C. Wiedervereinigung: Germania est omnis divisa in partes duas...
oder: Wann bloß kommt die innere Einheit?

 

Stand: 15.10.2000

 

Viel später als alle gesagt haben. Ich meine: Auch heute sind frische Kontakte auf Bürgerebene beschämend selten. Sie sind meist die touristische Ausnahme. Zusammengewachsen - besser: von West nach Ost gewachsen - sind zwar weitgehend Wirtschaft, Politik und Kultur. Aber in einer Struktur, die die langfristige Abhängigkeit des Ostens vom Westen zementiert.
 

Das Gold der Einheit

Wer mit offenen Augen und Ohren durch die neuen Bundesländer geht, erfährt viel über den ungleichen und von den dort Geborenen als ungerecht empfundenen Zugang zu den Zukunftschancen. Leider gibt es bis heute nur wenig systematische Befassung mit dieser sensiblen Frage. Thema könnte etwa sein: "Wie sind die Grundstücke der Stadt x im Osten auf Vor-Wende-Ossies und Vor-Wende-Wessies verteilt?" Klar: Wer fragt schon gern nach dem Eingemachten? Einige sehr lesenswerte Hinweise kenne ich immerhin: Paul Windolf u.a., Warum blüht der Osten nicht?, Edition Sigma, Berlin 1999; Richard Hauser u.a., Ungleichheit und Sozialpolitik (Teil der Berichte der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels), Leske und Budrich, Opladen 1996, S. 134ff; Otto Köhler, Die große Enteignung, Knaur, München 1994; Thomas Falkner, Absturz in die Marktwirtschaft, Knaur, München 1994. Wer kennt noch mehr? Ich füge es gerne hinzu.

Lässt sich wenigstens zusammenreimen, was zusammengehört? Ich versuch's mal:

Vom Westen beschickt,
zum Westen drainiert,
sorgsam entgrätet
und nett filetiert.
Der Osten ist offen
und wird ohne Hoffen
statt zentralistisch nun ferngelenkt regiert,
nun ferngelenkt re - gier - t.

Was Leitkultur heißt,
neu lernt Ihr das jazz:
Christus und Cola
und Auslandseinsatz.
Der Osten ist offen
und wird ohne Hoffen
statt orientalisch vom Okzident regiert,
vom Okzident re - gier - t.

Nach Noten und Konten
ein herber Vergleich:
Der Osten ist klüger,
doch der Westen wird reich.
Der Osten ist offen
und wird ohne Hoffen
statt sozialistisch nun krämerisch regiert,
schön kommerziell re - gier – t.

Ton gefällig: mp3. Oder Midi mit schaurigem Geklimper

Kann man im Westen für die ungleiche Zuteilung von Zukunft sensibilisieren? Sehr schwer. Zumeist kommt eine reflexartige Vorwärtsverteidigung: "Wer wenn nicht wir Wessies hätten denn den Karren aus dem sozialistischen Dreck ziehen können? Seit wann sind Lehrjahre denn Herrenjahre? Überhaupt: bei der epochalen Bedeutung der Wiedervereinigung sind dies doch sehr kleine Sorgen. Das verwächst sich schon." Nur, hier wird das goldgräberhaft Egoistische des westlichen Engagements locker ausgeblendet und auch der strukturelle Charakter einer Zurücksetzung, die für Generationen vorhält. Schumpeter sagte treffend: "Eigentum und Erbrecht sind das Festwerden sozialen Erfolges". Und dieser Erfolg ist sehr fest (auch wenn er hier kaum im Sinne Schumpeters erarbeitet war). Das Gold der Einheit klebt fest und mehrt sich wie jedes andere. Und - wie Vespasian sagen würde - niemandem stinkt es.

Der Westen stellt gerne das Staatsmännische der Wiedervereinigung in den Vordergrund. Er verdrängt die bürgerrechtliche Initiative und den wirklichen zivilen Mut, den viele Menschen im Osten 1989 bewiesen haben und der bei jedem anderen Systemwechsel für die Mitgestaltung der gesellschaftlichen Zukunft qualifiziert hätte. Konsequent weist die Rednerliste für die 1999er Gedenkfeier zum Fall der Mauer den Bürgerrechtlern eine Statistenrolle zu. Mauerblümchen eben, mehr nicht.

Alles dies aber hindert die innere Einheit und lässt auf beiden Seiten nach neuen Mauern rufen, drüben wegen enttäuschter Hoffnungen, hüben wegen fortgesetzter gemeinschaftlich begangener Undankbarkeit in einem besonders schweren Fall.
 

Rennrad gegen Holland-Rad

Die für Ost und West ungleichen Gewinnchancen im deutsch-deutschen Rennen haben recht einfache, geradezu mechanisch wirkende Ursachen.

Zum einen vorgegebene Rahmenbedingungen: Der Osten startete mit einem Defizit an wichtigstem Wissen, und zwar in den strategischen Bereichen Recht, Finanzierung, Management, Technologie (man stelle sich einmal vor, ein westdeutscher Manager würde von einem Tag auf den anderen aller Kulturtechniken entkleidet und müsste dialektischen Materialismus lehren). Die zentralistische Verdrahtung der DDR-Wirtschaft war zerrissen. Währenddessen funktionierten die Netze des Westens auch im Osten wie geschmiert (von den anfänglichen Handy-Löchern mal abgesehen) und wurden durch eine von Westen personell erneuerte Verwaltungs-Spitze hilfreich unterstützt. Zum Vergleich: Jedes EU-Beitrittsland, das seiner politischen und sozialen Sinne noch halbwegs mächtig war, hat sich eine mehrjährige Übergangs- und Anpassungsfrist ausbedungen. Auch das Saarland hatte nicht von einem Tag auf den anderen die Wirtschaftsordnung gewechselt.

Sodann zu den politisch frei gesetzten Rahmenbedingungen, denen die enge Verbindung partikulärster Vorteile mit sozialisierten Lasten zueigen war: Frucht einer eigensinnigen Forderung der FDP ist das Prinzip "Rückgabe vor Enteignung". Es befriedigte Alteigentümer, zerstörte in Jahrzehnten gewachsene soziale Wirklichkeit, torpedierte lokales Engagement und wurde zum größten Investitionshindernis der Neuen Bundesländer. Die Folgen: für alle Absolventen eines Grundkurses Betriebs- und Volkswirtschaft voraussehbar. Sodann der Umtauschsatz von 2:1, der Nachbrenner der gar nicht schöpferischen Zerstörung ostdeutscher Arbeitsplätze. Er wertete die Währung des Ostens abrupt um den Faktor 5 auf. Westdeutsche können sich unschwer ausmalen, wie sich der Absatz selbst der hoch kompetitiven westdeutschen Produkte in den USA oder in Japan entwickelt hätte, wenn die dortigen Verbraucher für Made in Germany urplötzlich das Fünffache hätten zahlen sollen: für einen Golf einen Liebhaberpreis von umgerechnet 150.000,- DM. Exakt genauso erging es den ostdeutschen Produkten auf den ost-europäischen Märkten. Und da die Preise nun in der Größenordnung ähnlich lagen wie die westdeutschen Angebote, konnten die noch zahlungskräftigen ost-europäischen Kunden auch gleich ganz im Westen ordern.

Auch im eigenen Land hatten Ost-Produkte mit einem Mal keinen Markt mehr. Volle Laster donnerten gen Osten und nur mit leichtem Geld bepackt wieder in den Westen. Die Ost-Produkte wurden zumeist schon auf Großhandelsebene nicht mehr angefordert. Niemand hat den Ostdeutschen drastisch gesagt, dass sie sich im nachgeholten Rausch schlicht die eigenen Arbeitsplätze unter den vier Buchstaben wegkauften. Und Arbeitsplätze - gerade in der Produktion - schießen im Mitteleuropa des ausgehenden 20. Jahrhunderts nicht wie Pilze aus dem Boden. Arbeitsplätze sind extrem zuganfällige Pflänzlein, die im Handumdrehen zu vernichten und nur mit einem wirklichen Kraftakt wieder zu züchten sind, vor allem bei strukturellem Niedergang einer ganzen Region.

Haben igendwelche düstere Gestalten aus Politik und Wirtschaft in verrauchten Hinterzimmern einen Masterplan zur Einnahme des Ostens geschmiedet? Unsinn. Das Problem war im Gegenteil, dass jedenfalls auf Seiten der Politik keine Pläne oder Konzepte für die unverhoffte Einheit vorhanden waren (obwohl es sogar einmal ein innerdeutsches Ministerium gegeben hatte), dass die Einheit im Wesentlichen aus der Hand in den Mund gezimmert wurde und man so gerne auf den Rat anderer hörte. Und diese rieten zumeist "laissez (nos) faire" und zu einem Ende mit Schrecken anstelle eines angeblich drohenden Schreckens ohne Ende. Aber: Das freie Waltenlasssen der Kräfte und die vornehme Abwesenheit von Politik kann eine sehr parteiliche Entscheidung sein. Das Unterlasssen von Gestaltungsmöglichkeiten ist vorwerfbar, wo - wie hier - eine Rechtspflicht zum Eingreifen naheliegt, wo die Gefahr irreversibler Schäden oder Verschiebungen droht.

Spätherbst 1990 im Kaufhaus am Alexanderplatz: Ich wollte etwas Holzspielzeug kaufen. Man bedauerte freundlich und außerordentlich, dass die netten Dinge aus dem Erzgebirge nicht mehr verfügbar waren - aber man brauchte halt Platz für das West-Angebot in Plastik, pink und bleu, bekannt aus Funk und Fernsehen.

Auf westlichen Warentischen war der Osten erst recht nicht präsent. Das änderte sich mit massiver staatlicher Werbung erst Jahre später, als die Brauereien und Kellereien im Osten längst verwestlicht waren. Ach ja: und die Binnenwanderung, die so häufig als Argument für den ökonomisch katastrophalen Umtauschkurs herhalten musste, ist auch nach Beginn der Wirtschafts- und Währungsunion - wenn auch ohne großes öffentliches Aufsehen - munter weitergegangen und als Folge der Wirtschaftsentwicklung später sogar nochmals angestiegen.

Um es klarzumachen: Ich achte Darwin, den Markt und die schöpferische Zerstörung durchaus. Dies sind mächtige Prinzipien. Aber ich bin auch der Meinung: Die kreative Wirkung von Marktkräften kann sich dann und nur dann entfalten, wenn fairer Wettbewerb gewährleistet ist, wenn also der Zugang zu Chancen und Ressourcen (einschließlich Wissen) prinzipiell gleich ist und sich die bessere Lösung durchsetzen darf. Fiktives Beispiel: Wenn der innovative Foron-Kühlschrank "gewonnen" hätte. Wo sich aber Regierung und Parlament als Tendenzbetrieb der jeweiligen Mehrheitskoalition verstehen, der auch in einer politischen Ausnahmesituation die spezifische Klientel bestmöglich befriedigen muss, dort kann eine nachhaltige, von Generationen von Bürgern als fair mitgetragene Lösung kaum gefunden werden. Hier stimme ich ausdrücklich nicht mit Schäuble überein, der im Rahmen des Festaktes "50 Jahre Deutscher Bundestag" Runde-Tisch-Lösungen nur für einen äußerst eng begrenzten Zeitraum akzeptieren wollte - nur für das erste Aufräumen am Donnerstag nach der Diktatur. Aber gerade daran hat es bei der deutsch-deutschen Definition der Spielregeln der Einheit gefehlt: an runden Tischen, an der offenen Diskussion der Verteilung von kurz- wie langfristigen Nutzen und Lasten der Wiedervereinigung!

Oktober 1992, ein Campingplatz in Sachsen. Mit dem Verwalter komme ich nur schwer ins Gespräch, auf Campingplätzen ist es sonst nicht so steif. Schließlich platzt es doch aus ihm heraus: Seit vielen Jahren schon hatte den Platz "gemacht". Aber als er nach der Wende mit seinen Vorstellungen für die weitere Entwicklung zum Amt kam, haben die eher mitleidig gelacht. Den Zuschlag hat dann ein Unternehmer aus dem Bayrischen bekommen. Er kannte wohl die neue Amtsleitung von früher und hatte auch wunderschöne Farbprospekte mitgebracht. Der Verwalter hatte keine andere Wahl, als die Selbstständigkeit wieder zu vergessen und abhängig weiterzumachen wie vorher. Er sagt, bei den Ausschreibungen sei es vielen anderen genauso ergangen, auch in den Betrieben hätte es das gleiche Muster gegeben. Der Platz ist besser als früher - aber die Stimmung nicht.

Eine aktuelle Anmerkung: die westdeutsche Traditionsfirma Philipp Holtzmann hatte sich fast tödlich verschluckt, unter anderem an hasardeurhaftem Ost-Baugeschäft mit aggressiver Billiglohn-Strategie, die viele Wettbewerber und viele Arbeitsplätze umgebracht hat. Schröder hat das urplötzlich finanziell schwindsüchtige Unternehmen im November 1999 wiederbeatmet und zum allseitigen Jubel wachgeküsst. Da ist er wieder, der sagenhaft siegreiche Schröder-Man! Kein Darwin diesmal, kein Markt und keine schöpferische Zerstörung. Aber es ging freilich auch um Arbeitsplätze. Und um Management vom Feinsten, Made in Western Germany. Noch eine Anmerkung: Mannesmann-D2 wäre natürlich schnell - und ohne Rücksicht auf weinerliche nationale oder lokale Ressentiments - über den Treuhand-Tisch nach Westen geschoben worden. Zu einem Super-Angebots-Sparpreis. Letzte Anmerkung aus der Perspektive des November 1999: Die Vorwürfe gegen eine mögliche Panzer-Brüderschaft aus Thyssen, Holger Pfahls, Karlheinz Schreiber, Walther Leisler Kiep, Horst Weyrauch, Erich Riedl und vielleicht sogar Helmut Kohl wären als Indizien eines todgeweihten Systems vermarktet worden, in sich widersprüchlich, ausgehöhlt, verderbt, Werte-los und damit wertlos: Wasser predigen - Wein saufen.

Zu den für Wessie und Ossie ungleichen Startchancen lässt sich ein schönes Bild malen: Jan Ullrich wird am Fuße der Pyrenäen mit einem alten Holland-Rad und XXL-Übersetzung auf die Reise geschickt; er kennt das wolkenverhangene Ziel nur vage und die Strecke schon gar nicht, trägt noch seinen warmen Ost-Pulli und hat keine Wasserträger. Aber er strampelt wacker los. Den lockenden Hauptgewinn - das nagelneue, eigene Rennrad - kann er bis in die nächste Steinzeit vergessen.

Auch zu den verpatzten Gelegenheiten ein paar Thesen!
 

Copyright auf die Einheit?

Zum 10-Jahrestag der Deutschen Einheit am 3.10.2000 entbrennt ein erbitterter Streit: Wer ist der Erfinder? Kohl sagt: "Kohl!" Die SPD hätte in der Schicksalsstunde der Nation bitter gefehlt. "Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!" skandierten früher die Kommunisten. Ich kann Kohls Überhöhen seines geschichtlichen Beitrags psychologisch verstehen - er bemüht sich, durch Großmaßstäbiges die schwerwiegenden Zweifel an seinem Demokratieverständnis zu minimieren und zu übertünchen.

Aber der Ansatz ist so falsch wie schädlich. Schädlich, weil der eher reaktive Anteil Westdeutschlands, der Kohl vor Augen steht, den davorliegenden, handhaften Mut des Ostens, die wirklich ursächliche zivile Courage überdecken könnte. Westdeutschland hat die Einigung weder erahnt - wo waren unsere teuren Geheimdienste? - noch vorbereitet. Es gab keine Planungen. Kohl und Geissler hatten 1988 sogar ernsthaft erwogen, den Wiedervereinigungsantrag aus dem Vorwort des Grundgesetzes zu streichen. Dies reflektierte die allgemeine Stimmung: "Wir sind Realisten und richten uns in der von Mächtigeren vorgegebenen Geschichte bestmöglich ein." Vielleicht - hatten sich Strauß und Schalck-Golodkowski gesagt - lässt sich gar ein Vorteil daraus schlagen.

Dann kam - am ehesten zufällig zu Regierungszeiten Kohls - alles anders und Kohl griff mit sicherem Instinkt zu, mit sicherem Instinkt auch für den immensen Startvorteil, den der Macher und Bringer von Einheit und Mark bei den neuen Wählern in Wahlerfolge umsetzen würde.

Genau vor diesem Hintergrund ist die Frage nach der Haltung der SPD zu analysieren. Die prickelnde Frage ist für mich dann nicht, ob die SPD in ihrer damaligen Oppositionsrolle die Wiedervereinigung zu betulich wollte oder gar nicht. Entscheidend ist: Wie hätten CDU und SPD damals mit vertauschten Rollen gehandelt – also: wenn SPD regiert und CDU opponiert hätte?

Auch die SPD hätte die staatsmännische Stunde genutzt, mit Kanzlern wie Brandt, Schmidt und Schröder, aber auch unter Engholm, Scharping und selbst Lafontaine, der die Klippen des konkret gewählten Einigungsweges früher und klarer als die meisten Politiker genannt hatte. Als Macher der Einheit hätte sich auch die SPD der Gunst der neuen ostdeutschen Wähler sicher sein können. Hätte die SPD gezweifelt - sie wäre in der Rolle als Mehrheitsführerin von den vielen Akteuren des deutschen Pluralismus genau dazu gedrängt worden. Die SPD hätte den wichtigsten Einflussgrößen dienen können und müssen – sowohl dem Interesse der USA an einer Arrondierung in Mitteleuropa als auch den Begehrlichkeiten der westdeutschen Wirtschaft nach neuen Märkten, besonders drängend in dem damaligen Konjunktureinbruch. Jede Regierung hätte so gehandelt - teils euphorisch über das neue, PR-wirksame politische Projekt, teils staatsbewusst, teils mechanisch und rollenspezifisch.

Und die CDU? Die CDU hätte pflichtschuldigst die Kassandra gespielt, hätte vor einer Destabilisierung der bewährten Ordnung gewarnt, vor der Entwertung der europäischen Einheit und vor dem Überdehnen der westdeutschen Finanzkraft. Insgeheim hätte sie eine ewige Oppositionsrolle geargwöhnt – wegen einer gewandelten Wählerlandschaft, von der sie wegen vieler protestantischer und sozialistisch sozialisierter Neubürger aus dem Osten nachhaltig Übles befürchten musste. Diese Angst vor einem strukturellen Wandel des Wählerprofils hatte die CDU über Jahrzehnte begleitet und von einer wirklich aktiven Suche der Wiedervereinigung abgehalten. Die Angst war konsequent nur auf einem Wege zu kompensieren: Wann immer eine Einheit käme, müsste es eine Einheit unter Regie der CDU und nach den reinen Rahmenbedingungen des Westens sein, eine Einheit mit Gehirnwäsche sozusagen- so wenig solidarisch und so wenig offen für Anderes, wie es dann auch gekommen ist.

Die Diskussion um das geistige Eigentum an unserer staatlichen Einheit zwingt zu fragen: Kohl hat als Feiertag der Einheit den 3. Oktober durchgesetzt, einen bewusst staatsmännischen Termin. Aber ist der 3. Oktober auch der dem Volke angemessene Erinnerungstag? Muss man nicht richtiger den 9. November wählen - mit allen Erinnerungen an Höhen und Tiefen der deutschen Geschichte? Robert Leicht hat es in der ZEIT v. 5.10.2000 nochmals vorgeschlagen. Oder wäre nicht selbst der 19. August dem 3. Oktober vorzuziehen? Am 19.8.1989 hatte durch Abstimmung mit den Füßen "der eiserne Vorhang an der österreichisch-ungarischen Grenze bei Sopron ein Loch bekommen, von dem sich die DDR niemals wieder erholen sollte", ein gutes Bild von Hartmut Palmer, SPIEGEL 40/2000, S. 66.

 

Das große Fremdeln

Ausländerfeindlichkeit - um es vorsichtig auszudrücken - gibt es in überraschendem Umfang in den Neuen Bundesländern, eine Ausländerfeindlichkeit zudem (fast) ohne Ausländer. Und sie ist signifikant hoch in Wahl-Hochburgen der PDS. Da liegt die Erklärung ja ganz nahe: Es muss etwas zu tun haben mit dem, was immer schon oben auf der westlichen Fahndungsliste stand, mit dem Sozialismus. Und bereitwilligst treten ganz abendländische Mordtaten - z.B. die in Mölln und Solingen - aus Gedächtnis und Gewissen in den Hintergrund. An diesem Effekt ist schnell nachzuvollziehen: Es gilt doch ein wenig genauer hinzuschauen, wenn man denn wirklich Ursachen erkennen und bekämpfen will.

Zwei Effekte kommen hier zusammen:

André Brie hat zutreffend auf "Autoritätshörigkeit, Hierarchiedenken und Harmoniesucht" hingewiesen, die der Staat des real existierenden Sozialismus seinen Bürgern anerzogen habe, und die einen "Nährboden für Neonazis" bereitet hätten (vgl. J. Leithäuser in FAZ v. 11.8.2000, S. 12). Wir sollten aber nicht übersehen: Eben diese Untertanschaft war in der gemeinsamen Vorgeschichte der zwei deutschen Staaten bestens vorbereitet und sie wirkte und wirkt auch im Westen intensiv nach, auch in anständig-bürgerlichen Kreisen. Nebenbei war es immer eine gnadenlose Vereinfachung: Kommunismus und Faschismus lägen ohne Berührungspunkte an den entgegengesetzten Rändern des politischen Kosmos. Beide setzen auf eine starke staatliche Ordnungsmacht bei eher geringen politischen Rechten der Individuen. Und nicht selten sind aus Überzeugungstätern der einen Richtung schneidige Parteigänger der anderen Seite geworden.

Der zweite Punkt aber lenkt den Blick zurück in den Westen: Eben wegen der Kommando-Organisation der DDR sind die Bürger dort die geborenen Opfer einer Wiedervereinigung nach fremder Regie geworden. Bürgerliche Selbstbestimmungsrechte und bürgerliche Würde mag es in einer kurzem Phase der Überwindung des alten Systems gegeben haben, sie hatten bei schnell wachsendem kulturellem, politischem und wirtschaftlichem Einfluss des Westens jedoch keine reale Möglichkeit der Ausbildung und Entfaltung. Eine Folge war eine tiefgreifende Verunsicherung der Ost-Bürger über den weiteren Lebensweg und ein Misstrauen gegenüber allen mutmaßlichen Konkurrenten um die sichtbar knappen Ressourcen Arbeit und Einfluss.

Die emancipatio - im Großen: der DDR aus dem Warschauer Pakt, im Kleinen: der Bürger der DDR aus einem engen, ebenso beschränkenden wie beschirmenden System - ist eine traumatische Erfahrung. Und sie war verbunden mit einem völligen Umschmelzen der gesellschaftlichen Leitbilder, Institutionen und Programme und der persönlichen Wertvorstellungen und Kompetenzen. Das zweite Trauma ist die Enttäuschung von fest versprochener Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, das lange Warten auf politische Selbstbestimmung und wirtschaftliche Prosperität und - jedenfalls auf Sicht - auf die verheißenen glänzenden Arbeitsmarkt-Chancen der neuen Zeit. Diese goldenen Aussichten waren es, um derentwillen sich aus Sicht der DDR-Bürger das Wagnis und Experiment eines fundamentalen Umbruchs lohnen sollte, einer Erneuerung übrigens, die den Reform-resistenten West-Stämmen niemals hätte zugemutet werden können. Aber das gelobte Land hat sich nicht nach der vollmundigen Prophezeiung entwickelt und selbst nach zehn Jahren sitzen die Verunsicherung, das Gefühl erlittener Ungleichheit und die Zukunftsangst noch immer tief.

Nach der Standard-Theorie des Westens müsste der Fremdenhass eigentlich als Erbe der SED-Diktatur unmittelbar nach deren Sturz am virulentesten gewütet haben, um dann in der Nach-Wende-Zeit langsam, aber beständig abzuheilen. Das hört sich ganz schlüssig an, nicht wahr? Und wie war es wirklich?

"Durchgängig ist der Anteil der Ostdeutschen, die sich antisemitisch, rechtsradikal oder ausländerfeindlich äußert, geringer als der entsprechende Anteil der Westdeutschen. Die Bundesbürger im Osten nehmen die Konsequenzen aus der NS-Vergangenheit für die Gegenwart ernster." Zusammenfassung einer von Emnid und Gallup i.J. 1992 durchgeführten Befragung unter West- und Ostdeutschen sowie unter Juden in Israel; dokumentiert in: Juden und Deutsche, Spiegel Spezial Nr. 2/1992, S. 61 ff

Der Anteil der antisemitisch eingestellten Befragten in Deutschland betrug bei der 1992er Umfrage insgesamt 13%, davon im Osten 4% und im Westen eben signifikant mehr: 16%!

Juden und Deutsche aaO

Noch 1994 unterstreicht eine von Forsa im Auftrag der Zeitung "Die Woche" erhobenen Umfrage diesen Befund:

"Mit einem verbreiteten Klischee räumt diese Untersuchung auf: dass nämlich der verordnete Antifaschismus der DDR ins Gegenteil umgeschlagen sei, nachdem die Ostdeutschen auf die Wildbahn der freien Meinungsäußerung entlassen wurden. Die Befragten aus den neuen Bundesländern zeigen durchgehend eine klarere, kundigere und ablehnendere Haltung zum Nationalsozialismus." Die Woche Nr. 23 v. 1.6.1994, Beilage "Extra: Große Umfrage zum Nationalsozialismus"

Der Umschlag der Haltungen sollte erst noch kommen und war vier Jahre später deutlichst vollzogen: 1998 betrug das rechtextremistische Einstellungspotential nach der Bewertung von Stöss bundesweit 13%, in Westdeutschland 12% und in Ostdeutschland 17%.

Richard Stöss, Rechtsextremismus im vereinten Deutschland, 3. Aufl. Dez. 2000, S. 29 f; Stöss verweist für grundlegenden Umschwung auf die besonders große Ernüchterung und Enttäuschung der Ostdeutschen über Wandel und Aufholprozess, die sich auch in einer signifikant niedrigeren Demokratiezufriedenheit ausdrückte.

Das Fremdwort Xenophobie oder Fremdenfurcht drückt den Angstanteil der Ursachenkette gut aus. Der Schritt von Frustration zu Aggression ist kurz und das Opfer von Hackordnungen sind regelmäßig die Schwächeren, die stärker Vereinzelten und die weniger Integrierten. Und bei aller Besorgnis über den Osten ist nicht zu vergessen: die ideologische Rattenfänger-Melodie, nach der die rechte Szene der Neuen Bundesländer im Gleichschritt geht, wird zum wesentlichen Teil im Westen geschrieben. Auch insofern wirkt eine verzwergende Übernahme fröhlich weiter.

Roland Koch hat den Angst-gesteuerten Mechanismus illustriert, für den Osten aber wohl eher unfreiwillig:

Ausländerfeindlichkeit und Sympathien für Rechtsradikale in Deutschland sind nach Ansicht des hessischen Ministerpräsidenten Koch die Folge der Zukunftsangst in Teilen der Bevölkerung. Die Ablehnung von Ausländern sein ein Reflex, der vor allem auf zwei Veränderungen beruhe: dem zunehmenden Abbau des Nationalstaates und der mit ihm verbundenen Identität und Geborgenheit durch den Aufbau der Europäischen Union; sowie auf dem Umstand, dass der geringer und schlechter qualifizierte Teil der Bevölkerung unter den Bedingungen der Globalisierung seine soziale Sicherheit verloren habe. "Die kleinen Leute haben Angst vor dem Verlust des Nationalstaates und fürchten, dass sie die Zeche der Globalisierung bezahlen müssen", sagte Koch. Durch die Globalisierung und die zunehmende Zahl ausländischer Arbeitskräfte sei dieser Personenkreis von struktureller Arbeitslosigkeit bedroht. (F.A.Z. v. 10.8.2000, S. 1).

Streiche "Nationalstaat gegen EU/Globalisierung", setze "geliebte Ordnung gegen BRD und Wirtschafts-/Währungsunion". Ein kleine Anmerkung noch zur recht unübersichtlichen Diskussion in der Union: Am 25.8.2000 kritisierte Jürgen Rüttgers (Wahlmotto "Kinder statt Inder") Äußerungen von Roland Koch zum Rechtsextremismus.

Koch hatte der Bundesregierung vorgeworfen, sie rede den Rechtsradikalismus hoch, und von einer "Medienhysterie" gesprochen. Rüttgers warnte, es dürfe nicht der Eindruck entstehen, die Union sei auf dem rechten Auge blind (Süddeutsche v. 25.8.2000, S. 6).

Die Verbreitung von Ausländerfeindlichkeit in PDS-Wahlhochburgen ist schlüssig zu erklären, ganz ohne dass man die PDS als Sündenbock bemühen müsste: Ihren größten Zuspruch findet die PDS gerade in Regionen, in denen Wende- und Modernitätsverlierer, in denen Arbeitslosigkeit und Zukunftsangst konzentriert sind. Von diesem politischen Kleinklima profitieren zwei Gruppierungen parallel: die PDS'ler als potentielle Restauratoren und die Gewaltbereiten als lautstarke Umstürzler.

Eine fatale Selbstverstärkung erfuhr die Fremdenfeindlichkeit aus den Zwängen des wirtschaftlichen Aufholprozesses: War die Fremdenfeindlichkeit doch teilweise Folge des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Umbruchs, so befürchtete die Landespolitik wohl kaum zu Unrecht, dass Nachrichten über fremdenfeindliche Übergriffe die Investitionsbereitschaft des Westens und des Auslands schwächen könnten, dem good will der Investoren schaden würden. Dies führte in den nicht oder höchstens lokal blühenden Landschaften zu einer Politik des Verschweigens und Verharmlosens, die ein aktives Eintreten gegen die extreme Rechte ausschloss. Folge davon mag ein inzwischen ganz handgreiflicher Unterschied zum Westen sein: In den alten Bundesländern ist Fremdenfeindlichkeit weitgehend eingrenzbar auf Generationen und auf spezialisierte politische Gruppen. In den Neuen Bundesländern ist Fremdenfeindlichkeit heute eher endemisch, sie hat die Gesellschaft quasi durchwachsen. Wolfgang Thierse hat den Zusammenhang zwischen den Gefühlen der Entwertung und Entfremdung bei den Älteren und den rechtsextremen Terroraktionen ihrer Nachkommen besonders akzentuiert. Junge Gewalttäter können sich häufig eines stillen Zuspruchs der älteren Generationen und der bürgerlichen Kreise sicher sein. In dieser Phase (erst) hat der BDI Fremdenfeindlichkeit als ökonomisches Risiko und Standortnachteil erkannt.

Westliche Politiker sind Teil der Ursachenkette: Politiker, die sich gerne als Volkstribun geben, die die Fremdenfurcht aus kurzsichtigen Wahl-Interessen publikumswirksam zum Glimmen bringen und anfachen. "Kinder statt Inder" war ein bemerkenswert niederer Versuch, im Stammhirn der Wähler ein Spannungsverhältnis zu verankern zwischen besonders schützenswertem Eigenen ("Kind") und angeblich besonders bedrohlichem Fremdem ("Inder" für "Ausländer"). Rüttgers hat das später als eine Art Anfängerfehler entschuldigen wollen, unterlaufen in der noch ungewohnten Rolle als Oppositionsführer in Düsseldorf. Nicht rühmlicher war die auf klare Ab- und Ausgrenzung gerichtete Doppelpass-Aktion und sind es aktuelle Gedankenspiele, Ausländer ausschließlich dann und solange zum Aufenthalt zuzulassen, wenn sie eine für Deutschland nützliche Ressource sind: wenige Nützlinge vor einigen Schädlingen.

Im Gegenteil müssen wir uns jeden Tag aufs Neue klar machen: Wir brauchen Leben und Pluralität. Und wir schulden Asyl. Und hinsichtlich der Neuen Länder ist es mit pädagogischen, juristischen oder polizeilichen Initiativen nicht getan. Diese mögen zwar am nähesten liegen und sind sogar als flankierende Maßnahmen unverzichtbar. Sie wenden sich aber am ehesten den Symptomen zu. Wichtig sind langfristige strategische Anstrengungen, die flächendeckende Frustration beseitigen, die den Bürgern der neuen Bundesländern Ebenbürtigkeit vermitteln und den aufrechten Gang in Politik, Wirtschaft und Kultur erlauben. Das ist allerdings nicht zu haben als Nur-Gewinn-Spiel; es kostet Einfluss und Positionen des Westens.

Zur etwas größeren Perspektive: Langfristig setzt die Aufnahme von Menschen aus anderen Ländern eine europäische und auch internationale Abstimmung voraus. Thomas Straubhaar vom Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archiv (HWWA) hat im Rahmen des Forschungsprogramms "Internationalisation of Labour Markets" die nur auf den ersten Blick erstaunliche Frage gestellt "Why do we need a General Agreement on Movements of People (GAMP)?". Die Frage zieht bewusst die Parallele zum GATT (General Agreement on Tariffs an Trade). Straubhaar geht davon aus, dass die internationale Freizügigkeit von Arbeitskräften prinzipiell ebenso vorteilhaft ist wie der internationale Freihandel für Güter. Jedoch seien externe Effekte zu beachten: Der Abzug von Kompetenz aus den Herkunftsländern und Ballungs- und Verdrängungseffekte im Aufnahmeland, die regelungsbedürftig sind und gfs. durch eine zweckgebundene Migrationsabgabe internalisiert werden können (HWWA Diskussion Paper 94/2000). Straubhaar weist im Übrigen zu Recht darauf hin, dass die Ängste vor Völkerwanderungen in der nördlichen Hemisphäre ebenso weitverbreitet wie zumeist übertrieben sind.

Migration ist nach wie vor die sehr große Ausnahme, nicht die Regel und nur ca. 2 % der Weltbevölkerung lebt außerhalb des jeweiligen Heimatlandes. Die meisten - wenn nicht alle - Globalisierungsängste werden nicht verursacht durch unmittelbare Migrationsbewegungen, sondern durch die indirekten Folgen des internationalen Handels von Waren und Dienstleistungen, der zunehmend elektronisch abgewickelt wird und gegebenenfalls begleitet wird durch Ortsveränderungen derjenigen, die spezifische Dienstleistungen anbieten (Straubhaar aaO S. 11, 13).

 

Deutsch-deutsche Befindlichkeiten - und Chancen!

Die West-Ost-Beziehungskiste führt schnell zu beiderseitigen Vorwürfen.

West: "Du brauchst zuviel!", wobei der Westen oder zumindest einige im Westen von dem Ost-Verbrauch prächtig leben und den Osten als gigantischen Durchlauferhitzer für die Soli-Abgabe nutzen; siehe oben: Lastwagen donnerten gen Osten.

Ost: "Du gibst mir zuwenig oder genau das Falsche!"

Was hat der Osten in die leicht gespannte Beziehung eingebracht? Vom Eingeborenen haben wie es scheint im wesentlichen die Jugendweihe, der grüne Ampelpfeil und die PDS überlebt. Und die PDS wird als "Schmuddelkind" der Republik gehalten. Die PDS entwickelt sich teils als selbsterfüllende Vorhersage in dieser Richtung, teils nutzt sie aber auch genüsslich den Robin-Hood-Effekt dieser Ausgrenzung. Und im Westen wird gerne ausgeblendet, dass auch die heutigen bürgerlichen Parteien der Neuen Bundesländer personell in den ehemals sozialistisch ausgerichteten Blockparteien wurzeln.

Interessant sind die Ergebnisse einer neueren Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung, die Aufschluss darüber liefern sollten, ob die Ostländer eher auf Freiheit oder auf Gleichheit aus sind (Freiheit oder Gleichheit - Ansichten über zentrale Werte in Ostdeutschland, St. Augustin, November 1999). Den Gegensatz empfinde ich als konstruiert - aber wie dem auch sei: Es kam bei einem Quorum von 1.200 Befragten nicht heraus, dass die Bürger des Ostens in weinerlicher Pose verharren und störrisch auf das Einfliegen immer neuer gebratener Tauben warten (Papa Wessies liebstes Vorurteil). Sondern: Ca. zwei Drittel im Osten empfinden die neue Gesellschaftsordnung als ungerecht. Die drei von den Befragten erstrangig genannten demokratischen und sozialstaatlichen Prinzipien sind Gleichheit vor dem Gesetz, gleiche Chancen bei der beruflichen Ausbildung und Gleichbehandlung der Geschlechter. Das wesentliche Desiderat ist also Gleichheit im Sinne fairer Chancengleichheit und der Wille zeigt sich, sich unter Gleichen zu bewähren. Die im März 2000 vorgestellte 13. Shell Jugendstudie weist besonders auf die im Ost-West-Vergleich deutlich erhöhte Leistungsbereitschaft der jungen Leute der Neuen Bundesländer, insbesondere der jungen Frauen. Es passt so gar nicht zu dem wehleidigen, statischen Image, das der Osten im Westen hat. Aus der Zusammenfassung des Ergebnisse der Shell-Studie:

"Zum anderen finden wir jedoch in den neuen Bundesländern eine Teilgruppe, darunter besonders viele junge Frauen, die sich auf den Weg gemacht hat, mit den Anforderungen der Situation und dieser Gesellschaft zurechtzukommen. Ihre Leistungsbereitschaft ist deutlich höher als im Westen, die genußorientierte Lebenshaltung ist schwächer ausgeprägt. Eigene Individualität und eigene Interessen werden stärker betont, Bereitschaft zu Mobilität und beruflicher Selbständigkeit signalisiert. Die Folgerung liegt nahe, daß es sich hierbei um differenzierte Anpassungsprozesse an unterschiedliche Ausgangsbedingungen zwischen Ost und West handelt, die besonders bei jungen Frauen zu beobachten sind. Die Schwierigkeiten der Lebens- und Zukunftsgestaltung, die von vielen Jugendlichen in den östlichen Landesteilen konstatiert werden, ergeben sich folglich nicht aus einer mangelnden Bereitschaft zu Anstrengung und Leistung. Sie erwachsen aus den "objektiv" unterschiedlichen Lebensverhältnissen. Aufs Ganze gesehen sind die ostdeutschen Jugendlichen nämlich einsatzbereiter, höher motiviert und leistungsorientierter als die westdeutschen Jugendlichen."
Weitere Ergebnisse und links zur Studie: hier.

Man kann sogar sagen: Den jungen Ostdeutschen gehört die Zukunft (DIE ZEIT v. 5.10.2000, S. 11, Thomas Kralinski: "Junge Pioniere"; ebenso SPIEGEL 40/2000 S. 34, 39, Wolfgang Bayer u. Irina Repke: "Als die Welt sich öffnete"). Und das junge Leben im Westen? Dafür hat Florian Illies in seinem Buch "Generation Golf" das schöne Bild der "trägen Bewegungslosigkeit eines gutgepolsterten Sonntagnachmittags" geprägt.

Anmerkung: der bei der Vermarktung der KAS-Studie gewählte Titel "Freiheitswerte dominieren auch in den Neuen Ländern" fasst den Befund verzerrend, nämlich primär Freiheits-bezogen zusammen. In einem allerdings haben sich die Jugendlichen "befreit"; aber die Politik wird sich daran kaum freuen. Noch einmal aus den Ergebnissen der Jugendstudie (weiter siehe vorhergehender link):

"Das politische Interesse auf Seiten der Jugendlichen sinkt weiter. Das gilt für alle verschiedenen Untergruppen. Es hat zum einen damit zu tun, daß Jugendliche mit dem Begriff Politik die Landschaft von Parteien, Gremien, parlamentarischen Ritualen, politisch-administrativen Apparaten verbinden, der sie wenig Vertrauen entgegenbringen. Zum anderen empfinden Jugendliche die ritualisierte Betriebsamkeit der Politiker als wenig relevant und ohne Bezug zum wirklichen Leben. Zu erinnern ist: Unsere Daten wurden vor jener Kette von Ereignissen erhoben, die inzwischen "Parteispendenskandal" genannt wird. Im Vergleich zur vorhergehenden Studie ist das Vertrauen zu den Institutionen im staatlich-öffentlichen Bereich leicht angestiegen, zu jenen im Bereich der nichtstaatlichen Organisationen deutlich gesunken. Schlußlicht sind aber nach wie vor die politischen Parteien. Gerade bei den nichtstaatlichen Organisationen reißen große Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland auf; in den neuen Bundesländern haben sie erdrutschartig an Vertrauen verloren. Die Jugendlichen lassen sie links liegen, weil sie meinen, sie hätten nichts mit ihrem gegenwärtigen und zukünftigen Leben zu tun."

Für unsere innere Einheit - ost/west, links/rechts, jung/alt - ist essentiell, die gegenseitigen Feindbilder zwischen Ost und West abzubauen. Ich habe den Eindruck, dass die beiderseitigen Reserven und Bewertungsunterschiede derzeit eher zunehmen, sichtbar z.B. auch im Rahmen der Debatte um eine nachhaltig erfolgreiche Kosovo-Strategie. Auch die Shell Jugendstudie bemerkt mehr Auseinanderleben als Zusammenwachsen. Die Positionen der Bürger in den Neuen Bundesländern sollten stärker inhaltlich wahrgenommen werden und ein west-östlicher Meinungsunterschied sollte nicht einfach mit einer jahrzehntelangen sozialistischen Dressur erklärt und abgetan werden. Denkende Menschen hat es - hoffentlich - drüben wie - hoffentlich - hüben gegeben.

Elemente und Erfahrungen des früheren Lebens im Osten können mit hoher Wahrscheinlichkeit als Mehrwert in eine Reform der gesamtdeutschen Demokratie eingebracht werden (siehe oben: "50 Jahre Grundgesetz"). Und ein solcher Beitrag würde die kränkelnde Identifikation mit unserer gemeinsamen Demokratie und die Akzeptanz der staatlichen Einheit fördern. Das wäre eine lebhafte und vorurteilsfreie deutsch-deutsche Debatte wert!

Wie ist die Einschätzung nach 10 Jahren Einheits-Erfahrung? Eine EMNID-Umfrage v. 15./16.9.2000 auf der Basis von ca. 1000 Befragungen ergab als erste sieben Positionen der Punkte, die man bei einer Vereinigung besser machen müsste, dieses Muster (SPIEGEL 40/2000, S. 31; Klammerangaben: Prozentwerte in West und Ost; Mehrfachnennungen waren möglich):

  1. Die Westdeutschen hätten sich mehr und besser über die Situation ihrer Mitbürger in den Neuen Bundesländern informieren müssen (78 / 89).
  2. Die Bundesrepublik und die DDR hätten sich zunächst in Form einer Konföderation auf die Vereinigung vorbereiten sollen (68 / 73).
  3. Den Ostdeutschen hätte mehr geholfen werden müssen, eigene Unternehmen zu gründen (64 / 81).
  4. Die ostdeutsche Wirtschaft hätte vor den Folgen des Umbruchs geschützt werden müssen (63 / 75).
  5. Die D-Mark hätte nicht so schnell und nicht zum Kurs von 1:1 bzw. 1:2 in den Neuen Bundesländern eingeführt werden dürfen (64 / 46).
  6. Das vereinigte Deutschland hätte sich eine neue Verfassung geben müssen (36 / 71).
  7. Löhne und Gehälter hätten nicht so schnell angeglichen werden sollen (45 / 20).

Die ersten fünf Punkte der Hitliste werden in Ost und West ähnlich eingeordnet, dabei allerdings die Punkte 1, 3 und 4, die auf faire Behandlung des kleineren Partners zielen, mit erkennbar größerem Gewicht der Bürger aus dem Osten. Anderer Umtauschsatz und langsamere Lohnangleichung sind nach der Befragung typische Westpositionen. Bei der neuen und gemeinsamen Verfassung weichen die Bedürfnisse am signifikantesten voneinander ab: Dies ist eine dezidierte Forderung der neuen Bundesbürger, im Westen hat man sich im Hergebrachten gutgepolstert eingerichtet - siehe oben das schöne Bild vom Sonntagnachmittag - und verbindet mit Reformen eher Ängste. Obwohl die jüngsten politischen Skandale doch eher zweifeln lassen, ob wir in bester Verfassung sind. Insbesondere, ob die westliche Politik während der prägenden Phase der Wiedervereinigung äußerlich wie innerlich in bester Verfassung war.

"Alles genauso machen wie 1989/1990" meinten in beiden Teilen 30%, "lieber keine Wiedervereinigung" ebenso fast parallel 10%.

Ich bin für einen frischen politischen Aufbruch, der Westen und Osten nachhaltig verständigt und zusammenbringt und den die Bürger in einer Verfassung besiegeln - gemeinsam von den Bürgern besprochen und beschlossen. Zur Wiedervereinigung auch einige Leserbriefe.