C 1. Frieden im Kosovo - und unsere Lehren aus drei Monaten Krieg?

Stand: 2.10.2000

Endlich sind Bombardierung und Vertreibung zu Ende - und es besteht zumindest Hoffnung auf Frieden und Erleichterung und irgendwann auch auf Normalisierung für die Menschen dieser Region.

Was haben wir gelernt? Und was geht in die Geschichte ein? Auf den ersten Blick: unsere Politik war schmerzhaft, aber durchdacht, begründet und erfolgreich. Sie hat sich damit als künftiges Leitbild des Zusammenlebens der Völker bewährt und wird zur Wahrung der Menschenrechte und zur Stabilität der Welt beitragen. Serbien kann vom Westen nur dann Unterstützung für den Wiederaufbau erhalten, wenn es sich den Forderungen des Westens ohne Widerspruch beugt.

Ich biete eine etwas skeptischere Ansicht als derzeit üblich. Krieg und Sieg verändern die Geschichte. Das ist trivial. Sie verändern die Geschichte aber auch in rückwärtiger Richtung: im Einflussbereich der obsiegenden Partei hat eine Beschreibung der Wirklichkeit größeren Einfluss, die das eigene Vorgehen als kompetent, uneigennützig, rechtlich und moralisch motiviert erklärt, die die Anwendung der Mittel als verhältnismäßig darstellt und die dennoch aufgetretene eigene Exzesse als unabwendbare Folge von Provokation entschuldigt. Komplementär ordnet diese Deutung der unterlegenen Seite die entgegengesetzten moralischen Werte zu.

Warnend vorausschicken möchte ich: Wer die einseitige Identifikation von Schurken, Scheusalen und Teufeln sucht, vergeudet hier mit weiterer Lektüre Zeit. Ich bin davon überzeugt, dass die Identifikation von Teufeln zur Lösung ethnischer Konflikte nichts beiträgt. Ich halte einen Verhandlungsansatz für pragmatisch richtig und unverzichtbar, wie er sehr prägnant von Roger Fisher dargestellt wird (Roger Fisher, Jenseits von Macchiavelli, Campus 1995). Wege der zivilen Konflikttransformation begründet sehr überzeugend auch Johan Galtung, Vorsitzender des Komitees für den Friedensnobelpreis und Leitungsmitglied von TRANSCEND, einem von den UN geförderten Friedens-und Entwicklungsnetzwerk. Übrigens sollten auch diejenigen nicht weiterlesen, die Verfassungen, Verträge und Recht im allgemeinen nur für die Angelegenheit trickreicher Juristen halten.

Zunächst: Ich habe keine Zweifel, dass die serbische Führung und auch Milosevic in Person für Greueltaten im Kosovo mitverantwortlich ist und dass die Entrechtung und Vertreibung albanischer Kosovaren Folgen eines kalkulierten serbischen Nationalismus sind (allerdings denke ich auch, dass die Handlungsweise der UCK ihren Teil dazu beigetragen hat und möglicherweise auf nachfolgende Eskalation zielte).

Eine wesentliche Aufgabe der nächsten Zeit wird aber sein, auch die Verantwortungsanteile des Westens an der konkreten humanitären Katastrophe im Kosovo nüchtern herauszuarbeiten und zu bewerten. Hierbei wird zu klären sein, warum der Westen die Entrechtung der albanischen Kosovaren in der zehnjährigen Phase seit der rechtswidrigen Aufhebung der Autonomie i.J. 1989 tatenlos hat eskalieren lassen, ob der Westen nicht durch in Rambouillet erhobene Forderungen den Verhandlungsausgang zumindest fahrlässig mitbewirkt hat, ob er nicht - wie Carter schlüssig einwendet - viel zu früh Machtmittel eingesetzt hat, ob die NATO nicht durch den von ihr verlangten Abzug der OSZE-Beobachter und damit den Verlust von Welt-Öffentlichkeit zu dem weiteren Anwachsen der Gewalt beigetragen hat und insbesondere, ob nicht die Bombardierung Jugoslawiens eine voraussehbar ungeeignete Strategie zur Entlastung der albanischen Kosovaren war.

Weiterhin werden wir hinausblickend über kurzfristige Ziele bewerten müssen, welchen Beitrag die konkrete Politik für die internationale Zusammenarbeit im Rahmen der Leitbilder unserer Außenpolitik leisten kann. Diese Ziele sind: Festigung des Weltfriedens, Stärkung des internationalen wirtschaftlichen und kulturellen Austauschs, Förderung der Ausübung von Bürger- und Menschenrechten.

Ich möchte in einem ersten Ansatz auf Recht, Motive und Ziele der Luftschläge gegen Jugoslawien eingehen, auf die im konkreten Fall erzielten Wirkungen und auf die Konsequenzen für die internationalen Beziehungen.

 

Alles was Recht ist

Wer hat oder hatte Recht, Jugoslawien oder die NATO? Bezogen auf das konventionelle Völkerrecht ist die Antwort sehr einfach: Jugoslawien. Die Charta der Vereinten Nationen erlaubt eine militärische Intervention gegen einen souveränen Staat in genau zwei Fällen, einmal bei Verteidigung eines völkerrechtswidrig angegriffenen Staates (Art. 51 UNCH), zum anderen bei Billigung des Gewalteinsatzes durch den UN-Sicherheitsrat zur Wiederherstellung der internationalen Sicherheit und des Weltfriedens (Art. 41 ff UNCH). Beide Tatbestände waren eindeutig nicht erfüllt. Anzumerken ist, dass sich die NATO-Staaten überdies in Art. 1 des Washingtoner Vertrages v. 1949, in Art.2 Zf.4 UNCH und auch in Punkt 11 des Prinzipienkataloges der Schlussakte der KSZE v. 1975 auf einen Gewaltverzicht außerhalb der bezeichneten Fälle festgelegt haben.

Viele sagen heute zur Erklärung des Angriffs auf Jugoslawien: Das internationale Recht habe sich unter zunehmender Bedeutung der Menschenrechte weiterentwickelt - von einem Recht der Staaten über ein Recht der Völker zu einem Recht der Menschen. Damit erlaube es heute schon Eingriffe wie in Jugoslawien. Aber ist das richtig? Aus meiner Sicht: Nein! Es ist dies vielleicht eine Darstellung westlicher - und möglicherweise stark anlassbezogener - Politikziele, es ist aber nicht das existente internationale Recht. Recht "entwickelt sich" nicht. Wenn Recht "sich" ändert, wird es weiterentwickelt, und zwar im Konsens der relevanten Rechtsanwender. Dies gilt insbesondere für das internationale Recht. Denn das internationale Recht erlangt seine Autorität nicht durch machtvolle innerstaatliche Durchsetzung, sondern nur durch Übereinstimmung aller wichtigen Mitspieler und es hat mehr noch als innerstaatliches Recht Vereinbarungs-Charakter.

Neben Russland und China verurteilen viele weitere Staaten den Einsatz militärischer Gewalt ohne Autorisierung durch den Sicherheitsrat der UN (wobei beide keinerlei Probleme mit dem Einsatz brutalster Gewalt zur Lösung interner Konflikte haben, wie etwa die menschenverachtende Tschetschenien-Politik zeigt - i.Ü. vom Westen seit Jahren praktisch teilnahmslos toleriert). Ein im Sinne der NATO gewandeltes Völkerrecht gibt es damit ganz eindeutig noch nicht.

Aber ist es nicht unerträglich, im Falle der oft beklagten Selbstblockade des Sicherheitsrates der UN massive Menschenrechtsverletzungen tatenlos hinnehmen zu müssen?
Zum einen: Dies ist in der Tat nicht akzeptabel; aber an einer verlässlichen rechtlichen Neubestimmung der internationalen Konfliktlösung und an entsprechenden vertraglichen Anstrengungen der großen Staaten und an deren Verantwortung für diesen Zustand führt kein Weg vorbei (sehr lesenswert aus amerikanischer Sicht: Michael J. Glennon, The New Interventionism. The Search for a Just International Law, Foreign Affairs 5/6 1999). Eingriffe ohne eine solche neue Rechtsgrundlage bergen ein unkalkulierbares und unakzeptables Eskalationsrisiko.
Zum anderen: Der statistisch häufigste Fall der Verhinderung von Beschlüssen des Sicherheitsrates ist bis heute das Veto der USA. Und die Fälle des militärischen Eingreifens und des Nicht-Eingreifens des Westens sind in der Vergangenheit signifikant häufig mit besonderen Interessen des Westens verknüpft gewesen. Daher verdienen die konkreten Eingriffsmotive auch im Falle Jugoslawiens eine nähere Betrachtung:

 

Eingriffsmotive und Eingriffsinteressen: die psychologische Seite

Schon bei Einzelpersonen basieren Handlungen nur im Ausnahmefall auf einem alleinigen inneren Grund oder Motiv. Der Regelfall ist eine Mehrzahl von Motiven. Besonders typisch sind solche Motivbündel für das organisierte Handeln von Gruppen, von Staaten oder gar Bündnissen. Die einzelnen Motive können zudem bestimmend sein oder untergeordnet, vorgeschoben oder authentisch, offen oder unerklärt wirksam, stabil oder im Zeitlauf verändert, bewusst oder - gfs. für einzelne Mitwirkende - unbewusst. In jedem Fall sind die Verknüpfungen von Motiven und Handlungen als innere Abläufe weder beweisbar noch widerlegbar. Dennoch können Motive der oben genannten Art - genauer: die vermittelte Wirkung von derartigen Motiven - den Ausgang von Konflikten entscheidend beeinflussen.

Es folgt eine Aufreihung von möglichen Handlungsmotiven des Westens, wie sie auch von der Gegenseite wahrgenommen werden konnten. Meine Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollzähligkeit.

 

 

Eine Bewertung:

Ziele, die als egoistische Ziele wahrgenommen werden, wirken konfliktverstärkend und altruistische Ziele - wenn sie als bestimmend gedeutet werden - konfliktmindernd. Die zuoberst aufgeführten humanitären Motive - Hilfe für die bedrängten Kosovaren - beherrschen die öffentliche Diskussion. Ich halte aber für schlüssig, dass die ferner beschriebenen eigennützigen Motivlagen in mindestens gleichem Umfang das Handeln des Westens bestimmt haben oder aus der Sicht der Beteiligten bestimmen konnten.

Aber: kann nicht die humanitäre oder ethnische Hilfe als entscheidender Handlungsgrund kommuniziert werden, ohne dass sie als verdeckte Interessenpolitik missverstanden und diffamiert werden kann?

Doch, das ist möglich - aber mit ganz konkreten Folgen für die künftige nationale und internationale Politik: Der Westen müsste die bisher unpräzisen und einzelfallbezogenen Eingriffsgründe konkretisieren und dies als generelle künftige Richtschnur des Handelns festlegen, sich also selbst binden. Genau das fordert Immanuel Kant. Er verpflichtet mit dem kategorischen Imperativ sogar den Einzelmenschen auf nachhaltiges, gesetzesähnliches- und nennt dabei den Staat als Vorbild.

Handlungsbedarf besteht hier staatlich wie zwischenstaatlich: die Tatbestände militärischen Eingreifens wären sowohl völkerrechtlich zu vereinbaren als auch im nationalen Recht festzulegen (zum nationalen Recht siehe unten: Elemente für ein Bundeswehraufgabengesetz). Um es zu präzisieren: Unzulässig sind ad-hoc-Entscheidungen oder auch: "Außenpolitik aus der Hand in den Mund" mit einem geringen Grad an Berechenbarkeit und Überprüfbarkeit und mit der hohen Gefahr, von Betroffenen oder Dritten als Willkür gedeutet zu werden. Erforderlich ist langfristig-konzeptionelles Planen mit einer abstrakten Festlegung der Handlungsziele und Handlungsvoraussetzungen, um ein authentisches Erscheinungsbild zu erreichen. Dies ist die grundlegende Funktion von Politik und - als rechtstaatliche Ausdrucksform - von Verfassungen und verfassungsgemäßen Gesetzen. Dies ist auch eine Anforderung an eine Welt-Verfassung zur Gewährleistung humanitärer, demokratischer und ethnischer Rechte. Wenn sich Deutschland und andere NATO-Staaten ein solches rechtsstaatliches Rückgrat geben, sind sie einerseits für dritte Staaten und auch gegenüber den eigenen Bürgern berechenbarer und sind andererseits - im NATO-Kontext - geringeren Gruppenzwängen ausgesetzt.

Die oben beschriebene Selbstbindung hat noch eine weitere Dimension: Der Westen ist nicht legibus absolutus. Ein künftig für Menschen- und Minderheitenschutz gestärktes Völkerrecht verpflichtet auch den Westen selbst und erschwert Lippenbekenntnisse. Auch die westlichen Staaten müssen politischen Druck zur Korrektur der internen Menschenrechtspraxis akzeptieren - so unrealistisch dies im Einzelfall auch erscheinen mag. Einige Negativ-Beispiele? USA: Todesstrafe, auch unter Missachtung des Völkerrechts, und generell hohe Gewalt-Toleranz; Türkei: Kurden; Großbritannien: Nordiren; Spanien/Frankreich: Basken; Europa insgesamt: Ausländerintegration.

Die Erwägungen zu den Handlungsmotiven haben Relevanz auch für die Frage unserer Haftung für die in Jugoslawien bewirkten Schäden, übrigens auch für die erheblichen in der umgebenden Region entstandenen materiellen Schäden aus unterbundener Wirtschaftstätigkeit. Interessant für die Frage der weiteren Politikentwicklung ist ferner eine Bewertung der Erreichung der vom Westen formulierten humanitären Ziele:

 

Die Ziele: was haben wir erreicht?

Die erklärten zentralen politischen Ziele der Bombardierung waren: Entlastung der albanischen Bevölkerung des Kosovo, Zustimmung zu Rambouillet, auch: Destabilisierung von Milosevic. Diese Ziele sind mit dem zunächst kalkulierten Einsatz nicht erreicht worden, sondern in das dramatische Gegenteil verkehrt worden; der Konflikt wurde erst nach erheblicher weiterer Eskalation und unter sehr hohen zusätzlichen Schäden beendet.

Ein durch den ungeplanten Verlauf ausgelöstes Sekundärziel ist die Rückführung der vertriebenen Kosovaren. Hier wird der Zustand vor Beginn der Bombardierung aber erst unter erheblichen Anstengungen und nach großem Zeitaufwand zu erreichen sein.
Damit wären noch nicht die durch die Bombardierung verursachten Schäden in ganz Jugoslawien kompensiert. Die menschlichen Opfer der Luftschläge sind endgültig und nicht revidierbar.

Und die Summe der primären humanitären Ziele - ein ohne militärische Kontrolle und Gewährleistung lebensfähiger, ethnisch gemischter Kosovo - ist nun mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Dauer ausgeschlossen. Schon richten sich brutale Vertreibungsmaßnahmen gegen die serbische Minderheit im Kosovo.

Einen nachhaltigen Erfolg oder eine widerspruchsfreie Bestätigung der Politik des Westens kann ich daher heute nicht erkennen.

 

Jugoslawien-Politik und Weltsicherheitsordnung

Die derzeitige Politik des Westens führt mit hoher Wahrscheinlichkeit langfristig zu einer Destabilisierung der Weltsicherheitsordnung - zum Schaden von uns Bürgern: Zum einen fühlen sich andere Machtzentren der Welt durch den ambitioniert erweiterten Aktionsradius der NATO herausgefordert und wappnen sich dagegen, z.B. China. Andere Länder können ihren Status als Nicht-Nuklear-Mächte überdenken: nach Beginn der Bombardierung Jugoslawiens hat das ukrainische Parlament seine Regierung genau hierzu aufgefordert.

Zum anderen können Staaten das Beispiel aufgreifen, sie können eine Unterdrückung von Menschen der eigenen ethnischen Gruppe in ihren Nachbarstaaten feststellen oder behaupten und sodann regelnd eingreifen. Da die Grenzen der meisten Staaten der Welt ohne Rücksicht auf kulturelle oder ethnische Identitäten gezogen sind, da Diskriminierung einfach zu behaupten ist und die Ablehnung des Fremden dem Menschen ohnehin naheliegt, gibt es geeignete Anwendungsfälle zuhauf. Der indisch-pakistanische Konflikt um die Zuordnung Kaschmirs ist primär ethnisch basiert und hat bereits alle Zutaten für Eskalation, sogar mit dem Risiko eines atomaren Schlagabtauschs. Als mittelbare Folge kann sich auch der Taiwan-Konflikt verschärfen: Die VR China kann den Kosovo-Konflikt als Präjudiz für den Einsatz von regionaler Ordnungsmacht zitieren, Taiwan als Garantie autonomer Staats- und Wirtschaftsentwicklung durch die westliche Staatengemeinschaft.

Langfristig fördert die nun verfolgte Politik ein flächendeckendes, endgültiges globales Muster von Monroe-Doktrinen: Jede der drei größeren Mächte sorgt dann unabhängig von den jeweiligen anderen im eigenen Hinterhof für Recht und Ordnung: wie z.B. die USA in Haiti und Teilen Europas, Russland in Tschetschenien und China in Tibet. Ein sehr unangenehmes Ende der Geschichte, das intensiv an George Orwells Visionen erinnert.

Diese Politik schadet auch ganz unmittelbar dem Zusammenwachsen Europas: Serbien ist schon jetzt auf Jahre für die europäische Idee verloren. Und im übrigen östlichen Europa sehen viele Menschen die Strategie der NATO als schrecklichen Gegensatz zum eigenen gewaltlosen Umbruch, auf den die osteuropäischen Bürger zurecht stolz sind. Ein lesenswertes Zeugnis dazu: der Essay von György Konrad, ungarischer Schriftsteller und Präsident der Berliner Akademie der Künste in der FAZ v. 30.4.1999 ("Der Rückfall in den Anfang des Jahrhunderts").

Besonders fragwürdig ist aus meiner Sicht: Vieles von dem, was wir im Rahmen einer neuen Militärdoktrin gewaltsam bekämpfen wollen, haben wir selbst verursacht. Viele starke Männer, die wir lieber schwach sehen würden, sind unsere eigenen Kreaturen. Viele Brandherde und Konflikte dieser Welt hängen mit unserer Weltwirtschaftspolitik unmittelbar zusammen. Das heißt: Wir beschäftigen uns zu oft mit Folgen eigenen - meist egoistischen, häufig dilettantischen - Handelns und wir tun dies gewaltsam und auf dem Rücken anderer Menschen.

Wir sollten auch nicht unkritisch unterstellen, die Politik des Westens sei den Zielen anderer Staaten per definitionem überlegen und sie sei ungebrochen auf humanitäre Ziele optimiert. Tatsächlich leben technisch-ökonomisch ausgerichtete Zivilisationen in einem latenten Zielkonflikt zwischen der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit und grundlegenden humanitären, sozialen und demokratischen Rechten der Individuen. Ein drastisches und aktuelles Beispiel: Im Rahmen der Auflagen eines Entschuldungsprogrammes des IWF stieg in Sambia die Sterblichkeit von Kindern unter 5 Jahren um ca. 50% (von 13,5 auf 20,3% in den Jahren 1985 bis 1995). Eine Anmerkung mit intensivem Bezug zum Thema Militärpolitik: Nach einem Bericht der Unicef hat sich die Kindersterblichkeit der irakischen Kinder unter 5 Jahren im Zusammenhang mit den i.J. 1990 gegen den Irak verhängten Sanktionen verdoppelt; eine halbe Million ist gestorben, die unter anderen Umständen wohl überlebt hätte (Theo Sommer in der ZEIT Nr. 45 v. 4.11.1999, S. 1). Globalisierung, die ihrerseits nicht demokratisch kontrolliert verläuft, schränkt tendenziell kulturelle Selbständigkeit ein und verringert durch Konzentrationsprozesse die wirtschaftliche und damit auch demokratische Teilhabe des Einzelnen. Was wir als Einladung zum Fortschritt verstanden wissen wollen, können Menschen mit anderer sozialer Tradition durchaus als wirtschaftliche Okkupation und als kulturelle Entmündigung begreifen, als konkrete Eingriffe in die angestammten Rechte des Einzelnen. Wir übersehen auch leicht: die UN-Menschenrechtsdeklaration schützt auch spezifische soziale Rechte wie in Art. 21 Abs. 1 die politische Teilhabe und in Art. 23 Abs. 1 das Recht auf Arbeit und die Freiheit von Arbeitslosigkeit. Diese Rechte können möglicherweise in nicht-westlichen Gesellschaftssystemen in anderer Weise und vielleicht sogar wirksamer gewährleistet werden.

Und wir dürfen einen Mechanismus nicht übersehen, der Gewalt und Unregierbarkeit stetig nährt: Das hastige Überstülpen des westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells kann mit der einhergehenden Erosion lebenswichtiger Ordnungsstrukturen, lokaler Autoritäten und gesellschaftlicher Werte den wütenden Boden für Intoleranz, Nationalismus, Rassismus und Terrorismus bereiten. Es kann diese Negativ-Haltungen idealisieren und gleichzeitig Werte, die unzweifelfhaft zur Habenseite der westlichen Zivilisation gehören, tabuisieren - die Emanzipation der Frau, die demokratische Teilhabe der Bürger und die individuell garantierten Menschenrechte. Der Umsturz im Iran und der virulente religiöse Fundamentalismus sind ein glasklares Beispiel.

 

Machtpolitik: der alte und der neue Weg

Aber ist nicht die neue Entwicklung der Militärdoktrin von der Erfahrung unbestreitbar geboten und bestätigt? Ist dies nicht eine brandneue und zukunftsweisende Errungenschaft, eine Art außenpolitische Innovation? Hier habe ich die größten Zweifel: Vor 2000 Jahren haben sehr besonnene und inspirierte Menschen mit dem Neuen Testament einen völlig neuen Weg des menschlichen Zusammenlebens entworfen. Der neue Weg grenzt sich deutlich ab von alttestamentarischer Selbstgerechtigkeit, Gruppenzentriertheit und Holzschnittdenken, von der manischen Suche nach Teufeln und Tyrannen, nach Sodom und Gomorra. Der neue Ansatz war: Zur Lösung eines Konflikts müsse nicht angebliche Schuld mit tatsächlichem Blut gereinigt werden, der Gegner müsse nicht erzogen werden und müsse sich nicht unter sühnender Strafe und gedemütigt einer anderen Ordnung beugen. Sondern: eine nachhaltige Lösung könne nur im Gespräch und notfalls sogar unter Vorleistungen der sich verletzt fühlenden Seite gefunden werden und die wichtigste persönliche Voraussetzung für einen erfolgsorientierten Prozess sei, die Welt auch mit den Augen des Gegners sehen zu können, um dessen persönliche Interessen und Handlungsgrenzen ausloten zu können (s.o. Hinweis auf das Werk von Roger Fisher). Martin Luther King hat es auf die einfache Formel gebracht:

"Es gibt keinen Weg zum Frieden, wenn nicht der Weg schon Frieden ist."

Oder nach einem vulgär-einprägsamen Sponti-Spruch: "Fighting for peace is like ....ing for virginity."

Den besonderen Anspruch des Neuen Testaments - und menschliche Schwächen bei der Umsetzung - hebt das Schuldbekenntnis der katholischen Kirche zum heiligen Jahr 2000 heraus:

"Herr, du Gott des Friedens, wir bekennen, dass wir dem neuen Gebot nicht immer treu gewesen sind, das du uns im Evangelium gegeben hast. In einigen Situationen haben viele von uns auf die Macht der Gewalt vertraut und sogar an die Logik des Krieges geglaubt."

Daher: Die von der NATO vertretene Politik ist kein innovativer Ansatz, ist keine denknotwendige Evolution menschlichen Zusammenlebens; sie ist ein Rückfall in die archaischere und instinktgeleitete Form menschlichen Handelns. Das Problem dieser Handlungsweise ist, dass sie schnelle Erfolge sucht, dass sie sich durch Demutsgesten eines niedergezwungenen Gegners bestätigt und ermutigt sieht und dass sie die mittel- und langfristigen Folgen in Gestalt internationaler Verhärtung schlichtweg nicht zur Kenntnis nimmt. Und diese Politik ist heute sogar noch deutlich gefährlicher als vor 2000 Jahren:

Dem neuen Weg entspricht ein partnerschaftliches Konfliktlösungsmodell wie das der OSZE, dem alten Weg der bündnisorientierte und polarisierende Ansatz der Militärpakte, der Feindbilder voraussetzt und perpetuiert. Der partnerschaftliche Ansatz ist geeignet, deutlich größere Anteile der nationalen Ressourcen der friedlichen Entwicklung der Menschheit und dem Kampf gegen globale Herausforderungen wie Umweltzerstörung, Klimawandel und Wüstenbildung zuzuteilen.

 

Konsequenzen für die Jugoslawien-Politik; Entwicklung des nationalen und internationalen Rechts

Aus meiner Sicht darf die weitere Politik gegenüber Jugoslawien keine demütigenden oder die staatliche Souveränität unzulässig beschränkenden Elemente enthalten. Forderungen nach Absetzung von Milosevic scheinen mir kontraproduktiv zu sein und insbesondere das leichtfertige Gerede vom Tyrannenmord dient nicht dem Ziel, Demokratie und Pluralität in Jugoslawien zu fördern; es erinnert zudem fatal an den Mordaufruf gegen Salman Rushdie. Ob und wie Milosevic abgelöst wird, ist ausschließlich Sache des jugoslawischen Volkes. Völlig berechtigt ist dagegen die Forderung, die wegen der Verbrechen im Kosovo erhobenen Vorwürfe in einem rechtsstaatlichen Verfahren aufzuklären. Wir können und müssen auch fordern, dass die im Kosovo Geschädigten Kompensation von der verantwortlichen serbischen Administration erhalten.

Parallel dazu ist erforderlich, die Verantwortung für zivile Opfer der Luftangriffe auf Jugoslawien rechtlich einwandfrei festzustellen. Wir müssen die materiellen Schäden der Bürger ganz Jugoslawiens vollständig ausgleichen und ihnen Hilfe zur Selbstorganisation gewähren. Vor den unmittelbaren Folgen unseres Handelns dürfen wir uns nicht drücken. Jenseits der Kompensation können wir künftige Zuwendungen - in der Art eines Vertrages unter gleichgeordneten Partnern - mit der weiteren Verwirklichung der Leitbilder unserer Demokratie verknüpfen. Keinesfalls dürfen wir den Wiederaufbau nutzen, um zusätzlichen wirtschaftlichen und damit auch politischen Einfluss des Westens in Jugoslawien zu verankern. Dies würde gegen das Recht aller Völker verstoßen, den gesellschaftlichen Weg eigenverantwortlich und unabhängig zu gehen.

Der OSZE muss durch intensive Beteiligung am Aufbauprozess und durch ausreichende Mittel instandgesetzt werden, einen partnerschaftlichen und konfrontationsarmen Ansatz weiterzuführen. Die Aufgabe der OSZE ist durch die Politik in jeder Hinsicht zu fördern. Bei der Lösung internationaler Konflikte ist erste Wahl die OSZE, nicht die NATO.

Der Westen ist verpflichtet, hinsichtlich der abstrakten Voraussetzungen und der Verfahren der internationalen Konfliktlösung unverzüglich Rechtssicherheit zu schaffen, und zwar im nationalen wie im internationalen Bereich. Militärische Eingriffe ohne Legitimation insbesondere der UN sind dauerhaft unzulässig. Einem Recht, das sich für Betroffene oder Dritte als Recht des Stärkeren oder als Diktat darstellt, fehlen Akzeptanz, Berechenbarkeit und friedensstiftende Qualität. Schon der Prozess der Rechtsbildung - national wie international - muss für die Bürger offen, transparent und responsiv sein. Responsiv heißt: die Politik muss bereit sein, konkrete Vorschläge auch der Bürger zu prüfen und bei Eignung zu integrieren. Die gesellschaftlich bedeutenden Gruppen - insbesondere die Kirchen und Gewerkschaften - müssen sich in diesem Prozess intensiv einbringen. Gerade die Kirchen müssen sehr deutlich herausarbeiten, welche konkreten Formen und Fälle der militärischen Interessenwahrung aus kirchlicher Sicht ethisch vertretbar sind; erst und nur dann ist Militärseelsorge vertretbar, die als mittelbare psychologische Förderung staatlicher Ziele immer in einer Grauzone operiert und einen Krieg in den Augen der beteiligten Soldaten absegnen kann.

Und auch die spätere Rechtsanwendung muss für die Öffentlichkeit überprüfbar sein: Gerade für militärische Operationen ist ein Mantel der Geheimhaltung und des Korpsgeistes typisch. Dies hat in den vergangenen Jahren selbst unter den zur Entscheidung berufenen Abgeordneten regelmäßig zu Informationslücken und Unsicherheit geführt. Daher ist zumindest eine regelmäßige Evaluation internationaler Einsätze erforderlich, besser noch eine unabhängige und publizierte vorauslaufende Politikberatung. Wir sollten zum Schutz der Bürger den Einfluss unerklärter Interessen auf militärische Einzelentscheidungen künftig effizient zurückdrängen und ein neues Element demokratischer Transparenz einführen: Wir schaffen ein Gremium, das jeweils für jeden Einzelfall neu aus einem größeren Pool ausgewählt wird, für den alle gesellschaftlich bedeutenden Gruppen vorschlagsberechtigt sind. Das Gremium - nennen wir es z.B. "Beirat der Bundesregierung für Auslandseinsätze der Bundeswehr" - prüft für alle von der Regierung geplanten Militäreinsätze in (insbesondere für Lobby und Politik) geheimer Tagung, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Militäreinsatz nach Überzeugung der Beteiligten erfüllt sind. Der Beirat formuliert eine entsprechende Empfehlung an die Bundesregierung. Das Entscheidende käme sodann: Die Beurteilung des Beirates - und ebenso die z.B. halbjährlich folgenden Bewertungen der Erreichung der selbstgesteckten Ziele der Bundesregierung - wären sodann zu veröffentlichen und würden damit für demokratische Rückkopplung wirksam.

Wir sollten unsere Feuerwehrmänner niemals aus den Augen lassen! Und wir müssen das bevorzugte Opfer eines jeden Krieges schützen: die Wahrheit.

Ein pragmatischer und durchaus auch eigennütziger Aspekt des Umganges mit der Belgrader Regierung: Jugoslawien war zu Zeiten des Kalten Krieges das Land, das sich innerhalb des kommunistischen Machtbereichs am weitesten auf die westliche Wirtschaftsform zuentwickelt hatte - mit großer Eigensinnigkeit (!!!) und erheblichem Mut. Erziehen wir es heute zum paria der europäischen Nationen, restaurieren wir die längst überwundene Zuordnung zum russischen Machtbereich und dadurch gleichzeitig die frühere europäische Polarisierung. Die Anzeichen dieses extrem negativen Prozesses sind unverkennbar.

Und ich sehe es als unverantwortliches Spiel mit dem Feuer, wenn Gerhard Schröder und Jaques Chirac in einem in Jugoslawien veröffentlichen Weihnachtsgruß an die dortige Bevölkerung zum Jahreswechsel 1999/2000 dazu aufrufen, "mit Kraft und Mut die Voraussetzungen für die notwendigen Veränderungen zu schaffen", wohlgemerkt nicht im Zusammenhang mit Wahlen!

 

Panzer mit Planwagen

Und noch eine Frage zum Schluss: Was halten Sie von meiner Zeichnung oben auf der homepage? Thema ist das für mich groteske und nicht glaubwürdige Missverhältnis zwischen der kraftstrotzenden, wohlgenährten und voranstürmenden Militärtechnik und der sympathischen, aber klapprigen humanitären Hilfe, die - und dieses Schicksal teilt sie mit der Konfliktforschung - nur einen verschwindenden Bruchteil der staatlichen Mittel des Westens erhält. Gleichzeitig aber ist die humanitäre Hilfe seit zehn Jahren schubkräftiges Vehikel einer neuen ambitionierten Außenpolitik des Westens und wesentlicher Garant zum Aufrechterhalten militärischer, militärtechnischer und militärwirtschaftlicher Strukturen.

Nähmen wir den humanitären Auftrag wirklich ernst, würden wir die Budgets und Ressourcen von Militär und humanitärer Hilfe gegeneinander austauschen. Und die wahren Helden eines erwachsen gewordenen Deutschland wären Krankenschwestern, die in Kenntnis der Gefahren für Gesundheit und Leben in Afrika Menschen geholfen haben und teilweise an Ebola gestorben sind; keine Helden wären dagegen die schwerbewaffneten Soldaten, die in Belet Huen zwei Somalis wegen eines möglichen Einbruchsversuchs erschossen haben.

Und noch eine demokratische Bitte. Egal ob Sie mit mir ganz, teilweise oder überhaupt nicht übereinstimmen: Wenden Sie sich an Ihre Abgeordnete oder an Ihren Abgeordneten im Bundestag. Und machen Sie Ihre Haltung glasklar. Ohne Kommunikation ist Demokratie sinnlos. Die richtige Frau oder den richtigen Mann finden Sie hier. Ihre Nachricht können Sie auf folgende Wege geben: