Dr. jur. Karl Ulrich Voss, Kuckenberg 34, 51399 Burscheid

 

Leserbriefe: Historie

 

25.01.1995

DER SPIEGEL

Holocaust;
Rudolf Augsteins Essay "Oh! That Inhumanity!" in SPIEGEL 4/95

Vergangenheit ist nicht zu bewältigen. Augstein hat sie schlicht verdaut, und all dies ist im Stuhl: Die schwer betroffenen Polen nicht weniger antisemitisch als die Deutschen - gar willige Opfer? Krieg und Holocaust das persönliche und damit singuläre Ziel eines leicht gestörten Grenzgängers?

Jener im Vergleich zu zeitgenössischen Staatsmännern auch nur mäßig gewissenlos - und sogar objektiv um die Gründung Israels verdient?

Halte ich diese zweifelhaften Akzente aus Augsteins Versuch neben die Qualen auch nur eines einzigen kindlichen Opfers und neben die ungetrübte Idylle vieler Profiteure und Mittäter Hitlers, muß ich würgen!

 

DIE ZEIT

16.04.1996; abgedruckt: 7.5.1996

Holocaust;
Daniel Jonah Goldhagen ("Hitler's Willing Executioners") in der ZEIT Nr. 16 v. 12.04.1996 (Leitartikel und Dossier)

Goldhagens schlüssige Befunde sagen einfach: ein in Deutschland aufgewachsener Deutscher brachte mit größter Wahrscheinlichkeit bruchloses Verständnis auf für die soziale und physische Vernichtung aller jüdischen Mitbürger. Nur: steht dann nicht plötzlich dem objektiven Tatbestand millionenfachen Mordes nur noch eine sehr stark verdünnte individuelle Steuerungsfähigkeit und Schuld gegenüber? Welcher Ausländer könnte mit Bestimmtheit sagen, er hätte sich unter den gleichen Bedingungen anders entwickelt?

Gleich muß daher weitergefragt werden: Ist diese abnorme Verfassung einer Gemeinschaft eine unaufhaltsame, naturgewaltliche Erscheinung, bestenfalls in weit zurückliegender Zeit von einigen unwissenden Menschen angestoßen - oder ist dieser Zustand Folge des eigennützigen Einflusses von Verantwortungseliten aus Administration, Aristokratie, Kirche, Kultur, Militär und Wirtschaft, von Eliten, die einen weiteren Blick haben, die von zeitgenössischen Ideologien weniger befallen werden als gewöhnliche Sterbliche und die auch nicht immer auf einen Nationalstaat beschränkt sind?

 

17.04.1996

Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt: 31.5.1996

Holocaust;
Daniel Jonah Goldhagen ("Hitler's Willing Executioners", Kulturteil des Stadt-Anzeiger v. 12.04.1996, Martin Oehlen: Ein Volk von Antisemiten?)

Goldhagens Botschaft ist schlicht: durchschnittlich anständige Deutsche hatten nichts gegen die soziale und körperliche Vernichtung jüdischer Mitbürger - Details wurden als unappetitlich empfunden, aber das Ziel stimmte. Der Befund ist schlüssig; auch die träge Sprache zeigt es. In unserer Familie wurde bis in die 60er Jahre hinein locker gesagt "bis zur Vergasung", wenn gemeint war "bis zum Überdruß" und die Erklärungsstrategien waren noch ähnlich wie vor 1945: jahrhundertelang verweigerte Assimilation der Juden und undurchschaubare, potentiell konspirative Gruppenbande.

Das verstörende an Goldhagens Ansatz ist nur: Wenn Antisemitismus endemisch und selbstverständlich war - und auch schon vor 1933 gewesen sein müßte -, relativiert dies die Steuerungsfähigkeit und Schuld vieler Deutscher (und vieler kollaborierender Europäer). Es verstärkt den Vorwurf gegenüber denjenigen, die immer einen weiteren, auch grenzüberschreitenden Blick haben, gegen die gesellschaftlichen Eliten aus Administration und Aristrokratie, Kirche und Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft.

 

DER SPIEGEL

19.04.1996

Holocaust;
Daniel Jonah Goldhagen ("Hitler's Willing Executioners") im SPIEGEL Nr. 16/1996 (Rudolf Augstein: "Der Soziologe als Scharfrichter")

"Wer da ist ohne Schuld, der ..." Im Nachkriegsdeutschland, aber auch im kontinentalen Nachkriegseuropa wurden nicht gerade viele und nicht gerade große Steine geworfen. Ergo: besonders viel Unschuld hat's in unserer Region vielleicht doch nicht gegeben.

Und der brave Rudolf Augstein hat das ewigmenschliche fest im Blick und baggert seit geraumer Zeit das bißchen Geröll zurück. Siehe auch seinen letztjährigen Essay "Oh, that inhumanity!", wonach der Antisemitismus im Vorkriegspolen vielleicht ausgeprägter war als in Deutschland und der Staat Israel seine Existenz objektiv den Deutschen verdankt!

 

02.05.1996

International Herald Tribune

Holocaust;
discussion of Daniel Jonah Goldhagen's book on the Holocaust
(International Herald Tribune of April 16: "New Book on Holocaust Is Assailed in Germany"; International Herald Tribune of April 19, Letters to the Editor)

Germans appreciate the view that the Holocaust was the most secret work of a very small group of Nazi gangsters. Non-Germans prefer the sight it was an atrocity executed and executable solely by Germans. Both is simplification, both is regression.

Take a closer look at Mr. Goldhagen's thesis: Germans grown up in Germany in the first three decades of the 20th century would most probably not have opposed the social and physical extermination of Jews. Then no one - irrespective of his actual
time and place of birth - could ever be sure to have reacted differently if brought up in the same circumstances. To evade this strange notion he would have to argue that Germans have a very special and cruel genetic brand, different from mankind. But this would even more abolish personal German fault. So what - extinct those fatefully
inhumane Germans?

 

24.05.1996

DER SPIEGEL

Holocaust;
Goldhagens "Hitler's willing executioners" (SPIEGEL 21/1996)

Der Stress der veröffentlichten deutschen Meinung ist bemerkenswert. Goldhagen postuliert ja nicht etwa einen antisemitischen Abschnitt im "deutschen" Genom; etwas früher und unter anderen Umständen geboren könnte er sich wohl auch selbst als Täter oder Mitwisser vorstellen. Und er beschreibt lediglich einen Machtbereich, der für Juden tatsächlich extrem lebensfeindlich war - innerhalb und außerhalb von Konzentrationslagern. Goldhagen ist wie ein guter Judoka: die andere Seite verdankt ihre Blessuren praktisch ausschließlich der eigenen umgeleiteten Energie.

 

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