Karl Ulrich Voss, Burscheid: Meine Leserbriefe im Jahr 2019

Stand: Dezember 2019

 

(2019/15) 11.12.2019
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 17.12.2019
Afghanistan; Bericht von Karl Doemens „US-Militär hat Kriegseinsatz beschönigt“ und Kommentar von Damir Fras „Aus Vietnam nichts gelernt“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 10.11.2019, S. 6 und v. 11.12., S. 4)

Es ist schon schlüssig, wenn der amerikanische Präsident bei den Verbündeten vital wachsende Waffen-Etats einfordert. Eine nationale Industrie, die lt. aktuellen SIPRI-Zahlen klar mehr als die Hälfte an weltweit verkaufter Rüstung und militärischer Dienstleistung produziert – das ist ein gewaltiger Organismus und der braucht auf Dauer gesicherte Nahrung. Eher untergeordnet interessieren dagegen offenbar Plan, Ziel und Erfolg der nach 1990 intensivierten robusten Außen- und Sicherheitspolitik. Die Enthüllungen aus amerikanischen Militärkreisen bestätigen es nun nachdrücklich.

Dies kann man aber auch im Inland nachvollziehen: Mit dem dritten Fortschrittsbericht der Bundesregierung zu Afghanistan war im November 2014 zwar Schluss mit den Berichten, nicht aber Schluss mit dem Einsatz. Und der dritte Bericht war schon bereits erstaunlich desillusioniert, gerade was das Stabilisierungsziel anbetrifft. Die so gern beschworene Wertegemeinschaft des Westens führt vielleicht doch zuallererst die materiellen Werte im Schilde.

Quellen:

3. Fortschrittsbericht v. Nov. 2014
https://www.auswaertiges-amt.de/blob/250822/7e778863db3c698185562904e87daea5/141119-fortschrittsbericht-afg-2014-data.pdf

SIPRI-Zahlen 2019:
https://www.sipri.org/sites/default/files/2019-12/1912_fs_top_100_2018.pdf, siehe u.a. S. 4 zu den internationalen Anteilen, speziell USA

 

(2019/14) 10.11.2019
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 19.11.2019
Außen- und Sicherheitspolitik; Bericht u. Kommentar von Daniela Vates „AKK will mehr Soldaten ins Ausland schicken“ bzw. „Im Stadium des Wunschtraums“; Bericht v. Ulrich Steinkohl „Pompeo ruft zum Kampf für Freiheit auf“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 8.11.2019 S. 5 u. 4; Ausgabe v. 9.10.11.2019 S. 6)

Dass wir Waffen kaufen können – oder in dem aktuellen Bild: die Muskeln aufbauen – das will ich schon glauben.

Ob wir allerdings bereits unser Hirn für Analyse und Prognose eingesetzt haben, das bezweifele ich doch nachdrücklich. Wohin wollen wir denn unsere Außen- und Sicherheitspolitik noch hin erweitern? Sie reicht gemäß Weißbuch doch bereits von Pol zu Pol, den Marianengraben vielleicht noch ausgenommen. Und was sind unsere anschlussfähigen Erfolgsmodelle unter den Auslandseinsätzen? Afghanistan? Irak? Libyen? Mali? Somalia? Sudan?

Und wie wollen wir garantieren, dass weitere Einsätze mit scharfem Schuss nicht weitere Fluchtwellen lostreten – wie bisher im Millionenmaßstab vom Balkan, aus dem Nahen und Mittleren Osten oder aus dem Maghreb? Gäbe es Alternativen auch ohne auswärtige Gewalt?

 

(2019/13) 10.11.2019
Süddeutsche Zeitung
Bundeswehr; Kommentar von Mike Szymanski „Im großen Spiel“ (Süddeutsche v. 8.11.2019, S. 4)

Den Aktionsradius der Bundeswehr erweitern? Das hieße wohl, andere Himmelskörper einzubeziehen. Denn entsprechend dem oft und gerne angeführten Struck’schen Diktum können wir ja längst alles überall, unbegrenzt und sogar präventiv und robust verteidigen.

Mehr Verantwortung übernehmen? Verantwortung, das ist aber nicht einfach der mal belohnte, mal frustrierte Mut zum Scheitern – wie in unseren Heldenepen. Rechtsstaatliche Verantwortung hieße, relevante vergangene oder andauernde Geschehensabläufe zu analysieren und zur Grundlage eines rechtssicher definierten künftigen Handelns zu machen, insbesondere bei wahrscheinlicher Auswirkung auf zentrale Menschenrechte.

Vor vielen Jahren schon rief Winfried Nachtwei zur einer für Bürger transparenten Auswertung der Auslandseinsätze auf. Zu Recht, denn erst dies würde demokratische Rechenschaft über die auswärtige Gewalt erlauben und massiven Rechtsverletzungen und Fehlallokationen entgegenwirken. An verantwortlicher Stelle möge endlich jemand auf Herrn Nachtwei hören, etwa nach den vielen tausend Toten in Afghanistan. Und auch wenn es das lukrative große Spiel mit einengenden Spielregeln versehen würde.

Mit militärischen Ambitionen im Umfeld Chinas sollte man zudem einfühlsamer umgehen als unsere Verteidigungsministerin. Selbst kritischeren Chinesen werden sofort zwei Daten ins Gedächtnis gesprungen sein: Der 27.7.1900 und die so genannte Hunnenrede Kaiser Wilhelms II beim Verabschieden des deutschen Expeditions-Chors zum (alliierten) Niederwerfen des Boxer-Aufstandes. Und der 7.5.1999, als im Rahmen der gegen Serbien gerichteten NATO-Operation „Operation Allied Forces“ die chinesische Botschaft in Belgrad von mehreren Raketen getroffen worden war. Es heißt, gerade dieser Vorfall mit Toten und Verletzten hätte die grundsätzliche Umstrukturierung der chinesischen Außen- und Sicherheitspolitik eingeleitet.

Quellen:

Hunnenrede: https://de.wikipedia.org/wiki/Hunnenrede
Auszug: „Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, daß es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!“

Chinesische Botschaft Belgrad: https://de.wikipedia.org/wiki/Bombardierung_der_chinesischen_Botschaft_in_Belgrad

 

(2019/12) 9.11.2019
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 14.11.2019
Wiedervereinigung; Berthold Kohlers Kommentar „Immer noch ein Glück“ (Frankfurter Allgemeine v. 8.11.2019, S. 1)

Ein kleines Gedankenexperiment: Wir postieren uns in der Mitte einer beliebigen ostdeutschen Stadt mit mehr als 10.000 Einwohnern – vielleicht gar in Leipzig, dem Ausgangspunkt der friedlichen Umwälzung. Die Grundstücke und Bauten rund um uns färben wir nun vor unserem geistigen Auge etwas ein: Rot für Eigentümer, die Mitte 1989 noch im Osten gewohnt hatten; Rosa für damalige Dissidenten; Blau für geborene Wessies. Und Lila für diejenigen, die vor 1989 in den Westen „rübergemacht“ hatten.

Nahe um uns herum wäre dann alles blau, mit immerhin deutlichen lila Einlagerungen. Rot wäre höchstens der Horizont und vielleicht gäbe es dort draußen sogar ein paar rosa Sprenkel. Tja: Eigentum und Erbrecht sind, so der hellsichtige österreichisch-amerikanische Nationalökonom Schumpeter, das Festwerden sozialen Erfolges. Eines Erfolges, der jetzt auf Generationen hin zementiert ist. Schlicht weil den lokalen Akteuren für einige entscheidende Monate das spielentscheidende strategische Wissen um Recht, Vernetzung, Organisation, Finanzen und Technologien fehlte. Und natürlich auch das Geld selbst.

Dieses Bild kennt jeder im Osten. Deswegen werden in der Tat mehr Rente, mehr Behörden oder mehr Führungspositionen an Frust und aggressiver Langeweile wenig ändern können, nicht einmal in Jahrzehnten. Was aber zu allen Zeiten verlässlich funktioniert: Sündenböcke hassen zu heißen und das wirkt selbst dann perfekt, wenn dieser Rat im Kern aus dem Westen injiziert ist. Das Glück wird so noch ein wenig Geduld gebrauchen.

 

(2019/11) 9.8.2019
Kölner Stadt-Anzeiger
globaler Wandel; Kommentar von Sonja Fröhlich „Mein Freund, der Baum“ (KStA v. 8.8.2019, S. 2)

Das entschlossene Aufforsten ist für das Weltklima alternativlos, ja! Aber viel mehr Bäume sind gerade nicht die von vielen Politikern herbei geträumte Alternative zu einem fühlbaren Zurückführen unseres zivilisatorischen Stoffwechsels – bei Verkehr & Transport, bei Essgewohnheiten, selbst bei der Kommunikation: Unser Internet verbraucht soviel Energie wie ein ausgewachsener Industriestaat und Serverfarmen etwa würden offshore oder am Polarkreis mehr Sinn machen als in Arizona.

Bemerkenswerte und vor allem erstaunlich frühe Einsichten liefert das Buch von Wolf Schneider und Christoph Fasel „Wie man die Welt rettet und sich trotzdem amüsiert“, von der Mitte der Neunziger Jahre. Noch dazu ist es dank Schneider sehr lesbar.

Angenehmer Nebeneffekt von wegen Essgewohnheiten: Wenn etwa mit Schweinen nicht mehr so viel Geld gemacht wird, dann werden dämliche Kolonialisten-Sprüche vielleicht künftig nicht wieder sofort Massengespräch.

 

(2019/10) 24.7.2019
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 29.7.2019
Bundeswehr-Etat; Kommentar v. Gordon Repinski „Die Frage nach der Verantwortung“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 23.7.2019, S. 4)

Genau um diese Frage geht es, auch für unseren Rechtsstaat: Was soll die Bundeswehr künftig leisten? Die natürlichste Annäherung – für Parlamentarier und ebenso für Bürger – wäre eine öffentliche Evaluation der inzwischen über zwanzigjährigen Historie militärischer Einsätze jenseits der Verteidigung gegen aktuelle militärische Angriffe. Etwa: Welche Einsätze waren gegenüber den ersten Planungen mehr oder weniger erfolgreich? Was waren Erträge, was waren Lasten und was waren neu ausgelöste Risiken? Was förderte unmittelbar eigene Interessen, wo stand der Komment des Bündnisses im Vordergrund?

Die Blaupause für ein solches Audit fehlt leider bis heute, trotz der erheblichen zwischenzeitlichen Kosten und militärischen wie zivilen Opferzahlen; das aktuelle Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr meldet dazu eher kleinlaut: „Es bedarf strategischer Entscheidungen, ob, wann und in welchem Maße sich Deutschland engagiert. Deswegen wird der Ausbau unserer Strategiefähigkeit konsequent weiterverfolgt. Dabei geht es auch um die Entwicklung von Kriterien, die Messbarkeit und Evaluierbarkeit ermöglichen“ (Weißbuch 2016, Nr. 4.1, S. 57; Heraushebung des Autors).

Entwickelt hat sich meines Wissens bisher noch immer nichts. Wäre das nicht eine gute Gelegenheit für alle Parteien, konkrete differenzierte Strategien zum Einsatz auswärtiger Gewalt anzubieten, in bester demokratischer Konkurrenz für eine später oder früher anstehende Wahl?

 

(2019/09) 15.5.2019
Bergischer Volksbote, abgedruckt 16.5.2019
lokale Debatte über eine Rampe zwischen Radweg und Burscheider Hauptstraße (Anhörung am 13.5.2019; Bericht und Kommentar von Jürgen Heimann „Sonst ist die Innenstadt tot“ bzw. „Die Bürger ernst nehmen“ im Bergischen Volksboten v. 15.5.2019, S. 15)

Mit Licht fängt man Motten – Mäuse aber aller Erfahrung nach mit Speck. Ein schlüssiger Nutzen der geplanten Rampe und insbesondere des illuminierten Skywalk ist aber noch gar nicht dargetan – hier war selbst der Verwaltungschef verblüffend verzagt. Die Rampe wird mit ca. 8% Steigung und Gefälle auch nicht so direkt barrierefrei und die Plattform wird eher für Windkraft optimiert sein als für Sonnenschirme. Welchen Konsum wir damit bei Radlern zusätzlich triggern könnten – und bei welchen Waren und Dienstleistungen – das ist weder seriös prognostiziert noch auch nur annehmbar. Rampe plus Skywalk könnten ähnliche Wahrzeichen frustrierter Planungsziele werden wie unsere tristen Blechbäume am Markt: Sie nutzen nicht, sie trösten nicht, aber stehen bleiben sie doch.

Unser städtebauliches Konzept kommt besser ohne Rampe und Plattform aus, und dabei ganz ohne die vom Bürgermeister raunend und dräuend beschworene Lebensgefahr für die Innenstadt. Das Geld wäre besser und konsequenter investiert, würden wir die Balkantrasse im Kernbereich der Stadt beleuchten, etwa zwischen Hallenbad und altem Bahnhof. Dazu würde ich sogar eine Lampe spenden. Versprochen.

 

(2019/08) 14.5.2019
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 21.5.2019
lokale Debatte über Rampe zwischen Radweg und Hauptstraße bzw. zur Anhörung der Bürgerschaft am 13.5.2019

Manche stilisieren unsere Balkantrasse gerne hoch zu einer Art Lebensader der Burscheider Wirtschaft und Kultur. Das kann sie beim besten Willen nicht leisten. Klug geplant könnte sie allerdings dazu beitragen; dann nämlich, wenn wir unseren Fuß- und Radweg mit Augenmaß einbinden, und nicht mit planerischem Aplomb durch Rampe und einen illuminierten Skywalk.

Dazu scheint mir die Anregung eines Burscheider Bürgers bei der Anhörung am 13. Mai höchst bedenkenswert: Keinen steilen und Sackgassen-artigen Stich auf eine Rampe legen – sondern über eine attraktive Spange quer durch die Innenstadt neuen Durchfluss eröffnen. Das würde die existenten höhengleichen Aus- und Einstiege intelligent und barrierefrei aufgreifen und könnte viele gute Angebote greifbar machen, würde vielleicht sogar unseren trostlos-tristen Markt wachküssen.

 

(2019/07) 26.4.2019
Kölner Stadt-Anzeiger
Ökobilanz der E-Mobilität; Frank-Thomas Wenzel „Jetzt die Weichen stellen“ u. „Gutachterstreit um das E-Auto“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 25.4.2019, S. 4 u. 10)

Der aktuelle Forschungsstand lässt auf mittlere Sicht einen kleinen, aber keineswegs revolutionären ökologischen Vorteil von E-Autos erwarten, leider aber auch wieder das Verschieben ernster Probleme in Regionen mit Rohstoffen für Ladungsspeicherung.

Wer nachhaltig und konfliktpräventiv plant, plant besser die Verkehrsverlagerung zugunsten der Bahn oder – noch viel besser – konsequentes Vermeiden von Kraftverkehr. Nützliche Tipps dazu liefert das nach bald 25 Jahren noch immer anregende Buch „Wie man die Welt rettet und sich dabei amüsiert“ von Wolf Schneider und Christoph Fasel. Leider habe ich keinen Hinweis dazu gefunden, ob zeitgenössischen Verkehrsministern mit einem Druckwerk wirklich geholfen wäre.

 

(2019/06) 21.2.2019
Süddeutsche Zeitung
Münchener Sicherheitskonferenz; Kommentar v. Daniel Brössler „Merkels letzter Berg“ und Bericht v. Paul-Anton Krüger / Tobias Matern „Endspiel um Afghanistan“, Süddeutsche v. 18.2.2019, S. 4 u. 5)

Vielleicht braucht es eine französisch-deutsche strategische Kultur, um Probleme eines Umfeldes aus ungewissen Freunden und Feinden aktiv und robust zu lösen. Aber sind denn quälend lange deutsche Selbstbefragungsprozesse, Skrupel beim Waffenexport und eine übergroße moralische Selbstgewissheit wirklich unser Kernproblem? Wenn ich auf den drohenden Showdown in Afghanistan sehe, so ähnelt er verzweifelt dem Problem beim Abbruch von UNOSOM II – Deutschland ist den USA in den Einsatz hinein gefolgt und kam nur mühsam glimpflich wieder heraus.

Wo ist überhaupt eine verlässliche Evaluation der vielen und endlosen robusten Interventionen nach dem Mauerfall? Die Afghanistan-Fortschrittsberichte wurden sang- und klanglos eingestellt, als beim besten Willen Fortschritt nicht mehr erkennbar war. Was haben etwa die Einsätze unserer Verbündeten in Libyen und im Irak gebracht? Okay, Destabilisierung, Fundamentalisierung und großmaßstäbige Migration, das wissen wir. Was aber sind die differenzierten und bilanzierenden „lessons learnt“, ohne die es eine verantwortungsvolle Neuordnung unserer Handlungsoptionen gar nicht geben kann?

Ich meine, unser Problem ist eher: Berechtigte Zweifel an unserer bisherigen militärischen Performanz und nicht zuletzt an wesentlichem Führungspersonal des Westens. Der schlimmste Befund traut sich kaum an die Oberfläche: Heutzutage möchte man unserem transatlantischen Verbündeten sehnlichst einen Außenpolitiker wie Sergej Lawrow wünschen, ausgebufft zwar, aber allem Anschein nach sehr erfahren, hochprofessionell, nüchtern und vertragsorientiert, mit einem Wort: berechenbar.

 

(2019/05) 21.2.2019
Frankfurter Allgemeine
Münchener Sicherheitskonferenz; Leitartikel „Zusammenstehen“ von Klaus-Dieter Frankenberger und gemeinsam mit Peter Carsten „Die große Ratlosigkeit“ (F.A:Z. v. 18.1.2019, S. 1 u. 3)

Es ist richtig, in einer metamorphen Sicherheitslage die Handlungsoptionen zu einer neuen Strategie zu ordnen. Das ist auch keineswegs trivial, wenn wie derzeit die Gemeinheiten unter den Akteuren zunehmen und die Freund-Feind-Schemata bis zur Ratlosigkeit brüchig werden.

Umso wichtiger sind dann Analyse und Bilanz: Was vom Militärischen, was vom Diplomatischen hat uns seit dem Mauerfall Vorteile gebracht? Beim Militärischen – das waren insbesondere die neuen robusten Auslandseinsätze – springt da im Grunde nichts Nachhaltiges ins Auge. Und beim Diplomatischen? Da haben wir schmerzhaft die Wanderungen von Millionen absorbiert – und nun gebe ich der Kanzlerin gerne Recht: Sicherheitspolitisch wiegt das mindestens so schwer wie weitere Rüstung. Man darf sogar einen gedanklichen Schritt weitergehen und die Aufnahme nicht nur parallel, sondern konsekutiv und kausal verknüpft mit  Auslandseinsätzen werten: Peaks der millionenfachen Wanderungen lassen sich korrelieren mit Konflikten, in die wir und unsere Verbündeten robust eingegriffen haben. Nehmen wir die Zahlen, die die auch im Bundestag verbreitete Zeitschrift „Das Parlament“ im September 2015 nannte: Mehr als zwei Drittel der Asylbewerber bis Ende Juli 2015 hatte einen solchen Interventions-Hintergrund und es stammte gar mehr als ein Drittel wieder vom Balkan, dessen wir uns ja gleich zu Beginn der Neunziger Jahre mit einer nun raumgreifenden Außen- und Sicherheitspolitik angenommen hatten.

„Lehrmeister Krieg“ heißt ein bemerkenswertes Buch des verstorbenen Philosophen Karl-Otto Hondrich. Wahrscheinlich hat sich die NATO seit dem Mauerfall noch nicht überlebt. Aber es wäre schlecht, wenn sie zu alt, zu selbstgewiss oder zu erfolgreich wäre dazuzulernen.

Quelle zu den Flüchtlingszahlen aus 2015:
Das Parlament Nr. 38/39 v. 14.9.2015, S. 1, http://www.das-parlament.de/2015/38_39

 

(2019/04) 19.2.2019
Kölner Stadt-Anzeiger
Aufnahme von IS-Kämpfern aus Syrien (Peter Berger „Reul will IS-Kämpfer aufnehmen“ u. Kommentar v. Marina Kormbaki „Eine Frage der Verantwortung“, KStA v. 19.2.2019, S. 1 u. 4)

Einen rauf, Herr Reul! Deutsche Muslime aus Syrien nach Deutschland zurück zu lassen, das ist richtig. Es ist nebenbei politisch richtig mutig, angesichts eines heute schon endemischen Anti-Islamismus. Es ist richtig für die Kinder, die gar keine Wahl hatten, es ist richtig aber auch für irregeleitete Heranwachsende und Erwachsene, selbst bei Verdacht auf Straftaten. Wer wäre eher zuständig, dies zu beurteilen? Und wer wollte die Verantwortung dafür übernehmen, wenn wir diese Menschen draußen ließen und sie in völlig destabilisierten Regionen gelyncht würden?

Und wer unbedingt noch einen eigenen präventiven Nutzen darin suchen will: Intensiver belehrte Zeitzeugen gegen eine extremistische oder utopisch-religiöse Verführung wird man nirgendwo finden. Zur Übernahme von Verantwortung würde im Übrigen ebenso gehören, nach einem Abzug deutscher Soldaten aus Kriegs- und Krisengebieten diejenigen Ortskräfte in Deutschland aufzunehmen, die vor Ort Deutschland gedient haben – etwa in Afghanistan. Eigentlich sollte das selbstverständlich sein.

 

(2019/03) 4.2.2019
Kölner Stadt-Anzeiger
zu Tobias Peters Beitrag „BDA: Mindestlohn bei Azubis ein Fehler“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 4.2.2019, S. 5) der nachfolgende Leserbrief:

Die Ausbildungsvergütung sei „nur ein Zuschuss zum Lebensunterhalt“, so die Deutschen Arbeitgeberverbände. Das ist eine arg verkürzende, interessengeleitete Rhetorik. Unsere feste höchstrichterliche Rechtsprechung pocht dagegen auf zwei weitere wesentliche Funktionen, nämlich zweitens auf die faire Gegenleistung für geldwerte Arbeit der Auszubildenden und als dritte Komponente auf die – ganz eigennützige – Heranbildung qualifizierten Nachwuchses.

Noch ein kleiner Blick über den Tellerrand: In Deutschland feiern sich Ausbildende und speziell Wirtschaftsverbände gerne als Wohltäter einer beschäftigungssuchenden Jugend. Die Schweiz hat ihre betriebliche Berufsausbildung zu einem selbstverständlichen integralen Teil des Qualifizierungssystems geformt, als potenzielles Element praktisch eines jeden Berufsweges. Und wie sehen die Schweizer Unternehmen ihre Ausbildungsbereiche an? Nach dem Ergebnis wiederholter Befragungen und Studien als unbestrittenen betriebswirtschaftlichen Aktivposten, als Gewinn vor Ort. Wer hat’s erfunden?

Quellen:
Bundesarbeitsgericht (BAG) 16. Juli 2013 - 9 AZR 784/11 - Rn. 12 mwN
= https://juris.bundesarbeitsgericht.de/zweitesformat/bag/2015/2015-01-23/9_AZR_784-11.pdf
siehe auch
BAG 17. März 2015, Az. 9 AZR 732/13 - Rn. 13, 20, 21 mwN = https://juris.bundesarbeitsgericht.de/zweitesformat/bag/2015/2015-06-24/9_AZR_732-13.pdf

 

(2019/02) 22.1.2019
Kölner Stadt-Anzeiger
Iran-Boykott; Notiz „Berlin fährt harten Kurs gegen den Iran“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 22.1.2019, S. 6)

Interessante Begründung für den Entzug der Start- und Landerechte einer iranischen Luftlinie – der Transport von Material und Personen in Krisengebiete bzw. Spionage-Aktivitäten des Sitzlandes in der Bundesrepublik. Jedenfalls genügt das nicht dem Anspruch des kategorischen Imperativs. Denn bei genereller Geltung dieser Faktoren würde unsere Republik aeronautisch in die Zeit vor den Gebrüdern Wright, vor Otto Lilienthal, ja sogar vor den Frères Mongolfier zurück katapultiert.

Nun mag man noch rätseln, ob die Bundesregierung hier willkürlich oder eher liebedienerisch unterwegs ist. Beruhigen kann mich keins von beiden.  

 

(2019/01) 9.1.2019
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 14.1.2019
Datenskandal; Markus Deckers Analyse „Was, wenn Profis ans Werk gingen?“ (KStA v. 9.1.2019, S. 4)

Wenn Profis ans Werk gingen? Da braucht es wohl kein Wenn und Wäre. Profis beim Beschaffen und Auswerten von Daten verfahren an jedem Punkt dieser Erde nach der Devise „Ein Gentleman genießt und schweigt“, egal ob Profis bei den Diensten oder in der Wirtschaft. Ihr Wissen hat Wert nur, wenn wir nicht darum wissen.

Aber vielleicht nutzt es, wenn sich einige Vorbilder öffentliche Gedanken über die nahe Zukunft machen – über den Mehrwert kompromissloser Digitalisierung und wem sie am wahrscheinlichsten nutzt.

 

Und ein paar Sammlerstücke aus früheren Jahren:

 

Die Mutter aller [meiner] Leserbriefe:

29.9.1992
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt 2.10.1992
Militär; Absage der "V 2 - Gedenkfeier" in Peenemünde (KStA. v. 29.9.1992)

Hätten wir am Deutschlandtag die Schöpfer der V 2 hochleben lassen, hätten wir auch die der Scud mitgefeiert. Die Scud ist wie die Mehrzahl der heute weltweit ausgerichteten Trägersysteme legitimer Nachfahre der V 2. Scud und V 2 sind brutale Massenvernichtungswaffen, die unter einem verantwortungslosen Regime bewußt zum Schaden der Zivilbevölkerung eines anderen Landes entwickelt und eingesetzt worden sind.

Demgegenüber ist der vorgebliche Kontext ziviler (!) Raumfahrtforschung, der etwa den jungen Wernher von Braun begeistert und geblendet haben mag, als Begründung eines V 2 - Festes geradezu absurd. Die Forschung hat sich gegen diese Wirtschaftsidee im doppelten Sinne auch ausdrücklich verwahrt.

Der Vorschlag war, wenn auch der count-down schweren Herzens in letzter Sekunde abgebrochen wurde, bereits eine verheerende Wunderwaffe gegen das Ansehen des neuen Deutschland im Ausland und unserer Repräsentanten im Inland.

 

Und der am weitesten gereiste Leserbrief:

22.08.1995
NIKKEI WEEKLY, JAPAN; abgedruckt 28.8.1995
Militärpolitik; Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki; THE NIKKEI WEEKLY of August 14, 1995

I refer to reports on WW II and especially to two letters to the editor printed in THE NIKKEI WEEKLY of August 14, 1995. It is my impression that those two letters offer a unilateral and quite insulting interpretation of the motives behind the drop of atomic bombs onto Hiroshima and Nagasaki fifty years ago (e.g. N. Hale: "a merciful decision"). So I would like to show an alternative view:

It is certainly true that Japanese military leaders commenced the hostilities against the USA. But the Japanese victims at Hiroshima and Nagasaki were in their vast majority civilians. And although they were victims, I am far from sure they were the real addressees of the bombs as well. There is quite a convincing hypothesis: The drop of the bombs in the first place aimed at impressing the counterparts of Truman at the Potsdam Conference of July/August 1945 - Truman, a just invested and still very uneasy-feeling American president. To add: according to now opened American files the Nagasaki bomb was also meant to test a completely redesigned ignition system.

The echoes of that demonstration of power strongly outlived that event. We hear them over and over again – from Iraq, from France, from China etc. So humanity will never forget those victims, even if some wanted to.

 

Weitere Leserbriefe
2018 / 2017 / 2016 / 2015 / 2014 / 2013 / 2012 / 2011 / 2010 /
2009 / 2008 / 2007
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1999
/ 1998 / 1997 / 1996 / 1995 / 1994 / 1993 / 1992
oder auch ein paar Briefe für Englisch-sprachige Medien.

Oder meine >100 Leserbriefe, die zum Thema Außen- und Sicherheitspolitik, Auslandseinsätze bzw. „out of area“ veröffentlicht worden sind.

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