Karl Ulrich Voss, Burscheid: Meine Leserbriefe im Jahr 2018

Stand: Januar 2019

 

(2019/01) 9.1.2019, abgedruckt 14.1.2019
Kölner Stadt-Anzeiger
Datenskandal; Markus Deckers Analyse „Was, wenn Profis ans Werk gingen?“ (KStA v. 9.1.2019, S. 4)

Wenn Profis ans Werk gingen? Da braucht es wohl kein Wenn und Wäre. Profis beim Beschaffen und Auswerten von Daten verfahren an jedem Punkt dieser Erde nach der Devise „Ein Gentleman genießt und schweigt“, egal ob Profis bei den Diensten oder in der Wirtschaft. Ihr Wissen hat Wert nur, wenn wir nicht darum wissen.

Aber vielleicht nutzt es, wenn sich einige Vorbilder öffentliche Gedanken über die nahe Zukunft machen – über den Mehrwert kompromissloser Digitalisierung und wem sie am wahrscheinlichsten nutzt.

 

(2018/39) 16.12.2018
Kölner Stadt-Anzeiger
Diesel-Entscheidung des Gerichts der Europ. Union (EuG) v. 13.12.2018 (Rs. T-339/16, T-352/16, T- 391/16); Beitrag „Städte können auch neue Diesel verbannen“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 14.12.2018, S. 1)

Wenn das Einflussnehmen von Einzelnen und eine entsprechende Rücksichtnahme ein System prägen, nicht aber die Teilhabe der Bürger, dann nennt man dieses für gewöhnlich autokratisch oder korrupt oder – mit viel weißer Salbe – eine liberale Demokratie.

 

(2018/38) 22.11.2018
Kölner Stadt-Anzeiger
Zukunft der Bundeswehr; Kommentar von Gordon Repinski „Das deutsche Dilemma“ (KStA v. 22.11.2018, S. 4)

Offene Debatte? Leider ist es bewährte Tradition, unsere Außen- und Sicherheitspolitik majestätisch vom naiven Bürgerlein fernzuhalten: 2013 lobt Verteidigungsminister de Maizière den Kanzlerkandidaten Steinbrück; praktischerweise will letzterer „die Bundeswehr aus dem Wahlkampf heraushalten“. Rechenschaft? Will und kann sich der Minister nun ersparen. Zu der Kluft zwischen Wehr und Bürgern trägt der bereits 1994 vom Verfassungsgericht entwickelte Parlamentsvorbehalt bei – er erübrigt die nach Art. 19 eigentlich gebotene gesellschaftliche Debatte und Definition jedes Einzelfalls staatlicher Gewaltanwendung. Ferner entfremden der plötzliche Rückbau der Wehrpflicht, eine große Distanz zu den heutigen Schauplätzen auswärtiger Gewalt, auch der für uns praktisch undurchsichtige Mantel des Schweigens über den Einsatz von Spezialkräften.

In dieser Bewusstseinslage nun noch neue Verantwortung übernehmen? Wenn überhaupt, dann erst, wenn die heute fast 25 Jahre von robustem militärischem trial&error öffentlich evaluiert sind. Unter „error“ würde ich etwa zweimal Somalia verbuchen, inzwischen auch Afghanistan, wahrscheinlich auch den Süd-Sudan, von den Einsätzen unserer Waffenbrüder jedenfalls Irak und Libyen.

Nichts davon sollten wir unreflektiert kopieren müssen. Wie weit wir in Zukunft gehen wollen und müssen, darüber sollten wir Bürger spätestens vor der kommenden Wahl fundiert debattieren können.

Quellen:
https://www.presseportal.de/pm/55903/2468313 (Positionierung von BM de Maizière vor der 2013er Wahl)
http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv090286.html (Streitkräfteurteil v. 12.7.1994; besonders bemerkenswert: die Entscheidung erwähnt an keiner Stelle Art. 19 GG bzw. die Gefahrdung von Grundrechten durch Akte auswärtiger Gewalt)

 

(2018/37) 17.11.2018
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 20.11.2018
Debatte um Stickoxid-Grenzwerte (KStA v. 17./18.11. 2018, S. 1 u. 2: „Experte stellt Stickoxid-Grenzwerte in Frage“ u. „Wie viel Stickstoff ist gefährlich? Der Streit über einen Grenzwert“)

Die Mehrheit hierzulande will vermutlich nach wie vor in einem fakten- und regelbasierten, rechtsstaatlichen System leben. Dann haben wir genau zwei Optionen: Wir wenden den unter eingehender Einbindung der Wirtschaft vereinbarten Grenzwert an. Oder aber: Wir verändern ihn auf der Grundlage neuer oder neu bewerteter Fakten, ggf. streichen wir ihn auch als erwiesenermaßen überflüssig. Alles andere schadet dem Renommee des Gemeinwesens und der Beteiligten.

 

(2018/36) 14.11.2018
Kölner Stadt-Anzeiger
Europäische Armee (Interview v. Gordon Repinski und Daniela Vates mit Jens Spahn „Für Schutz der Außengrenzen nationale Souveränität abgeben“, KStA v. 14.11.2018, S. 5; Matthias Koch „Zeit für harten Kern“, ebd. S. 4)

Der Bundestag soll für eine reaktionsschnelle EU-Armee den Parlamentsvorbehalt aufgeben oder delegieren? Ausmachen würde das wohl nichts: Ohnehin haben die Parlamentarier bisher jeden robusten Kabinettbeschluss abgesegnet, ausnahmslos, unverzüglich, zur Not auch nachträglich. In diesem Dezember steht mit dem 200. Entsendebeschluss ein kleines Jubiläum an. In der realen Welt dürfen wir auch für die Zukunft keinen höheren demokratischen Kontroll- oder Wirkungsgrad erwarten. Denn als ultima ratio bleibt der Regierung immer die Vertrauensfrage nach Artikel 68; damit hatte etwa Kanzler Schröder zaghaften rot-grünen Widerstand gegen die Operation Enduring Freedom im Keim erstickt. Bei Licht betrachtet haben wir denn auch keine Parlamentsarmee, eher ein Armeeparlament. Auf EU-Ebene wäre ein ähnlicher Grad von Aufsicht zu erwarten, aber halt auch nicht weniger als nichts. Warum sich also aufregen?

Eines möchte ich dann doch noch erhoffen, aber das wird frommer Wunsch bleiben: Vor einer noch größeren Distanz zwischen Entscheidern und Bürgern - und dann noch mal geringerer demokratischer Rückkopplung über Wahlen - werden die bisherigen deutschen, französischen und ggf. britischen Auslandseinsätze unabhängig evaluiert. Erste Einschätzung: Rein gar nichts ist wie angekündigt gelungen; praktisch alles hatte harte Nach- und Nebenwirkungen. Vielleicht mit Ausnahme der Operation LIBELLE im Frühjahr 1997. Allerdings war das im Wortsinn eine Eintagsfliege, mit überwiegendem Show-Charakter und durchaus vermeidbar, und sie wurde erst nach der kurzen Sause abgesegnet.

Quellen:

-        Vertrauensfrage Bk. Schröder v. 13.11.2001 (http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/14/074/1407440.pdf) im Zusammenhang mit dem Kabinettbeschluss v. 7.11.2001 zu OEF/OAE = Drs. 14/7296 (http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/14/072/1407296.pdf), so beschlossen in der Plenarsitzung v. 16.11.2001 (http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/14/14202.pdf)

-        Operation LIBELLE: Antrag gem. Drs. 13/7233 v. 18.3.1997 (http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/13/072/1307233.pdf), behandelt post festum in der Plenarsitzung v. 20.3.1997 (http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/13/13166.pdf)

 

(2018/35) 12.11.2018
Kölner Stadt-Anzeiger
Digitalisierung; Magazin „Digito“ (Erstausgabe als Beilage des Kölner Stadt-Anzeigers v. 10./11.11.2018)

Digito – ergo sum? Die neue Beilage scheint mir für einen naiven Hurra-Digitalismus zu stehen, mit vielen Konsumbotschaften im werbenden Teil ebenso wie im dazu symbiotischen und damit verschwimmenden redaktionellen Gerüst. Und wie zufällig liegt meiner Wochenendausgabe auch noch eine Hochglanz-Werbung zu einem Sprach-Assistenten bei, den das Magazin herausgehoben beschreibt. Fast schon anrührend ehrlich ist das „Willkommen bei digito!“ auf S. 3: Digito soll „die Digitalisierung zu einer guten Nachricht für Sie machen“. Und uns darüber hinwegtrösten, dass „Liebgewonnenes verschwindet“. Vielleicht aber eben auch bald das Gedruckte.

Der Stadt-Anzeiger kann es etwas nachdenklicher, etwa als er am 27.8.2018  einen Beitrag zur Berliner Funkausstellung betitelt: „Mit der Digitalisierung wächst die Angriffsfläche enorm“ und dies kompetent unterlegt. Oder als er am 12.11.2018 über den „Tag der Datenkrake“ berichtet; okay, ein wenig fremdschämend, denn es geht dabei um ein Konsumfest in China.

Ich befürchte nun: Um kognitive und redaktionelle Dissonanz zur schönen neuen Digito-Welt zu vermeiden, werden es nüchterne Analysen von demokratischen, gesundheitlichen, sozialen und ökologischen Konsequenzen zunehmender Digitalisierung künftig schwerer haben, schwarz auf weiß zu erscheinen. Das wäre schade - und schlecht für ein Medium, das ich noch nicht als überholt ansehe.

Zitate:

-        KStA v. 27.8.2018, S. 2:
Interview von Frank-Thomas Wenzel mit Carl Wiese / BlackBerry „Mit der Digitalisierung wächst die Angriffsfläche enorm“; siehe auch an gleicher Stelle den informativen Beitrag von Annika Leister „Sprich endlich mit mir“

-        KStA v. 12.11.2018, S. 9:
Finn Mayer-Kuckuk „Der Tag der Datenkrake“

 

(2018/34) 31.10.2018
Kölner Stadt-Anzeiger
Import des Halloween-Festes; Nadja Lissok „Ein Brauch geistert um die Welt“ (KStA/Duda 31.10.2018, S. 15)

Die Kulturwissenschaftlerin Monique Scheer begründet den Halloween-Transfer m.E. ein wenig Kultur-romantisch; da wären auch ein paar kühlere Fakten. Vor der einleitenden Kampagne der „Fachgruppe Karneval im DVSI“ zu Beginn der Neunziger Jahre war der Brauch hierzulande kommerziell nicht existent – und im letzten Jahr haben die Deutschen schon etwa eine halbe Milliarde in das keltische Gruselfest investiert, nicht nur für Kinder übrigens, sondern für signifikante Anteile der jungen Erwachsenen. Auch heute funktioniert Halloween betont kampagnengetrieben und der Hype strahlt als Umsatzchance auf immer weitere Einzelhandelsbereiche aus. Ein führender Kostümhändler fasst nüchtern zusammen: „Wir agieren zum einen bedarfsdeckend, zum anderen auch bedarfsweckend.“

Man kann das ganz locker sehen; ein bisschen Spaß muss halt sein und der Rubel rollen. Nachdenklicher mag die Konkurrenz zur saisonal benachbarten St. Martins-Tradition stimmen. Das eine ein Fest des Todes, das andere eins von Achtsamkeit und Leben. Das eine aus dem Osten, das andere aus dem Westen. Ironisch könnte man formulieren „in occidente nox“.

Nur eines tröstet noch. Mein wie ich zugebe betagtes Schreibprogramm meckert verlässlich den Begriff „Halloween“ an und meldet dazu achselzuckend „Keine Rechtschreibvorschläge“.

Quellen zur einleitenden und zu folgenden Halloween-Kampagnen:
https://www.dvsi.de/dvsi-news/275-halloween-schwappt-ueber-kostuemhersteller-der-fachgruppe-karneval-im-dvsi-machen-gute-umsaetze
   zur Kampagne der Fachgruppe Karneval im Deutschen Verband der Spielwarenindustrie (DVSI) i.d.J. 1991ff
https://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-konsumgueter/wirtschaftsfaktor-halloween-zombies-zaster-zaehneklappern/12519718-all.html
   Zitat daraus (Quelle für mein Zitat oben)
„Doch nicht nur die Freude am Zombie hat den Tag dem Festkalender der Deutschen hinzugefügt: „Der Erfolg von Halloween ist auch kampagnengestützt“, erklärt Kultur- und Medienwissenschaftler Matejovski: „Befeuert durch Handel, Süßwaren- und Verkleidungsindustrie.“ Durch entsprechende Werbemaßnahmen schaffe man die nötige Aufmerksamkeit für das Fest. Das bestätigt auch Björn Lindert von Deiters: „Wir agieren zum einen bedarfsdeckend, zum anderen auch bedarfsweckend.“ 2012 und 2013 veranstaltete das Unternehmen die nach eigenen Aussagen größte Halloween-Party Deutschlands, in der ausverkauften Kölner Lanxess-Arena.“
https://yougov.de/news/2017/10/27/absatzmarkt-halloween-ausgabebereitschaft-betragt-/
https://www.br.de/nachrichten/wissen/halloween-an-diesem-brauch-scheiden-sich-die-geister,R7ZgEGx
https://www.newsletter2go.de/blog/halloween-kampagne/

 

(2018/33) 8.10.2018
Kölner Stadt-Anzeiger
Verhältnis Christentum / Islam; Interview von Joachim Frank mit Jürgen Wilhelm „Islam ist uns ein Dorn im Auge“ (KStA v. 8.10.2018, S. 34)

„Der Islam ist uns ein Dorn im Auge!“ Schon der im Interview gesprochene Satz, noch mehr aber als rasch zu konsumierende Überschrift, sie haben dem immer prekäreren Dreiecksverhältnis der drei verwandten Religionen einen Bärendienst erwiesen. Die dahinter liegende Bibelstelle ist nichts weniger als der frühhistorische Befehl zur ethnischen Säuberung des gelobten Landes, siehe 4. Mose 33, 55.

Wozu das hier und jetzt und noch dazu unter brüskierendem Pauschal-Verdikt gegen eine ganze Religion? Bin ich denn ein Ausnahmefall, wenn die Muslime, die ich persönlich kenne, sehr friedliche und ordentliche Bürger sind? Und wo selbst die männlichen Muslime im kritischen Alter von 15 bis 25 Jahren jedenfalls nicht aggressiver sind als ihre christlichen oder jüdischen Altersgenossen? Richtig: Als Deutsche verantworten wir nicht etwa bloßen Verfolgungswahn, sondern ganz reale Vernichtungsängste, und zwar auf Generationen, und wir sind zum bestmöglichen Schutz Israels und gerade der unter uns lebenden Bürger jüdischen Glaubens verpflichtet. Aber Deutsche haben auch schon Muslime wie im Rausch umgebracht und wir müssen jedem weiteren Verhetzen unter sorgfältigster Wahl der Worte vorbeugen.

Quelle:
4. Buch Moses 33, 55 im Kontext (nach https://www.bibleserver.com/text/LUT/4.Mose33%2C55 )

50 Und der HERR redete mit Mose in den Steppen Moabs gegenüber Jericho und sprach:

51 Rede mit den Israeliten und sprich zu ihnen: Wenn ihr über den Jordan gegangen seid in das Land Kanaan, 52 so sollt ihr alle Bewohner vertreiben vor euch her und alle ihre Götterbilder und alle ihre gegossenen Bilder zerstören und alle ihre Opferhöhen vertilgen 53 und sollt das Land einnehmen und darin wohnen; denn euch habe ich das Land gegeben, dass ihr's in Besitz nehmt. 54 Und ihr sollt das Land austeilen durchs Los unter eure Geschlechter. Dem Geschlecht, das groß ist, sollt ihr ein großes Erbe geben und dem, das klein ist, sollt ihr ein kleines Erbe geben. Worauf das Los für jeden fällt, das soll er haben. Nach den Stämmen eurer Väter sollt ihr's austeilen. 55 Wenn ihr aber die Bewohner des Landes nicht vor euch her vertreibt, so werden euch die, die ihr übrig lasst, zu Dornen in euren Augen werden und zu Stacheln in euren Seiten und werden euch bedrängen in dem Lande, in dem ihr wohnt.

 

(2018/32) 3.10.2018
Kölner Stadt-Anzeiger
Tag der Einheit (Ausgaben vom 2. u. 3./4.10.2017

Können wir unseren neueren Landsleuten ihre geminderte Leutseligkeit wirklich verargen? Wo wir ihnen durch das laissez-faire der ersten Jahre nach der Eingemeindung ihre Lebenschancen auf Generationen abspenstig gemacht haben? Ihren Nachwuchs zu häufig vor die einschneidende Alternative "Arbeitslosigkeit oder Auslandseinsatz" gestellt haben? Selbst ihre Bierverlage und Sektmarken eingenommen haben? Na ja, als Revanche haben wir uns mit alledem eine landesweit übellaunige AfD eingehandelt. So werden wir am Ende irgendwie doch alle gleich, und sei es nur stimmungsmäßig.

 

(2018/31)16.9.2018
Kölner Stadt-Anzeiger
Räumung im Hambacher Forst, insbesondere Berichterstattung und Kommentierung in den Ausgaben v. 14. und 15./16.9.2017 (u.a. Gerhard Voogt „Schachzug mit Risiken“, KStA v. 14.9.2018, S. 4)

An den Haaren herbeigezogen? I wo. Vielleicht nicht zu 100% aus dem Sprechzettel der Polizeichefin vorgelesen. Da stand:

Braunkohle ist ein Dreckszeug. Energetische Nutzung trägt außergewöhnlich zum globalen Wandel bei. Höhere Temperaturen und dürre Wälder steigern Feuergefahr. Also für den Brandschutz: Wälder räumen. Dann abholzen. Dann Braunkohle fördern und verheizen. Dann…

Logisch, oder?

Quelle zu Satz 2 des „Sprechzettels“ u.a. https://www.bund-nrw.de/themen/mensch-umwelt/braunkohle/hintergruende-und-publikationen/braunkohle-und-umwelt/braunkohle-und-klima/

 

(2018/30) 26.8.2018
DIE ZEIT
Wehrdienst;  Interview von Marc Brost und Peter Dausend mit Eberhard Zorn „Wehrpflicht? Nein danke“ (Ausgabe No. 35 v. 23.8.2018, S. 7)

Eberhard Zorn legt, vielleicht ja nicht mit voller Absicht, den Finger in die Wunde: „Laut Grundgesetz (brauche es) eine schwerwiegende sicherheitspolitische Begründung, um ganze Jahrgänge junger Menschen zum Wehrdienst zu verpflichten.“ Genau das aber sehe er derzeit nicht.

Nun, exakt hier liegen Problem und Grundwiderspruch der aktuellen Debatte: Es ist nach wie vor keine existenzielle Bedrohung auszumachen – auch keine neuerliche Aggression aus dem Osten, die man gegenüber der nachhaltigen Expansion der NATO als Überreaktion deuten könnte. Dennoch stehen neue Ressourcen für die Bundeswehr auf der Tagesordnung, materielle wie personelle. Und diejenigen Formen auswärtiger Gewalt, die die praktisch wahrscheinlichsten bleiben – Einsätze out of area – sind trotz unstreitiger Grundrechtsrelevanz bis heute nicht nach dem Qualitätsstandard des Art. 19  Grundgesetz definiert. Sie wurden bisher ausnahmslos durchgewinkt, mit bald 200 institutionell ganz atypischen ad-hoc-Entscheidungen eines Parlaments. Nebenbei: Man hat die Expeditionen auch niemals systematisch evaluiert. Andererseits wäre darunter ein Goldstandard wohl auch nur sehr schwer auszumachen, siehe etwa ISAF.

Verfassungspatrioten haben es da schwer und die Väter und Mütter des Grundgesetzes dürften sich im Grabe wälzen. Die Außenhandelsmanager, mit denen sich der Generalinspekteur gerne austauscht, sehen das vermutlich entspannter.

 

(2018/29) 24.8.2018
Das Parlament, abgedruckt 17.9.2018
Debatte um Dienstpflichten; Beiträge von Jörg Biallas „Hohn zum Dank“, Alexander Weinlein „Orientierung im Gelände“, Johanna Metz „Die letzte Instanz“ (Das Parlament v. 20.8.2018, S. 1 u. 4)

Zäsur, das braucht es wohl erneut: Die Neunziger hatten der Truppe ein im Wortsinn gewaltig erweitertes Portfolio beschert – räumlich hinaus in ein nun global verstandenes Vorfeld, zeitlich vorgezogen in die Phase bloß drohender Risiken und strukturell nunmehr auch auf trivialere Kriegsziele erstreckt, weit unterhalb gegenwärtiger militärischer Angriffe im vormaligen Verständnis des Art. 87a. Personell hat es die Bundeswehr auf eine Berufsarmee reduziert, was eine unwiderstehliche Logik aus der erwähnten Trivialisierung bezieht. Nichts davon allerdings vermeldet die Verfassung, ganz anders als noch bei der Wiederbewaffnung, als sich das Parlament tatsächlich als die erste, nicht als die letzte Instanz verstand.

Viel Weisheit läge m.E. in dem Verfahren, das man am Herrenchiemsee für alle in Grundrechte einschneidende Staatsaufgaben aus frischer Erinnerung vorgesehen hatte; es ist noch heute in Art. 19 nachzulesen: Neue Aufgaben der (hier) auswärtigen Gewalt erst demokratisch debattieren, dann konstitutionell und legislativ definieren, will sagen: kategorisch begrenzen, dann die exekutiv erforderlichen Strukturen schaffen, erforderlichenfalls später faktenbasiert nachregulieren.

Man nennt das auch Gesetzesvorbehalt und dieser Weg ist jeder programmierten ad-hoc-Entscheidung rechtsstaatlich und beim Grundrechtsschutz weit überlegen, mag er auch Bündnis-Automatismen und schnelle Schüsse ein wenig erschweren.

 

(2018/28) 17.8.2018
DIE ZEIT, veröffentlicht im online-Angebot der ZEIT: https://blog.zeit.de/leserbriefe/2018/08/20/16-august-2018-ausgabe-34/
Hiroshima; Josef Joffes Zeitgeist-Kommentar: „Tödliche Patzer“ (DIE ZEIT No. 34/2018 v. 16.8.2018, S. 8)

Leichte Kost – ich weiß nicht recht: Uran für Hiroshima, Plutonium für Nagasaki, letzteres ganz automatisch, ohne einen neuen Befehl des Präsidenten, und einige hunderttausend tote Zivilisten. Das alles die banalen Folgen eines sprachmittelnden Patzers, ohne den die Weltgeschichte anders verlaufen wäre?

Vielleicht hat eine missverständliche oder gar missleitende Übersetzung tatsächlich zur Katastrophe beigetragen. Entscheidend aber war, wie so erschreckend oft, eine willfährige Stimmung, ein lange zur Saat bereiteter Boden: Ein merklicher Teil der amerikanischen Wähler wollte 1945 Japan und sogar die Japaner ausgelöscht sehen. Die Administration war bereits auf neuen oder eigentlich wieder auf den alten Wegen aus den Zwanzigern und wollte am Beispiel der Japaner die Bolschewiken zu Tode erschrecken, speziell aber Stalin in Potsdam. Die Militärtechniker wiederum wollten zwei konkurrierende Bombendesigns testen, am besten „in vivo“. Ein noch unerfahrener und bis dahin uneingeweihter Truman hatte so viel Entschlossenheit nichts entgegenzusetzen.

Eine ähnlich verstörende Engführung wie hier im Zeitgeist hatte vor einigen Jahren eine Dokumentation der bayrischen Staatsregierung (!) zum Obersalzberg parat: Der Genozid der Vernichtungslager sei der NS-Führung erst von den KZ-Lagerleitungen nahegelegt worden, die der logistischen Probleme nicht mehr Herr gewesen wären. Oder: eine Hölle aus Seuchen und Mangelversorgung habe im Grunde technokratisch in die Hölle des Holocaust geführt. Auch hier: Man mag einen solchen Mechanismus ja für möglich oder flankierend tätig halten. Aber wachsen und wirken konnte er nur unter der alles entscheidenden Kultur des Hasses und der Entmenschlichung.

Also: Tatsächlich keine leichte Kost, jedenfalls mit dem hohen Risiko, verhängnisvoll apologetisch zu wirken.

P.S.: Quelle zur Haltung von Teilen der amerikanischen Zivilbevölkerung im zweiten Weltkrieg z.B.:
https://www.weltwoche.ch/ausgaben/2005-9/artikel/feuersturm-auf-tokio-die-weltwoche-ausgabe-92005.html

Zur o.g. von Josef Joffe zitierten Quelle bzgl. einer falschen Übersetzung, die zur Entscheidung Trumans geführt haben soll: Mark Polizzotti n der New York Times of July 28, 2018:
https://www.nytimes.com/2018/07/28/opinion/sunday/why-mistranslation-matters.html 

 

(2018/27) 6.8.2018
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 10.8.2018
neue Dienstpflichten; Markus Decker „CDU diskutiert über Wehrpflicht“ und „Zugrunde reformiert“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 6.8.2018, S. 1 u. 4)

Zugrunde reformiert – Ähnliches kann man selbst im Fazit des aktuellen Weißbuchs zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr nachlesen: Danach werde die Bundeswehr „perspektivisch mit Herausforderungen konfrontiert, auf die sie weder hinreichend eingestellt noch nachhaltig vorbereitet ist.“ Originalton Ende. Wer bitte sollte sich künftig dorthin melden, wenn sich im Rahmen einer allgemeinen Dienstpflicht unkritische zivilgesellschaftliche Alternativen eröffneten?

Vielleicht aber bringt jemand mal den politischen Mut auf, die Einsatz-Erfahrungen der letzten 25 Jahre zu evaluieren, sodann eine rechtsstaatlich klare Bw-Aufgabenstruktur vorzuschlagen – voraussichtlich weniger universell und global als heute, aber realitätsbezogener im Vollzug, mit geringeren Dilemmata bei der Ausrüstung und insbesondere wieder attraktiver für Bewerber und Bewerberinnen aus der bürgerlichen Mitte.

Quelle zum ersten Abs.: Weißbuch 2016, S. 137

 

(2018/26) 6.8.2018
Frankfurter Allgemeine
neue Dienstpflichten; „Euer Land“ von Daniel Deckers und „Wehren oder pflegen?“ von Heike Göbel (F.A:Z. v. 6.8.2018, S. 1 u. 17)

Netter Versuch – Nachschub für die Bundeswehr, adrett gerahmt in eine allgemeine Dienstpflicht. Aber was wird denn quantitativ und qualitativ bei der Truppe ankommen, wenn sich am Ende eh’ jeder irgendwie und anders entscheiden kann?

Was tatsächlich helfen könnte: Die Struck’sche Globalverteidigungs-Doktrin – Bundeswehr weltweit und präventiv gegen alle keimenden Risiken – nach über zwanzigjähriger Einsatz-Erfahrung endlich durch einen konkreten legislativen Handlungsrahmen ersetzen. Er würde wieder eine Interessen-Identifikation, die Partizipation und ein Gemeinschaftsgefühl der Zivilgesellschaft fördern. Ein Gesetzesvorbehalt schützt die Bürger zudem rechtsstaatlich effizienter als ein schlichter Parlamentsvorbehalt. Kant hätte letzteren kategorisch abgelehnt und das Verfahren nach Art. 19 unseres Grundgesetzes bevorzugt.

 

(2018/25) 6.8.2018
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 11.8.2018
neue Dienstpflichten; Joachim Käppner und Jens Schneider („ ‚Ein Abenteuer, eine Schule des Lebens’ “, „Unsinn oder Gemeinsinn?“, Süddeutsche v. 6.8.2019, S. 1 u. 4)

Die Außen- und Sicherheitspolitik der letzten 20 Jahre und das speziell für Auslandseinsätze eingeschliffene parlamentarische Verfahren, sie sind recht selbstähnlich: Ad hoc, unsystematisch bis kryptisch, anlassgetrieben und bei keinem einzigen Einsatz aus einer gegenwärtigen existentiellen Bedrohung begründet. Die militärische Beschaffung – unter zunehmender Ziellosigkeit hoffnungslos. Die innere Führung – zwischen vielen moving targets herumirrend. Ist es ein Wunder, dass dem Barras die Bürger in Uniform abhanden gekommen sind?

Wenn dieser Trend heute im größeren Rahmen einer allgemeinen Dienstpflicht zurückgebogen werden soll, so ist dies für mich teils billige Trittbrettfahrerei – derer, die im Konvoi ebenfalls Ressourcen abstauben wollen oder müssen. Oder es ist ein Vertuschen, wenn nicht Verdrängen. Denn das Grundproblem wird bleiben: Für den eingeschworenen Gemeinsinn eines Militärbündnisses braucht es Söldner viel eher als Bürger in Uniform. Denn die Letzteren könnten nach einer rechtsstaatlich klaren Aufgabendefinition fragen, will sagen: nach einer transparenten Aufgabenbegrenzung.

 

(2018/24) 16.7.2018
DER SPIEGEL, abgedruckt 21.7.2018
NATO-Gipfel; Markus Becker et al.
„Friendly Fire“; Interview v. Christiane Hoffmann mit Timothy Garton Ash „… Ernst der Stunde …“ (SPIEGEL Nr. 29 v. 14.7.2018, S. 17ff u. 29ff)

Rüstung treibt Arbeitsplätze treibt Wiederwahl. Das weiß Trump.
Rüstung treibt Krisen treibt Krieg. Das weiß Kant.
Großartig, sagt Trump: Krieg treibt Wiederaufbau-Deals und Rüstung.
Und so weiter...

 

(2018/23) 14.7.2018
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 4.8.2018
NATO-Gipfel; Kommentar von Klaus-Dieter Frankenberger „Die Lasten teilen“ u. Bericht von Lorenz Hemicker und Michael Stabenow „Trump lässt die Puppen tanzen“, F.A.Z.  v. 13.7.2018, S. 1 u. 2)

Ich hoffe, meine Nachfragen wirken nicht demokratisch unbescheiden: Hätten mehr und bessere Waffen die kennzeichnenden Krisen der letzten Zeit nachhaltiger gelöst, hätten sie weniger Migration ausgelöst? Können wir ausschließen, dass die magischen 2% oder gar 4% geplanter Rüstungsanteil an der Wirtschaftskraft nicht zuallererst Arbeitsplätze in rüstungsexportierenden westlichen Staaten fördern sollen – wobei mir recht egal wäre, ob die Rüstung als Auf-, Nach- oder Ausrüstung daherkommt?

Leider gibt es bis heute kein Evaluationsverfahren für militärische Einsätze – und dies trotz der vielfach irreversiblen Folgen auswärtiger Gewalt für grundlegende Menschenrechte. Im aktuellen Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr hat sich bestenfalls eine kleine Vorhut der Autoren an das Problem einer systematischen Auswertung von Zielen, Ergebnissen und Folgen der Auslandseinsätze herangerobbt. Sie meldet von dort ein wenig Zukunftsmusik: „Es bedarf strategischer Entscheidungen, ob, wann und in welchem Maße sich Deutschland engagiert. Deswegen wird der Ausbau unserer Strategiefähigkeit konsequent weiterverfolgt. Dabei geht es auch um die Entwicklung (sic!) von Kriterien, die Messbarkeit und Evaluierbarkeit ermöglichen“ (Weißbuch 2016, Nr. 4.1, S. 57). Entwicklungsprozesse laufen – immerhin nach 20 Jahren Praxis einer Armee im Einsatz, einer Armee mit scharfem Schuss!

Ohne eine nachvollziehbare Analyse von Plänen, Taten und Folgen weiter in Militaria zu investieren, das ist mit einer christlichen Wertordnung schwer vereinbar. Genau diese aber führen wir bei den Missionen gerne im Schilde.

 

(2018/22) 14.7.2018
Süddeutsche Zeitung
NATO-Gipfel; Kommentar von Kurt Kister „Ein Rüpel in Europa“ sowie zu den Berichten von Daniel Brössler und Stefan Kornelius „Trump versetzt Nato in Aufruhr“ u. „Der kann auch anders“ (Süddeutsche v. 13.7.2018, S. 1, 2 u. 4)

Mehr, bessere Waffen? Ich sehe nicht einmal den Versuch eines seriösen Nachweises, dass etwa Afghanistan, Libyen oder der Irak hätten längst nachhaltig stabilisiert werden können, hätten wir nur über bessere militärische Fähigkeiten verfügt.

Das aktuelle Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr zeigt sich zur Evaluation militärischer Einsätze denn auch nicht systematisch aufgestellt, sondern nebulös und eher verschämt: Beim „Ausbau von Strategiefähigkeit“ … „geht es auch um die Entwicklung (sic!) von Kriterien, die Messbarkeit und Evaluierung ermöglichen“ (Weißbuch 2016, Nr. 4.1, S. 57). Im Klartext: Unsere robusten, raumgreifenden Auslandseinsätze exekutieren wir bis heute zu unbesonnen und unreflektiert. Oder auch: Sie sind kein Beispiel für evidenzbasierte Politikentwicklung.

Wenn die vorgenannten Konflikte eine Herausforderung des Westens waren, dann hätte der Westen diese Prüfung offensichtlich nicht bestanden; wir müssten nun etwas anderes suchen als das ewige „Mehr desselben“. Der collateral advantage eines neuen, achtsameren Weges wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit: Wir würden weniger weltweite Migration triggern und träten weniger terroristische Hornissennester los. Mich jedenfalls würde das erleichtern.

 

(2018/21) 12.7.2018
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 17.7.2018
2%-Ziel der NATO; Bericht v. Thorsten Knuf „Merkel weist Trumps Vorwürfe zurück“ und Kommentar v. Damir Fras „Trumps Kampfbahn“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 12.7.2018, S. 6 u. 4)

Trump will bei seiner Forderung zu den Militäretats wohl nicht nur lose verknüpfte wirtschaftliche Interessen fördern, etwa die von potenziellen US-Energielieferanten. Er assistiert noch viel unmittelbarer – und zwar der eigenen Waffenlobby. Wenn nämlich das weltgrößte Waffenbündnis breit aufrüstet, dann bekommt der mit Abstand weltgrößte Waffenexporteur – die USA – die Sahnestücke der attraktiven Staatsaufträge.

Die ganz andere Frage ist: Werden neue und mehr Waffen denn nun diejenige Sicherheit schaffen, die westliche Staaten in den letzten 20 Jahren gerade nicht festigen konnten – nicht im Irak, in Afghanistan oder in Libyen, wohl auch nicht im Südsudan? Ist das alles überhaupt Verteidigung? War das Parlament bei dem NATO-Deal beteiligt, bei dieser höchst wesentlichen Angelegenheit? Oder: Sollten wir nicht 4% unserer Wirtschaftsleistung viel effizienter und nicht zuletzt christlich in die Entwicklungshilfe investieren?

 

(2018/20) 22.6.2018
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 25.6.2018
Diesel-Fahrverbote; Tim Attenberger „Messanlagen werden überprüft“ (KStA v. 21.6.2018, S. 1):

Gut, dass der Stadt-Anzeiger sehr beharrlich eine etwaige Achillesferse für Diesel-Fahrverbote recherchiert hat – dass nämlich einige deutsche Anlagen das allfällige Autoabgas bedenklich nahe an Fahrbahnen messen. An den Fahrbahnen! Das ist nun wirklich skandalös. Da sind doch kaum Menschen. Ein paar Autofahrer höchstens oder so Fahrradfahrer und Fußgänger...

„Free Diesel!“ oder ähnlich steht auch auf einem Autoaufkleber, der mit dem Logo einer großen deutschen Tageszeitung gerade großflächig verteilt wird. Wir sind hier doch verdammt gut aufgehoben, nicht wahr?

 

(2018/19) 25.4.2018
DIE ZEIT
Berichte über neue Giftgas-Attacke in Syrien; Josef Joffe „Von Zauderhand“ (DIE ZEIT No 16. v. 12.4.2016, S. 1):

Von Beginn an begleiteten Hohn und Spott die Emanzipation der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik hin zum scharfen Schuss; im Grunde war es nie genug. „Scheckbuchdiplomaten“, „Trittbrettfahrer“, die das „Risiko scheuen“ und „das Töten erst noch lernen“ müssten, so hieß es wiederholt, jetzt auch „Heuchler“ oder „Zauderer“, die nur "fotografieren können, nicht bombardieren". Aber wo bitte gibt es denn eine tragfähige Evaluation der robusten neuen Sicherheitspolitik? Was ist nach mehr als 20 Jahren Praxis und mehreren Tausend zivilen Toten der Gold-Standard einer gelungenen Mission? Somalia vielleicht? Afghanistan? Irak? Libyen? Wo bleiben Rechenschaft dazu und Demokratie, insbesondere vor einer Wahl? Haben wir überhaupt einen rechtsstaatlichen Plan?

Und speziell zu Syrien: Die Erfahrung liefert uns hoch verlässliche Frühindikatoren - oder auch Trigger - für den Einsatz von Giftgas. Entweder der amerikanische Präsident hat gerade eine rote Linie definiert, jenseits derer er aktiv eingreifen will. Oder der amerikanische Präsident hat just schwindendes Interesse am syrischen Schauplatz signalisiert; sofort fliegen wieder die menschenfressenden Kartuschen. „Cui bono?“ fragt der nüchterne Ermittler am Tatort. Und: „Qui possunt?

 

(2018/18) 13.4.2018
Kölner Stadt-Anzeiger
Kopftuchverbot; Gerhard Voogt „Verbot von Kopftüchern kommt zügig voran“ (KStA v. 12.4.2018, S. 8)

Vor dem zügigen Verbot von Kopftüchern für Mädchen unter 14 Jahren wäre etwas anderes noch viel dringender: Das Verbot der Beschneidung von Jungen unter 14 Jahren.

Ein Kopftuch kann jederzeit abgelegt werden, eine Zirkumzision gestaltet den Intimbereich lebenslänglich. Und sie schmerzt und stört weit mehr. Die Beschneidung ist, das ist zu wenig bekannt, ebenfalls kein Gebot des Koran. Trotz alledem besteht nur wenig Hoffnung, dass sich die Integrationsstaatsekretärin hieran trauen würde, und sei es auch nur in zweiter Linie.

 

(2018/17) 28.3.2018
Kölner Stadt-Anzeiger
neuer Traditionserlass der Bundeswehr; Damir Fras und Daniela Vates „Fibel mit neuen Vorbildern“ und „Die Bundeswehr ist keine Firma“ (KStA v. 28.3.2018, S. 2 u. 4)

Als gedanklichen Test: Um mit den gelebten robusten Aufgaben der Bundeswehr Tradition zu stiften, könnte jemand eine „Oberst-Georg-Klein-Kaserne“ vorschlagen, damit an den folgenreichen Luftschlag von Kundus am 4.9.2009 erinnern. Aber wollen wir soviel drastischen Unterschied zur Bundeswehr vor 1993 sehen? Dann könnte ein anderer auch eine „Farah-Abdullah-Kaserne“ ins Spiel bringen. Der am 22.1.1994 bei Belet Huen von Wachsoldaten des deutschen Biwaks erschossene junge Somali Farah Abdullah war, soweit bekannt, das erste zivile Opfer oder der allererste collateral damage eines Auslandseinsatzes - einer Mission, die zudem kurze Zeit später erfolglos abgebrochen werden musste.

Das Problem des neuen Traditionserlasses ist das gleiche wie das der rasch aufeinander folgenden Verteidigungspolitischen Richtlinien, Weißbücher und natürlich auch der Verfassung selbst. Es ist das Kardinalproblem der Inneren Führung nach 1993 und war der Sargnagel der Wehrpflicht: Verteidigung gegen einen gegenwärtigen militärischen Angriff ist zwar nicht völlig fälschungssicher, aber vergleichweise leicht zu definieren, zu überprüfen kann den Staatsangehörigen in einem offenen Gegenseitigkeitsverhältnis - Wagnis gegen Schutz - generell auferlegt werden. Die der Bundeswehr angetragenen neuen Herausforderungen dagegen, die typischerweise gerade nicht die Existenz des Staates und seiner Angehörigen bedrohen, sind seit 1993 vage und unabgrenzbar geblieben, sind im Wortsinne noch immer nicht "definiert". Wer ist Terrorist oder aber Freiheitskämpfer, was ist Krise, welche Interessen sind ursächlich, wieviel gilt Souveränität, wie früh beginnt Vorbeugung und wo?

Wer von uns Bürgerinnen oder Bürgern, sogar: welche bzw. welcher Abgeordnete kann denn voraussagen, und sei es nur für die laufenden Legislaturperiode: Was wird militärisch gehen und was nicht? Mit einer derart diffusen corporate identity könnte keine Firma einen nachhaltigen Geschäftsprozess organisieren und goodwill schaffen. Und auch kein Rechtsstaat.

Quelle zu Farah Abdullah (Abs. 1) z.B.:
www.friedenspaedagogik.de/content/download/2004/9928/file/kif_021_36.pdf

 

(2018/16) 27.3.2018
Kölner Stadt-Anzeiger
Halbwertzeit technischen Wissens; Frank Nägele „Wunderbares Wissen und sein Verlust“ (KStA v. 24./25.3.2018, S. 3)

Da wäre ein noch näherer, noch gewaltigerer und wohl auch kurzlebigerer Mechanismus als das Wunderwerk von Antikythera: die Saturn Vb. 1986 explodiert die Raumfähre „Challenger“; die NASA prüft kurz: Kann die bewährte, im Dezember 1976 zuletzt eingesetzte Mondrakete wieder auferstehen? Deprimierendes Ergebnis: Die technische Dokumentation ist inzwischen hoch lückenhaft, teils auch einfach nicht mehr auslesbar, Spezialisten-Teams sind in alle Winde zerstreut und wesentliche Zulieferer gibt es schon gar nicht mehr. Eine Neukonstruktion auf weißem Papier wäre erforderlich – Zeitbedarf nicht unter zehn Jahren.

Ewig währendes Wissen ist eine kollektiv schmeichelnde Legende, ähnlich wie individuell die Unsterblichkeit unserer Seele. Tatsächlich hält Wissen typischerweise nur so lange wie die zu seiner Erhaltung eingesetzten Ressourcen. Oder auch hier: Ohne Moos nix los.

Quellen:

-         NASA/Saturn Vb:
GEO Wissen, Kommunikation, 1989, Beitrag „Informationszerfall / Müllhalden des Wissens“, S. 117f, 117

-         Mechanismus von Antikythera:
s. u.a. https://de.wikipedia.org/wiki/Mechanismus_von_Antikythera

 

(2018/15) 17.3.2018
DIE ZEIT, veröffentlicht im online-Angebot der ZEIT: https://blog.zeit.de/leserbriefe/2018/03/19/15-maert-2018-ausgabe-12/
Beschneidung; Jochen Bittner „Beschneidung überdenken!“ (DIE ZEIT No 12 v. 15.3.2018, S. 9) der nachfolgende Leserbrief:

Jochen Bittners Appell, das "Gesetz über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes" gründlich zu überdenken, möchte ich unterstützen. Unter einer me too-Flagge kann ich ein wenig Leben beisteuern; und wenn ich ein Savant in Sachen Beschneidung bin, so kann ich das am ehesten einem Großvater vom Fach zuschreiben. Hautarzt war er und er hat sich zur Vorsorge gegen die ihm tagtäglich vertrauten Infektionen des Reproduktionsapparates niemals auf eine Toilettenbrille gesetzt.

Es sind nicht allein etwaige körperliche Langfristfolgen des Eingriffs im Intimbereich zu bedenken oder mögliche Schmerzen, die mit einer mehr oder weniger fachmännischen Operation zusammenhängen. Ich erinnere mich lebhaft: Über einige Jahre erwachender Sexualität war ich grundlegend verunsichert, ob denn bei mir anatomisch alles zum Rechten stünde oder ob ich nicht beim eigentlichen Initiations-Erlebnis kläglich versagen würde oder auch nur schief angesehen werden müsste. Mit wem sollte man solche Sorgen abwenden? Mit Eltern, die immerhin den nicht revidierbaren Schnitt selbst angeordnet hatten?

Der i.J. 2012 erfolgreiche Gesetzentwurf war unter Druck der Kölner Entscheidung und einer schnell hoch erregten öffentlichen Debatte eiligst zusammengestoppelt; als Teil der amtlichen Begründung musste etwa ausdrücklich dies herhalten: "Aus Bayern wurde 1843 der Fall berichtet, dass die Polizeibehörde einen jüdischen Vater, der sich geweigert hatte, seinen Sohn beschneiden zu lassen, sogar anwies, sein Kind beschneiden zu lassen: Solange er der Religion angehöre, habe er sich auch deren Religionsgebräuchen zu unterwerfen (Der Orient 1843, Heft 40, S. 316)." Und genau da liegt das Problem: Die Beschneidung, die selbst auf vorjüdische, archaische Rituale gründet, ist aus meiner Sicht ein ausschließlich ritueller, gruppendynamischer und traditioneller, aber kein philosophischer, mystischer oder ethischer Teil von Religion. Die Beschneidung dient schlicht der Kennzeichnung und Herkunftsbezeichnung, nicht anders als ein Brandzeichen, als das Schwarz-Rot-Gold des Lützowschen Freikorps oder Margarete Steiffs berühmter Knopf. Diesen Gradienten im Religiösen und Ethischen sollten wir künftig beachten, wenn wir das individuelle Recht auf körperliche und psychische Unversehrtheit und auf selbstbestimmte Entwicklung der uns anvertrauten Kinder unumkehrbar beschneiden wollen.

Zitat: Gesetzentwurf v. 5.11.2012:
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/112/1711295.pdf

 

(2018/14) 7.3.2018
Kölner Stadt-Anzeiger
Irak-Einsatz; Hendrik Geisler „Neuer Einsatzort für Bundeswehr im Irak“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 6.3.2018, S. 5)

Das lässt doch aufhorchen. Vor 15 Jahren hatte Alfred Neven DuMont im Stadt-Anzeiger gewarnt: Wenn sich Deutschland nicht in die damalige Anti-Saddam-Koalition der Willigen einreihe, so werde Deutschland auch bei Wiederaufbau-Aufträgen im Abseits stehen, wie sie erfahrungsgemäß nach einem robusten regime change auszuloben sind.

Die amtierende – und insoweit erstaunlich handlungsbereite – Bundesregierung will offenbar die damalige Scharte auswetzen und militärisch nun den gesamten Irak ins Visier nehmen.

Zitat:
Alfred Neven DuMont „Der Weg ins Abseits“, Kommentar v. 14.2.2003, http://www.ksta.de/debatte/der-weg-ins-abseits,15188012,14292298.html

 

(2018/13) 20.2.2018
DIE WELT
Ausrüstungsdefizite der Bundeswehr; Bericht „Bundeswehr fehlen Winterbekleidung und Zelte für Nato-Einsatz“ (WELT v. 19.2.2018) und Notiz „12.000 Soldaten zur Russland-Abschreckung“ (WELT v. 20.2.2018)

Das ist völlig neu: Ausrüstungsdefizite nicht nur bei high tech, sondern auch bei der ganz konventionellen Ausstattung. Möglicherweise allerdings hatte jüngst jemand Adam Zamoyskis packenden Bericht „1812“ über eine Grande Armée gelesen, die mangels Winteranpassung elend in Russland erfroren war.

Wahnsinn, dass wir schon wieder einen kalten Krieg assoziieren. Die wenn man so will positive, aber eigentlich zynische Nachricht dazu: Gewehrprobleme hatten wir zuletzt nur in heißen Landstrichen.

 

(2018/12) 20.2.2018
Kölner Stadt-Anzeiger
Münchner Sicherheitskonferenz; Kommentar von Thorsten Knuf „Fremdeln mit der neuen Rolle“ (KStA v. 19.2.,2018, S. 4)

Fremdeln, das tun für gewöhnlich Kleinkinder in einer ersten kritischen Auseinandersetzung mit Erwachsenen. Deutschland hat sich in seiner Geschichte mehrfach kritisch mit seiner Umgebung auseinander gesetzt; es trägt daraus noch einige bedingte Reflexe oder auch bloß: Lektionen des Lehrmeisters Krieg. Wenn man die Wiedervereinigung als eine Art Initiation oder Erwachsenwerden versteht, dann hat Deutschland auch seitdem noch dazu gelernt – so wird es sich etwa in Kürze zum zweiten Mal militärisch aus Somalia zurückziehen.

Richtig, wir müssen die Aufgaben der Bundeswehr in die Mitte einer Gesellschaft holen, die gegenüber einer raumgreifenden Außen- und Sicherheitspolitik eher vorsichtig und gerne auch mit Verdrängung reagiert, die bei einer Berufsarmee auch schmerzloser verdrängen kann. Und dabei müssen wir nüchtern auch die Lehren der letzten 30 Jahre debattieren: Welcher Auslandseinsatz war Erfolgsmodell? Was hat nicht oder höchstens teilweise oder stark verzögert und/oder unter Opfern geklappt? Was hat zu einer Weltlage beigetragen, die wir derzeit als besonders chaotisch wahrnehmen, auch zu den ubiquitären Flüchtlingswellen? Dann und erst dann sollten wir entscheiden, ob wir in die noch robusteren amerikanischen Stiefel steigen.

 

(2018/11) 20.2.2018
Frankfurter Allgemeine
Münchner Sicherheitskonferenz; Leitkommentar von Klaus-Dieter Frankenberger „Fähig zur Weltpolitik“ (Frankfurter Allgemeine v. 19.2.2018, S. 1)

Quem delendam esse censes (Francorum Montane)?“ Ganz klar: Ein naheliegender oder gar näherrückender Feind und ein ferner Freund, sie taugen bestens zum Sammeln um die Flagge. Aber gegen was und gegen wen genau muss sich Europa verteidigen? Was an der heute so chaotischen Weltlage geht auf fremde Konten, was aber auch auf eigene? War die Außen- und Sicherheitspolitik nach 1990 einfach nur nicht deutlich oder robust genug und braucht es – um mit dem hellsichtigen Paul Watzlawick zu fragen – tatsächlich noch „mehr desselben“? Welche der raumgreifenden Militärexpeditionen der letzten 30 Jahre waren Erfolgsmodelle, mit allenfalls vernachlässigbaren Risiken und Nebenwirkungen?

Genau diese Evaluation und Analyse müsste am Anfang einer evidenzbasierten diplomatischen Initiative stehen. Leider haben alle Koalitionen und Wahlkämpfer der letzten 30 Jahre eine solche Rechenschaft verweigert, wie sie naturgemäß am glaubwürdigsten durch Vorarbeit unabhängiger Forschung geraten wäre.

Und irgendwann einmal Salz in russische Äcker zu streuen, um beim anfänglichen Beispiel zu bleiben, das wird keine mögliche oder auch nur wünschenswerte Lösung sein.

Zum Watzlawick-Zitat:
https://de.wikipedia.org/wiki/Anleitung_zum_Ungl%C3%BCcklichsein

 

(2018/10) 18.2.2018
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt am 28.2.2018
Münchner Sicherheitskonferenz; Beilage „Sicherheit 2018“ in der Süddeutschen v. 15.2.2018, insbesondere Beiträge „Über die Neuvermessung der Welt“ und „Lüge wird Wahrheit“ von Stefan Kornelius bzw. „Leere Lehren“ von Joachim Käppner (Süddeutsche v. 15.2.2018, S. 9, 11)

Man könnte sich wacker des Eindrucks erwehren, unsere prominentesten Ängste wie die vor Terrorismus, vor Migration, vor Destabilisierung, vor Degradation oder vor wieder virulentem Ost-West-Antagonismus, sie wären nicht von uns selbst getriggert, auch nicht von relevanten Partitionen westlicher Gesellschaften. Die Erfahrungen der letzten gut dreißig Jahre machen es mir indes immer schwerer, an solchen eigenen Verursachungsbeiträgen vorbeizuschauen.

Was sich die nächste durch Wahl legitimierte Regierung vornehmen sollte, das ist nicht die Vergewisserung in der fernen Vergangenheit, nicht mal die Neuvermessung der frühen Nachkriegsgeschichte. Die allerjüngste Vergangenheit täte mir schon völlig reichen – beherzt die 190 Kabinettbeschlüsse zu Auslandseinsätzen und die zugehörigen ca. 4000 Seiten eng bedruckter Parlamentsprotokolle zu evaluieren: Was hatten die wechselnden Regierungen und Mehrheiten durch die einzelnen Einsätze mit scharfem Schuss bezweckt, was haben sie in welcher Frist erreicht oder gerade nicht erreicht, was hat das alles gekostet – in Leben und Gesundheit, in Umwelt, in Geld, in disruption & displacement.

Evidenzbasierte Politik und die wirksamste Präventation gegen fake news, sie sähen für mich genau so aus. Insbesondere, wenn wir uns sicherheitspolitisch gesprochen nun bald noch größere Stiefel anziehen wollen oder sollen. Sicher unnötig anzumerken: Unsere hochqualifizierte Friedens- und Konfliktforschung wäre mit einem Auftrag zur systematischen Analyse, wenn er denn käme, keineswegs überfordert.

 

(2018/09) 9.2.2018
DIE ZEIT, veröffentlicht im Online-Angebot der ZEIT: http://blog.zeit.de/leserbriefe/2018/02/12/08-februar-2018-ausgabe-7/
polnisches Holocaust-Gesetz; Josef Joffes Zeitgeist-Kolumne „Geschichtszensur“ (DIE ZEIT No 7 v. 8.2.2018, S. 10)

Sehe ich ebenso: Geschichte oder Wahrheit brauchen, ja, sie vertragen keine Legitimation oder Verordnung.

Gleichwohl ist die Lufthoheit über die Vergangenheit allgegenwärtiges Bildungsziel. Und auch dort herrscht traurige Reduktion, ganz ohne Zensur. Wenn man aus aktuellem Anlass einen rassistischen Hype für die Zwischenkriegsjahre nicht nur in Deutschland, sondern auch anderswo in Europa ausmacht, dann bleibt ein für die jungen Nazis ganz wesentliches Vorbild ausgeklammert. Der transatlantische Sehnsuchtspartner USA hatte ihnen noch ein wenig mehr zu bieten als die kontinentalen Nachbarn: Ein mit wissenschaftlichem Eifer betriebenes Euthanasie-Programm, die „Jim-Crow“-Rassegesetze der Südstaaten als Simile eigener Regelungen und etwa auch noch eine robuste Landnahme im Westen und Süden Nordamerikas. Und es gab angehimmelte Idole wie Charles Lindbergh, noch mehr allerdings Henry Ford: Dessen antisemitische Schmähschriften verschlangen und verwerteten die jungen Nazis, seinen autokratisch-technokratischen Erfolg bewunderten sie; im Gegenzug ließen sich Lindbergh und Ford noch 1938 mit dem exquisiten deutschen Adler-Orden adeln.

Apropos Lufthoheit: Wer heute durch das National Air and Space Museum gleich neben dem Washingtoner Capitol wandert, der kann mit leichtem Magendrücken das nachhaltige technokratische Band erkennen – neben der Bodengruppe einer Saturn Vb reckt sich eine A4-Rakete (eigentlich V2, hier dezent zurücklackiert), im Nachbarraum führt eine Messerschmitt 262 die Evolution der US-Jets an, daneben prangt mit leuchtend schwarz-roten Hakenkreuzen das Hindenburg-Luftschiff und über den Wright-Brüdern legt sich Lilienthal im Hängegleiter in die Kurve.

Quelle zum Einfluss des US-Rechts auf die Nürnberger Gesetze:
http://www.law.nyu.edu/sites/default/files/upload_documents/Hitler%27s%20American%20Model%20for%20NYU.pdf

 

(2018/08) 7.2.2018
Kölner Stadt-Anzeiger
Polen und der Holocaust; Michael Hesse „Das Böse kann nur von außen kommen“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 7.2.2018, S. 21)

Danke für den einfühlsamen Beitrag! Die polnische Regierung irrt sehr, wenn sie einen aggressiven Antisemitismus an Nationen oder Grenzen festmachen will – eher ist und bleibt er das gerne verdrängte Problem eines schon damals globalisierten Bürgertums und seiner technokratischen und ökonomischen Eliten.

Nur das Beispiel eines mitwirkenden Influencers, wie es neudeutsch so nett heißt: In den Nürnberger Prozessen hat der „Reichsjugendführer“ Baldur von Schirach Schriften Henry Fords aus den Zwanziger Jahren zitiert, als Teil des Gründungsmythos der aufstrebenden Nazis. Speziell das von Ford herausgegebene mehrbändige Werk „The International Jew“ hatte u.a. mit den hetzerischen angeblichen „Protokollen der Weisen von Zion“ eine laufende jüdische Weltverschwörung suggeriert und überall bereitliegende bürgerlich-nationale Ängste aktualisiert, übrigens auch in polnischer Übersetzung.

Noch eine Randnotiz der Stadtgeschichte: Ford hatte mit stolzer Brust noch i.J. 1938 den höchsten zivilen deutschen Orden in Empfang genommen, knapp nach Mussolini. Fords in Köln gebaute Lastwagen sollten später zum logistischen Rückgrat eines blutigen Ostfeldzugs zählen. Während der ca. 25 größeren Luftangriffe auf Köln haben die quasi auf dem Präsentierteller am Rhein errichteten Fordwerke allerdings nur erstaunlich geringen Schaden genommen, derweil die Innenstadt verglühte.

Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Der_internationale_Jude
http://www.dinahwilliams.com/hitler-inspired-by-henry-ford/
http://www.fomcc.de/1940.htm

 

(2018/07) 6.2.2018
Kölner Stadt-Anzeiger
BRD vs. DDR; Interview von Maritta Tkalec mit Martin Sabrow „Die DDR war ein Ohn-Rechtsstaat“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 3./4.2.2018, S. 13)

Eine anregende Deutung: Die Achtundsechziger waren das, was den Unterschied zwischen BRD und DDR ausmachte – Bedingung für einen liberalen, weltoffenen deutschen Staat. Und was haben wir heute? West-Eliten und Ostalgiker, die alles das verachten, sitzen in einem Boot; sie grölen, das Boot wäre voll und die Welt könnte sie mal.

 

(2018/06) 1.2.2018
DIE ZEIT, veröffentlicht im Online-Angebot der ZEIT: http://blog.zeit.de/leserbriefe/2018/02/05/1-februar-2018-ausgabe-6/
Menschen- und Tierversuche zu NOX; Ulrich Bahnsen „Quälende Frage“ und Harro Albrecht et al. „Tief durchatmen“ (DIE ZEIT No 6 v. 1.2.2018, S. 1 u. 33f)

In den Siebzigern nutzte ich emsig die Kölner Uni-Bibliothek. Was ich so alles auslieh, das legte man am Tresen – das war ein Service-Paradies! – jeweils in eine feine weiße Plastiktüte. Drinnen im Sackerl wartete schon ein dezenter Gruß des Tütenstifters, des exquisiten VdC nämlich, des damaligen ‚Verbandes der Cigarettenindustrie’. Eine kleine Broschüre, laut derer ich mir um das da noch allgegenwärtige Passivrauchen in Lichthöfen, Bahnen und Kneipen bloß keinen Kopf mehr machen sollte. Denn glaubhafte Studien noch glaubwürdigerer Wissenschaftler hätten alle Warnungen vor gesundheitsschädlichen Folgen als böswillige Panikmache entlarvt, ein für allemal.

Auch unsere Automobilindustrie wollte wohl gerade eine Weiße-Tüten-Kampagne auflegen, für befreites Inhalieren von NOX. Den subjektiven Willen der Wissenschaft, der Politik erleuchtende Entscheidungsgrundlagen zu fertigen, möchte ich nicht in Frage stellen, die objektive Fähigkeit schon eher.

 

(2018/05) 24.1.2018
Kölner Stadt-Anzeiger
Waffenexporte an die Türkei und an kurdische Widerstandskämpfer; Thorsten Knuf „Deutsche Waffen auf beiden Seiten?“ und Damir Fras „Wiederholungen gilt es zu vermeiden“ (KStA v. 24.1.2018, S. 2 u. 4)

Lieferungen an beide Seiten sind noch immer das verlässlichste Geschäftsmodell für den Waffenexport – waren doch deutsche Militaria schon jahrzehntelang Bestseller für die Erbfeinde Türkei und Griechenland, bis zum Bankrott. Und Einsatzbeschränkungen etwa derart, dass man sich damit nur verteidigen dürfe? Heute, da eine Vorwärtsverteidigung seit mehr als einem Jahrzehnt unbeirrt bis zum Hindukusch reicht und wo unsere Verteidigungsministerin statistisch korrekter als Krisenreaktionsministerin firmieren würde, da würde ich mich auf keine Auslegung von „Verteidigung“ oder „Angriff“ mehr verlassen wollen.

Seien wir mal ehrlich. Sowohl unsere Waffenexportpolitik als auch unsere Auslandseinsätze haben bis heute nur diesen verlässlich gedient: Den damit Befassten.

 

(2018/04) 16.1.2018
Kölner Stadt-Anzeiger
Anti-IS-Mission der Bundeswehr; Daniela Vates „Die Bundeswehr soll bleiben“ u. Markus Decker „Elite-Truppe GSG 9 rüstet auf“ (KStA v. 15.1.2018, S. 6 u. v. 16.1.2018, S. 6)

Unsere geschäftsführende Verteidigungsministerin will mit einer anfangs dem Irak gewidmeten Anti-IS-Mission nun Jordanien „langfristig stabilisieren“. Einzelheiten würden „mit den Partnern, in Kabinett und Parlament diskutiert“. Diese Reihenfolge kann man als bloßen Zeitplan, aber mit gleicher Berechtigung als Abstufung der Relevanz interpretieren. Das am verlässlichsten wiederkehrende Argument in den bald 400 parlamentarischen Debatten zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr heißt „Bündnisfähigkeit“; ausnahmslos hat das Parlament alle vom Kabinett bis heute beschlossenen Einsätze abgesegnet.

Leider garantieren Bündnispläne nicht eine ethisch einwandfreie Handlungsweise oder das Einhalten eines Gesetzesvorbehalts, wohl aber das robuste Durchsetzen von Interessen der Akteure und Organisationen. Wenn wir nun insbesondere in den Hauptstädten der Verbündeten noch stärker dem Terror vorbeugen müssen, dann mag man darin auch eine Folge und Rückwirkung raumgreifender Bündnisstrategien erkennen. Es wäre gut, wenn der wann auch immer zu unterschreibende neue Koalitionsvertrag auch eine Passage zur systematischen Analyse der Auslandseinsätze der letzten 20 Jahre enthielte, zu den Zielen, Ressourcen und Erfolgen und zu den teils tödlichen Nebenfolgen.

 

(2018/03) 11.1.2018
DIE ZEIT
Unruhen im Iran; Jörg Lau „Zurückhalten, bitte“ (DIE ZEIT v. 4.1.2018, S. 1)

Es hilft der Prognose, wenn man nicht nur Personen, sondern ganzen Staaten oder gar Regionen wechselnde paranoide Zustände unterstellt – typischerweise intensiv, wenn sich das Gemeinwesen militärisch, ökonomisch und/oder kulturell bedroht und unterwandert fühlt. Oder: Wenn der Kitt schon bröckelt. Die USA etwa waren in den Fünfzigern, die DDR in den Achtzigern stark belastet; beide Staaten bauten an sinnfreien Wagenburgen.

Der Iran lebt mit sehr lebhaften Traumata, insbesondere mit dem i.J. 1953 von MI6 und CIA zugunsten der Anglo-Iranian-Oil-Company aka BP angezettelten Putsch gegen den bürgerlichen (!) Staatspräsidenten Mossadegh. Und mit der Unterstützung des Westens für Saddam Hussein im unfassbar brutalen ersten Golfkrieg ab 1980; dabei soll ein noch heute sehr angesehener Außenpolitiker die Moral zynisch so gefasst haben: „It’s a pity they can’t both lose!“ In der Rückschau haben beide verloren und sie wissen es auch.

Aus meiner Sicht ist im Falle des Iran jede Verschwörungstheorie entschuldigt, wenn nicht gerechtfertigt, und wir täten heute gut daran zu kitten, was zu kitten ist.

 

(2018/02) 10.1.2018
Kölner Stadt-Anzeiger
Minderjährige bei der Bundeswehr; Annika Leister „Lockende Bezahlung“ u. „Mehr Minderjährige Soldaten als je zuvor“ (KStA v.10.1.2018, S. 4 u. 6)

Wenn, dann sollte die Bundeswehr ausschließlich Erwachsenen das Schießen beibringen und am besten erwachsenen Abgeordneten, denn die sollten ja am besten um die realen Einsätze wissen. Tatsächlich gelingt derzeit das Rekrutieren erfahrungsgemäß dort besonders gut, wo Arbeitsmarkt- und Bildungschancen tendenziell gering sind – dort werden auch die Eltern Minderjähriger eher zustimmen. In meinen Augen betreibt der Staat hier eine Art Verleitung zur Prostitution.

Besonders schwer wiegt dabei, dass von allen zulässigen staatlichen Gewaltformen gerade die besonders risikoreichen militärischen Einsätze out of area rechtsstaatlich am geringsten abgesichert sind: Denn der grundsätzlich durch Artikel 19 Grundgesetz verbürgte Gesetzesvorbehalt ist zur Stärkung der Bündnisfähigkeit der Armee richterrechtlich durch den so genannten Parlamentsvorbehalt außer Kraft gesetzt. Und unser Notbehelf, eben der Parlamentsvorbehalt, der ist nach aller Erfahrung ein zahnloser Tiger – jeder der bisherigen 180 Kabinettbeschlüsse zu Auslandseinsätzen wurde von den Abgeordneten bestätigt, vollzählig wie vollständig.

P.S.
Bei Interesse zur signifikanten Korrelation von Rekrutierung und regionaler Arbeitslosigkeit: http://www.vo2s.de/mi_selekt.htm; eine Liste der bisherigen 180 Beschlüsse des Deutschen Bundestages zu Auslandseinsätzen findet sich unter http://www.vo2s.de/mi_missionen.xls

 

(2018/01) 5.1.2018
Kölner Stadt-Anzeiger
konservative Revolution; Daniela Vates: „Ein ideologischer Feldzug“ u. „Alexander Dobrindt ätzt gegen die 68er“ (KStA v. 5.1.2018, S. 4, 5)

So könnte aus 2018 doch noch etwas werden. Im Zuge seiner konservativen Umwälzung wird uns Alexander von Seeon aus erklären, wo heute das Christliche und Soziale der Union verborgen liegen – Werte vielleicht sogar noch jenseits des Monetären. Maß und Barmherzigkeit könnte er uns so lehren. Ein Beispiel: Künftig münzen wir die ca. 200 Milliarden, die eine erschreckend zweckfreie Internationale Raumstation so kostet, um in das Überleben von einigen hunderttausend Kindern aus den globalen Hinterhöfen. Aber: Können wir vom Vater einer wegelagernden Maut eine so ein-bödige Moral erwarten?

 

Und ein paar Sammlerstücke aus früheren Jahren:

 

Die Mutter aller [meiner] Leserbriefe:

29.9.1992
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt 2.10.1992
Militär; Absage der "V 2 - Gedenkfeier" in Peenemünde (KStA. v. 29.9.1992)

Hätten wir am Deutschlandtag die Schöpfer der V 2 hochleben lassen, hätten wir auch die der Scud mitgefeiert. Die Scud ist wie die Mehrzahl der heute weltweit ausgerichteten Trägersysteme legitimer Nachfahre der V 2. Scud und V 2 sind brutale Massenvernichtungswaffen, die unter einem verantwortungslosen Regime bewußt zum Schaden der Zivilbevölkerung eines anderen Landes entwickelt und eingesetzt worden sind.

Demgegenüber ist der vorgebliche Kontext ziviler (!) Raumfahrtforschung, der etwa den jungen Wernher von Braun begeistert und geblendet haben mag, als Begründung eines V 2 - Festes geradezu absurd. Die Forschung hat sich gegen diese Wirtschaftsidee im doppelten Sinne auch ausdrücklich verwahrt.

Der Vorschlag war, wenn auch der count-down schweren Herzens in letzter Sekunde abgebrochen wurde, bereits eine verheerende Wunderwaffe gegen das Ansehen des neuen Deutschland im Ausland und unserer Repräsentanten im Inland.

 

Und der am weitesten gereiste Leserbrief:

22.08.1995
NIKKEI WEEKLY, JAPAN; abgedruckt 28.8.1995
Militärpolitik; Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki; THE NIKKEI WEEKLY of August 14, 1995

I refer to reports on WW II and especially to two letters to the editor printed in THE NIKKEI WEEKLY of August 14, 1995. It is my impression that those two letters offer a unilateral and quite insulting interpretation of the motives behind the drop of atomic bombs onto Hiroshima and Nagasaki fifty years ago (e.g. N. Hale: "a merciful decision"). So I would like to show an alternative view:

It is certainly true that Japanese military leaders commenced the hostilities against the USA. But the Japanese victims at Hiroshima and Nagasaki were in their vast majority civilians. And although they were victims, I am far from sure they were the real addressees of the bombs as well. There is quite a convincing hypothesis: The drop of the bombs in the first place aimed at impressing the counterparts of Truman at the Potsdam Conference of July/August 1945 - Truman, a just invested and still very uneasy-feeling American president. To add: according to now opened American files the Nagasaki bomb was also meant to test a completely redesigned ignition system.

The echoes of that demonstration of power strongly outlived that event. We hear them over and over again – from Iraq, from France, from China etc. So humanity will never forget those victims, even if some wanted to.

 

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