verraten.
Handelten wir so, dann
wäre nicht sehr abwegig zu denken: Auch die Katastrophe von Kundus mit allen
ihren Geheimnisschleiern könnte nur eine etwas aus dem Ruder gelaufene
Bärenfalle oder Leimrute gewesen sein - angelegt und exekutiert, um den
Distrikt auf einen Schlag von führenden Taliban zu säubern. In diese Richtung
zeigte jedenfalls der Versuch einer realpolitischen Rechtfertigung in den
Wochen unmittelbar danach: Seht her, Widerstand und Anschläge sind doch
nachhaltig eingeschränkt worden, die Zweck-Opfer-Bilanz daher eindeutig
positiv!
Unter uns sagen wir
gerne, der Zweck heilige die Mittel. Nach außen aber bringen wir durch unsere
Mittel unseren Zweck ums Leben.
P.S. zu den Assassinen:
http://de.wikipedia.org/wiki/Assassinen
(92) 12.11.2010
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 18.11.2010
Wehrverfassung; Beitrag von Peter Blechschmidt: "Opposition: Guttenberg
verletzt Grundgesetz", Süddeutsche 11.11.2010, S. 5
Na sicher verletzt
unser Verteidigungsminister das Grundgesetz. Wie seine Vorgänger auch. Schon
Strucks Verteidigungspolitische Richtlinien von 2003, die noch heute gelten,
weisen bei der Risikoanalyse auf die besondere Verletzlichkeit der deutschen
Wirtschaft hin, auf ihre Abhängigkeit von Transportrouten (VPR v. 21.5.2003, S.
21, Nr. 27).
Das Dumme ist nur:
Nichts davon steht in einem Gesetz oder gar in einer Verfassung oder ist mit
den Bürgern debattiert. In klarem Deutsch, wie es künftig das Grundgesetz zur
Mahnung an alle ethnischen Dänen, Sorben oder Baden-Württemberger verlangen
soll.
Richtlinien sind, wie
auch Weißbücher, die Sprachform der Exekutive. Sie sind rechtsstaatlich und
demokratisch betrachtet bestenfalls Unterholz und für die Bürger - und viele
Politiker, siehe Thomas Oppermann - meist schwer zu durchdringen. Was wir brauchen,
ist bekennender Verfassungspatriotismus: Gesellschaftliche Debatte, dann
Regelungsvorschlag mit Abwägung der zu schützenden und der einzuschränkenden
Rechte, dann Gesetz, besser noch: klare Verfassungsänderung. Und wenn dann auch
noch das internationale Recht eindeutig gemacht ist, dann können wir auf den
Weltmeeren beruhigt Piraten bekämpfen. Vorher nicht.
P.S.:
Text der VPR 2003: www.vo2s.de/mi_vpr-2003.pdf
(91) 24.8.2010
Frankfurter Allgemeine Zeitung, abgedruckt 4.9.2010
Bundeswehr-Reform u. Aussetzen der Wehrpflicht; Berthold Kohlers Leitglosse
"Rückzugsgefechte" (F.A.Z. v. 24.8.2010, S. 1):
Hat da jemand die
Wehrpflicht verzockt und nebenbei den Markenkern der Christdemokraten? Ganz neu
ist die Reform-Tendenz ja nicht: Seit 1990 sehen wir die Bundeswehr - und die
NATO - in einer kontinuierlichen Findungsphase, auf den verschiedensten Konfliktfeldern
und mit ständig runderneuerten und teilweise entschlackten Organisationsformen
und Rüstungen. Längst verfügen wir Deutschen wieder über Kriegsschiffe, die
Landziele bekämpfen können, und über durchtrainierte Eingreiftruppen.
'Kanonenboote' und 'Expeditionskorps' sagte man dazu um die vorletzte
Jahrtausendwende herum, etwa beim kolonialen Niederringen des Boxeraufstandes.
Bald lohnt wohl wieder, Kaiser Wilhelms damalige 'Hunnenrede' nachzulesen.
Erfolgsmeldungen der
neuen ambitionierten Außen- und Sicherheitspolitik sind dagegen rar, am ehesten
noch bei der blitzartigen "Operation Libelle". Warum wir uns dann
schon wieder auf neue martialische Herausforderungen einstellen sollen, dabei
die profilgebende und zu den Abgeordneten rückkoppelnde Wehrpflicht über die
Planke jagen müssen und letztlich eine neue Republik einläuten, all das bleibt
mir ehrlich gesagt völlig unklar. "Volenti non fit iniuria!" oder
"Berufssoldaten kann man alles antragen!"? Das sollte es eigentlich
nicht sein. Geht's dann bei der Reform tatsächlich nur um das Geld, das wir
nicht mehr haben, und um die Lebenslüge auswärtiger Potenz, die oft beschworene
neue Normalität?
P.S.:
Zur Hunnenrede von Wilhelm II., gehalten am 27.7.1900 bei Verabschiedung des
deutschen Südostasiatischen Expeditionskorps in Bremerhaven: http://de.wikipedia.org/wiki/Hunnenrede
(90) 28.6.2010
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 21.7.2010
Wehrpflicht; Leserstandpunkt K. U. Voss „Die Politik muss die Hand ins Feuer
legen!“
Was für eine Bundeswehr
will ich? Eine, die bei ihren Einsätzen genauso repräsentativ ist und handelt
wie die Politiker, die diese Einsätze beschließen oder unterstützen. In der
genau die gesellschaftlichen und weltanschaulichen Strömungen vertreten sind,
die auch zu den Einsatzbeschlüssen führen und die von den Einsätzen in
irgendeiner Weise profitieren. Die sollte man antreffen, wo es wehtun kann – an
der Front und nicht nur in der Etappe. Das garantiert die beste Rückkopplung
zwischen Planung und Ausführung und umgekehrt.
Ich habe Verständnis
für Politiker, die sagen: "Jedes stehende Heer sorgt für Konflikte, ob mit
oder ohne Wehrpflichtige, und Deutschland braucht keine Armee." Das ist
nicht meine Position, aber sie ist immerhin konsequent. Nicht authentisch
erscheinen mir dagegen diejenigen, die da meinen: "Ich werde schon genug
robuste Typen finden für das, was ich militärisch durchsetzen will, und zwar
außerhalb meiner Bekannt- und Wählerschaft."
Wir mögen noch nicht
bei einer Unterschicht-Armee angekommen sein. Aber es gibt schon heute einen
statistisch hoch signifikanten Zusammenhang zwischen den Herkunftsregionen der
Soldaten und der dortigen Arbeitslosigkeit. In der Realität verteidigen die Söhne
und Töchter Mecklenburg-Vorpommerns die Freiheit ihrer Altersgenossen aus
Baden-Württemberg, die ihr Brot ziviler verdienen können. Und das, obwohl man
im Osten über die Auslandseinsätze kritischer denkt als im Westen. Das und die
attraktiven Auslandszulage haben sehr viel von Verleitung zur Prostitution; die
Berufsarmee würde es weiter verfestigen. Nicht vertrauen sollte man übrigens
darauf, dass die Neuausrichtung der Bundeswehr ohne jeden Einfluss auf deren
ideologisches Spektrum bleibt. Schon 1993 verwiesen Umfrageergebnisse auf die
Gefahr, dass „die Bundeswehr zunehmend für junge Männer attraktiv ist, die den
demokratischen Prinzipien und Werten kaum oder gar nicht verbunden sind.“
Blicken wir wieder auf
Rom, aber nicht auf die spätrömische Dekadenz, sondern auf die sagenhafte
Frühzeit der Republik, ca. 500 Jahre vor Christi Geburt. Porsenna, Fürst des
etruskischen Clusium, belagert Rom, will den vor kurzem verjagten Tarquinius
Superbus dort wieder einsetzen. Gerade hat man ihm Gaius Mucius vorgeführt,
einen junger Römer, der sich in das Lager geschlichen hatte und anstelle
Porsennas irrtümlich dessen Schreiber erdolcht hatte. Gaius Mucius legt
seelenruhig seine rechte Hand auf einen glühenden Rost und erklärt, wie er
seien noch mindestens weitere dreihundert junge Römer zum Letzten entschlossen.
Porsenna hat, wie die Legende sagt, vor so viel virtus kapituliert und ist
schon am nächsten Tage abgezogen. Bei Gaius Mucius – Scaevola oder Linkshand
haben die Römer seinem Namen danach hinzugefügt – fällt alles in einer Person
zusammen: Plan, Ausführung und Schmerzempfinden. Das gibt Respekt. Und Wirkung.
Darum bin ich von Herzen für die Wehrpflicht.
(89) 10.9.2009
DIE ZEIT, abgedruckt 24.9.2009
Afghanistan; Josef Joffe: "Deutschlands Krieg", Matthias Geis:
"Sein verlorener Krieg", Jochen Bittner u.a.: "Was haben wir
getan!" (DIE ZEIT Nr. 38 v. 10.9.2009, S. 1-3)
Der
Verteidigungsminister ist überfordert? Nur insoweit, als Deutschland und der
Westen insgesamt mit dem Ende der Nachkriegszeit überfordert waren und sind. Es
gab nach 1990 keine gesellschaftliche Debatte über Weltordnungspolitik und ihr
komplexes Verhältnis zu Souveränität und Menschenrechten, keine unter Schmerzen
abgestimmte Anpassung von völkerrechtlichen Verträgen und nationalen
Verfassungen, nur das von massiven Investitionen begleitete militärische
Durchhangeln von Fall zu Fall. Ohne öffentliche Evaluation, ohne rechtlich
abstrahierbare Lehren, also: ohne rechtsstaatliches Ehrlichmachen. Eine -
unerhörte - Sternstunde blieb die eindringliche Mahnung des Bundespräsidenten
am 10.10.2005, zum fünfzigjährigen Bestehen der Bundeswehr. Bei einem Truppenbesuch
am 28.8.2009, also kurz vor der Tanklaster-causa, hatte er nochmal an die noch
immer ausstehenden Hausaufgaben der Politik erinnert.
In
ärgerlich-kämpferischer Pose hat sich nun die Kanzlerin am 8.9.2009 im
Bundestag jede Vorverurteilung verbeten, von innen wie von außen. Viele
schlossen sich an, rallying around the flag. Treten wir doch einmal zehn Meter
vom Geschehen zurück: Steckt nicht schon in ihrer gleichzeitigen Aussage
"Jeder in Afghanistan unschuldig Getötete ist einer zu viel!" eine
existenziell wirksame Vorverurteilung? Auf welche Schuld steht Todesstrafe? Und
wer will mit diesen Folgen über die Unterschiede zwischen Patrioten,
Aufständischen, Partisanen, Résistance-Kämpfern, Freikorps, Milizen,
Bürgerwehren, Landsturm, einer nordamerikanischen Continental Army und
Befreiungs-Kämpfern richten? Kann man überhaupt irgendjemandem im ländlichen
Afghanistan eine kritische Haltung gegenüber der Zentralregierung übel nehmen?
Hatte nicht der anfordernde Offizier mangels Kampfhandlungen am Boden
Kompetenzen überschritten? Und muss nicht ohnehin jeder durchschnittlich
einfühlsame Mensch mit einem Bombenangriff auf Tankzüge eine grausame Kriegführung
assoziieren wie mit Napalm, Phosphor oder den Flammenstürmen nach den
Flächenbombardements des 20. Jahrhunderts?
Letzte Anmerkung, und
ich hoffe, der Blick in die eigene Geschichte kann den Realismus stärken. Was
verbindet unsere Schützenvereine und die Taliban? Beide haben bzw. hatten
wesentliche Wurzeln und ihr emotionales Treibmittel in ungeliebten Besatzungen.
Widerstand ist Gewalt mit dem Vorteil des Heimspiels und die Zeit spielt immer
für ihn. Zurück bleiben Erinnerungen an wüste Kämpfer wie im Bergischen Land an
den verwegenen Gottfried Müller aus Odenthal. Sein nom de guerre war
"Kappes-Gottfried", weil er die Franzosen nach eigener Aussage wie
Kappes niedermähte. Und es blieben einige zivilisatorische Errungenschaften wie
die Standesämter im Rheinland, das Eau de Cologne - und die Fisternöllchen, die
"fils de nul". Neben Zehntausenden von Toten und den späteren
Revanche-Kriegen mit dann vielen Millionen.
(88) 8.9.2009
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 12.9.2009
Afghanistan-Einsatz (u.a. Heribert Prantl "Krieg und Wahlkampf";
Süddeutsche v. 8.9.2009) und zur aktuellen Regierungserklärung der Kanzlerin
Manchmal kommen
Waffengänge im Wahlkampf zupass, aber das sind meist die frischen,
unabgenutzten Kriege. Sind sie älter schon als der zweite Weltkrieg und
zunehmend hässlich, dann mehren sich die unbequemen Fragen. Fast unbeachtet
blieb leider, was unser Bundespräsident nur wenige Tage vor Entführung und
folgendem Bombardement der Tankzüge bei einem Besuch des Gefechtsübungszentrums
in Letzlingen sagte: "Wir alle, vor allem die Politik, haben die Aufgabe,
den Einsatz in Afghanistan zu erklären". Das knüpfte an seine fulminante,
gleichwohl bis heute weitgehend unerhörte Rede zum fünfzigjährigen Bestehen der
Bundeswehr an. An die Rede vom 10. Oktober 2005 nämlich mit mehr als 10
bohrenden Fragezeichen zur Aufgabenstellung der Bundeswehr und zu ihrer
wettersicheren Verankerung in der Gesellschaft. "Das freundliche
Desinteresse" hat sich nach seinem Eindruck "noch nicht wirklich in
ein auch sorgenvolles Interesse" gewandelt.
Leider sind wir mit der
kardinalen Debatte - zu welchem Zweck wollen wir militärische Gewalt einsetzen
und was sind die belastbaren Erträge - extrem spät dran, für diesen Wahlkampf
viel zu spät. Aber die Prätendenten sollten uns diesen Dialog nun wenigstens
fest versprechen.
P.S.
Truppenbesuch des Bundespräsidenten am 28.8.2009:
http://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/kcxml/04_Sj9SPykssy0xPLMnMz0vM0Y_QjzKLd4k3cQsESUGY5vqRMLGglFR9b31fj_zcVP0A_YLciHJHR0VFAFBC9EY!/delta/base64xml/L2dJQSEvUUt3QS80SVVFLzZfRF8zM1E2?yw_contentURL=%2FC1256F1200608B1B%2FW27VFARM867INFODE%2Fcontent.jsp
(87) 7.9.2009
DIE WELT, abgedruckt: 10.9.2009
Afghanistan; Kommentar von Dietrich Alexander "Bundeswehr am Pranger"
und zum Interview mit Reinhard Robbe "Das ist auch die Angst vor der
Geschichte" (DIE WELT 7.9.2009, S. 6 u. 4)
Wir haben uns schon
fast daran gewöhnt: "Kriegerische Konflikte ohne zivile Opfer gibt es
nicht." Oder: Selbst ein kontinuierlicher ziviler Blutzoll schließt
deutsche Beteiligung nicht aus.
Dabei liegt die
eigentliche verfassungsrechtliche Frage ungelöst dahinter und sie wird auch
nicht durch die schon routinehafte Verlängerung von Einsatzbeschlüssen
erledigt: Welches zivile (oder militärische) Opfer wird generell durch welche
zu schützenden Grundwerte gerechtfertigt, kraft welcher generellen
Eingriffsgrundlage? Dies und zuallererst dies schulden die Politiker den
Soldaten - und wir, das Volk, schulden unseren Soldaten die tragfähige
gesellschaftliche Debatte dazu. Fürbitten-Gebete, Denkminuten oder
Autorenfilme, lieber Herr Robbe, können diesen Prozess nicht einmal ansatzweise
ersetzen.
(86) 7.9.2009
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 11.9.2009
Angriff auf Tanklaster in Afghanistan; Burkhard von Pappenheims Kommentar
"Afghanistan im Sog der Gewalt" (KStA v. 5./6.9.2009, S. 4)
Lassen wir die Frage
beiseite, ob der Angriff auf die festgefahrenen Tanklastzüge militärisch
notwendig war. Lassen wir auch ungeklärt, ob es heute eine unzweifelhafte
verfassungsrechtliche Grundlage für einen deutschen Militäreinsatz am
Hindukusch gibt - wenn es denn jemals eine solche gegeben hat.
Fragen wir lieber,
warum die nach 1990 veränderte Aufgabenstellung der Bundeswehr in keinem
bisherigen Wahlkampf eine prominente Rolle gespielt hat, dies übrigens nicht
einmal, nachdem der Bundespräsident zum 50. Geburtstag der Bundeswehr die
ausstehende gesellschaftliche Debatte so nachdrücklich angemahnt hatte. Dann
können wir eine Aussage zum Wirkungsgrad von Demokratie in Fragen der Außen-
und Sicherheitspolitik treffen, immerhin einer der Lebensfragen der Nation.
"Den Einsatz
erhöhen", wie es Herr von Pappenheim erwägt, ist doppeldeutig. Manche
Spieler handeln so. Paul Watzlawick hat diese Strategie als ein Kernelement in
seiner "Anleitung zum Unglücklichsein" beschrieben: Mehr desselben
Handelns führt zumeist zu mehr desselben Elends.
P.S.: link zur Rede von
Herrn Bundespräsidenten Dr. Köhler am 10.10.2005:
http://www.bundespraesident.de/Anlage/original_630701/Rede-Kommandeurtagung.pdf
(85) 24.8.2009
DER SPIEGEL, abgedruckt 31.8.2009
Ursachen, Verlauf und Folgen des zweiten Weltkrieges (Klaus Wiegrefe, "Der
Krieg der Deutschen"; SPIEGEL Nr. 35 v. 24.8.2009, S. 58ff)
Krieg der Deutschen
oder doch Krieg der Technokraten? Wesentliche Keime der beispiellosen
Aggression und Entmenschlichung können wir auch unabhängig von Staatsgrenzen
finden, in einer bereits damals globalisierten, kindlich wertefreien
Technik-Elite. Exzellente Beispiele sind Henry Ford und Charles Lindbergh, aber
auch Wernher von Braun, der amerikanische Militärattaché Truman Smith, der
Deutsch-Amerikaner "Putzi" Hanfstaengl und sogar Joseph Kennedy.
Ford, der mit seinen Kölner Lastwagen das logistische Rückgrat des
Sudeten-Einmarsches gestählt hatte, nahm ebenso wie Lindbergh noch 1938 den
höchsten Auslandsorden des Dritten Reichs entgegen, den Adlerorden. Ford Köln
hat - anders als die Kölner - auch nicht unter Flächenbombardierungen gelitten.
Und im imposanten
National Air & Space Museum kann man in fußläufiger Entfernung vom
amerikanischen Kapitol eine bruchlose Familiengeschichte des
deutsch-amerikanischen Schreckens genießen, u.a. mit Me 262, V1 und V2,
sinnigerweise neben der Bodengruppe einer Saturn Vb.
Bleibt anzumerken: Die
von Ford herausgegebenen Hass-Schriften der frühen Zwanziger Jahre waren die
Fibel der noch unfertigen Nationalsozialisten in Sachen Paranoia und Rassismus,
deutlich vor "Mein Kampf". Hitlers Amerika-Ausgabe hat später beides
verklammert.
P.S.
Zum National Air and Space Museum: http://www.nasm.si.edu/exhibitions/gal114/index.cfm#v2
Quellen zu Absatz 3: http://de.wikipedia.org/wiki/The_International_Jew
(84) 7.9.2008
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 20./21.9.2008
Afghanistan-Mandat; Tod dreier Zivilisten unter Mitwirkung deutscher Soldaten;
Peter Blechschmidt "Deutschland entschädigt afghanische Familie"
(Süddeutsche v. 4.9.2008, S. 5)
"Wie
eine Parabel erinnert der Bericht v. 4.9.2008 an einen vergleichbaren Vorgang
ganz am Anfang der so genannten aktiven Außenpolitik Deutschlands: Am 22.1.1994
war der junge Somali Farah Abdullah
um ca. 2 Uhr früh von Wachen des deutschen Camps bei Belet Huen erschossen
worden. Auch damals hatte die Bundeswehr der Familie - ohne Anerkennung einer
Rechtspflicht - Entschädigung geleistet; kurze Zeit später brach die
gemeinschaftliche UNOSOM-Mission zusammen und auch die Deutschen verließen
hastig das Land.
Ein
weiteres namentlich bekanntes Opfer der neuen Außen- und Sicherheitspolitik war
ein fünfzehnjähriges Mädchen, Sanja
Milenkovic. Sie war mit anderen Insassen eines zivilen Busses am frühen
Nachmittag des 30.5.1999, an einem Sonntag mit gutem Wetter und klarer Sicht,
bei einem Luftangriff auf die einzige Brücke umgekommen, die zu der kleinen
serbischen Stadt Vavarin führte. Hier allerdings weigerte sich die
Bundesregierung standhaft gegen Ersatzleistungen - und das entspricht nach
Erkenntnis des Bundesgerichtshofes (III ZR 190/05)
auch dem - hier
ganz traditionell gebliebenen - Stand des Rechts: Die deutsche Regierung
hätte, wenngleich Waffenbruder der "Täter", keine unmittelbare
Kenntnis von dem schädigenden Eingriff gehabt, drum bräuchte sie hier nicht zu
zahlen.
Es
ist wichtig, die Opfer des Krieges greifbar zu machen. Vielleicht brauchen sie
- auch wenn dies aller Tradition widerspricht - sogar eher ein Denkmal als die
Soldaten, für die es heute wieder viele fordern. Denn in ihrer Schutzlosigkeit
sind diese Bürger uns ähnlicher, als es die Soldaten sind, und wir Bürger
legitimieren mit unserer Wahl und mit den von uns beigestellten Ressourcen die
Politik. Und wo wir mitgemacht haben, sollten wir auch in jedem Fall mithaften.
Das ist das Geringste, was die Ehre gebietet."
(83)
21.11.2007
DIE ZEIT, abgedruckt 29.11.2007
Debatte zur inneren Sicherheit; Gunter Hofmann "Minister gegen
Richter" / Wolfgang Schäuble "Dein Staat, dein Freund, dein
Helfer" (ZEIT Nr. 47 v. 15.11.2007, S. 4 u. 5)
Der
Verfassungsstaat - so definieren die meisten den Rechtsstaat - garantiert
primär die Freiheit des Bürgers gegenüber dem Staat. Schäubles Sinngebung
richtet sich m.E. vereinfachend auf einen Ordnungsstaat, wenn nicht auf einen
Schutzstaat. Diese Verzerrung ist am leichtesten aus den nun ständig
beschworenen entgrenzten Gefahren erklärlich, deren wohlfeilste Umschreibung
die eines internationalen Terrorismus ist.
Fehlen
hier nicht Augenmaß und Verhältnismäßigkeit - angesichts von jährlich etwa
42.000 Todesfällen wegen Alkohol, 60.000 wegen Tabak, darunter 5.000 passiv
Geschädigte, und ebenso 5.000 Verkehrstoten? Fehlt hier nicht die Reflektion
über durch eigene Politik mitverantwortete Ursachen? Eine irreleitende
Innenperspektive Schäubles scheint mir auch zu sein, unter den Bedingungen
moderner Staatlichkeit könnten nur nichtstaatliche Akteure das Recht auf Leben
und körperliche Unversehrtheit gefährden. Aus Globalisierung, Entgrenzung und
fragiler Souveränität leitet unsere Regierung wie selbstverständlich Recht und
Pflicht zur Sicherheitsprojektion ab. Systematisch dazu gehört dann aber auch
die Pflicht zu auswärts gerichteter Grundrechtsgarantie, und dann muss die
Exekutive auch die mehreren Tausend zivile Folgeopfer militärischer Operationen
der vergangenen 13 Jahre auf ihre Rechnung nehmen. Das erste unmittelbare Opfer
dieser Art war der junge Somali Farah Abdullah, am 22.1.1994 bei der Bewachung
des Camps in Belet Huen erschossen, wohl wegen eines Missverständnisses. Unser
Staat mag nicht zu Gewaltexkursionen neigen. Aber fähig ist er dazu schon.
Insgesamt:
Konstruiert hier nicht ein Innenminister eine rollenspezifische Realität, die
doch wieder recht nahe am Nachtwächter-Staat ankommt und damit ganz
nachvollziehbar Bedrohungsängste auslöst? Nüchterner scheint mit die
Perspektive des Verfassungsrichters di Fabio: Den Ausnahmezustand nicht
national und/oder international zur Regel reden, Grenzfälle pragmatisch lösen,
dabei aber die begrifflichen Grenzen und Differenzierungen als Haltepunkte des
liberalen Rechtsstaats achten und erhalten! Dann vermeiden wir vielleicht auch,
was Schäuble selbst als Gefahr sieht: Mehr Provokation zu schaffen, als in der
Sache voran zu kommen.
(82) 19.9.2007
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 26.9.2007
BM Jung zum Abschuss von Zivilflugzeugen durch die Bundeswehr (u.a. F.A.Z.
18.9.2007, S. 3 "Politische Dauerkanonade", 19.9.2007, S. 10
"Jenseits von Gesetz und Verfassung")
Herrn
Hefty ist zuzustimmen: Wenn jemand den Finger am Abzug eines Tornados haben
muss, dann eher ein Kanzler denn ein Verteidigungsminister. Nur kann ich für
diese Zuständigkeitsfrage keinen Aufhänger finden, wenn ich entsprechend dem
Spruch des Bundesverfassungsgerichts für solche fundamentalen Werte-Konflikte
gar keine staatliche Notfall-Kompetenz definieren kann, sondern bestenfalls die
Straffreiheit dessen, der tragischerweise mit jeder möglichen Entscheidung
existenzielle Menschenrechte in unmittelbare Gefahr bringt.
Unabhängig
davon sehe ich mit höchster Besorgnis in der Instrumentalisierung eines
"übergesetzlichen Notstands" dasselbe Muster von Ent-Formalisierung
staatlicher Handlungsformen, das bereits seit Beginn der Neunziger Jahre die
Gewährleistung äußerer Sicherheit
prägt: Das Mittel der Wahl sei jeweils eine diskrete Einzelfallentscheidung,
nicht eine generelle, abstrakte, im parlamentarischen Verfahren diskursiv
vorbereitete Regel, bzw. – um Kants Analogie staatlichen Handelns an den Staat
zurück zu reichen – der kategorische Imperativ. Das mag durch die breite
Wahrnehmung oder gezielte Plakatierung von Katastrophen der Losgröße 1
begünstigt sein, durch angeblich immer plötzliche und unvorhersehbare,
nicht-iterative und immer außerordentlich große Herausforderungen und Gefahren
für Gesellschaft und Staat, die typischerweise mit dem Phänomen des Terrorismus
markiert werden. Nur: Entweder ist die Herausforderung strukturell, dann ist es
auch die vorzuhaltende Antwort und diese kann damit im Rechtsstaat abgebildet werden,
durch eine generelle, abstrakte und rechtlich überprüfbare Eingriffsgrundlage.
Oder es sind keinerlei Charakteristika und mögliche Differenzierungen
erkennbar. Dann kann es auch keine weitestgehend freie Hand für die Exekutive
geben, was immer das Risiko ebenso unvorhersehbarer Verletzung von Bürger- und
Menschenrechten trägt.
Die
Textur des Rechts zu perforieren, bleibt in keinem Fall folgenlos.
(81) 12.2.2007
FOCUS, abgedruckt 26.2.2007
Tornado-Einsatz und Online-Untersuchung (FOCUS 7/2007, S. 22 ff , "Dr.
Jekyll & Mr. Hyde am PC")
Fast
fielen die Forderung des BGH nach einer spezifischen Eingriffsgrundlage für
Online-Durchsuchungen der Dienste und die Kabinettentscheidung zum erweiterten
Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan zusammen. Das macht einen extrem
unterschiedlichen Aufwand besonders deutlich:
Sind
Grundrechte im Inneren betroffen und damit wir Deutsche höchstpersönlich, so
schaffen wir einen höchst detaillierten Normenapparat und streiten
gesellschaftlich darüber - selbst für eher wenig einschneidende Eingriffe. Geht
es aber um Leben oder Gesundheit von Ausländern wie beim Einsatz der Bundeswehr
out of area, existiert bis heute
praktisch keine differenzierungsfähige, justiziable Eingriffsnorm und kein
gesamtgesellschaftlicher Diskurs zu den Grundlagen und Folgen.
Obwohl
doch, wie der Terrorismusforscher Rolf Tophoven am 8.2.2007 richtigerweise zu
bedenken gegeben hat, etwa die Tornado-Einsatzentscheidung die Terrorgefahr im
Inneren schnell erhöhen kann. Damit kann sie mittelbar auch unsere Bürgerrechte
weiter beschränken. Also: Innen und außen sind heute untrennbar verknüpft. Sie
müssen nach den gleichen - hohen - rechtsstaatlichen Standards behandelt
werden.
(80) 2.1.2007
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 5.1.2007
Hinrichtung von Saddam Hussein (KStAnz v. 2.2.2007, S.1 u. 4; Markus Günther:
"Spukhaftes Ende eines Tyrannen")
Das
Spukhafte ist vor allem: Mit der Hinrichtung versucht ein nach allen Anzeichen
todkrankes Projekt, Lebenskraft und Herrschaft zu beweisen. Ein Projekt, das
von Anfang an auf Sand und Lügen gebaut war. Ein Projekt, das nach seriösen
westlichen Berechnungen bis heute mehr als 600.000 Menschen das Leben gekostet
hat, weit die meisten davon irakische Zivilisten. Noch ein ernster Missklang:
Zur Zeit der ihm nun zur Last gelegten Taten war Saddam mit hocherwünschter
Brutalität und Kampfkraft die Speerspitze der USA in der damaligen Koalition
gegen den Iran.
Drum
kann Bush Saddams Kopf wohl nicht auf einen Speer gespießt vor dem Weißen Haus
aufpflanzen. Andererseits: Nach seinem persönlichen Verursachungsbeitrag wäre
es nur konsequent. Und auch Bush sieht sich gerne als losgelösten Richter über
Gut und Böse, als ewig machtvollen Gebieter über Leben und Tod."
(79)
16.11.2006
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 22.11.2006
Kontrolle der Bundeswehr; Peter Carstens "Einsatz und Kontrolle"
(Frankfurter Allgemeine 13.11.2006, S. 1)
Das
Klandestine ist dem Militär eigen. Natürlich will man dem Feind nicht eröffnen,
wie und wo man zuzuschlagen gedenkt; auch Finten gehören zum Geschäft. Nun wird
der Feind aber auch oft im eigenen Lager vermutet, gerade bei den Zivilisten im
Tross. Wenn’s dann schief gegangen ist, gibt dies Anlass zu Dolchstoßlegenden –
nach dem ersten Weltkrieg ebenso wie nach Vietnam: Auf dem Felde unbesiegt, ist
den Offizieren das vor Angst kopflose Volk in den Rücken gefallen. Selbst
Fremde, wenn denn militärisch qualifiziert und verbündet, sind in den
Korpsgeist noch eher mit einbezogen und werden als ungleich verständnisvoller
und vertrauenswürdiger eingeordnet als die – zumal ungedienten – Zivilisten,
vielleicht gar die Sozialisten, die unwürdig um des Volkes Gunst buhlen. Ist
der Krieg erst einmal vorbei, liegen sich selbst die ehemaligen militärischen
Feinde zu Jahrestagen des Todes achtungsvoll und tief bewegt in den Armen. Am
besten sogar – und das ist der Pawlow’sche Reflex nach Vietnam – man sieht
überhaupt vom wehrpflichtigen Bürger in Uniform ab, schafft auch persönliche
Distanz zum wankelmütigen Volk und eine ungetrübte Atmosphäre des
Militärisch-Professionellen.
Nüchtern
betrachtet: Dieses Denkmuster erleichtert und verlängert Projekte wie
Afghanistan und Irak, macht das nach Bewährung und Ressourcen suchende Militär
auch verfügbarer für partikuläre Interessen. Nun kann man die engste Kopplung
von Einsatz und Kontrolle, die Kant in seiner unsterblichen Schrift „Zum ewigen
Frieden“ erwähnt hatte, unter heutigen Bedingungen kaum realisieren. Dies war
die gute alte Tradition des Kampfes der Häuptlinge, bei der Planung, Ausführung
und Schmerzempfinden in einer Person zusammenfielen. Auch den weiteren Rat
Kants, die Entscheidung über den Krieg den eigentlichen Lastenträgern, also dem
Volk, persönlich zu übertragen, möchte ich als heute eher unrealistisch außer
Acht lassen. Aber wir brauchen tatsächlich mehr Transparenz und Rückkopplung.
Dies mag bei geheimhaltungsbedürftigen operationellen und logistischen Fragen
auch, wie von Peter Carstens vorgeschlagen, einem hoch repräsentativen
parlamentarischen Gremium anvertraut werden. Aber die Grundfragen und die
fundamentalen Abwägungen – zum Schutz welcher Rechtsgüter wollen wir in
existenzielle Grundrechte von Soldaten und von deren Gegnern eingreifen – und
die Evaluation von Missionen nach Ziel und Erfolg, das muss hoch öffentlich
erörtert und entschieden sein. Sonst lernt das Volk aus Kriegen nichts, zumal
nicht aus den Kriegen hinter dem Horizont.
Mit
ihrer breiten medialen und politischen Kompetenz ist die F.A.Z. eine der ersten
Adressen, den Wunsch der Kanzlerin aus dem Vorwort des Bundeswehr-Weißbuchs
2006 aktiv aufzugreifen, nämlich diese für Einsatz und Kontrolle grundlegende
gesellschaftliche Debatte zur Außen- und Sicherheitspolitik beherzt anzustoßen.
(78) 6.11.2006
DIE WELT, abgedruckt 8.11.2006
Todesurteil gegen Saddam Hussein
Herbert Kremp "Der Mut zum Urteil zählt" (WELT 6.11.2006, S. 6)
Ganz abgesehen davon,
dass ich von der Todesstrafe rein gar nichts halte, auch nie etwas über ihren
präventiven Nutzen in Erfahrung bringen konnte: Mit dem Urteil gegen Saddam
könnte man möglicherweise weniger Probleme haben, gäbe es nicht das von Herbert
Kremp angesprochene Dilemma volatiler Gerechtigkeit: Auch Saddam war bis zum
Ende der Achtziger Jahre mit Macht und Waffen des Westens gegürtet. Er hat u.a.
Zutaten für seine ruchlosen Giftgaseinsätze aus dem Westen bezogen -
nachweislich sogar aus Deutschland.
Andere sind noch
"gegürtet", etwa Bush, Cheney, Rumsfeld, mittelbar auch Rove. Sie
werden kaum eine auch nur politische, geschweige denn kapitale Verantwortung
für die mehreren Hunderttausend zivilen Toten übernehmen, die ein schlecht
begründeter Krieg nach seriösen westlichen Untersuchungen im Irak nach sich
gezogen hat und nach wie vor fordert. Oder eben für die nochmals mehrere
Hunderttausend Toten, die ein notorisch gewissenloser Verbündeter zur Zeit der
Waffenbrüderschaft ungehemmt verursachen konnte. Nach strafrechtlicher
Kausalität sind vielleicht ungewollte, aber billigend in Kauf genommene
Nebenfolgen den Tätern und Tatverbündeten durchaus zurechenbar.
(77) 6.11.20006
Rheinischer Merkur, abgedruckt 16.11.2006
Kabul; Aufgaben der Bundeswehr
Matthias Gierth "Wofür wir kämpfen" (Rheinischer Merkur v. 2.11.2006,
S. 1)
Die Auswirkungen des makabren
Knochenskandals vor Ort zu beurteilen, das sollten wir in der Tat den Afghanen
überlassen. Was uns aber intensiv interessieren muss, das ist eine
ungeschminkte Bilanz militärischer Missionen: Aufwand und Ertrag, Ziele,
Erfolge, Misserfolge und mittelbare Wirkungen, auch für die Psyche der
involvierten Soldaten. Ziele gab und gibt es viele, altruistische wie
egoistische Ziele und Ziele gleichsam in der Mitte: die der Integration
westlicher militärischer Strukturen und Instrumente. Die letzten sind mit einer
praktisch nicht mehr umkehrbaren Einbettung Deutschlands in gemeinschaftliche
Einsätze noch am ehesten erreicht worden. Ansonsten aber ist der nachhaltige
Erfolg eher zweifelhaft: Afghanistan und Irak stehen nach mehreren
Hunderttausend primär zivilen Opfern auf der Kippe; höchstens mit einem
massiven "Mehr vom Gleichen" können wir uns hier den Erfolg
herbeidenken.
Daher ist wirklich die
Zeit für eine demokratische Debatte der Außen- und Sicherheitspolitik, wie sie
auch von der Kanzlerin im Vorwort zum Weißbuch eingefordert wird. Diese Debatte
sollte nicht nur Prioritäten, sondern nüchterne Grenzen für Gewalt festlegen.
Das ist für Kinderstuben ebenso essentiell wie für Staatskanzleien und
vielleicht sogar wegweisend für das gesamte Bündnis.
(76) 30.10.2006
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 31.10./1.11.2006
Totenschädel in Kabul; Weißbuch 2006; gesellschaftliche Debatte des
Bundeswehr-Auftrages
"Globale Herausforderung. Weißbuch definiert Aufgaben der Bundeswehr
neu." (Süddeutsche Zeitung v. 26.10.2006, S. 5)
Die Koinzidenz zwischen
der Veröffentlichung des Weißbuchs und dem Maschinengewehr-haften Stakkato von
Skandalfotos in BILD ist höchst irritierend. Man könnte es schlicht als den
instinktgeleiteten Auflagen-Reflex eines Massenblattes abtun, das mehr oder
weniger zufällig nun einem christdemokratischen Verteidigungsminister in die
Parade fährt.
Ganz schlimm wäre, wenn
BILD insgeheim auf Eskalation, Blut und noch mehr Auflage setzen würde. Oder
wenn BILD mit der widerwärtigen nekrophilen Story von etwas ablenken möchte,
was mit einer deutlichen der Mahnung der Kanzlerin im Vorwort des Weißbuchs versehen
jetzt intensiv angesagt ist: Eine breite gesellschaftliche Debatte zu Aufwand
und Ertrag der neuen Aufgaben der Bundeswehr. Dazu gehören auch deren
Verfassungsverträglichkeit, deren klare Grenzen. Schon der immer desolatere
Zustand des Nahen und mittleren Ostens gibt zu einer offenen, nüchternen Bilanz
militärischer Strategien allen Anlass.
(75) 28.10.2006
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt
1./2.11.2006
Totenschädel in Kabul; Weißbuch 2006; gesellschaftliche Debatte des
Bundeswehr-Auftrages
Tobias Kaumann „Vorsorgliche Panikmache“ (Kölner Stadt-Anzeiger 28./29.10.2006,
S. 4)
Vielleicht ist alles ja
gar nicht so schlimm. Unsere nekrophilen Soldaten könnten sich auch auf Goethe
berufen. Der hatte sich in Weimar Schillers Schädel unter den Nagel gerissen
und nahm ihn vor erlesenen Gästen, wie von Humboldt erschaudernd berichtete,
von einem blausamtenen Kissen unter einem Glassturz und betrachtete ihn
versonnen. „Hurra, ich lebe noch!“, mag er gedacht haben und das verbindet ihn
wohl mit unseren militärischen Repräsentanten in Kabul. Höchst bizarr ist aber
beides. Und der Hinweis darauf, dass auch die Taliban zumindest im übertragenen
Sinne keine Waisenknaben waren, hilft wenig. Zum einen sind die Taliban von
Pakistan und dem Westen selbst in Stellung gebracht worden und unsere Kultur
müsste sich deren Wüten ein Stück weit ursächlich zurechnen lassen. Zum anderen
hat es die Deutschen im zweiten Weltkrieg nicht mehr als ein zynisches Grinsen
gekostet, einerseits die systematischen Morde von Katyn anzuprangern,
andererseits Millionen von polnischen und russischen Opfern auf ihr Gewissen zu
laden. Eine Konkurrenz in Inhumanität entlastet erfahrungsgemäß wenig.
Wichtiger erscheint
mir, und zwar angesichts der heutigen strategischen Lage, angesichts der heute
tendenziell noch stärkeren psychischen Belastung der Soldaten und deren
vermutlich jahrzehntelanger Nachwirkung: Wir prüfen kritisch, ob das just um
diese Zeit publizierte Weißbuch die Ursachen, die Wirkungen, die Ziele, den
Aufwand und den Ertrag militärischer Einsätze zutreffend analysiert. Die
Kanzlerin hat in ihrem Vorwort zum Weißbuch eine breite gesellschaftliche
Debatte der Außen- und Sicherheitspolitik angemahnt. „Let’s go!“ würde George
Walker Bush ganz cool sagen.
Anm.: Die Geschichte von Schillers Schädel ist mit meiner
Familie verbunden und etwas näher dargestellt unter http://www.vo2s.de/0030schw.htm
(74) 5.9.2006
Rheinischer Merkur, abgedruckt 21.9.2006
Libanon-Einsatz; Hartmut Kühne "Warum unsere Soldaten kämpfen"
(Rheinischer Merkur v. 31.8.2006, S. 1)
Völlig klar, unsere
Soldaten brauchen eine klare Ansage, einen eindeutigen Auftrag, ein
gesellschaftlich akzeptiertes Berufsbild. Aber haben sie das denn heute schon?
Auf der letzten Kommandeurtagung, am 10. Oktober 2005, hat Bundespräsident
Köhler die mangelhafte Einbettung der Bundeswehr in die Gesellschaft beklagt
und die breite Debatte der neuen Aufgaben angemahnt. Richtig, unsere Verfassung
verlangt in Gestalt von Gesetzesvorbehalt und Wesentlichkeitsgebot genau diesen
demokratischen Diskurs und unmittelbar darauf bauend eine gesetzliche
Eingriffsgrundlage für jede Form staatlicher Gewalt. Letztmals gefordert hat
das Bundesverfassungsgericht diesen Ablauf übrigens zur Frage des
Kopftuchverbots, das wesentlich geringere letale Risiken zeitigt als jeder
Kampfeinsatz.
Hand aufs Herz: Wer
weiß denn derzeit, wo genau die Zuständigkeit der Bundeswehr beginnt und -
lebenswichtiger noch - wo sie definitiv endet? Darum reicht es gerade nicht, im
Einzelfall und in der Regel unter exponentiell wachsenden Sach- und Gruppenzwängen
"genau hinzusehen". Die ersten Opfer der robusten neuen Aufgaben sind
heute schon fast wieder vergessen: Zwei junge Somalis, von der Bundeswehr bei
Belet Huen wegen eines Diebstahlsversuches erschossen, vielleicht auch nur
wegen eines Missverständnisses, all dies im Rahmen eines Einsatzes, der getrost
als bündnispolitische Integrationsübung oder als erste militärische
Reha-Therapie der Deutschen nach 1945 gedeutet werden kann.
Die Hausaufgaben müssen
in einem Rechtsstaat vorher gemacht sein - sine ira et studio. Dazu braucht es
auch die ethische Expertise der Kirchen. Und die Kirchen sollten dabei ihr
Jahrtausende altes Regelwerk nicht so eilfertig relativieren, wie es in mancher
Bibel aus dem ersten Weltkrieg zu lesen stand. Dort war am fünften Gebot ein
kräftiges Sternchen angebracht und unten auf der Seite die Fußnote gegen all
die Zweifel, die bei den kämpfenden Christen damals schon um sich griffen: (Das
Tötungsverbot) "Gilt nicht im Kriege!"
Anm.: Rede des Bundespräsidenten auf der Kommandeurtagung
am 10. Oktober 2005:
hier
(73) 25.7.2006
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt: 29./30.7.2006
Konflikt zwischen Israel und Libanon
Kommentar von Nicolas Richter ('Offensive Abwehr', Süddeutsche v.
22./23.7.2006, S. 4)
Jubiläen offenbaren
manchmal fundamentale Brüche zur Gegenwart. In die Zeit der "Offensiven
Abwehr" mit vielen zivilen Opfern im Libanon und Israel fiel gerade die
Feier des 60-Jahres-Gedächtnis zur Sprengung des King-David-Hotel am 22.7.1946
durch die jüdische Untergrund-Organisation Irgun mit damals 91 Toten, darunter
28 Briten, 41 Arabern und 17 Juden. Da stellt sich schnell die Frage nach dem
guten und dem schlechten Terror. Irritierend auch die kürzlichen Hinweise auf
einen vom vormaligen Irgun-Chef und späteren Ministerpräsidenten,
Camp-David-Unterhändler und Nobelpreisträger Menachem Begin geplanten
Terroranschlag auf Bundeskanzler Adenauer, dem im März 1952 ein deutscher
Sprengmeister zum Opfer gefallen war.
Damit möchte ich nicht
die völkerrechtswidrigen Angriffe auf Israel relativieren, aber klarmachen,
dass Gut und Böse, Ursache und Wirkung auch hier nicht objektiv zu trennen
sind. Die Angriffe von Hisbollah und Hamas waren vorsätzliche und sicher
strategisch abgestimmte Provokationen. Sie sollten offenbar die letzten
Entwicklungen im Libanon und im Gaza-Streifen - Minderung des syrischen
Einflusses, mögliche Spaltung der Hamas, selektiver Rückbau der israelischen
Besetzung - wieder zurückdrehen und die vorherigen Gewichte wieder herstellen.
Israel hat darauf erwartungsgemäß sofort reagiert, aber wohl deutlich robuster
als angenommen und ohne ein endgültiges Kriegsziel. Der bei weitem noch nicht
in sein Amt gewachsene Olmert ist ebenso bedacht darauf, Schwachheiten zu
vermeiden, wie es 1945 Truman war.
Der einzig gangbare Weg
aus der militär-psychologisch allseitig geschlossenen Falle ist wohl eine
sofortige Konferenz unter maßgeblicher Beteiligung gerade auch der örtlich
beteiligten Akteure, auch von Syrien, Iran, Hamas und Hisbollah. Das Ziel muss
die nachhaltige Stärkung und Verantwortung der zivilen regionalen
Repräsentanten sein, nicht deren fortwährende Schwächung und Desavouierung. Die
Basis des Schreckens kann nicht verschwinden ohne ihren Resonanzboden. Jeder
Tag weiteren Zuwartens wird als staatlicher Terror in Mittäterschaft des
Westens vermarktet werden.
(72) 25.7.2006
DIE WELT, abgedruckt: 27.7.2006
Konflikt zwischen Israel und Libanon
Thomas von der Osten-Sacken 'Warum ich für den Krieg bin' (DIE WELT 25.7.2006
S. 7)
Man ist leicht geneigt,
zeitweise Härte vor Recht ergehen zu lassen - in der pragmatischen Hoffnung,
dass dann das Recht umso nachhaltiger greifen kann. Z.B. scheint in staatlichen
Umbruchzeiten etwas weniger Demokratie und Rechtsschutz schlüssig zu sein, in
Krisenlagen das beherzte Zuschlagen und das möglichst saubere Heraussprengen
von Krebsgeschwüren aus dem Lager des Gegners.
Ich habe diese Hoffnung
nicht und leider zeigt gerade die Geschichte Palästinas, dass Härte in diesem
fast von jedem Turm überschaubaren Landstrich nicht lange durchzuhalten ist
oder sofort verbissene Gegenkräfte provoziert. Das schöne Bild des Nahen Ostens
als einer vorbildlichen, zu Selbstkosten erweiterungsfähigen israelischen Oase
- kulturell, rechtlich, ökologisch, wirtschaftlich - inmitten einer sehr
archaischen, arabischen Wüste, es ist leider falsch.
Vor allem fehlt mir die
Gewissheit, dass Recht und Moral nur auf einer Seite wohnen. Ich mag nicht an
einen guten Terror glauben: Vor wenigen Tagen wurde mit irritierendem Pathos
der 60. Jahrestag des massiven Anschlags der Irgun auf das King-David-Hotel in
Jerusalem gefeiert; die FAZ berichtete jüngst über das von Begin geplante
Sprengstoff-Attentat auf Adenauer im Jahre 1952. Ich glaube nur an schlechten
Terror. Waffengänge hat es genug gegeben, auch ausblutende Bruderkriege, von
außen aktiv angefacht, und keinerlei Effekt. Die einzige Hoffnung braucht
freilich Mut: Ein sofortiger Stillstand der Kampfhandlungen und eine Konferenz
unter Beteiligung auch der lokalen Akteure. Das sind - auch wenn man es
bedauern mag - eben auch Iran und Syrien, Hisbollah und Hamas.
(71) 18.7.2006
SPIEGEL , abgedruckt 24.7.2006 (28)
Konflikt zwischen Israel und Libanon
'Eine Frage des Preises', Dieter Bednartz ua im SPIEGEL 29 / 2006 S. 94 ff
"Angemessener
Preis", der Kriegsname der militärischen Initiative Israels gegen den
Libanon, ist sehr zweideutig. Die Strategie Israels richtet sich klar gegen die
Einbettung der Hisbollah im Libanon. Aber sie arbeitet auf dem anfechtbaren
Umweg über die libanesische Zivilbevölkerung und über das globalisierte
islamische Netzwerk eben auch gegen die nach wie vor prekäre Einbettung Israels
im Nahen Osten. Mit den selbst gewählten Nachbarn - und Vettern - wäre ein
liebevollerer Umgang möglicherweise nützlicher, auch wenn unter Vettern immer
auch ein paar freaks vorkommen werden.
(70) Burscheid /
Mahmood Ahmadi-Nejad
President of the Islamic
Mr. President,
dear Dr. Ahmadi-Nejad
I am not sure whether the President of the
I will close with some proposals for an agenda to be initiated by
1. As you, many of us Germans are trying to find a clause in respect of
the growing international tensions, crises and wars, the millions of people
being displaced and hurt, even murdered, cities, houses and civil
infrastructure being destroyed, local cultures being neglected and eroded and
nature being harmed, partly in an irrevocable way. As you, we notice severe
contradictions in positions, words and deeds of politicians and leaders. If I
may add: politicians and leaders of any nation and creed. …
(69) 18.1.2006
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 23.1.2006
BND-Aktivitäten im Irak (Süddeutsche v. 12.1.2006, S. 1 'BND half Amerikanern
im Irak-Krieg')
Ausgepägte
Formlosigkeit ist das Neue an der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik seit
1990. Ihre Gestaltungsmöglichkeiten sind nicht durch Gesetze eingegrenzt,
sondern - nach Verteidigungspolitischen Richtlinien - bis weit über den
Hindukusch hinaus offen und frei. Das Bundesverfassungsgericht scheitert bei
der Überprüfung von konkreten Einsätzen an der Vorläufigkeit und
Unverbindlichkeit neuer Bündnisstrategien. Selbst wo Deutschland nicht
offiziell mitkämpft, kann es offenbar undercover mit besonderen Kompetenzen
aufwarten, vielleicht sogar im Zusammenhang mit Folter oder der Bombardierung
von Städten.
Was gerne mit
'Bündnisfähigkeit', 'Werte-Verwandtschaft' oder 'Partnerschaft' erklärt wird,
erinnert mich eher an die formlose Gruppendynamik und die Eigengesetzlichkeit
einer Jugendgang. Ich hoffe, ein Untersuchungsausschuss wird in der Lage sein,
die systembedingt verdunkelten Ecken auszuleuchten und demokratische Abhilfe
vorzubereiten. Wetten würde ich darauf freilich nicht.
(68) 18.1.2006
SPIEGEL, abgedruckt 23.1.2006
Aktivitäten des BND im Irak (SPIEGEL 3 / 2006, S. 22 f: 'Liebesgrüße nach
Washington')
Ein Triumpf der
Dialektik ist das Argument, die deutsch-amerikanische Kooperation der
Geheimdienste habe zur Abklärung tatsächlich ziviler Ziele beigetragen und
damit unschuldige Opfer verhütet. Es erinnert fatal an die nach 1945 geläufige
Mitläufer-Entschuldigung, man habe "doch nur mitgemacht, um das
Allerschlimmste zu verhüten". Das nah verwandte Argument "mitwirken,
um mitzugestalten" prägte auch die Beteiligung an out-of-area-Missionen
seit 1990 und die Debatte um den deutschen Sitz im Sicherheitsrat.
Dieses
Argumentationsmuster hat nur - wie schon nach 1945 - einen entscheidenden
Nachteil: Kein Opfer versteht es.
(67) 29.12.2005
DIE ZEIT; abgedruckt 12.1.2006
Entführung und Freilassung der deutschen Archäologin Susanne Osthoff (Bernd
Ulrich in der ZEIT vom 29.12.2005, S. 1: 'Bei aller Liebe')
Ich kenne Susanne
Osthoff nicht. Sie mag mit ihren eigensinnigen Ansprüchen und Plänen durchaus
die Nerven des Auswärtigen Dienstes und der Medien malträtieren. Aber ich habe
nicht den Eindruck, sie hätte sich mutwillig - also ohne ein hochwertiges Motiv
- in Gefahr begeben. Oder: sie würde den Staat verachten, um ihn gleichzeitig
hemmungslos auszunutzen.
Im Gegenteil scheint
sie mir prototypisch zu sein für eine zivile, nicht kommerzielle, aber
kulturell und historisch bewusste und humanitär bewegte Arbeit mit und für
fremde Menschen, die für uns alle und für unsere zentralen zivilisatorischen
Werte werben könnte. Wenn das so ist, könnte ich ihr eine erregte Verzweifelung
über die Gebundenheit unserer 'modernen' Außen- und Sicherheitspolitik
nachfühlen.
(66)
22.12.2005
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt 28.12.2005
Reaktion der im Irak freigelassenen Geisel Susanne Osthoff (Markus Decker im
KStA v. 21.12.2005, S. 3 ‚Eine Fremde in ihrem Mutterland’ und S. 4
‚Missverhältnis’):
Susanne Osthoff gehört vermutlich zu den Menschen, die die höchsten ihnen angebotenen Orden nicht annehmen würden oder - ärgerlicher noch für den zur Umarmung ansetzenden Staat - nicht einmal wahrnehmen würden. Ich halte sie nicht für einen "Fall" oder gar "schrägen Vogel", ihre Ziele und Reaktionen nicht für "unbegreiflich", "inakzeptabel" oder potenziell "irrsinnig". Jedenfalls ist sie nicht negativ außergewöhnlicher als Tausende von Krankenschwestern und Ärztinnen, die unter permanenter Lebensgefahr in Seuchengebieten den sonst Hilflosen helfen. Und die Fremdheit im Mutterland teilt sie mit dem, dessen ferne Geburt wir gerade mit einer Weihnacht feiern.
Der verfasste Staat und auch Rupert Neudeck, ein nicht ganz uneitler globaler Humanitäts-Manager, haben mit der fast unsichtbaren und viele Grenzen überschreitenden Frau Osthoff sicher ihr Problem. Aber wenn sie ehrlich sind, haben sie nicht das politisch Mögliche oder auch nur das wirtschaftlich Zumutbare getan, um die seit Jahren himmelschreiende Lage im Krisengebiet zu kurieren. Diese Männer sind in der Regel auch keine Helden, mehr Verwalter. Mancher, der sich derzeit das Maul zerreißt, flaniert an Wochenenden auch gerne über Antikmärkte und sichert sich ein Keilschrift-Täfelchen; sie werden jetzt wieder häufiger feilgeboten.
(65)
14.11.2005
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 21.11.2005
50 Jahre Bundeswehr; Interview mit Berthold Schenk Graf von Stauffenberg in der
Süddeutschen v. 12./13.11.2005, S. 10 ('Die Armee ist den Deutschen eher egal
geworden')
Egal sei die Bundeswehr den Deutschen geworden, sagt Berthold Schenk Graf von Stauffenberg in der Süddeutschen, und das deckt sich recht genau mit dem Befund des Bundespräsidenten auf der Kommandeurtagung vom 10. Oktober.
Man kann sich in der Tat nur verwundert die Augen reiben: Die Notstandsgesetze hatten monatelang die Republik auf den Straßen, im Parlament und in der Regierung in Atem gehalten - und konnten doch Menschenrechte eher theoretisch, höchstens am Rande ankratzen. Die Kopftuchfrage löst heutzutage eine hektische, fast pedantische Gesetzgebung aus - nur auch hier: Fehlanzeige hinsichtlich der Bedrohung existenzieller Menschenrechte.
Massives staatliches Gewaltpotenzial aber, wie das omnipotente neue Aufgabenspektrum der Bundeswehr und nun wirklich mit Gefahr für Leib und Leben von Inländern und von noch viel mehr Ausländern, das entwickelt sich elegant und fast geräuschlos, ohne störende gesellschaftliche Debatte, ohne vorausschauendes und nachvollziehbares Einhegen der Regierung nach den guten alten Regeln von Gesetzesvorbehalt und Wesentlichkeitsgebot. Die Erklärung für dieses unerhört ungleiche Gewichten von humanen Werten liegt wohl so nah wie auch so fern: Empfinden und Interesse für die handhaften Schrecken militärischer Einsätze nehmen mit dem Quadrat der Entfernung rapide ab - bis unter die Wahrnehmungsschwelle braver Bürger.
(64)
22.10.2005
DIE ZEIT, abgedruckt 3.11.2005
50 Jahre Bundeswehr (ZEIT Nr. 43, S. 7: Jochen Bittner ‚Das kann uns Blut
kosten’ und Theo Sommer ‚Von Himmerod zum Hindukusch’)
Richtig, die neuen Aufgaben der Bundeswehr können Blut kosten – und nicht nur deutsches. Aber wofür? Nicht weniger als 11 Fragezeichen schmücken Seite 7 der ZEIT Nr. 43 mit den Berichten zum Bundeswehrjubiläum. Das ist wohl ZEIT-Jahresrekord. Und diese Fragezeichen stehen für das Kernproblem von out of area, das es nach 15 Jahren Neuorientierung noch immer aufzuarbeiten gilt: Ein staatliches Organ, das wie die Bundeswehr Leben, Gesundheit und Freiheit von Bürgern wie von Ausländern gefährden und schädigen kann, muss doch einen klar abgrenzbaren Auftrag besitzen und keine Sammlung von sicherheitspolitischen Fragezeichen. Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner weiß, wieso?
Die Vergewisserung einer Demokratie beginnt mit einer breiten gesellschaftlichen Diskussion. Die haben wir bisher nur ad hoc oder scheibchenweise erlebt. Sie wird auch nicht gegenstandslos durch Planspiele neuer Hausherren im Bendlerblock oder durch schneidige Forderungen amerikanischer NATO-Diplomaten.
Genau diese offene Diskussion hat der Bundespräsident am 10. Oktober nun eingefordert. Dafür schätze ich ihn als Bürgerpräsidenten ein. Am Ende des demokratischen Prozesses stehen dann hoffentlich auch keine neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien, sondern endlich die rechtsstaatliche Normalform für die Abwägung staatlichen Gewalthandelns gegenüber individuellen Grundrechten: der gesetzliche Handlungsrahmen mit nachvollziehbaren Eingriffstatbeständen. Und hoffentlich haben wir dann noch ein Verteidigungsministerium - nicht etwa ein Sicherheitsministerium, das u.a. die besonderen Interessen des deutschen Außenhandels militärisch robust flankiert. Der Schaden für die globale Friedensordnung wäre sonst leicht absehbar. Auch für internationales Tun gilt der kategorische Imperativ. Und wenn Rumsfeld heute die aktualisierte chinesische Militärdoktrin beklagt, blickt er auf mittelbare Folgen der Bomben auf die chinesische Vertretung in Belgrad.
(63)
13.10.2005
Bonner General-Anzeiger, abgedruckt 18.10.2005
Rede des Bundespräsidenten auf der Kommandeurstagung (Bericht/Kommentierung von
Ekkehard Kohrs im GA v. 11.10.2005, S. 1 u. 2)
Der Bundespräsident verlangt eine breite gesellschaftliche Debatte der neuen Aufgaben der Bundeswehr und er spricht mir aus dem Herzen. Wir hatten nun eine explorative Phase der Bundeswehr von ca. 15 Jahren, die viel ambitioniertes und Bündnis-integrierendes Handeln gebracht hat, aber sehr wenig demokratische Diskussion und erst recht keine greifbare und verlässliche gesetzliche Definition des erweiterten Auftrags der Bundeswehr. Das neue Aufgabenspektrum ist nach wie vor diffus wie der Hindukusch im Herbstnebel. Bei Funktionen des Staates, die Grundrechte von Bürgern wie von Ausländern massiv und unwiderruflich schädigen können, ist dies kein rechtsstaatlich befriedigender Zustand.
(62) August 11, 2005
Newsweek, abgedruckt 10.10.2005
The phrase "Only a
dead [x] is a good [x]" is a very flexible verdict, already used
unequivocally on Indians, Jews, Japanese, communists, and Mohammedans, whilst
completely incompatible to Christian faith. And irrespective of the
kamikaze-phenomenon it stays a strange notion that the mightiest machine ever
invented was designed and used against humans – in the case of
I can reconstruct Truman's motives in favour of the soldiers still in the field. But I understand that there were concurrent motives of most questionable morality: to deeply impress Stalin and keep Russia out of Japan, to prove the necessity of 2 billions invested in the Manhattan project and show the paramount importance of a military industrial complex, to prove scientific theories and to simply switch on a gadget just delivered. The most puzzling fact seems to me: The fast use of the second bomb – also representing the different plutonium approach and therefore a sort of new experiment – was not triggered by special presidential order and was not even politically discussed. It was decided by military commanders abroad and may be basically due to an unpromising weather forecast. History can be extremely trivial.
(61)
9.12.2004
Süddeutsche Zeitung; abgedruckt 16.12.2004
Verabschiedung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes am 3.12.2004
(Berichterstattung in der
Süddeutschen v. 4.12.2004, S. 6 ‚Bundestag billigt Einsatz im Sudan’)
Am
3.12. hat der Bundestag fast unbemerkt das Parlamentsbeteiligungsgesetz
verabschiedet, eine Art ‚Schau’n wir mal’ der deutschen Außen- und
Sicherheitspolitik. In der Sache nichts festlegen – warten wir halt ab und
sehen, was so auf uns zukommt. Das Gesetz nimmt die Essenz der 1994er
out-of-area-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf, die bei der
Anhörung von Sachverständigen zum Parlamentsbeteiligungsgesetz am 17.6.2004
griffig wie folgt charakterisiert wurde: ‚Beide Seiten bekamen etwas: die Exekutive
ihre Reaktionsfähigkeit, das Parlament seine Beteiligung.’ Ein klassischer
Justizkompromiss – aber mit Pferdefuß für uns Bürger. Auf der Strecke blieb und
bleibt eine fundamentale Errungenschaft des 1945 wieder aufgebauten
Rechtsstaates – der Gesetzesvorbehalt.
Hauptanliegen
der Verfassungsgeber und als Lehre aus dem Unrechtsstaat mahnend voran gestellt
sind die Grundrechte, und sie dürfen nur nach Maßgabe eines allgemeinen
Gesetzes eingeschränkt werden, das die Eingriffsrechte des Staates präzise
vorab regelt. Ad-hoc-Entscheidungen – auch des Parlaments – sind bewusst tabu,
um den demokratischen Prozess mit gesellschaftlicher Debatte über neue
Handlungsformen des Staates zu sichern. Die Deutsche Bischofskonferenz hat die
gesellschaftliche Debatte zu Gründen und Zwecken militärischer Einsätze in
diesem Jahr nachdrücklich angemahnt – leider vergebens. Das
Parlamentsbeteiligungsgesetz beschränkt sich auf Verfahrensregelungen, solche
zudem, die den Weg in neue militärische Engagements erleichtern und ebenso die
allfälligen Verlängerungen noch nicht siegreicher Einsätze geräuschloser
gestalten. Zum ‚wann mit Militär’ und ‚wann nicht’ findet sich dagegen nichts.
Schau’n
wir mal? Beim Risiko für Zehntausende von Menschenleben ist das
ethisch und juristisch schwer erträglich. Und bei der zweifelhaften, bisher
aber kaum in Frage gestellten Effizienz der neuen Außen- und
Sicherheitspolitik, deren Kernziel wohl wieder ein eher formales ist: Bewährung
für einen Platz am Tisch der Großen.
(60)
8.12.2004
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 17.12.2004
Verabschiedung des Parlamentsbeteiligungsgesetzes (F.A.Z. v. 4.12.2004, S. 4
"Bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr erhält die Bundesregierung mehr
Spielraum")
Was
unterscheidet unseren Rechtsstaat fundamental von der Unrechtsordnung der Jahre
1933-1945? Es sind die Grundrechte, die nur nach genauer Maßgabe eines
demokratisch gewonnenen generellen und allgemeinen Gesetzes eingeschränkt
werden dürfen, und es sind Gerichte, die über diesen Gesetzesvorbehalt wachen
können.
Ausgerechnet
bei der einschneidendsten staatlichen Handlungsform, beim Einsatz bewaffneter
Truppen, läuft der Grundrechtsschutz de facto leer, jetzt sogar bestätigt durch
das am 3. Dezember verabschiedete Parlamentsbeteiligungsgesetz. Es regelt zwar
das Rollenspiel zwischen Exekutive und Parlament - und gibt dabei der Exekutive
mehr Spielraum bei den ersten Schritten in ein neues militärischen Engagement
und bei den so zahlreichen Verlängerungen. Völlig offen lässt es aber die
grundlegende Frage, in exakt welchen Fallgestaltungen und zu genau welchen
Zwecken militärische Mittel gerechtfertigt sein sollen. Die Deutsche
Bischofskonferenz hatte noch zu Beginn dieses Jahres sehr eindringlich die
lange überfällige gesellschaftliche Debatte zu eben dieser Frage angemahnt.
Denn als materielle Grundlage von Auslandseinsätzen haben wir derzeit nicht
mehr als die Verteidigungspolitischen Richtlinien vom Mai 2003, ein
untergesetzliches Produkt ministeriellen Wollens und zur juristischen
Differenzierung ähnlich tauglich wie der Herbstnebel am Hindukusch.
Mit
diesem Rüstzeug erscheint der gerne erhobene Anspruch, westliche
Rechtsstandards mit Nachdruck in die Welt zu tragen, besonders widersprüchlich.
Auch die Bewertung von Herrn Wiefelspütz, das Gesetz schaffe Rechtssicherheit
für die Soldaten, scheint mir falsch; das Gesetz schreibt im Gegenteil einen
nicht kalkulierbaren und sogar Willkür-gefährdeten Mechanismus für
ad-hoc-Entscheidungen fest, der auch der internationalen Friedensordnung nicht
nutzt. Der Eingriff in Serbien wird mangels Autorisierung durch die VN von der
Mehrzahl der Völkerrechtler kritisch berurteilt; ich möchte unterstellen, daß
er auch unter dem Parlamentsbeteiligungsgesetz ausgelöst worden wäre - und daß
selbst ein Einsatz im Irak in den extremen Entscheidungsspielraum dieses
Instruments fallen kann. Ich plädiere für eine klare Eingriffsgrundlage, die
den bürgerschützenden Anspruch des Gesetzesvorbehalts erfüllt und die unseren
Gerichten die Möglichkeit zur Differenzierung und zur Kontrolle der Exekutive
gibt, wo mit einem Federstrich Tausende von Menschenleben zu Opfern gemacht
werden können.
(59)
15.2.2004
Rheinischer Merkur, abgedruckt 11.3.2004
Kant und Krieg; Thomas Gutschker im Rheinischen Merkur v. 5.2.2004 (S. 8 'Ein
Krieg kann ein heilsames Übel sein')
"Wie
viele komplexe Werke lassen sich auch Kants Schriften in vielen Facetten und
sogar für gegenläufige Ziele auswerten. Aber ich müsste mich sehr täuschen,
wenn Kant gerade die neuen Kriege und Konflikte als 'Fortschreiten der
Menschheit zum Besseren' hätte sehen können.
Sehr
interessant scheint mir Kants Gedanke der dämpfenden Rückkopplung zwischen der
Entscheidung für eine bewaffnete Auseinandersetzung und dem Tragen der
allfälligen Lasten zu sein: 'Wenn, wie es in dieser Verfassung (nämlich der von
Kant bevorzugten republikanischen) nicht anders sein kann, die Beistimmung der
Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ob Krieg sein solle oder
nicht, so ist nichts natürlicher, als dass, da sie alle Drangsale des Krieges
über sich selbst beschließen müssten - als da sind (ich verkürze): selbst zu
fechten, aufzuräumen und später abzubezahlen - sie sich sehr bedenken werden,
ein so schlimmes Spiel anzufangen', so im 'Ewigen Frieden S. 23f. Er definiert
in dieser Schrift die Freiheit konsequent als Befugnis, 'keinen äußeren
Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können'
(S. 21) und er bringt ein wunderbares Beispiel, um ambitionierte Kriege und die
lieben Herrscher im Zaum zu halten: Ein griechischer Kaiser hatte netterweise
einem bulgarischen Fürsten vorgeschlagen, ihren persönlichen Händel im
Zweikampf auszutragen; der Bulgare lehnte dankend ab und wollte lieber seine
Untertanen die Eisen aus dem Feuer holen lassen (S. 32).
Wenn
wir daraus wenigstens ableiten könnten, dass es einen Konsens zwischen
Herrschaft und Bürgern über die konkreten Gründe für neue Kriege braucht und
dass dies nach dem - hier einmal auf den Staat zurück projizierten -
Kategorischen Imperativ einer generellen gesetzlichen Regelung bedarf, dann
wäre für die Rationalität und Authentizität der Außen- und Sicherheitspolitik
und auch für deren Eignung zur Deeskalation viel gewonnen! Vielleicht darf man
auch Kants Warnung vor stehenden Heeren auf die neuen hoch spezialisierten
Eingreiftruppen beziehen. Solche Werkzeuge 'bedrohen andere Staaten
unaufhörlich mit Krieg, durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu
erscheinen, reizen sie diese an, sich einander in der Menge der Gerüsteten, die
keine Grenzen kennt, zu übertreffen' und - wie Kant fortführt - selbst den
Konflikt zu suchen (S. 8). Es spricht viel dafür, dass wir selbst die Ursachen
für Konflikte setzen und diese sodann scheinbar professionell bekämpfen."
Anm.:
Die Seitenzahlen zu Kants 'Zum ewigen Frieden' beziehen sich auf die 1984 im
Harald-Fischer-Verlag erschienenene faksimilierte Ausgabe des Originals v.
1795.
(58)
1.12.2003; abgedruckt im SPIEGEL 52/2003
DER SPIEGEL
Wehrpflicht; Struck-Interview im SPIEGEL 49/2003, S. 52ff ('Jedes Land
entscheidet souverän')
Die
Interviewer haben es beharrlich herausgefragt: Peter Struck ist zwar gegen den
Umbau der Bundeswehr zu einer Berufsarmee, aber mitbauen würde er zur Not
schon. Impulsiver Applaus der Grünen, und den konnte man erwarten. Die
Wehrpflicht wäre der ganz große Elch. Der über dem Kamin und man wäre auf Jahre
bei der Bekannt- und Wählerschaft fein heraus.
Etwas
später fiele auf, dass der Elch zum demokratischen Biotop gehört hatte, zur
politischen Authentizität auch der Grünen. Die Grünen akzeptieren
Auslandseinsätze ja nicht nur, für Humanität und Bürgerrechte fordern sie heute
ein entschlossenes bewaffnetes Engagement. Dann müssen sie es auch in der
Praxis mittragen, mit eigenen Wählern und gar Mitgliedern als Sensoren für eine
ambitionierte Politik. Andere vorzuschicken, dabei vielleicht noch eine
schlechte Beschäftigungslage zumal im Osten auszunutzen, das ist kein
glaubhaftes Rezept für eine responsive, demokratische Politik. Insbesondere
nicht, solange die neuen Aufgaben und Ziele der Bundeswehr diffus sind wie der
Hindukusch im Herbstnebel.
(57)
24.11.2003
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 2.12.2003
Bomben-Attentate in der Türkei (KStA v. 24.11.2003, S.4: Gerd Höhler,
'Unbequeme Wahrheit für Erdogan')
Ich
finde wenig christlich, wegen der terroristischen Attentate in Istanbul die
Europa-Tauglichkeit der Türkei in Frage zu stellen. Ähnlich herzlich ist, eilig
an einem Unfallopfer vorbeizufahren oder einen Kranken zu meiden. Im Übrigen:
Als es gehäuft Terror-Täter und Terror-Opfer in Deutschland, Italien oder
Spanien gab, galt das nicht als uneuropäisch, sondern als Ansporn für enge
Zusammenarbeit.
Eines
allerdings müssen wir intensiv bedenken: Es bringt wenig, die Türkei in die
Festung Europa hinein zu zerren, im crash-Kurs einem zentralen Leitbild zu
unterwerfen und dann rasch die Schotten wieder dicht zu machen. Der Kampf gegen
den Terror ist ein Kampf um die Köpfe, die Köpfe der Jugend zumal. Statt
Einheitskultur müssen wir Modelle für gesellschaftliche, kulturelle und
wirtschaftliche Toleranz entwickeln. Die europäische Kultur muss offen sein für
mehrere Lebensstile - von 'Geiz ist geil' bis 'Gott ist groß'. Und ebenso wenig
wie ein Einheits-Parlament sollten wir uns ein Europa mit einer zusammen
hängenden Einkaufszone wünschen.
(56)
18.11.2003
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 26.11.2003
Terrorismus in der Türkei; zu F.A.Z. v. 17.11.2003; S. 1 "Verbrechen in
Istanbul":
Wenn
der Vorwurf des israelischen Außenministers Schalom zutrifft, Europa trage
Mitschuld an den Anschlägen dieser Tage, dann aus meiner Sicht nur auf einer
sehr weiten Zeitskala: Das Europa der Dreißiger und Vierziger Jahre mit dem
faschistischen Kraftzentrum Deutschland hat die Ursachen für die Gründung des
Staates Israel gesetzt, der von den ersten Tagen an in wehrhaftem Konflikt mit
seiner Nachbarschaft leben musste. Zur Zeit Rabins hat die israelische Politik
das Recht und die Pflicht Europas gesehen, durch zivilstaatliche Unterstützung
des palästinensischen Volkes einen eigenen Beitrag zur Vermittlung zu leisten.
Die gegenwärtige israelische Regierung aber scheint weniger von der dauerhaften
Lösung als eher von der Bewahrung von Konflikten zu leben, jedenfalls von
Situationen, in denen beliebige Grade von Härte und Abgrenzung Applaus finden
und menschliche Gemeinsamkeiten verdrängt werden.
Der
anarchistische Terrorismus palästinensischer Gruppen wird am ehesten gefördert,
wenn die Regierung Scharon jeden Ansatz zivilstaatlicher Autorität bekämpft und
zur Entmutigung Demütigung demonstriert. Und die militärische
Liquidationsstrategie mag man wohl ethisch betrachten, wie man will. In jedem
Fall löst sie nach den mechanischen Gesetzen ethnischer Konflikte Reaktion und
Eskalation aus - völlig berechenbar. Unter Partnern sollten diese
Verantwortlichkeiten nüchtern diskutiert werden können. Sonst entfiele auch die
Eignung Europas zur fairen Vermittlung.
(55)
10.8.2003
Stuttgarter Zeitung, abgedruckt 21.8.2003
Irak-Krieg; zum Kommentar von Christoph Ziedler "Noch ein Verstoß"
(Stuttgarter Zeitung v. 9.8.2003, S. 3)
Erst
wenn das Völkerrecht wieder für alle gilt, lohnt es sich, inhumane Waffen zu
ächten? Was tun wir bis dahin? Das zentrale Argument für den Eingriff im Irak
waren doch gerade chemische/biologische Waffen Saddams. Diese wurden nicht
gefunden. Wie Sie berichten, haben die USA ihrerseits unzweifelhaft inhumane
Waffen eingesetzt: cluster bombs, uranhaltige Munition und sogar weiter
entwickeltes Napalm.
Und
diejenigen, die Menschenrechtsverletzungen bei Freund und Feind traditionell
mit zweierlei Maß messen - dafür ist gerade Saddams Karriere der beste Beleg -
sind wiederum die USA, die sich konsequenterweise auch nicht dem
internationalen Strafgerichtshof unterwerfen. Dass sich die USA in absehbarer
Zukunft einem allseitig bindenden Völkerrecht anschließen, erscheint mir sehr
unwahrscheinlich.
Es
lohnt sich zu jeder Zeit und gegenüber jedem Beteiligten, der Inhumanität
ebenso wie der vorgetäuschten Menschlichkeit mit klaren Worten entgegen zu
treten!
(54)
24.3.2003
DIE ZEIT, abgedruckt: 3.4.3003
Irak-Konflikt; Josef Joffe in der ZEIT Nr. 13 v. 20.3.2003 ('Der Marsch auf
Bagdad')
Am
22.3. war ich auf der zweiten Demo meines Lebens, gleichzeitig meiner zweiten
Irak-Demo in Köln. Ein Transparent bat ebenso rührend
wie konsequent "US Government: Please leave the planet". In Gedanken
habe ich ergänzt "and take along your weapons of mass destruction". Josef Joffe hätte noch
eine gute Reise zum Mars wünschen können.
Josef
Joffe möchte ein schnelles Kriegsende. Hier komme ich in einen inneren Streit.
Natürlich wünsche ich gerade der irakischen Zivilbevölkerung ein Ende des
Leides, das nicht erst mit diesem Krieg begann, und ich wünsche keinem
beteiligten Soldaten irgendeine Verletzung. Aber ich will auch nicht, dass die
aus meiner Sicht völkerrechtswidrige Strategie der USA belohnt wird und eine
"Colt an die Schläfe' - Politik Schule macht. Ich will dies um so weniger,
als ich Saddam Hussein in vielen seiner schlechtesten Eigenschaften als Produkt
des Westens ansehe: Geformt in den Zeiten, als er vom Westen waffentechnisch
und strategisch unterstützt wurde und in den USA als (wörtlich) 'our monster'
firmierte, und ebenso in der Zeit, in der er durch den Westen bekämpft und
bedroht wird.
Ich
sehe keinen realistischen Plan für eine friedliche, selbstbestimmte und die
kulturelle Identität wahrende Entwicklung des Irak oder der Region nach einem
Ende des Konflikts, sondern nur die Gefahr von mehr Vasallen-Tyrannen-Zyklen
und von mehr und komplexerer Gewalt.
(53)
14.3.2003
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 25.3.2003
zum Kommentar von Günther M. Wiedemann "Die alte Bundeswehr wird
ausgemustert" (KSTA v. 11.3.2003, S. 4)
Ich
danke dem Kommentator für die klare Frage, ob denn verteidigungspolitische
Richtlinien ausreichen können, die neuen Aufgaben der Bundeswehr festzulegen
und zu legitimieren.
Die
Sprache von Rechtsstaat und Demokratie ist das Gesetz. Ein Gesetz legt das von
den Bürgern Gewollte und Mitgetragene für eine abstrakte Vielzahl von Fällen
und Betroffenen von vornherein fest - emotionsfrei und unbestechlich. Typisch
für autoritäre Staatsformen dagegen sind bloße Richtlinien,
ad-hoc-Entscheidungen oder Maßnahme-Gesetze, die unmittelbar in zentrale
Grundrechte wie Leben, Freiheit und Gesundheit eingreifen. Gerade die hin- und
herwogende Debatte zum Irak-Krieg zeigt: Wir wären in besserer Verfassung und
hätten eine bessere Verfassung, hätten wir einen klaren, mit den Bürgern
diskutierten rechtlichen Rahmen für unsere Rolle bei der internationalen
Friedenswahrung. Packen wir's sofort an!
(52)
6.3.2003
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt: 15.3.2003
Demokratisierung des Nahen Ostens nach einem Irak-Krieg; zu F.A.Z. v. 4.3.2003,
S. 1; Kommentar von Wolfgang Günter Lerch "Neue Ordnung in Nahost"
Die
Skepsis von Wolfgang Günter Lerch zur Demokratisierung des Nahen Ostens nach
westlichen Blaupausen teile ich von Herzen. Wenn Bush heute dem irakischen Volk
und den nahöstlichen Anrainern Freiheit, Nahrung, Medikamente und Demokratie
für alle verspricht, so klingen nicht nur die leiblichen Verheißungen für den
'day after' seltsam hohl, auch die Leitbilder Freiheit und Demokratie: Die
Vereinigten Staaten sehen doch derzeit just diejenigen Verbündeten als
unsichere Kantonisten an, bei denen eine weit überwiegend kriegs-kritische
Haltung der Bürger auf das Regierungshandeln durchschlägt, wo Demokratie
Wirkung zeigt und Unabhängigkeit beweist: Frankreich, Deutschland, jüngst auch
eine erstaunliche Türkei. Und solche, die sich um das erkennbare Meinungsbild
der Bürger wenig scheren oder sich ihre Unterstützung abkaufen lassen, sind
prächtige Freunde, vielleicht doch eigentlich: Mitläufer ohne echte
Souveränität. Auch gilt Bush selbst wohl nicht als Produkt einer
Bilderbuch-Demokratie. Dazu ein begeisterter
Leserbrief aus
Bush
stellt die Befreiung Deutschlands und Japans merkwürdig verklärt dar. Es wurden
doch ganz nüchtern lebensgefährliche Kriegsgegner niedergerungen. Konsequent
war anfangs jede Fraternisierung strengstens verboten. Und die Bewohner von
Köln, Dresden oder Hiroshima haben die massiven Bombardierungen nicht als
unumgängliche Vorstufe einer Befreiung in Erinnerung. Daß in der Folge eine
liberalere Weltsicht die zähen nationalistischen Denkmuster verdrängt hat, ist
am ehesten der Verbindung von Wiederaufbau-Bedarf, technokratischer
Orientierung und ökonomischer Prosperität zu danken. Stabile Wirtschaftswunder
dieser Art aber sind in der heutigen Situation von globalisierter Ökonomie und
bereits hoch belasteter Umwelt für den Nahen Osten nur schwer wiederholbar -
einmal völlig abgesehen von Gräben zwischen den Kulturen, Fähigkeiten und
Bedürfnissen.
Und
nicht vergessen sollten wir: Die intellektuelle und wirtschaftliche Basis des
heutigen Terrorismus liegt nach allen verfügbaren Erkenntnissen in Ländern,
deren Eliten schon intensiv und langanhaltend mit Amerika im Geschäft sind, in
Saudi Arabien und Kuwait. Wollen wir wirklich mehr vom Gleichen?
(51)
27.1.2003
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 31.1.2003
Position Deutschlands im Irak-Konflikt; zu KStA v. 25. U. 18.1.2003: Dieter
Wellershoff "Altes Sinnmuster, neueste Waffen" sowie Markus
Decker "Struck hat leider Recht"
Unter
dem Eindruck der abgewogenen Analyse von Dieter Wellershoff und der Kölner
Friedensdemonstration vom 25. 1. komme ich auf zwei Argumente zurück, die in
letzter Zeit vielfach gebraucht und gespiegelt worden sind, u. a. im Kommentar
"Struck hat leider Recht". Erstens: Schröders Anti-Kriegs-Kurs sei
(bloß) Rhetorik und dem Wahlkampf geschuldet. Zweitens: Deutschland habe
derzeit in den USA und bei den UN keinen Einfluss.
Zum
Ersten: Es mag Diplomatie schwieriger machen, wenn eine überwiegend
kriegskritische Haltung von Bürgern in Politik umgesetzt wird. Aber es ist doch
ein Beweis von lebender Demokratie, nicht etwa von wuchernder Anarchie. Wenn
solcher Bürgereinfluss nicht zu Wahlzeiten klappt, wann dann? Zum Zweiten:
"Mitsprechen und so das Schlimmste verhüten", das hört sich
konstruktiv an. Bei krass unterschiedlichen Einflussmöglichkeiten stützt dieses
Verhalten aber schlicht den Kurs des Stärksten und Entschlossensten, Wir kennen
dies aus unserer nationalen Geschichte als Überlebens-Strategie der Eliten:
Eine offen abweichende Position ist dagegen risikoreicher, gleichzeitig
kennzeichnender für Demokratie. Ohne die Schröder-Position stünden wir heute
näher am Krieg, wenn nicht schon im Krieg. Wir sollten daran festhalten, auch:
ihn daran festhalten.
Ich
verkenne nicht, dass sich Bush wohl weitestgehend nach Bin Ladens Gefallen und
Strategie entwickelt hat. Die Wahrnehmung beider im jeweils anderen Lager
dürfte heute austauschbar sein: Gottlose Egoisten. Das macht es aber nicht
besser - es fordert unsere nüchterne Distanz, Analyse und Kritik.
(50)
10.10.2002
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 18.10.2002
Wehrpflicht (zu KStA v. 9.10.2002, S. 2 Markus Decker: Helm ab!)
Wenige legen ihre Hand freiwillig auf eine rotglühende Herdplatte, C. Mucius Scaevola war laut Livius einer der letzten. Leichter geht's schon, nimmt man die Hand eines anderen. Und nochmals lockerer, wenn man dessen Reaktionen nicht mitbekommt.
Parlamentarier unterliegen keiner Wehrpflicht, auch Grüne nicht. Selbst für die Grünen aber sind Auslandseinsätze der Bundeswehr nun schon seit mehr als vier Jahren praktische Politik, aus humanitäre Gründen gewollt.
Drum sollten die Grünen - und alle anderen Volksvertreter gleichermaßen - das Gefühl und die Rückkopplung behalten, dass ihre eigenen Wähler und Mitglieder diese Herausforderung vor Ort aufnehmen. Ganz weit vorne, da wo es weh tut und wo man Menschen weh tut. Das Werkzeug Bundeswehr gerät dann zwar nicht ganz so glatt und praktisch wie eine Fremdenlegion, aber es bleibt deutlich ehrlicher. In Zeiten der Aufgaben-Erweiterung der Bundeswehr spricht mehr für die Wehrpflicht, nicht weniger.
(49) 26.9.2002
TIME, abgedruckt in TIME v. 28.10.2002
Irak intervention; article 'Does might make it right?' in TIME Sept. 30, 2002:
The dangers posed by
terrorists may have increased dramatically and conventional military strategy
(including non-conventional weapons) may no longer defend a country against
non-state-based forms of aggression. But to start a new war against Irak is more
like business as usual and not proof of a new way of thinking and
understanding. At best attacking Irak may be explained as turning the rifle
from a moving target - Osama bin Laden - and aiming at a more or less
stationary Saddam. What the world truly needs is a strategy that fights hatred
and inferiority complexes by confidence-building measures in the fields of
politics, economics and culture. So the
(48)
7.8.2002
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 16.8.2002
deutscher Irak-Einsatz (KStA v. 31.7.2002 S. 1 "Klose: Deutscher
Irak-Einsatz ist möglich"; KStA v. 6.8.2002 "Kurswechsel in der SPD
bei Irak-Einsatz", KSTA v. 7.8.2002 "Kritik an Schröders
Irak-Wende":
Okay - es ist schon seltsam, dass die SPD so kurz vor den Wahlen Themen und Lösungen entdeckt, die uns Bürger offenbar stark bewegen: z.B. Arbeitslosigkeit und die militärische Seite der Außenpolitik. Aber besser spät als nie. Jedenfalls halte ich nichts von der These, militärische Fragen hätten im Wahlkampf nichts zu suchen. Das habe ich noch aus dem Jahre 1994 im Ohr, damals von Außenminister Kinkel, der die Neuorientierung der Bundeswehr aus dem Wahlkampf heraus halten wollte - und so kam es dann auch und blieb bisher genau so.
Müssen aber nicht Fragen zu Tod und Leben erst einmal im vertrauten Kreis der Verbündeten auszuklamüsert werden, bevor man den Souverän, uns Volk, einweiht? Nein! Demokratie ist am besten im eigenen Land. Und ich kann mich nicht erinnern, einen Abgeordneten für meine Vertretung in der NATO gewählt zu haben.
Wenn der Kanzler Demokratie und Rechtsstaat ernst nehmen will - und dafür würde ich ihn glatt wählen - dann regelt er endlich, in genau welchen Fällen Deutschland militärische Gewalt einsetzen will: z.B. zur Beendigung nachgewiesener massiver Menschenrechtsverletzungen, vielleicht zur Sicherung der Versorgungs- und Absatzwege (?), zur Rettung deutscher oder verbündeter Staatsangehöriger aus unwirtlichen Gefängnissen (?) oder zur Terror- oder Rüstungskontrolle (?). Vorsicht aber, es rüsten sich viele. Würden wir die Aufgaben der Bundeswehr genau aufschreiben, wie auch Immanuel Kant es sicher gerne gesehen hätte, wären wir um einiges berechenbarer - und wären in besserer Verfassung.
(47)
17.07.2002
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 26.7.2002
Zur Ausklammerung u.a. der USA bei künftigen Untersuchungen des Internationalen
Strafgerichtshofes (Berichterstattung im KStA v. 15.7.2002 S. 6; Kommentar v.
Andreas Zumach "Die USA lenken nur formell ein" im KStA v. 12.7.2002,
S. 4)
Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist aussichtsreich nur als Kampf um die Köpfe der Menschen der Dritten Welt – mit konsensfähigen Werten aus unserer Kultur. Im Kontrast zu den totalitären Zügen einiger islamischer Staaten müssen wir mit den Leitbildern Rechtsstaatlichkeit, Durchschaubarkeit, Gleichbehandlung und der Wahrung von Menschenrechten werben.
Die USA haben nun erreicht, dass ihre Politiker und Militärs von einer neutralen juristischen Bewertung schwerster Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen verschont bleiben. In der Außenwirkung ist das eine unheilvolle Demonstration von Machtpolitik. Die USA haben ihre am amerikanischen Kontinent entwickelte Monroe-Doktrin zwischenzeitlich zu einem Anspruch auf jederzeitigen Eingriff rund um den Globus ausgeweitet. Vor allen Rückwirkungen sichern sie sich nun ab durch ein "legibus absolutus", durch eine Ausnahme von der Geltung des für alle anderen geltenden Rechts – eine Parallele übrigens zu dem Raketenschirm, der militärisch unanfechtbar machen soll.
Eine Erfolg versprechende Strategie gegen lebensbedrohliche Konfrontation ist das offensichtlich nicht: Was der Islam am Westen kritisiert, ist ja nicht die andere Religion. Vorgeworfen wird uns vielmehr: Der westlichen Politik fehlten jegliche religiösen oder ethischen Fundamente, Materielles zähle mehr als Mitmenschlichkeit und die Menschen seien auf narzisstische Weise selbstgerecht. Diese Vorurteile bestätigen wir mit allen Kräften.
(46)
15.07.2002
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 18.7.2002
zur Freistellung US-amerikanischer Bürger von Untersuchungen des
Internationalen Strafgerichtshofes (F.A.Z. v. 15.7.2002, Titelbericht S. 1
"Erleichterung über den Kompromiß"; Kommentar K. F. S. 10: "Nach
dem Kompromiß")
Der
Westen steht in einem Krieg um die Köpfe - und es ist ein Krieg um die Werte.
Da findet Amerika keine bessere Strategie, als seine Bürger für legibus
absoluti gegenüber dem Internationalen Strafgerichtshof zu erklären?
Wir
haben uns angewöhnt: Unsere neue Außen- und Militärpolitik ist die
denkgesetzliche humanitäre Weiterentwicklung des Völkerrechts - vielleicht
nicht ständig am traditionellen Regelwerk orientiert, aber auf Stärkung von
Menschenrechten optimiert. Wir haben so gedacht, auch wenn einige Einsätze
zumindest dual-use waren und zusätzlich, wenn nicht zuförderst, nationalen
und/oder wirtschaftlichen Interessen dienten. Militärische Einsätze sind
Handlungen der Exekutive, und zwar der Lebens-bedrohendsten Art. Die Exekutive
soll in unserem Wertesystem durch Legislative und Judikative im Zaum gehalten
werden. Bereits die Legislative meldet hier Fehlanzeige: Unter normalen
Umständen schreibt sie generell, abstrakt und vorausgehend die erlaubten
exekutiven Eingriffsrechte fest - im Bereich der Militärpolitik jedoch haben
sich national wie supra-national Einzelfall-Entscheidungen durchgesetzt.
Hinsichtlich der Judikative ruhten große Hoffnungen des Schutzes der
Menschenrechte auf dem Internationalen Strafgerichtshof. Wenn die USA ihre
Bürger vor Gerichtshof abschirmen, ist der objektive Erklärungswert: Wir werden
uns nicht fesseln lassen hinsichtlich der Option nicht-humanitär orientierter
militärischer Gewalt.
Merke:
Wer nichts zu verbergen hat, braucht den Richter nicht zu fürchten. Das
richterliche Privileg für die USA kann man mit dem FAZ-Kommentar als abgeklärte
Anpassung an die Realpolitik akzeptieren. Müssten wir aber nicht konsequent
auch dem Vergewaltiger die Einrede von "Realsexualität" zubilligen?
Im Krieg um die Akzeptanz unserer Werte ist mehr als eine Schlacht verloren.
(45)
14.1.2002
Psychologie heute, abgedruckt Heft 2002/4
Gegensatz Westen/Islam; Essay Peter Krieg im Psychologie heute 2002/1 S. 28 -
32: "Ewige Gerechtigkeit oder anhaltende Freiheit?")
Fruchtbarer als der Gegensatz normativ / kognitiv' ist aus meiner Sicht das Begriffspaar ,normativ / explorativ'. Denn auch normative Systeme sind zu einem guten Teil Folge von Kognition. Sie liefern auch nicht notwendigerweise freiheitsbeschränkende Erstarrungen, sondern häufig weiterhin objektiv nützliche Anpassungen an äußere Bedingungen, z.B. an die Natur, Anpassungen, die individuelle wie auch kollektive Handlungsfreiheit gerade offen halten. Und auch in unseren offenen westlichen Gesellschaften ist das Handeln der Einzelnen im Detail normativ gesteuert, wenngleich vielfach in geschmeidigeren Formen: neben staatlichen Regeln durch Leitbilder, Trends, Karriere-Pfade und Wertegemeinschaften.
Was die Welt gegeneinander treibt, scheint mir mehr der explorative Trieb westlicher Industriegesellschaften zu sein, der den Stoffwechsel der globalen Zivilisation ungebremst anheizt, das Spiegelbild der alten affenartigen Neugier. Gerade hier könnte eine Chance zur Konvergenz und De-Eskalation liegen: In einer Anpassung der Betriebsamkeit des Westens an den eher östlichen Grundsatz der Nachhaltigkeit, der sich auch im islamischen Eigentumsbegriff findet: Güter und Werte sind nicht zur willkürlichen Verfügung bis hin zur Zerstörung überlassen, sondern zur Nutzung für die heutige und jede folgende Generation anvertraut.
(44)
08.11.2001
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 13.11.2001
zur Ankündigung von Herrn Bundeskanzler Schröder, dass sich Deutschland mit
einem Kontingent von 3.900 Soldaten aktiv an dem Krieg in Afghanistan
beteiligen wird
Die
Nachkriegszeit ist also vorbei. Die Vorkriegszeit auch schon fast wieder. Und
Bundeskanzler Schröder will gleich eine Abmagerung der Verfassung: Der
Bundestag soll künftig lediglich über die Bereitstellung von Personal und
Material der Bundeswehr entscheiden, nicht mehr über den konkreten Einsatz. Die
Bundeswehr wird vom Parlamentsheer – so noch 1993 das Bundesverfassungsgericht
– zum Kanzlerheer. Eine kleine Anleihe machen kann Schröder bei einem markigen
Vorgänger, Otto von Bismarck, der im vorvorigen Jahrhundert bereits wusste:
"Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der
Zeit entschieden, sondern durch Eisen und Blut!"
Weltweit
geachtet haben die Deutschen viele Jahre mit einem nicht geschriebenen
Grundrecht gelebt: Die Aufgabe der Bundeswehr war strikt begrenzt auf
Verteidigung gegen einen unmittelbaren militärischen Angriff. Jeder Krieg, in
dem Deutsche hätten kämpfen müssen, hätte eine eindeutig nachvollziehbare
Ursache gehabt. Derzeit führt Amerika einen vollgültigen Krieg gegen eines der
ärmsten Länder der Welt. Es beruft sich dabei auf die Tat eines ehemaligen
Bundesgenossen, ohne dass wir die Zusammenhänge wirklich bewerten können. Wir
wissen auch nicht, wohin die Expedition gehen wird – welche weiteren Länder auf
der Basis welcher Erkenntnisse in den Konflikt einbezogen werden – und wie
lange der erklärte Weltkrieg gegen den Terror anhalten soll, der das bisherige
Völkerrecht praktisch außer Kraft setzt. Ich halte für klüger und nachhaltiger,
den Dialog und den Ausgleich zu suchen, als mit jedem Geschoss neue Todfeinde
zu säen. Und ich sähe mich dabei nicht als feiger Trittbrettfahrer, sondern als
entwickelter Mensch.
(43)
13.9.2001
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 18.9.2001
Terroranschläge in den USA und die möglichen Folgen
Nach
allen Indizien der letzten Tage wird der Westen den grausamen Massenmördern von
New York, Washington und Pittsburgh einen kalkulierten Dienst erweisen: Er wird
massive Rache üben und dabei auch unbeteiligte Opfer in Kauf nehmen. Der
Gegenschlag ist bei den Tätern erwartet und sogar willkommen, denn er kann
terroristische Gewebe nicht ernsthaft schädigen und er facht den bereits stark
entflammten Hass zwischen den Kulturen weiter an: Schulterschluss auf beiden
Seiten und bombastischer Autoritätsgewinn für die Warlords.
In
den letzten zehn Jahren hat sich die scheinbare Effizienz militärischer
Problemlösungen in unser Denken zurück geschlichen. Gelöst hat sich aber rein
gar nichts, insbesondere nicht das wirtschaftliche und soziale Gefälle.
Verbunden mit dem intensiven kulturellen Druck der Westens, der vielfach als
Überfremdung erlebt wird, ist dies die natürliche Basis von Fundamentalismus
und Terrorismus. Wer hier nichts ändert, will keine gleichberechtigte Existenz.
(42)
22.06.2001
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 29.6.2001
PDS-Klage gegen die NATO-Strategie (KStA v. 20.6.2001, S.2:
"NATO-Strategie vor Gericht")
Bal
paradoxe: die vom Verfassungsschutz umschwirrte PDS führt einer progressiven
Bundesregierung vor, was Verfassungspatriotismus bedeutet. Im Ernst, die PDS
hat hier wirklich einen gewichtigen Punkt. Wenn sich militärische
Handlungsformen des Staates quasi von selbst, ebenso unmerklich wie
unweigerlich zu einer ganz neuen Qualität entwickeln, wenn plötzlich unter
aktiver Mitwirkung Deutschlands Ausländer im Ausland zu Tode kommen, stimmt im
Staate etwas nicht. Dann ist der Souverän – die Gesamtheit der Bürger – um ein
wichtiges Mitwirkungsrecht in zentralen Fragen verkürzt worden.
Noch
in der Opposition hatte es die SPD auch so gesehen, hatte gar eine
rechtsstaatliche Regelung des neuen Militärauftrags erwogen ("Konkret für
welche Werte will Deutschland eigene oder fremde Leben aufs Spiel
setzen?"). Einmal gut im Amt, ist die Gruppendynamik eines Bündnisses und
eine freie Handlungsmacht offensichtlich verführerischer. Der Preis der
Bündnisfähigkeit ist demokratische Diät.
(41)
23.02.2001
DIE ZEIT, abgedruckt: 8.3.2001
Luftangriff auf den Irak (DIE ZEIT Nr. 9 v. 22.2.2001; Josef Joffe:
"Weltpolitik ohne Partner")
Es
ist recht einfach festzustellen, dass Europas Abstand zu den USA kleiner ist
als der in Richtung Irak. Allerdings würde ich bei dem atlantischen
Zusammenhalt weniger auf übereinstimmende, positive Hauptwerte hinweisen
– denn das müsste Legalität einbeziehen – sondern auf gemeinsame
Haupt-interessen einschließlich ganz nüchterner ökonomischer und
sicherheitspolitischer Ziele.
Gerade
an Legalität hapert es in der neueren westlichen Außenpolitik. Die
Flugverbotszonen im Norden und Süden des Irak sind nicht durch die VN
genehmigt. Der Verteidigungsausschuss des britischen Unterhauses erkannte sie
im Jahre 2000 schlicht als rechtswidrig. Einige wollen das Recht hier ein wenig
verflüssigen: Die Zonen hätten zwar keine solide Rechtsbasis, könnten aber als
"politisch-moralisch vertretbar" eingestuft werden, ein auch von
anderen Einsätzen bekanntes Argumentationsmuster. Nur: der Einsatz galt im
konkreten Fall nicht dem Schutz hier und jetzt bedrohter ethnischer
Minoritäten, sondern nur der Perpetuierung der Missionen selbst. Und ganz akut
gefährdete Minderheiten sind rund um den Globus auszumachen, auch
widergespiegelt in vielen VN-Resolutionen.
Dies
wäre doch ein lohnendes Projekt gemeinsamer atlantischer Kultur: die nach Ende
der Blockkonfrontation noch rohen neuen Formen der internationalen Politik zu
regeln und hierzu einen internationalen Konsens zu schaffen. Und zu verhindern,
dass das Völkerrecht durch Interessenpolitik im Gewand von selbst ausgerufenen
"politisch-moralisch vertretbaren" Eingriffen weiter erodiert.
(40)
21.09.2000
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 27.9.2000
Direkte Demokratie (Günter Bannas: "Fast alles oder nichts", F.A.Z.
v. 19.9.2000)
"Alles
oder nichts" mag spannend sein für Quizsendungen. Für die politische
Evolution der Bürgerbeteiligung taugt es nicht. Auch die Emanzipation eines
Kindes geschieht – wenn sie denn gelingen soll – nicht durch abrupte
Konfrontation mit nie erlebter Verantwortung, sondern in einzelnen befähigenden
Schritten.
Es
gibt viele und alte Befürchtungen. Gerade in Deutschland wirkt die Angst vor
einer Pöbelherrschaft wie eine historische Klammer. Sie reicht herüber aus der
Kaiserzeit in eine wieder offen Demokratie-kritische Haltung spätestens seit
Ende der Zwanziger Jahre. Der Argwohn gegen die Bürgermenge setzte sich fort in
einer elitär-autoritären Tendenz selbst des deutschen Widerstandes und mündete
in eine betont stabile, technokratische und bürgerferne Form, unsere
repräsentative Demokratie. Die totalitäre Phase mit ihrer Verachtung aller
bürgerlichen Rechte hat sogar langfristig die Kluft zwischen Bürgern und Staat
verfestigt – und gleichzeitig die Bürger traumatisch entpolitisiert.
Mancher
mag sich klammheimlich darüber freuen, wenn heute Grüne die Außenpolitik vor
Volkes Mitwirkung bewahren wollen oder Rote die staatlichen Finanzen. Aber sind
es wirklich die großen Fragen, die sich für Diskussion und Willensbildung der
Bürger am wenigsten eignen? Verheugens Verbindung von politischer Mitwirkung,
Kompetenzgewinn und Mitverantwortung der Bürger für die Gestaltung Europas ist
völlig schlüssig. Dissonant erscheint dies höchstens vor dem Hintergrund, dass
die bisherigen Fundamentalfragen Europas immer ohne Bürgerbeteiligung
entschieden worden sind. Und die Steuern? Vielen ist entfallen, dass die
herrschaftliche Steuerbitte an die Stände, die vom 13. bis 17. Jahrhundert
gebräuchliche "Bede", eine mitteleuropäische Wurzel der Demokratie
ist. Oder dass in unserer hochkomplexen Zeit die Schweizer mit ihrer direkten
Demokratie auch zu Steuerfragen für eine Arbeitslosigkeit unter 4 % gestimmt
haben!
Ich
möchte für die Emanzipation der Bürger werben und für eine wirkliche politische
Willens- und Verantwortungsbildung. Traut euch!
(39)
29.05.2000
DIE ZEIT, abgedruckt: 8.6.2000
Kommissionsbericht "Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr"
(DIE ZEIT Nr. 22 v. 25.5.2000: M. Geis "Scharpings Stunde der
Wahrheit"; J. Joffe "Mut, Herr Minister")
Die
Weizsäcker-Kommission greift dort zu kurz, wo es staatsrechtlich brisant wird.
Sie stellt das neue Aufgabenspektrum der Bundeswehr – die Basis aller folgenden
Überlegungen zu Umfang, Struktur und Finanzierung – praktisch als gegeben dar,
ohne diejenige inhaltliche und verfahrensgebundene Konkretisierung, die ein
Rechtsstaat bei wesentlichen Eingriffen in die Rechte von Bürgern und auch von
Ausländern zu leisten hat:
Der
Kommissionsbericht nennt einige sicherheitspolitische Ziele, u.a. den
leiblichen Schutz der Bürger, die Bewahrung der staatlichen Ordnung, den Schutz
zentraler Interessen, die Förderung von Demokratie und von Humanität. Auch
zitiert er vergleichbar dehnbare Überlegungen der Bundesregierung zum
Bundeswehrauftrag aus dem Jahre 1992. Das ist zu wenig – es ist für den
Rechtstaat sogar ohne Relevanz. Ein tragendes Element demokratischer
Verfassungen ist der Vorbehalt des Gesetzes, eine Forderung schon der Aufklärung.
Der Gesetzesvorbehalt schützt den Bürger vor obrigkeitlicher Willkür und
intransparenten Interessen. Er zwingt den Staat, jeden Eingriff in zentrale
Rechte vorab durch abstrakte und generelle Regeln zu definieren – für eine
unbestimmte Vielzahl von Fällen und Adressaten. Kurz: alle wesentlichen
Eingriffe sind dem Gesetzgeber und der Form des Gesetzes vorbehalten. Vom
Wesentlichkeitsgebot hörte man häufig bei der Rechtschreibreform (!) und noch
im vergangenen Jahr hat der Verfassungsgerichtshof NRW die Verschmelzung von
Innen- und Justizministerium gerade am Wesentlichkeitsgebot scheitern lassen.
Menschen, die im Inland oder Ausland von einer militärischen
Einsatzentscheidung berührt werden, sind unzweifelhaft sehr intensiv in ihren
Grundrechten betroffen. Zum Vergleich: Bei der Vorstellung des
Kommissionsberichts hat von Weizsäcker auch schon die Frage der bloßen
Wehrpflicht als "scharfen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des
jungen Mannes" gewertet.
Was
exakt steht nun neben der traditionellen Verteidigung des Staates auf der
Tagesordnung: Soll die Bundeswehr bei humanitären Krisen eingreifen? Mit
welchem Grad internationaler Legitimation? Soll sie weitgespannt die Versorgung
sichern und die Absatzwege? Noch weitergehend: Versorgung und Absatz zu uns
sinnvoll erscheinenden wirtschaftlichen Konditionen? Erst nach diesen
Festlegungen, an denen insbesondere die Bündnis-Grünen intensiv interessiert
sein sollten, ist eine seriöse Wehrstrukturreform möglich.
Einzelfall-Entscheidungen eines Parlaments gewährleisten hier keinen annähernd
ausreichenden Schutz.
Merz
dringt auf eine breite öffentliche Debatte und hat Recht damit. Zur Historie
muss man allerdings nüchtern ergänzen: Bereits seit Anfang der Neunziger Jahre
– und ohne jedes demokratische Fundament – laufen die langfristigen
Investitionen der Bundeswehr auf die Unterstützung "krisenreaktiver
Kräfte" zu, namentlich im Flottenbauprogramm: Der damals neue
Flottenbefehlshaber Admiral Boehmer bestand schon im Frühjahr 1993 auf
"einem begrenzten Auftrag bei unbegrenztem Horizont". Die Schiffe
dafür wurden und werden mit Volldampf gebaut.
(38)
29.05.2000
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt: 1./2.6.2000
Kommissionsbericht "Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr"
Am
Bericht der Weizsäcker-Kommission fällt mehreres auf: Zum einen enthält der
Bericht zwar vage skizzierte sicherheitspolitische Ziele wie z.B. den Schutz
zentraler deutscher Interessen (Nummer 17) und die ebenso wenig konkreten
Überlegungen der Bundesregierung zum Bundeswehrauftrag aus dem Jahre 1992
(Nummer 63). Aber er entwirft keine präzise Aufgabenstellung, die dem
staatsrechtlichen Gebot genügen könnte, wesentliche Eingriffe in die Rechte der
Bürger ausschließlich gesetzlich zu regeln. Das vor zwei Jahren von der SPD
angekündigte Bundeswehraufgabengesetz scheint also wieder von der Tagesordnung
zu sein. Dies ist ein rechtsstaatlich wie demokratisch sehr kritischer Punkt.
Sodann
der so häufig genutzte, betörende Gegensatz Material / Mensch: Wie schon seit
einigen Jahren bei den Streitkräften der USA ist die attraktive Beschaffung von
high tech offenbar nur durch drastische personelle Einsparungen zu
"finanzieren", Einsparungen, die auch den zivilen Bundeswehr-Bereich
und über die starke Verringerung von Standorten auch die umgebende Wirtschaft
und Bevölkerung treffen. Das beseitigt sehr viele dauerhafte Arbeitsplätze und
ungewollt gilt von Weizsäckers Satz gerade hier: "Sparen kostet". Die
Gästeliste der Kommission in Anhang 2 des Berichts liest sich in weiten Teilen
wie ein "who is who in Wehrtechnik und Beschaffung".
Der
Bericht betont sehr stark die außenpolitischen Verpflichtungen. Sie prägen
schon den Titel ("Gemeinsame Sicherheit..."), sie wurden von
Weizsäcker bei der Vorstellung hervorgehoben und scheinen jeden Gedanken an
eine inhaltliche Mitgestaltung der Wehrverfassung zu verbieten. Nur:
außenpolitische Verpflichtungen sind das Ergebnis nationaler Willenserklärungen
und auch diese müssen demokratisch legitimiert sein. Diplomatie ist keine
Ausnahme von Demokratie. Und: es ist ein sehr würdiges diplomatisches Ziel,
Deutschland und vielleicht auch weitere Staaten des Westens durch eine
konkretisierte, unmissverständliche Wehrverfassung für andere Staaten
berechenbarer zu machen. Nach einer Phase ambitionierten Hinausschiebens
unseres militärischen Aktionskreises muss dies entspannend und konfliktmindernd
wirken.
(37)
25.05.2000
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt: 29.5.2000
Vorstellung des Kommissionsberichts "Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der
Bundeswehr" (FAZ v. 22./24.5.2000)
Im
Rahmen der Möglichkeiten hat die Weizsäcker-Kommission einen runden Bericht
präsentiert. Aber es ist gerade der Rahmen, genauer: der Aufgabenkreis der
neuen Bundeswehr, der die ernsten Fragen hervorruft. Ein solcher Rahmen in der
rechtsstaatlich gebotenen Qualität ist die zwingende Basis einer
Wehrstrukturreform. Er steht nach zehn Jahren des Herantastens immer noch aus.
Der
Kommissionsbericht deutet dieses Aufgabenspektrum vage an. Er nennt in seiner
Nr. 17 sicherheitspolitische Ziele, u.a. den leiblichen Schutz der Bürger, die
Bewahrung der staatlichen Ordnung, den Schutz zentraler Interessen, die
Förderung von Demokratie und – neuer, aber auch nicht konkreter – von
Humanität. Ergänzend und mit vergleichbar dehnbarer Formulierung sind unter Nr.
63 die Überlegungen der Bundesregierung zum Bundeswehrauftrag von 1992 zitiert.
Dies genügt weder im Verfahren noch im Inhalt einem Strukturprinzip der
modernen Verfassungen: dem im Wesentlichkeitsgebot verdichteten Vorbehalt des
Gesetzes.
Das
Wesentlichkeitsgebot schützt den Bürger vor administrativer Willkür und zwingt
den Staat, jeden Eingriff in zentrale Rechte durch abstrakte und generelle
Regeln anzukündigen. Ist eine intensivere Grundrechtsbetroffenheit als die
derjenigen Menschen vorstellbar, die durch einen militärischen Einsatz berührt
werden?
Ad-hoc-Entscheidungen
eines Parlaments gewährleisten hier keinen annähernd ausreichenden Schutz,
selbst Plebiszite vermöchten dies nicht. Es ist eine sehr politische Pflicht,
die neuen Einsatzfelder der Bundeswehr rechtsstaatlich sauber festzulegen und daran
die internationalen Bindungen zu orientieren: Erst dann ist eine seriöse
Wehrstrukturreform möglich.
(36)
14.01.2000
Frankfurter Allgemeine; abgedruckt 20.1.2000
Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes bzgl. der Gleichstellung von Mann
und Frau beim Dienst an der Waffe (FAZ v. 12.01.2000, Kommentar Nm auf S. 14)
Der
Europäische Gerichtshof hat am 11.1.2000 den deutschen Mann und die deutsche
Frau an und vor der Waffe gleichgestellt; hierzu zwei Bemerkungen:
Die
Entscheidung macht einerseits das deutsche Verfassungsgericht arbeitslos,
darauf hatte die FAZ hingewiesen. Das bereitet mir auch einige demokratische
Kopfschmerzen: Unser Grundgesetz mag zwar mangels anfänglicher Bestätigung
durch das Volk nicht als Musterbeispiel demokratischer Verwurzelung gelten.
Aber - so jedenfalls die überwiegende Betrachtung - das Volk hat es durch eine
Abfolge von vielen demokratischen Wahlen zu seinem eigenen gemacht. Nun schickt
sich Europa an, das Grundgesetz und damit das grundlegende Recht eines seiner
Völker zu gestalten. Ein Europa, das nach ebenso überwiegender Auffassung
bisher nur eine schwache demokratische Legitimation besitzt und bei den Bürgern
am ehesten als Veranstaltung der nationalen Administrationen bekannt ist.
Der
zweite Punkt betrifft die fast reflexhafte Reaktion der Bündnis-Grünen und
vermittelt gleichzeitig die Tiefenwirkung der Luxemburger Entscheidung: Nun
aber endlich auch die deutsche Wehrpflicht abschaffen! Ich kann dem nicht
folgen. Haben die Grünen nicht eben erst die staatliche militärische Gewalt als
im Einzelfall sinnvolles, ja moralisch gebotenes Handeln entdeckt? Authentische
Politik heißt für mich, als politische Ziele nur diejenigen zu präsentieren,
die man selbst - mit einer beeindruckenden Zahl der eigenen Leute oder Wähler -
vor Ort umzusetzen bereit ist. Ich sehe das als eine Ausprägung des Kant'schen
kategorischen Imperativs an in Verbindung mit dem elften Gebot, das Moses über
seinem beschwerlichen Abstieg von Gott zum Volk menschlicherweise wieder
vergessen hatte: Du sollst nicht Wasser predigen und Wein saufen!
(35)
12.01.2000
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt 17.1.2000
Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes bzgl. der Gleichstellung von Mann
und Frau beim Dienst an der Waffe (KStA v. 12.01.2000)
Zwei
Bemerkungen zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 11.1.2000, die
Mann und Frau an und vor der Waffe gleichstellt:
Ich
halte den Vorgang für demokratisch schwer gewöhnungsbedürftig: Ein Europa, das
keinerlei Legitimation durch eine konstitutionelle Volksabstimmung erfahren
durfte und praktisch die Geburt der Verwaltungen der Mitgliedstaaten ist, kann
aus meiner Sicht schwerlich die Verfassung und damit das grundlegende Recht
eines seiner Völker gestalten.
Die
Bündnis-Grünen sehen nun die Wehrpflicht als nicht mehr haltbar an. Ich kann
dem nicht folgen, denn ich halte nur eine authentische Politik für eine gute
Politik. Die Grünen haben gerade die militärische Gewalt als im Einzelfall
sinnvolles, ja moralisch gebotenes Handeln entdeckt. Zur politischen
Glaubwürdigkeit rechne ich aber auch, dass die politischen Mütter und Väter
eines Auslandseinsatzes den kühnen Plan mit einer gewichtigen Zahl ihrer
Parteiangehörigen oder Wähler auch handfest verwirklichen helfen. Auf eine
willig verfügbare Söldner-Truppe lässt sich locker delegieren. Aber vielleicht
meldet sich nun eine große Zahl grüner Frauen freiwillig und setzt energisch
und nachvollziehbar die neue grüne Militärpolitik in die Praxis um. Dann gäbe
ich mich geschlagen.
(34)
21.10.1999
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt 29.10.1999
Waffenlieferung an die Türkei - Entscheidung des Bundessicherheitsrates v.
20.10.1999 über die Test-Stellung eines Leopard-Kampfpanzers (KStA v. 20. u.
21.10.1999)
Viele
spielen in Vorfreude auf das opulente Waffengeschäft schon mal flugs die
Arbeitsplatz-Karte, ohne allerdings die wirtschaftlichen Strukturen näher zu
erläutern.
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich - und das hat sich in der Vergangenheit schon
mehrfach realisiert: Rüstungsexporte dieses Kalibers können zivile
Arbeitsplätze kosten. Ist das paradox? Keineswegs. Die Türkei hat die
geschätzten 31 Milliarden natürlich nicht auf der hohen Kante. Entsprechend
völlig gängiger Praxis wird sie ein großes Segment im eigenen Land in Lizenz
fertigen. Und von dem Rest wird sie einen wiederum maximierten Anteil durch
sogenannte offset agreements mit gegenläufigen Material- und Warenströmen
"finanzieren" und kräftig aus der Türkei nach Deutschland liefern.
So
frisst der Rüstungsarbeitsmarkt einen Teil des zivilen Bereichs. Wegen der
höheren Wertschöpfung der Rüstungssparte kann der Austausch auch einen
deutlichen Netto-Verlust von Arbeitsplätzen auslösen. Diese Form der
Spezialisierung ist nicht wünschenswert, oder?
(33)
19.04.1999
STERN; abgedruckt Nr. 18/1999
Kosovo-Einsatz (STERN Nr. 16 v. 15.4.1999, "... und morgen in das
Kosovo")
Ein
rationaler Verhandlungsansatz liegt auf der Hand, der gleichzeitig Vertrauen
und Legitimität schafft: 1.) eine sofortige internationale Schutzmacht für das
Kosovo unter Einbeziehung bisher nicht involvierter NATO-Staaten wie Norwegen,
2.) maßgebliche Mitwirkung Rußlands, 3.) Hoheit der UNO, die der
voraussichtlich langwährenden Operation auch nicht nur einen Tarnanzug
verleiht, sondern die selbst planerische und kontrollierende Verantwortung
trägt und Weltöffentlichkeit schafft.
Solange die NATO ultimativ die Kapitulation eines dämonisierten Belgrads
fordert, verkündet sie als primäres Kriegsziel an jugoslawische Ohren: die NATO
will sich als von der UN losgelöste überstaatliche Macht in Europa durchsetzen.
Das einzige Ziel – und die einzig denkbare Rechtfertigung von Gewalt gegen
Souveränität – ist aber, den gequälten, bedrängten und verjagten Kosovaren zu
helfen. Jede Minute eines verhandlungslosen Krieges türmt hohe Schuld auch auf
den Westen und seine selbstgewissen und/oder ambitionierten Politiker.
(32)
15.04.1999
DER SPIEGEL; abgedruckt Nr. 17/1999
Kosovo-Einsatz (SPIEGEL 15/1999, insbes. Mohr: "Krieg der Köpfe" und
die Stellungnahmen deutscher Schriftsteller: "Ein Territorium des
Hasses") folgender Leserbrief:
Mohr
erledigt alle gewaltkritischen Zielkonflikte mit der Lehrmeisterin Realität:
hinschauen - Wahrheit identifizieren – notfalls zuschlagen, auch ohne Recht,
wenn mit Moral. Das Problem, das viele heute flimmern läßt, liegt genau in der
Mitte, bei der Wahrheit und damit auch bei der Moral. Es gibt sie bei der
internationalen Konfliktlösung nicht, es gibt nur ausdeutungsbedürftige,
wechselhaft gewichtete Interessen. Und auch im selbstgewissen Westen sind diese
Interessen nicht verläßlich nach humanitären Prioritäten geordnet.
Der realpolitische Ansatz ist durch Realität bereits wieder überholt: Die neue
deutsche Lesart war: Krieg sei die ultima ratio der Politik; die
fortgeschrittene Sicht: Krieg sei schon zu spät über Belgrad gekommen, um guten
Erfolg zu haben. Die brandneue Interpretation ist: Weil Krieg zu spät gekommen
sei, ist Politik nun wieder die ultima ratio des Krieges. Das wäre fast
versöhnlich, lägen nicht zig zivile Opfer in allen Teilen Jugoslawiens
dazwischen und die Zerstörung von Milliardenwerten und von jahrzehntelanger
Entwicklung. Macht sich jemand Gedanken zur persönlichen Verantwortung
derjenigen, die seit 1990 so unbekümmert an der Weltsicherheitsordnung
herumbasteln, gleich als wäre dies ein unverbindlicher Stabilbaukasten?
(31)
14.4.1999
Rheinischer Merkur; abgedruckt 23.4.1999
Kosovo-Konflikt (Rhein. Merkur Nr. 15 v. 9.4.1999, S. 1; "Der Krieg auf
der Kippe")
Alle
unmittelbaren Zutaten des Krieges sind hochprofessionell und von tödlicher
Effizienz: die Entwicklung und Bereitstellung modernster Waffensysteme, die
militärische Planung, die Befehlsstruktur und die Umsetzung. Völlig
unprofessionell, teilweise naiv und kindlich explorativ ist das verbindende
Element, das dieser Maschinerie Recht, Moral und System geben müßte: die
Politik. Was unsere nationale Politik und unsere gesellschaftlich bedeutenden
Gruppierungen betrifft, sie sind über den Status von Objekten bisher nicht
hinausgekommen. Und die militärisch treibenden Teile der westlichen Allianz
werden von dem nun drohend an der Wand stehenden Fehlschlag und Ansehensschaden
in eine weitere Eskalation getrieben.
Martin Luther King hat gesagt: Es gibt keinen Weg zum Frieden, wenn nicht der
Weg schon Frieden ist. Die ersten Schritte auf diesem Wege sind, Legalität im
internationalen Bereich herzustellen, indem UNO und OSZE in ihre Stellung vor
der NATO wiedereingesetzt werden. Auch die nationale Legalität liegt im argen.
Ein Naturgesetz der Demokratie ist der Gesetzesvorbehalt: jede Maßnahme des
Staates, die in wesentliche Bürger- und Menschenrechte eingreifen kann, bedarf
der vorherigen abstrakten Festlegung. Hier: welche Interessen wollen wir unter
welchen Randbedingungen mit welchen militärischen Handlungsformen schützen?
Gehören dazu zB ungeschmälerte Versorgungs- und Absatzwege, zB Deutsche im
Ausland in Not? Militärische Ad-hoc-Entscheidungen des Bundestages, die unter
einem inzwischen notorischen Zeit- und Geheimhaltungsdruck stehen, können diese
rechtsstaatliche Garantie nicht ersetzen. Die Kirche muß mit ihrer ethischen
Expertise initiativ an der Rechtsgrundlage mitbauen, will sie nicht schuldig
werden.
(30)
13.04.1999
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt 20.4.1999
Kosovo-Einsatz (u.a. KStA v. 12.4.1999: "Verteidigungsminister lobt Rolle
Deutschlands")
Der
Verteidigungsminister vermerkt einen "großen Sprung nach vorne, was das
internationale Ansehen und die internationale Verläßlichkeit Deutschlands
angeht", wir seien nun "endgültig in der Gemeinschaft der westlichen
Demokratien angekommen"; der Kanzler sieht "die Stellung im
westlichen Militärbündnis grundlegend geändert" und Deutschland als eine
"erwachsen gewordene Nation".
Und was ist wirklich passiert? Die NATO-Staaten haben das Völkerrecht mit der
Begründung verletzt, der Zweck heilige die Mittel, und führen einen unerklärten
Krieg. Die zentralen politischen Ziele der Bombardierung: Entlastung der
albanischen Bevölkerung des Kosovo, Zustimmung zu Rambouillet, auch:
Destabilisierung von Milosevic. Wegen einer katastrophalen und eher unmündig
wirkenden Fehleinschätzung bzgl. des Denkens und der subjektiven und objektiven
Handlungsspielräume der Gegenseite sind diese Ziele jedoch nicht nur verfehlt
worden, sondern nun in das dramatische Gegenteil verkehrt.
Wir sind gar nicht erwachsener geworden, seit wir uns in die vorderste Front
des westlichen Militärbündnisses eingereiht haben – eher wohl haben wir an
Souveränität verloren und tragen aus Nibelungentreue jede den Sieg
versprechende Ausweitung des Friedens-Feldzuges mit. Selbständiges Denken haben
wir verlernt. Sonst wäre früher aufgefallen, daß konsensfördernd allein eine
Schutztruppe mit maßgeblich russischer Beteiligung sein kann und
Unparteilichkeit höchstens der UNO bzw. der OSZE, nicht aber der NATO zugetraut
wird.
(29)
21.8.1998
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 28.8.1998
Militärpolitik;
Luftschläge der USA in Afghanistan und im Sudan; Stadt-Anzeiger v. 21.8.1998
Die
militärischen Interventionen der USA in Afghanistan und im Sudan erzählen von
der kurzatmigen Außenpolitik einer waffenhandelnden Großmacht:
Vor Jahrzehnten haben die USA den noch alliierten Iran - Anrainer des damaligen
kommunistischen Hauptfeindes - militärisch aufgepäppelt. Kurze Zeit später
kamen Nachbarländer des mittlererweile islamistischen Iran in den Genuß üppiger
Waffenlieferungen, Irak und dann auch Afghanistan, letzteres vor allem, um den
sowjetischen Einfluß zurückzudrängen. Wieder einen Schritt später werden
Nachbarn des inzwischen frech gewordenen alten Freundes Saddam ertüchtigt und
schickt man Saddam und nun auch den ehemaligen Geschäftspartnern in Afghanistan
cruise missiles in den Pelz.
Macht das alles großen Sinn? Eher scheint es, daß wir uns unsere Feinde und
Konflikte selbst schaffen - insbesondere das moderne Feindbild Islam, das seit
dem Ende des Kommunismus begeistert herbeigeredet wird und das gleichzeitig das
Feindbild ,,Westen" nährt. Daß sich der Islam im Sinne einer selbsterfüllenden
Prophezeihung entwickelt, ist nicht verwunderlich. Ich denke, dem
amerikanischen Präsidenten ist auch kaum bewußt, welche Eskalation er riskiert:
Was er mit cruise missiles anrichtet, können in unseren offenen Gesellschaften
viele mit dem billigeren tödlichen Inhalt eines alten Koffers leicht
wiederholen. Die Zutaten bekommen sie bei uns und wie man's macht, haben sie
längst gelernt.
(28)
15.05.1998
Frankfurter Allgemeine; abgedruckt: 20.5.1998
Militärpolitik; indische Atomversuche; Leitartikel in der FAZ v. 14.05.1998
(W.A. "Unwillkommen im Klub")
Mit
atomarer Macht ist es wie mit dem Alkohol: Prohibition schürt das Verlangen und
schafft zudem einen wunderschönen grauen Markt. Zur Qual wird der große Durst,
wenn Nachbarn und Nachrangige ganz ungeniert aus der Quelle der Erkenntnis
saufen. Kein Wunder, daß auch ein deutscher Kanzler einmal intensiv über die
atomare Bewaffnung nachgedacht hat.
Das
Intelligenteste wäre die vollständige Beseitigung dieser Waffenart, und - da
das Intelligenteste auf diesem Planeten offenbar gleichzeitig das
Unrealistischste ist - die nächstbeste Lösung vermutlich die allseitige
Verbreitung.
(27)
13.8.1997
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 26.8.1997
Militärpolitik; Fremdenfeindlichkeit bei der Bundeswehr (Kölner Stadt-Anzeiger
v. 12. u. 13.8.1997)
Entgegen
Rühes Weltbild ist seine Bundeswehr alles andere als der Spiegel der
Gesellschaft. Wie bei allen Berufen wirken Aufgaben selektierend und
spezialisierend. Die neuen Aufgaben der Bundeswehr wirken nochmals prägend auf
das Bewerberspektrum zurück. Für eine abenteuerlustige und potentiell
gewaltbereite Bevölkerungsgruppe ist es allemal schicker, für einen netten
kleinen Wüstenkrieg fit gemacht zu werden - vielleicht einmal gegen Moslems und
jedenfalls auf der waffentechnisch überlegenen Seite -, als in der Lüneburger
Heide triste Mann-Löcher zu buddeln.
Zur
Entzauberung dieser Phantasien ist nötig und lange überfällig, die neuen
Militär-Aufgaben auf die gesamtgesellschaftlich offenbar konsensfähigen Fälle
humanitärer Hilfe zu konkretisieren und dies gesetzlich zu fixieren. Heute wird
allerorten das Wesentlichkeitsgebot unserer Verfassung hervorgekramt, um ein
Gesetz für die Rechtschreibreform anzumahnen. Das gilt aber umso mehr für neue
militärische Handlungsformen: Leib und Leben von In- und Ausländern wiegen
ungleich schwerer als der wie auch immer geartete Einsatz von Komma oder
,,ß".
(26)
11.7.1997
Rheinischer Merkur; abgedruckt: 1.8.1997
Militärpolitik; Horrorvideos (Rhein. Merkur v. 11.7.1997
"Spiegelbild")
In
einem stimme ich zu: Rühes starke Empörung über das schon betagte Video wirkte
etwas aufgesetzt. Verstanden als Krisenmanagement und Mittel der
Schadensbegrenzung machte sie jedoch wiederum Sinn – denn niemand, dem das
eigene Fortkommen in der Bundeswehr lieb ist, konnte sich von Stund an als
Videokonsument outen.
Zutreffend
ist auch, daß Auswahl und Erziehung nur begrenzt verbessert werden können. Aber
die titelgebende Bewertung ("Spiegelbild") ist Wunschdenken; die
Bundeswehr ist nur im Ideal Spiegelbild der Bevölkerung, ohnehin ja höchstens
der männlichen Hälfte. Mit erweiterten Aufgaben ist es die Bundeswehr weniger
denn je. Bereits vor einigen Jahren warnten interne Studien vor wachsender
Attraktivität der Bundeswehr für gewaltbereite junge Bürger mit autoritärem
Staatsverständnis. Schon damals bekannte sich mehr als; die Hälfte der
Wehrpflichtigen und mehr als zwei Drittel der Freiwilligen (!) zu der eindeutig
undemokratischen Einstellung, ,,es ware für unsere Gesellschaft ganz gut, wenn
soldatische Tugenden wie Disziplin und Gehorsam auch unter Bürgern mehr
vertreten waren".
Man
darf die Exzesse daher ganz nüchtern als begünstigt ansehen durch die
politische Entscheidung über die neue Aufgabenstruktur der Bundeswehr, nicht
bloß – wie der Kommentar – als letztlich unvermeidbare menschliche
Fehlleistungen.
(25)
08.07.1997
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 11.7.1997
Militärpolitik; Bundeswehr - "Horrorvideos"
Rühes
Zorn erscheint mir etwas aufgesetzt. Ich kenne die Geisteshaltung der
beteiligten Soldaten zwar nicht. Zweierlei erscheint mir aber plausibel:
Erstens: Im Vorfeld des i.J. 1996 noch wenig kalkulierbaren
Jugoslawien-Einsatzes werden handfeste Ängste aufzuarbeiten gewesen sein; eine
Äußerungsform mag das bizarre Rollenspiel gewesen sein. Zweitens: Die neuen
Aufgaben der Bundeswehr wirken selektierend und damit auch konzentrierend bei
der Auswahl derer, die sie umsetzen wollen und sollen. Ein Mädchenpensionat
mußte man nicht erwarten, sondern - neben vielen durchschnittlichen jungen
Männern - eher Bengel als Engel.
Dies
sind weitgehend mechanische Folgen politischer Entscheidungen; sie sind im
Rahmen der inneren Führung nur wenig korrigierbar. In einem extremen Fall kann
das neue militärische Selbstverständnis zu einem für die Bürger tödlichen
Bumerang werden: erst der Einsatz im Golfkrieg könnte seinerzeit Timothy
McVeigh, dem nun verurteilten Bombenleger von Oklahoma City, den letzten
Schliff gegeben haben.
(24)
16.12.1996
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 20.12.1996
Militärpolitik; Demokratie; Bundestagsbeschluß zur Fortsetzung des deutschen
Bosnien-Engagements (Stadt-Anzeiger v. 14./15.12.1996)
Gerne
würde ich glauben, die heutige deutsche Wehrpolitik sei Ausdruck eines neuen
Mitgefühls für Fremde in Not und nicht Folge eines modernen Selbst- oder
Interessebewußtseins, Bosnien sei Motiv und nicht nur geeignete Gelegenheit für
den schrittweisen Umbau der Bundeswehr.
Plausibler
ist allerdings die nüchterne Deutung: die Wiedervereinigung hat erstmals wieder
die Gefahr gebannt, daß Deutsche in Stellvertreterkriegen auf Deutsche treffen
- und angeschwollene weltweite Stoff- und Warenströme und aus Deutschland
hinausgewachsene wirtschaftliche Interessen legen einen globalen Schutz von
Verkehrswegen und Investitionen und die passenden militärischen Werkzeuge nahe.
Ein
einfaches und rechtsstaatliches Instrument kann allen Zweifeln abhelfen: ein
Gesetz. Jede Einsatzentscheidung greift unmittelbar in elementare Rechte von
Deutschen - gleich ob von Wehrpflichtigen oder Berufssoldaten - ein und auch
von betroffenen Ausländern. Dies zwingt zu Transparenz und zu generellen
Regelungen, ad-hoc-Beschlüsse reichen nicht aus. Das Gesetzgebungsverfahren muß
die gesellschaftlich mitgetragenen Einsatzgründe und Entscheidungsgremien in
einem offenen Prozeß herausarbeiten. Außenpolitik ist keine Ausnahme von
Demokratie.
(23)
05.11.1996
Frankfurter Allgemeine; abgedruckt: 11.11.1996
Militärpolitik;
Leitartikel in der FAZ v. 02.11.1996 (E.-M. Bader: "Feuer in Afrika")
Um
bei dem treffenden Feuerwehr-Beispiel zu bleiben: Es bedarf nicht nur der
rechtzeitigen Planung einer Feuerwehr. Mindestens ebenso wichtig ist, die
Brandgefahr vorausschauend herabzusetzen und dort, wo es gebrannt hat, die
Substanz verbessert wiederherzustellen. Übertragen: Solange ethnische Konflikte
einen hochwirksamen Brandbeschleuniger haben in wirtschaftlicher, sozialer und
staatlicher Degradation, wird die Konflikt-Feuerwehr in rastlosem Einsatz sein.
Wir müssen jede Chance nutzen, zu einem faireren Austausch zu kommen und in
diesem fast schon abgeschriebenen Kontinent eigenständige Kompetenz und
Wirtschaftskraft zu stärken.
(22)
25.02.1996
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 1.3.1996
Militärpolitik; Demokratie
Diskussion über die Wehrpflicht (Wiedemann in KStAnz. v. 24.02.1996, S.2.
"Brauchen wir die Wehrpflicht")
Vehementer
Protest, Herr Wiedemann: Die Berufsarmee ist nicht wünschenswert und sie ist
auch nicht unausweichlich.
An
deutschen Stammtischen und in deutschen Partei-Biotopen wuchern die
out-of-area-Feldherren. Sie würden jederzeit die Haut anderer zu Markte
treiben - für Ordnung, Freiheit, Menschenrechte und/oder Rohstoffversorgung.
Mit gleicher Entschiedenheit freilich würde die Mehrzahl davon ein persönliches
militärisches Risiko verweigern. Eine Söldnerarmee käme gerade recht: sie würde
ihnen den inneren Widerspruch ersparen.
Aber
eine Demokratie braucht Rückkoppelung, braucht Betroffenheit und das
Schmerzgefühl eines militärischen Eingriffs. Wir brauchen nicht weniger, wir
brauchen mehr Wehrpflichtige, und wir brauchen Einsatzformen und Einsatzziele,
die ein dauerhaftes Engagement aus allen gesellschaftlichen Gruppen möglich
machen. Joschka Fischer, Lothar Rühe und Günther M. Wiedemannn könnten die
ersten sein.
(21)
29.11.1995
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 5.12.1995
Militärpolitik; Demokratie; Kabinettbeschluß zur Beteiligung an der
Friedenstruppe in Bosnien; Stadt-Anzeiger v. 29.11.1995
Die
Bundesregierung hat mit ihrer out of area –Politik ein ungeschriebenes
Grundrecht gekippt. Dieses hatte einmal zum Inhalt: der Staat darf seine Bürger
nicht als Werkzeug in den Konflikten dritter Staaten einsetzen - in Konflikten,
deren innere Ursachen und Interessenlagen Bürger praktisch nicht überprüfen
können. Für die Mehrheit der deutschen Juristen war dies bis zum Jahre 1994
unzweifelhaftes Verfassungsrecht.
Ein
weiterer Verfassungssatz ist zum Glück noch anerkannt: für die Bürger
einschneidende Maßnahmen dürfen nur auf der Grundlage eines allgemein gültigen
Gesetzes angeordnet werden, das Art und Umfang des Eingriffs präzise regelt.
Konkret: Es muß verbindlich feststehen, ob wir Menschen wie in Bosnien schützen
wollen und/oder Ölrechte wie in Kuwait. Einzelfallentscheidungen sind beguem
für eine nach außen gefällige Politik, aber das genaue Gegenteil von
Bürgerschutz. Bürger sollten ihre Haut so teuer wie möglich zu Markte tragen:
fordern wir von unseren Politikern sehr nachdrücklich eine Regelung zu ,,out of
area"!
(20)
17.11.1995
FOCUS; abgedruckt: FOCUS 48/1995
Militärpolitik; Soldaten = Mörder?; Generalinspekteur Naumann in FOCUS 46/1995
Natürlich
nimmt Naumann seine Soldaten in Schutz. Die sind ja auch in aller Regel
umsetzendes Werkzeug und nur das Auseinanderfallen von Plan und Tat kann sie
effizient machen. Ob Naumann oder andere deutsche Politiker-Soldaten oder
Soldaten-Politiker, die den Somalia-Einsatz der Bundeswehr auch als
militärische Integrationsübung begrüßt und gefördert haben, jemals über
persönliche Verantwortung für den Tod zweier Somalis nachgegrübelt haben, der
zwei Somalis, die von deutschen Wachsoldaten in Belet Uen – vermutlich wegen
eines versuchten Diebstahls – erschossen worden sind. Ob Naumann bei künftigen
Fällen nach Art des Kuwait-Konflikts Opfer in der Zivilbevölkerung auch auf
eigene Entscheidungen zurückführen würde?
Naumann
könnte sich und seinen Soldaten auch mit einer Bibel helfen, die im ersten
Weltkrieg in Gebrauch war. Dort war dem Gebot "Du sollst nicht töten"
ein Sternchen beigefügt. Die entsprechende Fußnote lautete. "Gilt nicht im
Krieg." Heute fehlt das Sternchen. Gedacht wird aber genauso.
(19)
29.08.1995
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 1.9.1995
Militärpolitik; Zunahme der Wehrdienstverweigerung; Kölner Stadtanzeiger v. 28.
u. 29.08.1995
Die
beklagte Flut von Wehrdienstverweigerern kann nicht getrennt werden von der
out-of-area-Diskussion: Ein Maximum von Verweigerern gab es bereits während des
Golfkrieges, ein weiteres nun im Gefolge der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts zum erweiterten Auftrag der Bundeswehr. Die Bürger -
nicht zuletzt die konservativsten - wollen schlicht ihre Söhne nicht riskieren.
Da liegt es nahe, sich das Gewissen ein für allemal zu erleichtern und die
robustere Aufgabe auf andere zu schieben, auf eine Söldnerarmee.
Nur
darf man dann keine "Bürger in Uniform" mehr erwarten, sondern
konzentriert solche, die Krieg vergöttern oder zumindest für normal halten.
Timothy McVeigh, der Hauptverdächtige nach dem Blutbad von Oklahoma City, ist
Waffennarr, militanter Fremdenhasser - und Golfkriegsveteran. Die Vorstellung,
bei einem Auslandseinsatz von solchen Geistern vertreten zu werden oder solche
Irregeleitete noch staatlich trainieren zu lassen, ruft bei mir erhebliche
Beklemmungen hervor. Ich ziehe eine Bundeswehr vor, zu der ich ohne
Gewissenskonklikte auch meinem Sohn raten kann.
(18)
22.08.1995
NIKKEY WEEKLY, JAPAN; abgedruckt: 28.8.1995
Mititärpolitik; Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki; THE NIKKEY WEEKLY of
August 14, 1995
I refer to reports on
WW II and especially to two letters to the editor printed in THE NIKKEY WEEKLY
of August 14, 1995 (page 6). It is my impression that those two letters offer a
unilateral and quite insulting interpretation of the motives behind the drop of
atomic bombs onto Hiroshima and Nagasaki fifty years ago (e.g. N. Hale: "a
merciful decision"). So I would like to show an alternative view,:
It is certainly true,
that Japanese military leaders commenced the hostilities against the
(to add: according to now opened American files the Nagasaki bomb was also
meant to test a completely redesigned ignition system).
The echoes of that
demonstration of power strongly outlived that event. We hear them over and over
again - from Irak, from
(17)
19.06.1995
DIE ZEIT; abgedruckt: 07.07.1995
Militärpolitik; Robert Leicht: Kein Sonderweg in die Etappe (ZEIT Nr. 25 v.
16.06.1995)
Leicht
zu folgen fällt mir schwer: Die Bosnien-Mission machte und macht zwar keinen
Sinn; sie dient aber immer dem Bündnis und ist daher von uns ellen loyal
mitzutragen? Wem schulden wir diese Nibelungentreue? Den USA, die nur leiten
und nicht folgen wollen und schlicht nach ihren nationalen Interessen sehen
(what’s in for America?). Oder den Franzosen, die wieder selbstverliebt am
atomaren Baukasten basteln? Vielleicht am ehesten den Engländern. Die möchten
die Attribute einer Weltmacht ähnlich gerne konservieren wie Deutsche sie
wiederbeleben möchten.
(16)
12.06.1995
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 15./16.6.1995
Militärpolitik; deutsche Beteiligung an einer schnellen Eingreiftruppe für
Bosnien (Stadt-Anzeiger v. 08.06.1995)
Nicht
hinter der Vergangenheit verstecken? Die nun anvisierte deutsche Beteiligung an
einer schnellen Einfreiftruppe für Bosnien mag zu einem taugen: Deutschland als
schlagkräftiges Element eines westlichen "Geleitzuges" zu
präsentieren. Zur Erinnerung: dies war Kinkels bezeichnendes Bild aus der
Debatte über das Urteil des Verfassungsgerichts im letzten Sommer. Der Beitrag
ist wohl auch vom neuen "erweiterten Sicherheitsbegriff" gedeckt, der
unserer Regierung in bequemer Unschärfe jede gewünschte militärische
Handlungsfreiheit lassen soll.
Entschlossene
humanitäre Hilfe ist der Beitrag aber nicht, mal wieder nicht. Rühes Appelle an
Mannesmut und Mannesehre, die einem Minister fern vom Schuß ohnehin leicht über
die Lippen gehen, führen in die Irre.
(15)
15.03.1995
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 17.3.1995
Militärpolitik; Demokratie; Roman Herzogs Appell zur Gestaltung der deutschen
Außenpolitik (Stadt-Anzeiger v. 14.03.1995)
Besser,
der Bundespräsident hätte bereits für den letzten Wahlkampf eine ernsthafte
Debatte der Ziele und Werkzeuge unserer Außenpolitik angemahnt - und eine
nüchterne Bilanz der neuen Rolle der Bundeswehr. Noch besser, er würde sich nun
energisch für eine gesetzliche Regelung der Fälle militärischen Eingreifens
einsetzen. Wir Bürger sollten vorher wissen, ob wir Verantwortung für
Menschenleben oder für Aktienkurse übernehmen sollen.
(14)
19.12.1994
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 27.12.1994
Militärpolitik; Demokratie; Leitartikel v. Thomas Meyer im Stadt-Anzeiger v.
17./18.12.1994 ("Schwerer Gang nach Bosnien")
Angesichts
einer breiten Zustimmung der Deutschen zur humanitären Hilfe in Bosnien halte
ich die von Herrn Meyer angeführte "Ohne-uns-Herrlichkeit" nicht für
unser eigentliches Problem. Lähmend wirkt etwas ganz anderes: die Regierung hat
bisher einzelfallbezogene, teils überraschende Beschlüsse getroffen - vom
Adria-Einsatz des Zerstörers Bayern über die Beteiligung in Somalia bis zur
anstehenden Entsendung von Tornados nach Bosnien. Auch nach dem Spruch des
Bundesverfassungsgerichts setzt sie auf solche ad-hoc-Entscheidungen.
Dagegen
haben die Bürger und besonders die Soldaten Interesse an Berechenbarkeit und an
der Sicherheit vor unerklärten Motiven: die politisch gewollten und
demokratisch mitgetragenen Einsatzziele und Einsatzformen der Bundeswehr müssen
nun endlich klar und abschließend definiert werden. Bei diesen Zielen dürfte
die Hilfe für Menschen in größter Not sehr wichtig sein. Aber ganz sicher nicht
alles andere, was man mit Waffen auch noch anstellen kann.
(13)
15.7.1994
DER SPIEGEL; abgedruckt: SPIEGEL 31/1994
Militärpolitik; Demokratie; SPIEGEL 29/1994: Deutsche Blauhelme in aller Welt?
Die
Bundeswehr darf nun alles. Was aber präzise soll sie? Sollen es werbewirksame,
aber halbherzige und leider wenig effektive humanitäre Missionen sein und/oder
eher eigennützige Aufträge im wohlverstandenen Interesse der Eingreifenden wie
in Kuwait? Wenn unsere Demokratie noch einen Schuß Pulver wert ist, hören wir
das von den Parteistrategen noch vor der Wahl!
(12)
21.04.1994
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 6.5.1994
Militärpolitik; Demokratie; Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht
betreffend neue Aufgaben der Bundeswehr
Die
derzeitige Auseinandersetzung zwischen den Parteien vor dem
Bundesverfassungsgericht zu out-of-area Einsätzen der Bundeswehr betrifft nur
eine Vorfrage: "Wie weit darf die Bundeswehr gehen?"
Die
Hauptfrage aber ist eine politische und wird durch den Richterspruch nicht etwa
miterledigt: "Wie weit soll die Bundeswehr gehen?" Diese Frage
kann nur in einem politischen Prozeß zwischen den Parteien und den Bürgern
geklärt werden. Nur dann sind Aufgeschlossenheit und verläßlicher Rückhalt für
die Bundeswehr zu gewinnen, die diese in einer grundlegend geänderten Umgebung
dringend benötigt.
(11)
16.03.1994
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 22.3.1994
Militärpolitik;
von BM Rühe angekündigtes Weißbuch zu künftigen Aufgaben der Bundeswehr
Im
Wahljahr findet die Bundeswehr offiziell zurück zu traditionsbeladener
Normalität: Auf Krisenreaktionskräfte setzte schon der gute alte Kaiser Willem.
Sie fuhren damals auf Kanonenbooten (auch der aktuelle Flottenbau geht schon
längere Zeit unter Volldampf und ohne demokratischen Aufwand in diese
Richtung).
Welche
Krisen sind gemeint - Korea-Krise, Kuba-Krise, Vietnam-Krise, Öl-Krisen,
Iran-Krise, Kuwait-Krise, UdSSR-Folge-Krisen, Jugoslawien-Folge-Krisen,
Somalia-Krise - und woraus wächst die stramme Zuversicht, derartige Krisen mit
einem Mal kompetenter zu lösen oder auch nur die Krisenlage objektiver erkennen
zu können? Wer gibt die Gewähr, daß die Serie diplomatischer und militärischer
Flops nicht ständig ergänzt wird, wie zuletzt in Somalia?
Wir
sollten im Wahljahr impertinent danach fragen!
(10)
25.08.1993
Rheinischer Merkur; abgedruckt: 10.9.1993
Militärpolitik; Ausländerfeindlichkeit
T. Kielinger im Merkur v. 20.08.93, S. 1 ("Wofür noch Verteidigung?")
Es
mindert eigene Betroffenheit und ist daher höchst verführerisch, die
erweiterten Aufgaben der Bundeswehr auf ein Berufsheer zu delegieren. Aber es
ist gefährlich:
Zum
einen verlöre der Staat ein für die angemessene Handhabung seiner militärischen
Werkzeuge wichtiges feedback: der Staat darf letztlich nur anordnen, was er
persönlich - idealiter unter repräsentativem Engagement der Bürger - auch in
die Tat umzusetzen bereit ist. Die unkritische Verfügbarkeit einer légion
étrangere oder eines dirty dozen, die noch dazu an laufenden Beweisen der
eigenen Effizienz interessiert sein müssen, ist eine viel zu geringe Hürde.
Zum
zweiten: Die Gemeinschaft darf nicht den Eindruck erwecken, sie wolle einigen
wenigen Bürgern das Recht auf Leben und physische oder psychische
Unversehrtheit abkaufen. Gerade in Zeiten wachsender Arbeitslosigkeit und
insbesondere in den neuen Bundesländern würde dies wie eine Verleitung zur
Prostitution besonders schutzwürdiger Rechte wirken (die sehr attraktiven
Zulagen nach dem neuen Auslandsverwendungsgesetz haben bereits genau diesen
Beigeschmack).
Und
schließlich: Eine Berufsarmee entfernt sich weiter von der Idee einer
Bundeswehr, die möglichst die Einstellungen der Bevölkerung widerspiegelt. Eine
aktuelle Studie des Sozial-wissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr in
München identifiziert schon jetzt eine deutliche Verschiebung des
Bewerberpotentials der Bundeswehr hin zur rechten Seite des politischen
Spektrums und warnt vor der Gefahr zunehmender Attraktivität der Bundeswehr für
junge Männer, die den demokratischen Zielen und Werten kaum oder gar nicht
verbunden sind (SOWI-Arbeitspapier Nr. 77, März 1993). Diese Tendenz wird durch
Schaffung einer Berufsarmee, die auch Aufgaben einer Fremdenlegion erfüllen
soll, gewaltig angefacht. Die Vorstellung, von Rechtsradikalen bei einem
Auslandseinsatz vertreten zu werden, ruft bei mir erhebliche Beklemmungen
hervor.
(9)
12.08.1993
Die Welt; abgedruckt: 8.1993
Militärpolitik; Lothar Rühls Kommentar in der WELT v. 12.08.1993
("Schicksalsstunden der NATO")
Rühls
Kommentar ist nachdrücklich zuzustimmen. In Bosnien - aber auch in Somalia -
wird für den vermutlich untauglichen Versuch gezahlt, lokale Konflikte mit
militärischen Werkzeugen und scheinbar unparteilich aus der Welt zu schaffen.
Die Einsicht wird schwerfallen, richten sich doch alle Hoffnungen der
etablierten militärischen Organisationen gerade auf diese Chance der
Diversifikation. Cyril N. Parkinson läßt grüßen!
(8)
11.08.1993
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 13.8.1993
Militärpolitik; Artikel v. 11.08.1993 "Soldaten sollen UN-Auftrag auch mit
Waffen verteidigen können"
In
einer Telefonkonferenz (!) hat das SPD-Präsidium Verheugens Vorstellungen
gutgeheißen - Vorstellungen, die Lamers (CDU) insbesondere wegen des bewußten
Offenhaltens der Einsatzvoraussetzungen bereits hocherfreut aufgenommen hatte.
Warum
nicht Demokratie wagen und die Bevölkerung - mindestens die eigene Basis -
fragen? Dort besteht noch erheblicher Diskussionsbedarf zur
Nutzen-/Lastenrelation militärischer Einsätze außerhalb der Landes- oder
Bündnisverteidigung!
(7)
21.05.1993
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 25.5.1993
Militärpolitik; Generalinspekteur der Bundeswehr General Klaus Naumann in
KStAnz Nr. 116 v. 19.05.1993, S.5
Im
deutschen Heldenhimmel ist bereits vorsorglich Quartier gemacht für
zwangsläufige "out of area"
- Opfer unter deutschen Soldaten. Der Ton ist falsch. Nicht staatlich
empfohlene, einigende Trauer wird angesagt sein, sondern menschliches Mitleid
mit unseren Mitbürgern und deren Angehörigen, denen ein besonderes
Gewaltverhältnis wegen neuer, demokratisch noch nicht abgesicherter Ambitionen
ihrer Vorgesetzten plötzlich zur tödlichen Falle geraten ist.
Ein
Gewinn wird allerdings sein: AM Kinkel kann gleichberechtigt an künftigen
Schweigeminuten zum Gedenken gefallener Soldaten teilnehmen und braucht nicht
länger - wie von ihm berichtet - den fragenden Blicken seiner erlauchten
Kollegen auszuweichen.
(6)
04.05.1993
Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt; abgedruckt: 21.05.1993
Militärpolitik der Kirche; Demokratie; Hans-Albrecht Pflästerer im
Sonntagsblatt v. 30.04.1993 ("Kneifen gilt nicht!")
Derzeit
geschieht nichts weniger als das Vergessen unserer bittersten nationalen
Erfahrung und der Verlust einer der wenigen Eigenarten der Bundesrepublik - der
nach ungeheuren Verbrechen und Verlusten erlernten Beschränkung unserer
bewaffneten Kräfte auf Verteidigung. Der Grund ist nicht, daß die Welt
schlechter geworden wäre. Vielmehr bergen in einer geänderten geopolitischen
Lage strategische Eingriffe nun ein geringeres Eskalationsrisiko und
gleichzeitig drängen Militärorganisationen, die über Nacht ihr Feindbild
verloren haben, nach neuen Aufgaben.
Bevor
die Kirche diese Strategie mit Seelsorge flankiert und in den Augen der
betroffenen Soldaten absegnet, muß sie sich energisch melden in der zuerst
erforderlichen gesellschaftlichen Diskussion über Nutzen und genau
konkretisierte Anwendungsfälle von "out of area"-Einsätzen der
Bundeswehr. Kneifen gilt nicht!
(5)
21.04.1993
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 27.4.1993
Somalia-Einsatz der Bundeswehr (Titelgeschichte und Kommentar von Ada Brandes
in KStAnz Nr. 92 v. 21.04.1993).
Sie
haben es also geschafft, unsere Parteistrategen: Die Republik ist in einer der
wenigen identitätsbildenden Ausrichtungen - Beschränkung der bewaffneten Kräfte
auf die Verteidigung - gründlich umgepolt worden. Der Staatsbürger in Uniform
wird in seinem nun bei weitem wahrscheinlichsten Einsatz Fremdenlegionär sein.
Das Wahlvolk war nicht beteiligt.
Die
real existierende deutsche Demokratie gleicht immer mehr einem mißlungenen
Sorbet: Unten die in sich zusammengesunkene Bevölkerung, darüber ein
trennender, auch für fundamentale Fragen unüberwindlicher Hohlraum, ganz oben
die feine selbsttragende Schaumstruktur der Parteien.
(4)
20.04.1993
FOCUS; abgedruckt: FOCUS 18/1993
Militärpolitik; "Marsch ins Ungewisse" in FOCUS 16/1993
Bisweilen
bewundere ich die Lucky-Luke-Weltsicht unseres politischen Nachwuchses: Glaubt
Stefan Schwarz (CDU), daß auch nur ein einziger ethnischer Konflikt durch wie
auch immer geartete Gewalt dauerhaft kuriert werden kann? 40 Jahre Ostblock
stehen deutlich dagegen. Wird er bei der Nagelprobe persönlich dabei sein oder
sich dann doch lieber auf §12 Abs.3 S.2 Wehrpflichtgesetz berufen?
(3)
13.04.1993
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 16.04.1993
Militärpolitik; Schäuble zu weitergehenden Kampfeinsätze der Bundeswehr in
Jugoslawien (KStAnz. v. 13.04.1993)
Schäuble
führt Deutschland mit Riesenschritten zurück zur scheinbaren Normalität voller
militärischer Schlagfähigkeit.
Gilt
die unter schrecklichen Verlusten erworbene besondere Friedfertigkeit der
Deutschen heute bereits so wenig, daß sie mir nichts, dir nichts zwischen zwei
Bundestagswahlen zur Disposition gestellt werden könnte, von einem Manne zudem,
dem ein aktiver deutscher Jugoslawien-Einsatz noch vor wenigen Wochen
zutreffenderweise als historisch absurd erschien?
Über
eher sekundäre Themen wie Autobahnmaut wird in Deutschland heutzutage erregt
gestritten, aber eine breite öffentliche Diskussion weltweiter Waffeneinsätze
der Bundeswehr (vom Kaliber der Wiederbewaffnungsdebatte der Nachkriegsjahre)
scheint den Parteien nicht angeraten - sie werden schon wissen, warum.
(2)
12.04.1993
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt:14.04.1993
Militärpolitik; Einsatz der Bundeswehr im Ausland
Wer
diesen Einsatz unterstützt, muß sich die simple Frage stellen: Hätten wir
völlig überzeugt Väter, Söhne, Ehemänner, Wähler und etwaige wehrwillige MdB’s
nach Kuwait geschickt, bei allen Zweifeln, die sich zum Handling dieses
Konflikts aufdrängen, zu seinem Beginn, seiner Beendigung und seinem jüngsten
Wiederaufleben?
Es
beruhigt uns wenig, daß wir Deutsche uns voraussichtlich immer zu dem deutlich
größeren Haufen zugesellen werden und damit die Wahrscheinlichkeit des Tötens
ungleich höher ist als die des Sterbens. Souveränität bedeutet befreite, nicht
verengte Entscheidung. Souveränität befähigt auch, auf archaische
Handlungsformen zu verzichten, die mit der Leerformel Vaterlandsinteresse
angepriesen werden.
Unsere
Geschichte gibt dazu allen Anlaß. Nur – dies Erkenntnis liegt, offenbar über
Nacht, außerhalb aller Mehrheiten.
(1) 29.09.1992
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 02.10.1992
Militär; Absage der "V 2 - Gedenkfeier" in Peenemünde (KStAnz. v.
29.09.1992)
Hätten wir am
Deutschlandtag die Schöpfer der V 2 hochleben lassen, hätten wir auch die der
Scud mitgefeiert. Die Scud ist wie die Mehrzahl der heute weltweit
ausgerichteten Trägersysteme legitimer Nachfahre der V 2. Scud und V 2 sind
brutale Massenvernichtungswaffen, die unter einem verantwortungslosen Regime
bewußt zum Schaden der Zivilbevölkerung eines anderen Landes entwickelt und
eingesetzt worden sind.
Demgegenüber ist der
vorgebliche Kontext ziviler (!) Raumfahrtforschung, der etwa den jungen Wernher
von Braun begeistert und geblendet haben mag, als Begründung eines V 2 - Festes
geradezu absurd. Die Forschung hat sich gegen diese Wirtschaftsidee im doppelten
Sinne auch ausdrücklich verwahrt.
Der Vorschlag war, wenn
auch der count-down schweren Herzens in letzter Sekunde abgebrochen wurde,
bereits eine verheerende Wunderwaffe gegen das Ansehen des neuen Deutschland im
Ausland und unserer Repräsentanten im Inland.