6.6.2008

Dr. K. U. Voss, Burscheid

Signifikante Selektivität von Rekrutierung und Kriseneinsatz         
nach sozialem Status

(zur Tagung „Frieden und Gerechtigkeit“ der Ev. Akademie Loccum v. 2. - 4. Juni 2008)

Im abschließenden Panel am 4.6.2008 zur politischen Relevanz der Friedensdenkschrift wurde auch nach relevanten Problemstellungen zur Ergänzung der Denkschrift gefragt („Was fehlt?“). In diesem Zusammenhang mein Hinweis auf einen ganz aktuellen, handhaften und hochpolitischen Aspekt, der etwas versteckt liegt und in den Debatten zumeist zu kurz kommt. Er ist m.E. auch in der Denkschrift nicht enthalten und würde dort am ehesten zu dem auch von Herrn Biallas angesprochenen Spannungsfeld Gewissen / Lebensgefahr passen, das in den Nrn. 56 – 66 behandelt wird.

Ich meine die hohe Selektivität von Rekrutierung und Einsatz nach sozialem Status, insbesondere Arbeitslosigkeit in den Herkunftsregionen und die wegen der demographischen Entwicklung krisenhaft bevorstehenden Entwicklungen.

Im Einzelnen:

a) „Wehrbeitrag“ des Ostens

Heute (und seit 18 Jahren) betreibt die Bundeswehr eine sehr effiziente Knabenlese in den NBL – und dies korreliert unmittelbar mit den lokalen Arbeitsmärkten. Akzentuiert: Am Hindukusch verteidigen Mecklenburger die Freiheit der Württemberger. Dazu konkrete Zahlen des SOWI aus dem Jahre 2002:

Einstellungen

        von Offizieren aus den ABL 63%, aus den NBL 37%

        bei Unteroffizieren / Mannschaften habe ich nach Bundesländern aufgelöste Zahlen bekommen: Baden-Württemberg 5,5%, Mecklenburg-Vorpommern 6,5% der gesamten Neueinstellungen der. Totalisiert nach West / Ost ergeben sich bei den Uffze/Mannsch: ABL 67% , aus den NBL 33,3%.

Bevölkerungsproporz wäre 2002 (dabei ist Berlin den NBL zugerechnet): ABL 83,5%, NBL 16,5%. Will sagen: die Neuen Bundesländer haben mehr als das Doppelte für die Front gestellt, als es nach ihrer Einwohnerzahl zu erwarten gestanden hätte.

Es ist sehr aufschlussreich, dies mit der sozialen Situation, insbesondere der jeweiligen Arbeitslosigkeit zu korrelieren.

In der beigefügten Tabelle / Graphik sind die Daten zu den Einwohnerzahlen, Arbeitslosen und eingeplanten Unteroffizieren / Mannschaften wie folgt verknüpft: Es sind die auf die jeweiligen Bundesländer entfallenden Zahlen in Prozentanteile umgesetzt (z.B. in Blatt 2, Spalten C und D: Bevölkerung in 1000ern und Prozentwert, so für Baden-Württemberg 10.661.000 entsprechend 12,9% der Gesamtbevölkerung, ebenso in den Spalten F/G für die Zahl der Arbeitslosen, in den Spalten I/J für die einzuberufenden Soldaten). Bildet man dann den Quotienten aus den Spalten G und D (Spalte L, „rel. Alo.“), so zeigt ein Wert von ca. 1 den Zustand an, dass die Arbeitslosigkeit im jeweiligen Bundesland dem Bundesdurchschnitt entspricht, ein Wert darunter zeigt eine unter dem Schnitt liegende Arbeitslosigkeit an, einer darüber eine überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit.

Entsprechend zeigt beim Quotienten J/D („rel. Mil.“) ein Wert > 1 einen überdurchschnittlichen Verteidigungsbeitrag an, ein Wert darunter, dass man weniger zur Verteidigung erbringt, als nach reiner Zahl der Bürger möglich wäre.

Die Koeffizienten lassen sich ferner wie folgt verknüpfen: Teilt man den größeren durch den kleineren, so ergibt sich der Faktor, durch den sich die Wahrscheinlichkeit einer Dienststellung unterscheidet. Z.B. kann man den Wert „3,8“ von Mecklenburg Vorpommern durch den Wert „0,4“ von Baden Württemberg teilen und erhält eine im Vergleich ca. 10fach höhere Wahrscheinlichkeit, mit der ein junger Bürger von MV eine Verpflichtung bei der Bundeswehr auswählt als sein Altersgenosse in BW.

In der graphischen Darstellung sind die Bundesländer nach dem Wehrbeitrag angeordnet: Jedes Bundesland, das weiter links erscheint, lässt sich von den weiter rechts angeordneten Ländern „teilweise mitverteidigen“. Alle Länder mit Werten über 1 leisten einen überproportionalen Beitrag (also alle Länder „rechts“ von Berlin), damit alle neuen Bundesländer mit MV als Extremwert. Gestrichelt dargestellt ist ferner die Arbeitslosigkeit (in der gleichen relativen Darstellungsweise mit „1“ als bundesdurchschnittlichem Wert). Erkennbar ist die signifikante Verknüpfung beider Werte in den meisten Ländern. Aber auch Sonderfaktoren sind vorhanden: Z.B. leisten die Küstenländer Niedersachsen und Schleswig Holstein einen größeren Wehrbeitrag, als nach dem Indiz Arbeitslosigkeit zu erwarten wäre (möglicherweise traditionelle Orientierungen und Auswirkung größerer BW-Standorte), Sachsen und insbesondere Berlin erbringen einen kleineren Anteil, als nach Arbeitslosigkeit zu erwarten stünde.

Dass eine strukturell hohe Arbeitslosigkeit die Verwendung bei der Bundeswehr attraktiver und wahrscheinlicher macht, wird in Schriften des SOWI mehrfach angemerkt[1].

b) Einstellungen zu einer aktiven Außen- und Sicherheitspolitik

Der oben beschriebene Effekt muss wegen des im Westen weniger bekannten, im Osten überwiegend kritischen Meinungsbildes zum erweiterten Aufgabenspektrum der Bundeswehr umso auffälliger erscheinen: Die Ablehnung aktiver Außen- und Sicherheitspolitik ist in den neuen Bundesländern deutlich ausgeprägter als in den ABL. Die Unterstützung fällt seit 1998 deutlich und lag 2002 bereits unter 35%.[2] Dies zeigt sich auch in einer deutlich schlechteren Zustimmung im Osten für OEF und auch ISAF.[3]

Die oben zitierte aussagekräftige Graphik aus dem SOWI-Arbeitspapier 136 vom Januar 2004, dort S. 43 füge ich zur Illustration bei. Nimmt man die hohe inhaltliche, ggfs. von Gewissensentscheidungen ausgehende Ablehnung von bewaffneten Missionen der Bundeswehr und das offenbar hohe Druckpotenzial eines langfristig angestrengten Arbeitsmarktes zusammen, kann man die Rekrutierung in den NBL – die auch mit attraktiven Auslandsverwendungszulagen flankiert wird – bereits als eine Art der gemeinschaftlichen Verleitung zur Prostitution ansehen.

c) Demographischer Wandel

Der rasant ablaufende demographische Wandel, der absehbar zu einem massiven Rückgang potenzieller Bewerber führt, wird bei der Gewinnung gerade des qualifizierten und politisch/gesellschaftlich zuverlässigen Nachwuchses neue negative Effekte auslösen. 

Nach Berechnungen des Sekretariats der Kultusministerkonferenz werden die Schulabgängerzahlen von 974.000 im Jahre 2007 über den Wert von 877.000 im Jahre 2010 (-10%) auf nur noch 781.000 im Jahre 2020 (-20%) zurückgehen.[4] Dieser massive Schrumpfungsprozess hat in den neuen Bundesländern bereits eingesetzt und trifft die Bundeswehr umso härter, als diese Regionen bisher deutlich überproportional zu den Bewerbungen und Einstellungen beigetragen haben.[5]

Im verschärften Wettbewerb mit zivilen Arbeitgebern um den besten Nachwuchs hat die Bundeswehr ferner mit sehr ernsten Ansehensproblemen zu kämpfen: Zwischen den idealen Berufserwartungen der Bewerber und dem unterstellten Image-Profil einer Tätigkeit bei der Bundeswehr bestehen insbesondere in den Bereichen Intelligenz, Bildung, Professionalität, Kreativität und fachliche Kompetenz erhebliche Differenzen.[6]

Es liegt nahe zu erwarten, dass zur Nachfragedeckung verminderte Anforderungen an die Zuverlässigkeit der Bewerber gestellt und dann die Risiken durch Rechtslastigkeit des Nachwuchses verschärft würden. Schon 1993 verwiesen lt. SOWI-Arbeitspapier Nr. 77 Umfrageergebnisse auf die Gefahr, dass „die Bundeswehr zunehmend für junge Männer attraktiv ist, die den demokratischen Prinzipien und Werten kaum oder gar nicht verbunden sind“.[7]

Ohne Senkung der Standards könnte man in der zunehmenden Konkurrenz um befähigte und zuverlässige Bewerber nur bestehen, wenn man die materiellen Anreize (z.B. massive Zulagen für Auslandseinsätze) weiter intensiv erhöhte – mit dem dann noch weiter zunehmenden Grad von Ausnutzung und Instrumentalisierung bzw. dem der Menschenwürde widersprechenden Beigeschmack, der unter b) dargestellt ist.

Dr. Voss



[1]Thomas Buhlmahn: Berufswahl Jugendlicher und Interesse an einer Berufstätigkeit bei der Bundeswehr, Straußberg 2007 (SOWI-Forschungsbericht 81), S. 33f; André Heikenroth: Wer will zur Bundeswehr? eine Potenzialanalyse, Straußberg 2000 (SOWI-Arbeitspapier 123), S. 39

[2] Nina Leonhard: Die Bundeswehr und die "innere Einheit": Einstellungen von ost- und westdeutschen Soldaten im Vergleich, Straußberg 2004 (SOWI-Arbeitspapier 136), S. 43; Heiko Biehl, Thomas Bulmahn u. Nina Leonhard: Die Bundeswehr als Armee der Einheit: Eine ambivalente Bilanz, in: Gerhard Kümmel und Sabine Collmer (Hrsg.): Soldat-Militär-Politik-Gesellschaft, Baden-Baden 2003, S.199-228, 209

[3] Biehl et al, Bilanz, S. 209

[4] Bulmahn, Berufswahl 2007, S. 11f

[5] Bulmahn, Berufswahl 2007, 16; siehe auch Kossendey auf die schriftliche Frage des Abg. Peter Hettlich gem. Drs. 16/4346 Nr. 11, Plp. 16/81 v. 28.2.2007, S. 8187 B

[6] Bulmahn, Berufswahl, S. 64f

[7] Heinz-Ulrich Kohr: Rechts zur Bundeswehr, links zum Zivildienst? Orientierungsmuster von Heranwachsenden in den alten und neuen Bundesländern Ende 1992, München 1993 (SOWI-Arbeitspapier 77), S. 23f; siehe auch Sven Gareis, Peter-Michael Kozielski u. Michael Kratschmar: Rechtsextreme Orientierungen und ihre Folgen für die Bundeswehr, Straußberg 2001 (SOWI-Arbeitspapier 129), S. 18, 23, 45, 55