Karl Ulrich
Voss, Burscheid: Meine Leserbriefe im Jahr 2020
Stand: Januar
2021
(2020/32)
29.12.2020
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 5.1.2021
Kampfdrohnen; Interview von Andreas Niesmann
mit Rolf Mützenich über eine gesellschaftliche Debatte zu Kampfdrohnen (Kölner
Stadt-Anzeiger v. 28.12.2020, S. 8)
Es gibt einen sehr praktischen Aspekt beim
Einsatz von Kampfdrohnen. Man könnte es nennen: den „Stinkefinger-Effekt“.
Diese Drohnen sind die Botschaft an alle Aufständischen dieser Welt: „Seht her
– wir tun das, weil wir's können. Ohne Risiko für uns!“
Was macht dann ein aufgebrachter
Aufständischer, früher oder später? Er sprengt Weihnachtsmärkte mit Wählern in
die Luft. Weil er ja die Hersteller, Generäle,
Soldaten und Abgeordneten nicht unmittelbar erreichen kann. So wenig wie
Churchill einen Hitler und dessen V2 erreichen konnte. Und dann bin ich wieder
bei Herrn Mützenich: Wir sollten sehr intensiv darüber sprechen: Ob wir das
wirklich wollen.
(2020/31) 25.11.2020
Kölner Stadt-Anzeiger
zum Artikel von Jan Sting „Kurzes Leben der Glasbäume“ (Ausgabe Rhein-Wupper v.
21./22.11.2020, S. 32)
Unser
Stadtbild gewinnt, wenn alle Makrolon-Schirme gefallen sind. Den angepeilten
mediterranen Flair und Charme haben sie nie versprüht. Sie taugten nicht gegen
Regen, nicht gegen Sonne und haben den Blick auf eine der schönsten Burscheider
Häuserzeilen verstellt.
Ein
kurzes Leben, in der Tat. Vielleicht aber können wir Teile davon recyclen, etwa
an der Rampen-Kanzel. Mit einer kleinen Denkmalplakette, als stumme Mahnung für
die nächsten 100 Jahre.
(2020/30) 13.11.2020
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT: https://blog.zeit.de/leserbriefe/2020/11/20/12-november-2020-ausgabe-47/
zum Interview von Jörg Lau mit Ursula
von der Leyen „Das werden wir uns nicht mehr nehmen lassen“ (DIE ZEIT Ausgabe No. 47 v. 12.11.2020, S. 2)
„Nicht mehr nehmen lassen!“ – das fühlt sich
ja an wie ein Akt der Emanzipation, wie das eigentliche Ende der
Nachkriegszeit. Erst Russland und nun die USA, eigentlich ja auch England: Alle
ein Stück weiter weggerückt.
Frankreich, dazumal der unwahrscheinlichste
Partner, Frankreich bleibt nahe. Zu hoffen ist nur: Ursula von der Leyen behält
Recht mit dem Vorrang von Investition vor Intervention. Wir machen also nicht
einfach weiter mit lange enttäuschten Instrumenten wie ISAF und Consorten. Sondern wir werten die war theaters
der letzten Jahrzehnte gemeinsam nach Kosten, Nutzen und Schäden aus. Will
sagen: Wir sind bereit, neu und diesmal ziviler zu gestalten.
(2020/29) 5.11.2020
Süddeutsche Zeitung
US-Wahl, Kommentar von Daniel Brössler „Zeit, endlich
aufzuwachen“, Süddeutsche v. 5.11.2020, S. 4)
Richtig:
Ganz unabhängig vom Ausgang des amerikanischen Dramas, sogar gerade wegen
dieser desaströsen Vorstellung ist ernstes Nachdenken notwendig. Wie will
Deutschland denn nun sein spezifisches Geschäftsmodell weiterführen?
Es ähnelt
gerade dem Auszug aus dem Elternhaus, der emancipatio:
Die Eltern verlieren Interesse am Erziehen des Nachwuchses, besinnen sich
zunehmend auf sich selbst und die Kinder sehen Chancen und Risiken des Lebens
auf eigenen Beinen. Sie werden ihre Ressourcen prüfen, etwa auch untersuchen,
ob sich die Sicherungssysteme der Älteren bewährt haben und was die Kosten
sind.
Genau das
ist lange überfällig – etwa auch die Komponenten unserer militärischen
Sicherheit nach den Erfahrungen der letzten 30 Jahre auf Nutzen und Lasten zu
prüfen. Und nicht etwa blindlings die zu einem maßgeblichen Teil gescheiterten
amerikanischen Ansätze zu kopieren und zu wiederholen. Insofern eröffnet klug
genutzte Verantwortung auch neue Wege.
(2020/28) 5.11.2020
Frankfurter Allgemeine
zur US-Wahl, Leitartikel von Berthold Kohler „Trump bleibt sich treu“,
Frankfurter Allgemeine v. 5.11.2020, S. 1)
Man mag
inzwischen mit dem Gedanken leben können, dass China besser aus einer Pandemie
herausfindet als westliche Länder. Aber dass der Spitzenmann einer leitenden
Demokratie alle Register zieht, um gegnerische Wahlstimmen zu neutralisieren,
das kündigt in der Tat schwere Zeiten für unsere politische Lebensform an. Wenn
Trump sich treu bleibt und dennoch mehr Stimmen als je zuvor erntet, dann lässt
das die Freunde frösteln und die Feinde auf die Schenkel klopfen.
(2020/27) 5.11.2020
US-Wahl, Leitartikel von Eva Quadbeck „Amerika in
Aufruhr“ (Ausgabe v. 5.11.2020, S. 4) der nachfolgende Leserbrief:
Das
Wahl-Drama rührt leider nicht nur die USA auf. Wenn sich die Vereinigten
Staaten mit einigem Recht als die Welt-führende Nation nach 1945 verstanden
hatten, als rational handelnd, als offen und integrierend, als in jeder
Hinsicht prosperierend, dann ist das heutige Schmierentheater ein Trauma für
mindestens die Hälfte der Staaten dieser Welt.
(2020/26) 16.10.2020
Kölner Stadt-Anzeiger
Ausrüstung der Bundeswehr; Daniela Vates „Brauchen
wir Kampfdrohnen?“ (Ausgabe v. 16.10.2020, S. 2)
Man
kann es den Verteidigungspolitikern ja nachfühlen: Wenn sie Soldaten in
typischerweise ungewisse und unklar langwierige Kampfeinsätze schicken, dann
sollten diese dafür so gut gewappnet sein wie irgend möglich und vor Verletzung
so gut es geht gefeit. Und zusätzlich könnte die neue Technik auch noch
zielgenauer treffen – die Drohne wäre das oft beschworene ultimativ trennscharfe
Skalpell, dann auch ein wirksamer Schutz der Zivilbevölkerung. Alles gut?
Bei
weitem nicht. Zum einen: Zur Zeit des verheerenden Luftschlags bei Kundus am
4.9.2009 war moderne Drohnentechnologie längst verfügbar, wurde aber wohl in
der Hitze des Gefechts gar nicht erst eingesetzt. Zum Zweiten: In der
derzeitigen Debatte fehlt völlig der Versuch, sich in die Perspektive der
anderen Seite hineinzudenken: Speziell die ohnmächtige Wut gegen eine seelenlos
tötende Technologie wird als wirksame Reaktion den terroristischen Gegenschlag
gegen Bürger*innen des eingreifenden Staates nahe legen, die Attacke auf den
weichen Bauch des Gegners. Das ist auch nichts wirklich Neues.
In seinem 1795 erstmals erschienen Traktat „Zum ewigen Frieden“ warnte Kant im
sechsten Präliminar-Artikel vor „ehrlosen
Stratagemen“, die „das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich
machen müssen“. Als Beispiele nannte Kant u.a. den Meuchelmord und die
Giftmischerei. Über heutige Weiterentwicklungen wie das sogenannte „Targeting“
oder "Decapitating" mit „Unmanned Aircraft Systems“ bzw. Kampfdrohnen
hätte er kaum anders geurteilt.
Quelle:
Immanuel Kant, Zum Ewigen Frieden, Reclam-Ausgabe der 2. Aufl. 1796, S. 7
(2020/25) 2.10.2020
Kölner Stadt-Anzeiger
Wiedervereinigung; Interview mit der Bundeskanzlerin zur deutschen Einheit
(Kölner Stadt-Anzeiger v. 2.10.2020, S. 2 u. 3)
Links
des Rheins wird man besonders gut nachfühlen, wie lange es zu einem
Einheitsgefühl brauchen kann: Dort hat man nach 1815 jahrzehntelang den Preußen
misstraut und den Franzosen im Westen nachgetrauert, hat Kinder „Jean“ statt
„Johann“ genannt, hat auch Freiheitsrechte und ein modernes Rechtssystem in die
neue Zeit hinüber gerettet. Im größeren Maßstab haben die Kölner damit das
geschafft, was die Kanzlerin heute bei den Ost-West-vermittelten Frauenrechten
anmerkt. Als weitere und nun sehr negative Parallele der damaligen wie der
heutigen Wende verzeichnen wir einen stramm gewachsenen Nationalismus.
Eines
allerdings unterscheidet sich grundlegend – und das wird unser heutiges
Einheitsgefühl noch viel stärker verzögern: In den vorher französisch
administrierten Gebieten waren die Eliten kontinuierlich intakt geblieben und
letztlich auch die Wirtschaftskraft; sie war sogar in mancher Hinsicht dem
militärisch siegreichen Osten überlegen. Aus Köln ist der Stoßseufzer des
Bankiers Abraham Schaafhausen überliefert: „Jesses,
Marja, Josef! Do hirohde mer
in en ärm Famillich!“
Dagegen waren die Folgen des Beitritts im Jahre 1990 doch eher Landnahme und
Kolonisation; das hält noch mal länger getrennt, gerade in den Köpfen.
Quelle zum Schaafhausen-Zitat im
zweiten Absatz:
Vera Kastner u. Dieter Torunsky, Kleine rheinische
Geschichte, 1987, S. 12, siehe auch https://de.wikipedia.org/wiki/
(2020/24) 18.9.2020
Kölner Stadt-Anzeiger
Kreuzfahrtschiffe für das abgebrannte Flüchtlingslager Moria; Leitartikel „Kein
Schiff wird kommen“ von Matthias Koch (Ausgabe v. 18.9.2020, S. 4)
Da hat
der Merz wohl doch mehr Herz, als die meisten dachten. Oder er hatte sein Herz
hier jedenfalls auf dem richtigen Fleck. Selbst wenn am Ende kein Schiff kommen
wird, dann sind es doch die genial irritierenden Denkansätze wert, die diese
Idee freisetzt: Richtig: Bisherige Hungerleider beim Captain’s Dinner! Aber auch: Es waren gerade die
ersten Kreuzfahrer, die Europas Höhenflug eingeleitet haben. Und: Auftrieb
haben Schiffe nur durch das sie umgebende, von ihnen verdrängte Medium; wir
werden reicher, weil andere ärmer bleiben. Oder: Diese Schiffe sind gestopft
voll mit Dingen, die man früher Kolonialwaren nannte. Nicht zuletzt: Ohne die
fern der Industrieländer geschürften Metalle – speziell Kupfer – kämen die
Schiffe zwischen ihren ungezählten Stippvisiten keinen Zentimeter vorwärts,
kein Ofen würde warm, kein Kühlschrank bliebe kalt, kein Wasser sprühte aus der
Dusche, kein einziges Licht würde leuchten und aus den tausend Lautsprechern
käme kein noch so zarter Ton.
Hier
hätte man ein wenig zurückgeben können. Aber vielleicht findet sich ja noch ein
edler Spender, etwa der Albrecht-, Quandt- oder Plattner-Klasse.
(2020/23)
3.9.2020
Kölner Stadt-Anzeiger
FDP; Bericht von Carsten Fiedler und Gerhard Voogt
„Lindner will Impfstoff-Gesetz“ und zum Interview von Sarah Brasack,
Carsten Fiedler, Joachim Frank, Gerhard Voogt und
Wolfgang Wagner mit Christian Lindner „Der Gedanke der Freiheit ist in der
Defensive“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 2.9.2020,S. 1 u. 7)
Lindner
drängt es nicht nach vorne. Es ist die Mediendemokratie. Hier sieht man es
wieder plastisch, auf zwei prominenten Seiten des Stadt-Anzeigers. Mit fünf
ausgewachsenen Redakteuren hat man ihn aufs Podest gezerrt und - halb zog man
ihn, halb sank er hin - unter dem traditionsreichen Kölner Logo gleich mehrfach
in Bild und Wort gesetzt.
„Freiheit“,
lieber Herr Lindner, leidet heute an selbstverliebten, hedonistischen
Auslegungen und an unreflektierten globalen Krisen in der Folge. Und die
Freiheiten der Bürger stehen leider lange nicht mehr wahrnehmbar vorn auf der
Agenda der Freien Demokraten; vielleicht haben Wähler genau das instinktsicher
bemerkt.
(2020/22) 20.8.2020
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 25.8.2020
FDP; Interview mit der stellvertretenden FDP-Bundesvorsitzenden Katja Suding
„Regierung hält totgerittene Branche am Leben“ (Ausgabe v. 19.8.2020, S. 7)
Was
bitte ist denn der Unterschied zwischen Großflugzeugen und Großveranstaltungen?
Gerade bei Letzteren will es Herrn Lindners Vertreterin ja
nun lockerer angehen lassen. Und wenn Herr Lindner „seinen“
Generalsekretär vorschlagen kann, darf er den daraufhin Gewählten dann auch
jederzeit nach Lust und Laune wieder weghauen? Respekt vor innerparteilicher
Demokratie sähe anders aus. Könnte man die derzeitige Randständigkeit der
Freien ggf. an der flutschig-feschen Art ihres
Vorsitzenden festmachen? Vielleicht ist ganz vorne
etwas lange totgeritten.
(2020/21) 9.8.2020
DIE ZEIT
Hiroshima und Nagasaki; Bericht von Catarina Lobenstein ('Fat
Mans' giftiges Erbe; DIE ZEIT No. 33 v. 6.8.2020, S.
15)
Diese
„vorsätzliche Blindheit“, die hätte Donald Trump auch direkt vom
Manhattan-Projekt lernen können. Trumps Vorgänger Harry S. Truman etwa schreibt
am 15.7.1945 in sein Tagebuch – es ist exakt das Datum des militärischen
Einsatzbefehls gegen Hiroshima, Kokura, Nijata und Nagasaki: „Ich habe Kriegsminister Stimson
gesagt, die Waffe so einzusetzen, dass militärische Objekte und Soldaten und
Seemänner das Ziel sind und nicht Frauen und Kinder. … Da sind wir einig. Das
Ziel wird ein rein militärisches Ziel sein.“ Übrigens wird der Präsident
nach Hiroshima und vor Nagasaki nicht etwa erneut eingeschaltet; er will es
offenbar auch gar nicht.
Und bei einer
Anhörung im September 1945 vor einem Senats-Komitee zur Atomenergie wird der militärische
Kopf des Manhattan-Projekts, General Leslie R. Groves, zu den Folgen
radioaktiver Verstrahlung ebenso treuherzig wie abwiegelnd versichern: Abhängig
von der Dosis müsse man drei Gruppen unterscheiden: Die einen würden sofort
sterben; bei geringerer Bestrahlung würde man ziemlich schnell sterben, aber
nach Einschätzung der Mediziner ohne unnötige Schmerzen; wörtlich hier: „Tatsächlich
sagen sie, es wäre ein sehr angenehmer Tod.“ Bei den verbleibenden leichten
Verletzungen könne es zwar einige Zeit bis zur Heilung brauchen, aber am Ende
könnten die Betroffenen auch geheilt werden.
Tatsächlich aber
gibt es zur damaligen Zeit bereits konkrete Warnungen zu den Folgen ionisierender
Strahlung, etwa wegen der bedauernswerten „Radium Girls“ oder „Dial Girls“, die Armaturen mit nachtleuchtender
radioaktiver Farbe bemalt hatten, oder wegen sehr kritischer Verläufe bei
einigen Roentgen-Pionieren. Die Arbeitsabläufe des Manhattan-Projekts sind denn
bereits am Stand der medizinischen Forschung orientiert und nach den bekannten
Fallzahlen auch vergleichsweise sicher. Bei der Zielplanung schließlich sorgt
man sich konkret - und ausschließlich - um die radioaktiven Risiken der Bombercrews
und späterer Besatzungstruppen. Über den Wissensstand der politischen Ebene mag
man streiten. Aber sicher ist: Hätte sie es interessiert, sie hätten es wissen
können und sie hätten es wissen müssen. In einem unterscheidet sich Groves
allerdings von Trump. Groves bekam nachträglich einen Heidenschrecken. Nun
nicht wegen der japanischen Opfer, sondern wegen des nun nicht mehr
korrigierbaren Ansehensschadens für die USA. Selbst von dieser limitierten
Einsicht ist Trump noch weit entfernt.
Quellen:
Einsatzbefehl v. 25. Juli 1945
https://www.osti.gov/opennet/
Tagebucheintrag von
Harry S. Truman am Tag der Ausfertigung des Einsatzbefehls, siehe https://en.wikipedia.org/wiki/
“This weapon is to be used against
Groves’ Aussage vor dem Special Senate
Committee on Atomic Energy, November 1945, siehe Protokollauszug
unter http://blog.nuclearsecrecy.
“Senator Milliken:
General, is there any medical antidote to excessive radiation?
General Groves:
I am not a doctor, but I will answer it anyway. The radioactive casualty can be
of several classes. He can have enough so that he will be killed instantly. He
can have a smaller amount which will cause him to die rather soon, and as I
understand from the doctors, without undue suffering. In fact, they say
it is a very pleasant way to die. Then, we get down below that to the man
who is injured slightly, and he may take some time to be healed, but he can be
healed.”
Sean Malloy “
https://www.researchgate.net/
(2020/20) 8.8.2020
Süddeutsche Zeitung
Hiroshima und Nagasaki; Kommentar von Hubertus Wetzel, „Der Schrecken bleibt“
(Süddeutsche v. 7.8.2020, S. 8)
Der Schrecken bleibt aus den vielen Gründen, die gegen
Hiroshima und Nagasaki gewirkt haben: Die Geostrategen wollten den Krieg mit
einem an Russland adressierten präventiven Paukenschlag beenden. Die Regierung
wollte dem Parlament einen Verwendungsnachweis für knapp 2 Milliarden Dollar
liefern. Die Uran- und die Plutonium-Fraktion des Manhattan Projekts brauchten
einen fairen Wettbewerb; oder auch: jede wollten ihren Praxistest unter realen
Einsatzbedingungen. Die Rüstungswirtschaft wollte einen konjunkturunabhängigen
Markt. Eisenhower – selbst erfahrener Militär und erklärter Gegner des
Atombombeneinsatzes – hat die Problematik in seiner späteren Abschiedsrede als
Präsident mahnend angesprochen.
Eine kleine Hoffnung besteht: 1944/45 wirkte in den USA auch
noch eine massiv antijapanische Stimmung der Öffentlichkeit mit – signifikante
13% der Bevölkerung wollten die Japaner insgesamt ausgelöscht sehen. Die
Japaner werden zur gleichen Zeit kaum besser über die Amerikaner gedacht haben.
Solange solche Feindbilder verhindert werden können, werden die zuvor genannten
partikulären Motivlagen schwerer durchsetzbar bleiben.
Quelle zum zweiten
Absatz
https://en.wikipedia.org/wiki/
Auszug:
A 1944 opinion poll found that 13% of the
(2020/19) 6.8.2020
Kölner Stadt-Anzeiger
Hiroshima und Nagasaki; Bericht von Harald Biskup „Die Apokalypse von
Hiroshima“ (Ausgabe v. 5.8.2020, S. 2)
Wenn der nukleare Angriff auf Hiroshima grausam war, dann ist
Nagasaki umso fragwürdiger. Denn dieser Abwurf läuft nun völlig mechanisch ohne
neue Willensbildung des Präsidenten ab, schlicht auf der Basis des nämlichen
Befehls vom 25. Juli 1945. Den hatte General Leslie R. Groves, der militärische
Kopf des Manhattan-Projekts, selbst entworfen und er ließ für vier zunächst
priorisierte Ziele weitestgehend freie Hand: Hiroshima, Kokura,
Nijata und eben Nagasaki. Nagasaki war erst in
allerletzter Minute in die Zielliste nachgerückt; denn Kriegsminister Stimson
hatte fürsorglich Einspruch eingelegt gegen die Wahl der traditionsreichen
Kaiserstadt Kyoto, die Groves wegen des demoralisierenden Potenzials bevorzugt
hatte. In Kyoto aber hat Stimson vor Jahren beglückende Flitterwochen erlebt.
Das bei der zweiten Mission zunächst angeflogene Kokura bleibt wegen schlechter Sicht verschont und das
einzige Ziel vor einem erfolglosen Rückflug bzw. vor dem Abwerfen der kostbaren
Fracht über See bleibt Nagasaki. Die Industrie- und Hafenstadt wird dann der
Feldtest und Praxisvergleich für die konkurrierende zweite Entwicklungslinie
des Manhattan-Projekts, für die Plutonium-Bombe. Diese hatte man zwar schon
testweise in der leeren Wüste von Alamogordo, aber
eben noch nicht gegen eine unzerstörte Stadt eingesetzt. Wieder trifft es viele
zehntausend Zivilisten, die sofort oder in einem jahrzehntelangen Martyrium
sterben, praktisch keine Militärs. In einer Anhörung des Special Senate
Committee on Atomic Energy im gleichen November wird
General Groves zu den Folgen nuklearer Verstrahlung treuherzig bemerken „In fact, they say
it is a very
pleasant way to die.“ Präsident Truman hat am Tage des genannten
Abwurfbefehls in seinem Tagebuch notiert, vorsorglich vielleicht für eine
spätere Geschichtsschreibung: „I have told the Sec. of
War, Mr. Stimson, to use it so that military
objectives and soldiers and
sailors are the target and not women and children. … The target will be a purely military one.“ Da hatte er seine Rechnung offenbar ohne das
Militär gemacht.
Quellen:
Einsatzbefehl v. 25. Juli 1945
https://www.osti.gov/opennet/
Groves’ Aussage vor dem Special Senate Committee on Atomic Energy, November 1945,
siehe Protokollauszug unter http://blog.nuclearsecrecy.
“Senator Milliken. General, is there any medical antidote to
excessive radiation?
General Groves. I am not a doctor, but I will answer it
anyway. The radioactive casualty can be of several classes. He can have enough
so that he will be killed instantly. He can have a smaller amount which will
cause him to die rather soon, and as I understand from the doctors, without
undue suffering. In fact, they say it is a very pleasant way to die.
Then, we get down below that to the man who is injured slightly, and he may
take some time to be healed, but he can be healed.”
Tagebucheintrag von Harry S. Truman am Tag der Ausfertigung des Einsatzbefehls, i.e. am
25.7.1945 in Potsdam, siehe https://en.wikipedia.org/wiki/
“This weapon is to be used against
(2020/18)
25.7.2020
Süddeutsche Zeitung
Deutschlandjahr der Bundeswehr; Mike Szymanski „Freiwillige vor“ (Süddeutsche
v. 24.7.2020)
Geschichte
reimt sich bisweilen, sagt Mark Twain. Bei der deutschen Wiederbewaffnung i.J.
1955 ging es auch darum, die in Korea gebundenen Amerikaner bei der
Standortbewachung in Deutschland zu entlasten. Und das gerade vorgeschlagenen
Freiwilligenjahr könnte ebenso erleichtern, nämlich die nun ebenfalls „out of area“ engagierte Bundeswehr bei den eher
niedrigschwelligen Aufgaben daheim, etwa beim Sichern kritischer Infrastruktur.
Zudem könnte eine eher zivile Arbeitsplatzbeschreibung mehr bürgerliche Mitte
für die Truppe anwärmen, ihr gleichzeitig einen Art zivilen Tarnfleck auf den
Leib schneidern. Alles gut also?
Nein.
Die entscheidende Lebenslüge wird damit nicht ausgeräumt: Robuste und nur vage
definierte Militär-Aufgaben in aller Welt, die brauchen einen Vorrat robuster
Typen und sie werden diese weiter anziehen. Darum wäre eine aufgabenkritische
Herangehensweise, die die kaum noch zu ordnende Vielfalt der letzten 25
Einsatzjahre nach Erfolgen und Misserfolgen verliest und danach das Portfolio
der Bundeswehr konsensfähig zurückschneidet, der nachhaltigere Ansatz. Nur beim
Beschränken auf militärische Kernkompetenzen und auf das erfahrungsgemäß
Machbare ließe sich auch das Problem endloser und letztlich orientierungsloser
Beschaffungs-Runden lindern, wenn nicht sogar lösen. Neue personelle
Ausstülpungen wie das Deutschlandjahr führen nicht erkennbar weiter.
(2020/17)
24.7.2020
Kölner Stadt-Anzeiger
Deutschlandjahr der Bundeswehr; Matthias Koch „Neues Verständnis vom Dienst“ u.
Juliane Schultz „Bundeswehr sucht Freiwillige vor Ort“ (Ausgabe v. 24.7.2020,
S. 4 u. 5)
Logisch ist die Initiative der Verteidigungsministerin
schon: Wer wieder Bürgersöhne und -töchter für die Truppe anwärmen will, wer
insbesondere ihre Eltern überzeugen will, der wird heute nur mit einer
abgespeckten Aufgabe Erfolg haben. Die robusten, weltweiten und damit schlecht
kalkulierbaren Aufgaben brauchten, suchten und fanden dagegen eher einen
anderen Soldaten – den sehr robusten und bisweilen eben skandalträchtigen
Typus.
Darum bleibt der aktuelle Vorstoß
aber auch an der Oberfläche, sei er noch so gemeinschaftsbildend. Als Türöffner
effizienter, auch demokratisch wirksamer wäre: Wir evaluieren die Einsätze der
Bundeswehr der letzten 25 Jahre noch vor der Wahl offen nach Nutzen und Lasten,
und dann taillieren wir das gesamte militärische Aufgabenportfolio nach
Kräften. Eine Pflicht zum regelmäßigen Nachverfolgen von Einsatz-Zielen ist
nicht einmal utopisch; sie fand sich sogar schon einmal in dem Gesetzentwurf
der Bundesregierung vom 26.1.2016 gemäß der Drucksache 18/7360. Leider ist
dieses lobenswerte Werkzeug dann aber versandet, sprich der Diskontinuität zum
Opfer gefallen und bisher nicht wieder aufgegriffen worden.
Quelle zu Abs. 2 am Ende:
Drucksache: https://dip21.bundestag.de/
parl. Geschichte: http://dipbt.bundestag.de/
Anm.: Auch das aktuelle Weißbuch
v. 13.7.2016 erwähnt den Evaluationsansatz noch unter 4.1. (S. 57 oben),
allerdings nur als vage Ankündigung, s. https://www.bmvg.de/resource/
(2020/16) 11.7.2020
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT: https://blog.zeit.de/leserbriefe/2020/07/17/9-juli-2020-ausgabe-29/
Debatte um KSK und Wehrpflicht; Leitartikel von Peter Dausend
„Braucht keiner“ (DIE ZEIT No. 29 v. 9.7.2020, S. 1)
Völlig richtig: Wehrpflicht oder nicht, das
kann bei den Elitesoldaten nichts unmittelbar ändern. Ganz allgemein aber gilt
auf dem Beschäftigungsmarkt, an dem mit Wohl und Wehe auch die Bundeswehr
teilnimmt: Die Arbeitsplatzbeschreibung definiert das Bewerberfeld. Wagemutige
Aufgaben brauchen, suchen und finden einen robusten Bewerbertypus. 1993, als
sich Einsätze „out of area“
abzeichneten, untersuchte das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr
den weltanschaulichen Querschnitt des künftigen Nachwuchses. Die Studie dazu
warnte dann vor zunehmender Attraktivität „für junge Männer, die den
demokratischen Zielen kaum oder gar nicht verbunden sind“, vor Bewerbern, die
in die Bundeswehr drängen, um eine aus ihrer Sicht zu wenig autoritäre, zu
„lasche“ Führung „zu ändern“. Alles dies „auch und gerade“ unter den
potenziellen Freiwilligen und dies wäre bei einem „eventuellen Übergang zum
Freiwilligensystem“ besonders im Auge zu behalten. Das Papier forderte
vorsorglich auch die Dienstaufsicht auf, „Gruppen mit homogener
Rechtsorientierung“ vorzubeugen. Der heutige Befund ist geeignet, die Prognose
in weiten Teilen zu bestätigen.
Wir sollten zur bisherigen Außen- und
Sicherheitspolitik – auch insoweit Zustimmung zum Leitartikel – endlich die
Sinnfrage stellen. Das führt übrigens auch zu versteckten trade-offs einer
Dienstpflicht: Der wehrpflichtige grüne Offizier Winfried Nachtwei
fordert seit langem eine systematische Evaluation der Auslandseinsätze. Diesen
kritisch prüfenden Blick, den braucht jede Partei. Gerade wenn wir der
Bundeswehr und ihrer inneren Führung nun ein betont rechtsstaatliches Rückgrat
geben wollen. Am besten gleich eines nach Art. 19 GG, so wie es das BVerfG
kürzlich zum BND klar gemacht hat.
Quellen:
(Zu Abs. 1 des Leserbriefs)
Heinz-Ulrich Kohr, „Rechts zur
Bundeswehr, links zum Zivildienst. Orientierungsmuster von Heranwachsenden in
den Alten und Neuen Bundesländern“, SOWI-Arbeitspapier Nr. 77; München, März
1993: die Zitate stammen aus der Zusammenfassung unter 6.4 und 7. der Studie,
daselbst S. 25ff; Link: http://www.mgfa.de/html/einsatzunterstuetzung/downloads/ap077.pdf?PHPSESSID
(Zu Abs. 2 am Ende; Hervorhebungen in
den Urteilsgründen von mir)
BND-Urteil des Ersten Senats des BVerfG vom 19.
Mai 2020 - 1 BvR 2835/17 - https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/05/rs20200519_1bvr283517.html
(Rn. 88) Art. 1 Abs.
3 GG begründet eine umfassende Bindung der deutschen Staatsgewalt an die
Grundrechte des Grundgesetzes. Einschränkende Anforderungen, die die
Grundrechtsbindung von einem territorialen Bezug zum Bundesgebiet oder
der Ausübung spezifischer Hoheitsbefugnisse abhängig machen, lassen sich
der Vorschrift nicht entnehmen. …
(91) Die Grundrechte binden die staatliche
Gewalt vielmehr umfassend und insgesamt, unabhängig von bestimmten Funktionen,
Handlungsformen oder Gegenständen staatlicher Aufgabenwahrnehmung (vgl. Hölscheidt, Jura 2017, S. 148 <150 f.>). Das
Verständnis der staatlichen Gewalt ist dabei weit zu fassen und erstreckt sich nicht
nur auf imperative Maßnahmen oder solche, die durch Hoheitsbefugnisse
unterlegt sind. Alle Entscheidungen, die auf den jeweiligen staatlichen
Entscheidungsebenen den Anspruch erheben können, autorisiert im Namen aller
Bürgerinnen und Bürger getroffen zu werden, sind von der Grundrechtsbindung
erfasst. …
(94) In Art. 1 Abs. 2 GG bekennt sich das
Grundgesetz zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als
Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit
in der Welt. Die Grundrechte des Grundgesetzes werden so in den Zusammenhang
internationaler Menschenrechtsgewährleistungen gestellt, die über die
Staatsgrenzen hinweg auf einen Schutz abzielen, der dem Menschen als Menschen
gilt. Entsprechend schließen Art. 1 Abs. 2 und Art. 1 Abs. 3 GG an die
Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG an. In Anknüpfung an diese im Ansatz
universalistische Einbindung des Grundrechtsschutzes trifft das Grundgesetz für
die positivrechtliche Ausgestaltung der Grundrechte im Einzelnen bewusst eine
Unterscheidung zwischen Deutschenrechten und Menschenrechten. Das legt aber nicht
nahe, auch die Menschenrechte auf innerstaatliche Sachverhalte oder auf
staatliches Handeln im Inland zu begrenzen. Ein solches Verständnis findet auch
im Wortlaut des Grundgesetzes keinen Anhaltspunkt.
(2020/15)
5.7.2020
Kölner Stadt-Anzeiger
Debatte um KSK; Kommentar und Bericht von Daniela Vates
in der Ausgabe v. 2.7.2020 („Den mythischen Ruf zerstört“ und
„“Verteidigungsministerium rechnet mit dem KSK ab“, S. 4 u. 5)
Macht eine Bewährungsfrist für das KSK Sinn?
Oder symptomatische Behandlung in Gestalt von mehr psychologischer Hilfe? Wohl
nicht. Eine robuste Aufgabe sucht nun einmal armdick besaitete Bewerber. Und
ein sehr vage beschriebener Arbeitsplatz – seit dem Streitkräfteurteil von 1994
ist der militärische Einsatzraum global und tatbestandlich offen – zieht einen
nur schwer einschätzbaren, aber eher Risiko-affinen Personenkreis an.
Diese Tendenz war schon bei den ersten
Schritten „out of area“
Anfang der Neunziger Jahre offenbar: 1993 veröffentlichte das Sozialwissenschaftliche
Institut der Bundeswehr eine sorgfältige Studie zum weltanschaulichen
Hintergrund damaliger Nachwuchs-Kohorten: „Rechts zur Bundeswehr, links zum
Zivildienst? Orientierungsmuster von Heranwachsenden in den Alten und Neuen
Bundesländern Ende 1992“. Zitat daraus: „Die Daten verweisen auf die Gefahr,
dass die Bundeswehr zunehmend für junge Männer attraktiv ist, die den
demokratischen Zielen und Werten kaum oder gar nicht verbunden sind. Da
faktisch eine Situation besteht, die auch für Wehrpflichtige (dies es
damals ja noch waren) die Wahlfreiheit eröffnet, ist damit zu rechnen, dass
auch die anstehenden Wehrpflichtigen ein höchst problematisches Potenzial in
die Bundeswehr tragen werden.“ Es kam noch ärger: „Die Gruppendiskussion
mit jungen Rechtsextremen hat gezeigt, dass diese sich von der Bundeswehr zwar
angezogen fühlen, dass ihnen die Führung aber bei Weitem zu wenig autoritär, zu
‚lasch‘ erscheint. Sie wollen u.a. in die Bundeswehr, um dies zu ändern.“
Wer eine solche Fehlentwicklung strukturell und
nicht nur symptomatisch korrigieren will, der muss einen wieder für Bewerbungen
aus der gesellschaftlichen Mitte gut einschätzbaren Arbeitsplatz beschreiben
und fixieren, am konsequentesten durch ein Bundeswehraufgaben-Gesetz. Dazu
müsste er konsensfähige, gemeinschaftsorientierte und mythenfreie bzw.
"langweilige" Ziele wie die Verteidigung gegen einen gegenwärtigen
militärischen Angriff in den Mittelpunkt stellen und dürfte darüber hinaus
gehende Einsätze nur unter restriktiv definierten Voraussetzungen zulassen.
Dabei eingeschränkte Grundrechte müsste er gemäß Art. 19 GG klar benennen, wie
noch im bemerkenswerten BND-Urteil aus dem Mai 2020 festgestellt. Er müsste
allerdings auch aushalten, von Interesse-geleiteten robusten Typen wie Donald
Trump als „Memme“ oder schlimmer beschimpft zu werden.
Quellen:
(zu Abs. 2 oben)
Heinz-Ulrich Kohr, „Rechts zur Bundeswehr,
links zum Zivildienst. Orientierungsmuster von Heranwachsenden in den Alten und
Neuen Bundesländern“, SOWI-Arbeitspapier Nr. 77; München, März 1993; die Zitate
stammen aus der Zusammenfassung unter 6.4 der Studie, daselbst S. 25; Link/download: http://www.mgfa.de/html/einsatzunterstuetzung/downloads/ap077.pdf?PHPSESSID
(zu Abs. 3 oben)
BND-Urteil des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 - 1 BvR 2835/17 - https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/05/rs20200519_1bvr283517.html
(Rn. 88) Art. 1 Abs.
3 GG begründet eine umfassende Bindung der deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte
des Grundgesetzes. Einschränkende Anforderungen, die die Grundrechtsbindung
von einem territorialen Bezug zum Bundesgebiet oder der Ausübung spezifischer
Hoheitsbefugnisse abhängig machen, lassen sich der Vorschrift nicht entnehmen.
(91) Die Grundrechte binden die staatliche
Gewalt vielmehr umfassend und insgesamt, unabhängig von bestimmten Funktionen,
Handlungsformen oder Gegenständen staatlicher Aufgabenwahrnehmung (vgl. Hölscheidt, Jura 2017, S. 148 <150 f.>). Das
Verständnis der staatlichen Gewalt ist dabei weit zu fassen und erstreckt sich
nicht nur auf imperative Maßnahmen oder solche, die durch Hoheitsbefugnisse
unterlegt sind. Alle Entscheidungen, die auf den jeweiligen staatlichen
Entscheidungsebenen den Anspruch erheben können, autorisiert im Namen aller
Bürgerinnen und Bürger getroffen zu werden, sind von der Grundrechtsbindung
erfasst. …
(94) In Art. 1 Abs. 2 GG bekennt sich das
Grundgesetz zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als
Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit
in der Welt. Die Grundrechte des Grundgesetzes werden so in den Zusammenhang
internationaler Menschenrechtsgewährleistungen gestellt, die über die
Staatsgrenzen hinweg auf einen Schutz abzielen, der dem Menschen als Menschen
gilt. Entsprechend schließen Art. 1 Abs. 2 und Art. 1 Abs. 3 GG an die
Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG an. In Anknüpfung an diese im Ansatz
universalistische Einbindung des Grundrechtsschutzes trifft das Grundgesetz für
die positivrechtliche Ausgestaltung der Grundrechte im Einzelnen bewusst eine
Unterscheidung zwischen Deutschen- rechten und Menschenrechten. Das legt aber
nicht nahe, auch die Menschenrechte auf innerstaatliche Sachverhalte oder auf
staatliches Handeln im Inland zu begrenzen. Ein solches Verständnis findet auch
im Wortlaut des Grundgesetzes keinen Anhaltspunkt.
(110) Ein Verständnis der Grundrechte, das
deren Geltung an den Staatsgrenzen enden ließe, stellte die Grundrechtsträger
angesichts solcher Entwicklungen (Internationalisierung und Digitalisierung)
schutzlos und ließe die Reichweite des Grundrechtsschutzes hinter die
Bedingungen der Internationalisierung zurückfallen. …
(135) Das Zitiergebot (des Art. 19 Abs.
1 Satz 2 GG) ist vielmehr gerade dann verletzt, wenn der Gesetzgeber ausgehend
von einer bestimmten Auslegung des Schutzbereichs – wie hier der Annahme
fehlender Grundrechtsbindung deutscher Staatsgewalt bei im Ausland auf
Ausländer wirkendem Handeln – die Grundrechte als nicht betroffen erachtet. Denn
es fehlt dann am Bewusstsein des Gesetzgebers, zu Grundrechtseingriffen zu
ermächtigen, und an dessen Willen, sich über deren Auswirkungen Rechenschaft
abzulegen, was gerade Sinn des Zitiergebots ist (vgl. BVerfGE 85, 386<
404>; 113, 348 <366>; 129, 208 <236 f.>). Zudem entzieht sich
der Gesetzgeber einer öffentlichen Debatte, in der Notwendigkeit und Ausmaß von
Grundrechtseingriffen zu klären sind (vgl. BVerfGE 85, 386 <403 f.>; 129,
208 <236 f.>).
(Hervorhebungen von mir)
(2020/14) 4.7.2020
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 9.7.2020
Debatte um KSK; Bericht und Kommentar von Peter Carstens „Psychologen für die
Elitekämpfer“ und „In der Verantwortung“; Kommentar von Pascal Kober „Wir sind
den Soldaten eine Antwort schuldig“ (Ausgabe v. 2.7.2020, S.2 u. 10)
Die Aufgabe definiert das Bewerberprofil. Das
ist auch jenseits des Militärischen so und keine Verteidigungsministerin kann
dies ändern. Gewagte Aufgaben produzieren nun einmal ein bevorzugt
Abenteuer-affines Bewerberfeld. Wer einen Kampfauftrag zu erfüllen hat, wer in
unübersichtlichen und lebensbedrohenden Situationen kurzfristig und kaltblütig
existenzielle Entscheidungen zu fällen hat, der wird darin nicht einmal etwas
Besonderes sehen.
Diese Erkenntnis ist weder neu noch ist sie
fachfremd, sie ist auch jederzeit digital abrufbar. Anfang der Neunziger Jahre
deuteten sich militärische Einsätze jenseits des Bündnisgebiet an; in diesem
Zusammenhang kam eine Studie des damals noch in München beheimateten
Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr heraus, das 2013 im
nunmehrigen Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der
Bundeswehr mit Sitz in Potsdam aufgegangen ist: „Rechts zur Bundeswehr, links
zum Zivildienst? Orientierungsmuster von Heranwachsenden in den Alten und Neuen
Bundesländern Ende 1992“. Hier etwas Klartext aus der akkuraten und
repräsentativen Befragung unter den für das Rekrutieren in Betracht kommenden
Alterskohorten: „Die Daten verweisen auf die Gefahr, dass die Bundeswehr
zunehmend für junge Männer attraktiv ist, die den demokratischen Zielen und
Werten kaum oder gar nicht verbunden sind. Da faktisch eine Situation besteht,
die auch für Wehrpflichtige (die es damals ja noch waren) die
Wahlfreiheit eröffnet, ist damit zu rechnen, dass auch die anstehenden
Wehrpflichtigen ein höchst problematisches Potenzial in die Bundeswehr tragen
werden.“
Nach Aussetzen der Wehrpflicht kann dies nicht
besser geworden sein, eher im Gegenteil. So richtig stockt der Atem aber bei
einer direkt folgenden Erkenntnis: „Die Gruppendiskussion mit jungen
Rechtsextremen hat gezeigt, dass diese sich von der Bundeswehr zwar angezogen
fühlen, dass ihnen die Führung aber bei Weitem zu wenig autoritär, zu ‚lasch‘
erscheint. Sie wollen u.a. in die Bundeswehr, um dies zu ändern.“
Kann man solcher innerer Gegebenheit durch
regelmäßiges abstraktes öffentliches Würdigen begegnen, insbesondere durch
Würdigungen der gefährlichen Arbeit von Elitesoldaten? Eher nicht, manche
würden sich wohl sogar in ihrer Weltsicht falsch bestätigt fühlen. Wenn es mehr
durchschnittliche Bürger und Bürgerinnen in den Streitkräften braucht, dann ist
mehr Fluktuation, also eine Art Wärmetausch der Spezialkräfte sicher ein
Beitrag. Aber strukturelle Änderungen und mehr qualifizierte Bewerbungen aus
der Mitte der Gesellschaft sind erst wieder zu erwarten, wenn der
Bundeswehrauftrag gesetzlich definiert und damit klar begrenzt ist – und nicht
mehr volatil wie der Herbstnebel am Hindukusch.
Eine strukturelle Lösung wäre der Weg über Art.
19 GG, den das Verfassungsgericht zumindest für den Auslandsnachrichtendienst
just gewiesen hat. Also ein für alle nachvollziehbares
Bundeswehraufgabengesetz, das angestrebte Ziele und hinzunehmende Opfer
ausweist. Allerdings wäre dies auch nicht mehr die Verantwortung einer
Verteidigungsministerin; aber es würde dann auch die derzeit sehr offene und
schwer zu administrierende innere Führung mit einem rechtsstaatlichen Rückgrat
versehen. Und vielleicht kann man in einem Zug gleich evaluieren, welchen
konkreten Erfolg und welche Lasten die unzähligen kritischen Einsatzsituationen
in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren denn gezeitigt haben - gerade auch zum
psychischen und physischen Schaden der Spezialkräfte.
Zitierte Quelle:
Heinz-Ulrich Kohr, „Rechts zur
Bundeswehr, links zum Zivildienst. Orientierungsmuster von Heranwachsenden in
den Alten und Neuen Bundesländern“, SOWI-Arbeitspapier Nr. 77; München, März
1993
Die Zitate in Abs. 2 u. 3 oben sind der Zusammenfassung unter 6.4 der Studie
entnommen, daselbst S. 25.
Link: http://www.mgfa.de/html/einsatzunterstuetzung/downloads/ap077.pdf?PHPSESSID
(2020/13) 18.6.2020
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt am 30.6.2020
Etwaiger US-Truppenabzug (Daniel Brössler u. Matthias
Kolb „US-Militärpolitik irritiert Verbündete“, Kurt Kister „Vereistes
Verhältnis“, Matthias Kolb „Sehr viel zu erklären“ (Süddeutsche v. 17.6.2020,
S. 1, 4 u. 8)
Völlig richtig: Um deutsche
NATO-Mitgliedschaftsgebühren kann es hier nicht gehen, da sind wir nicht im
Rückstand. Aber es ist auch nicht eine etwa unterfinanzierte gemeinsame
Verteidigung – denn dass in die prägenden Aktivitäten der militärischen Partner
der letzten 20 Jahren zu wenig Geld geflossen wäre, dass genau deshalb in
Afghanistan, im Irak, in Libyen oder in Syrien und auf dem Balkan so wenig
nachhaltige Sicherheit herausgekommen ist, das behauptet derzeit wohl niemand.
Auch nicht, dass diese Einsätze überhaupt Verteidigung gegen einen
gegenwärtigen militärischen Angriff gewesen wären oder heute seien. Was soll
das Manöver denn dann, was führen Leute wie Trump und Grenell
im Schilde?
Am wahrscheinlichsten: Es ist schlichte
Außenwirtschaftspolitik. Wir sehen das bullyhafte
Einwerben von Ressourcen und Aufträgen für einen unersättlichen Organismus, den
ein scheidender Präsident mit einschlägigen soldatischen Vorerfahrungen einmal
als den "militärisch-industriellen Komplex" analysiert hat. Ein
Wesen, das sich aus den tödlichsten Trieben und Ängsten ernährt und nach 1945
nie wirkliche Konversion erlebt hat. Vielleicht ist es auch hilfreich, sich
daran zu erinnern: Das nämliche Argument, also: wir täten zu wenig für unsere
Verteidigung, hatte bereits im Zuge des Korea-Krieges zur zeitweise undenkbaren
deutschen Wiederbewaffnung und zum Beschaffen reichhaltiger Militaria geführt.
Quelle:
Zu Präsident Dwight D. Eisenhowers farewell address v.
17.1.1961 siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Eisenhower%27s_farewell_address
Auszug:
… Now this conjunction of an immense military
establishment and a large arms industry is new in the American experience. The
total influence—economic, political, even spiritual—is felt in every city,
every Statehouse, every office of the Federal government. We recognize the
imperative need for this development. Yet, we must not fail to comprehend its
grave implications. Our toil, resources, and livelihood are all involved. So is
the very structure of our society.
In the councils of government, we must guard against the acquisition of
unwarranted influence, whether sought or unsought, by the military-industrial
complex. The potential for the disastrous rise of misplaced power exists and
will persist. We must never let the weight of this combination endanger our
liberties or democratic processes. We should take nothing for granted. Only an
alert and knowledgeable citizenry can compel the proper meshing of the huge
industrial and military machinery of defense with our
peaceful methods and goals, so that security and liberty may prosper together.
…
(2020/12) 16.6.2020
Frankfurter Allgemeine
Bundesverfassungsgericht zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung; Kommentar
„Grenzen der
Aufklärung“ von Reinhard Müller in der Frankfurter Allgemeinen v. 20. 5.2020
Das war
schon ein verblüffender Vorhalt aus dem Ausland: Wenn Deutschland weltweite
Menschenrechte gelten lassen will – dann binden diese konsequent die deutsche
Exekutive, immer und überall, selbst im Rahmen etablierter internationaler
Kooperationen, mit dem Anspruch, zulässige Tatbestände abstrakt zu definieren
und Eingriff und Nutzen im Einzelfall als verhältnismäßig abzuwägen.
Das BND-Urteil
umzusetzen und dennoch Arbeitsraum zu lassen, das wird gerade wegen des
parlamentarisch vorzuformenden Abwägens nicht trivial. Aber noch komplizierter
kann es geraten, wenn wir die Entscheidung für andere Formen auswärtiger Gewalt
weiterdenken, nämlich für militärische Einsätze: Wenn bereits das
Telekommunikationsgeheimnis und die Pressefreiheit einen Schutz nach dem
Standard des Artikel 19 verlangen – dann bedarf es schon einer sehr guten
Erklärung dazu, warum der Gesetzesvorbehalt gerade nicht für das grundlegende
Lebensrecht, also für das Höchstrecht gelten sollte. Konkret: Warum eine
Abhöraktion in Lahore rechtsstaatlicher und demokratisch intensiver abgesichert
und abgewogen sein sollte als das Anfordern von todbringenden Fliegerbomben am
Kundus. Das Streitkräfte-Urteil hatte ja den Gesetzesvorbehalt i.J. 1994 für
die Bundeswehr durch einen schlichten Parlamentsbeschluss ersetzt und dabei
Artikel 19 – immerhin unsere konzentrierteste juristische Lehre aus der
NS-Barbarei – mit keiner Silbe erwähnt.
Die beiden
Fallgestaltungen – militärischer und nachrichtendienstlicher Eingriff – ähneln
sich aber hinsichtlich der internationalen Kooperationsdichte und tatsächlich
können diese sich arbeitsteilig ergänzenden Tätigkeitsfelder sogar
verschwimmen. Etwa bei der Zielaufklärung oder bei der heute fast vergessenen
„Operation Sommerregen“, als der BND ab Mitte der Achtziger Jahre in
Afghanistan sowjetische Waffensysteme gesucht und geborgen hatte, unter aktiver
Beteiligung von deutschen Soldaten und – mit Leib und Seele Nachrichtendienst –
unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe. Vielleicht tragen nun ja auch die
inzwischen nachdenklichen Bemerkungen aus der Türkei-Entscheidung des Zweiten
Senats v. 7.5.2008 weitere Früchte – wonach dem Einsatz bewaffneter Gewalt ein
besonderes Eskalations- und Verstrickungsrisiko immanent ist, wonach
Menschenrechte in Gefahr geraten und gerade die exekutive Dynamik von
Bündnissystemen eine vorbeugend starke Rolle des Parlaments erfordert.
Insbesondere, so meine ich, wenn wir im Ausland widerspruchsfrei die
Menschenrechte im Schilde führen wollen.
Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Sommerregen_(Bundesnachrichtendienst)
BND-Urteil des Ersten Senats vom
19. Mai 2020 - 1 BvR 2835/17 -
https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/05/rs20200519_1bvr283517.html
Türkei-Urteil des Zweiten Senats vom
7. Mai 2008 - 2 BvE 1/03 -
https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2008/05/es20080507_2bve000103.html
Streitkräfte-Urteil des Zweiten Senats vom
12. Juli 1994 - 2 BvE 3/92, 5/93, 7/93, 8/93 -
https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv090286.html
(2020/11)
15.6.2020
Das Parlament, abgedruckt 20.7.2020
Bundesverfassungsgericht zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung; Artikel „Zank
um die Kontrolle“ (Ausgabe Nr. 23-25/2020 v. 2.6.2020)
Die Folgen der
aktuellen Entscheidung zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung sind ggf.
komplexer als die Fragen eines „Wie?“ und „Durch wen?“ künftiger Kontrolle.
Denn zum ersten Mal ist hier klar erkannt: Exekutives Handeln unterliegt auch
im Ausland den rechtsstaatlichen Mindestanforderungen des Art. 19 GG. Genauer:
Grundrechtseingriffe sind auch insoweit vorab zu normieren, dabei ist jedes
inkriminierte Grundrecht klar auszuweisen.
Nun – wenn diese
Garantie für das Telekommunikationsgeheimnis und für die Pressefreiheit
zutrifft, dann sollte sie „a fortiori“, also nur umso mehr für einen
existenziellen, alle anderen Rechte erst ermöglichenden Status wie für das
Lebensrecht gelten. Auswärtige Gewalt müsste dann insgesamt in dieser Qualität
eingehegt sein, damit gerade auch die potenziell irreversibel einschneidende
militärische Gewalt. Zumindest aber bräuchte es eine klarstellende
Interpretation, die das Streitkräfte-Urteil von 1994 – das Art. 19 GG nicht
einmal erwähnt – und das Aufklärungs-Urteil von 2020 untereinander kompatibel
gestalten müsste.
Quelle:
Aktuelle Entscheidung unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/05/rs20200519_1bvr283517.html;
das folgenreiche Streitkräfte-Urteil d. Jahres 1994 ist bis heute nur auf einem
Schweizer Server dokumentiert, s. https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv090286.html;
siehe immerhin die einschlägige Pressemitteilung unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/1994/bvg94-029.html
(2020/10)
16.3.2020
Süddeutsche
Corona; Detlef Essinger „Solidarität wie nie“ (Ausgabe v. 14./15.3.2020, S. 4)
Man dächte es so gerne:
Am Dienstag nach Corona trinken wir wieder einen Cappuccino beim kleinen
Italiener an der Ecke. Den Cappuccino mag es noch geben, den kleinen Italiener
kaum noch. Vielleicht Starbucks. Oder etwas Drive-In-Artiges. Wenn wir nicht
aufpassen, werden sich unsere Verteilstrukturen nun noch viel schneller in
Richtung derjenigen Marktplätze und Informationsbörsen wandeln, die das Netz
dominieren. Denn in den kommenden Monaten werden What's
App, Amazon & Co. besonders praktisch, um das Leben in isolierten kleinen
und kleinsten Zellen zu organisieren. Steriler und damit seuchenhygienisch
effizienter als jede Solidarität in Familien, unter Nachbarn, in sozialen
Gruppen.
Es wäre nun besonders
dringend, öffentlich garantierte und verantwortete Marktplätze und
Informationsbörsen bereitzustellen, gleichzeitig auch einen
gesamtgesellschaftlichen Schutz vor Ausforschung und Manipulation durch
partikuläre Interessen. Selbstverständlich ist unabhängig davon erforderlich,
solidarisch die ökonomischen Folgen des brachialen Nachfrageeinbruchs zu
tragen, auch für den kleinen Italiener. Wenn wir denn unsere Welt in einem Jahr
noch wiedererkennen wollen.
(2020/09)
14.3.2020
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT: https://blog.zeit.de/leserbriefe/2020/03/20/12-maerz-ausgabe-12/
Corona; Bernd Ulrich „So nah ist zu nah“ (DIE ZEIT No.
12 v. 12.3.2020, S. 3)
Wenn die cellula plötzlich
der sicherste Ort wird, wenn wieder Vielfalt durch Abstand garantiert werden
muss, dann produzieren Plattformen wie What’s App oder Amazon einen irritierenden Widerspruch:
Sie sind selbst ein Produkt, Teil und Treiber von Digitalisierung und
Globalisierung – und sie werden nun besonders praktisch zur Organisation
kleiner und kleinster Einheiten. Ein Horror wäre, wenn sie dann auch zur
verdeckten Kontrolle und sogar Steuerung fungierten. Darum werden öffentlich
und gesamtgesellschaftlich aufgezogene Marktplätze und Informationsbörsen jetzt
noch viel wichtiger werden.
Die ersten Worte, die
ich als Geheimschutzbeauftragter buchstabieren lernte, waren „need to know“ gleich „Kenntnis nur, wenn nötig“. In Zeiten von
„need to meet“ oder: „persönliches Treffen nur, wenn risikofrei“
wird der erstgenannte Grundsatz für das Sammeln, Anhäufen und Verarbeiten von
Daten nur umso wichtiger.
(2020/08)
8.3.2020
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 19.3.2020
Nachhaltigkeit; Interview von Thorsten Breitkopf mit Ernst Ulrich v. Weizsäcker
„Es geht auch ohne Kohle“ (Ausgabe v. 7./8.3.2020, S. 10)
Danke für das frische
und sehr inspirierende Interview in der Ausgabe v. 7./8.3.2020! Ein wenig
weitergehend als Herr von Weizsäcker würden mich nicht nur Faktor- bzw.
Effizienz-Gewinne locken, sondern durchaus auch lustvolles Einsparungspotenzial
bei überlegtem Ändern der Lebensgewohnheiten, speziell durch gezieltes
Verzichten, Reduzieren oder Umsteigen; weniger kann auch viel mehr sein. Weiter
aber: Sehr richtig und wichtig erscheint mir Wasserstoff als Energieträger der
Zukunft und ein entschleunigter Konsum, gerade durch merkliches Ausdehnen der
Nutzung unserer Geräte. Beispiel: Sich ein Fahrzeug mit mindestens 25 Jahren
Lebensdauer vorzustellen und mit mehreren nacheinander einbaufähigen Antriebskonzepten
– das mag ja zunächst eine emotionale Herausforderung für den heutigen
Verbraucher sein, nicht aber für einen motivierten Ingenieur.
Ich hätte übrigens auch
keine Angst vor Wasserstoff. Wer Energie für 600 km oder mehr tankt, der
transportiert nun mal eine respektable Brandlast, gleich ob als Benzin, Gas,
Amperestunden oder Wasserstoff, und erfahrungsgemäß kann man damit umgehen
lernen.
(2020/07)
22.2.2020
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT: https://blog.zeit.de/leserbriefe/2020/02/28/20-februar-ausgabe-9/
Münchner Sicherheitskonferenz; Josef Joffes Leitartikel „Macht Politik“ (Die
Zeit No. 9 v. 20.2.2020, S. 1)
Ein sehr irritierender
Dreiklang: Auschwitz, Dresden, München. Gräuel, Grauen, Sicherheit? München
steht wohl eher für neue Unsicherheit, für das Verlernen lebenswichtiger
Lektionen.
Ich bin stolz darauf,
wenn die Mehrheit der Deutschen den Krieg in Afghanistan ablehnt, den monotonen
Münchner Appellen zum Trotz. Vermutlich verbinden Bürger die bestialische
Feuerhölle von Kunduz auch einfühlsamer mit der von Dresden, als es
Regierungen, Parlamente, Gerichte und Präsidenten je könnten. Kunduz war für
mehr als 100 Afghanen vom Kind bis zum Greis keine Drohung, sondern
grauenhafteste Realität.
(2020/06)
18.2.2020
Süddeutsche Zeitung
Münchner Sicherheitskonferenz; Daniel Brösslers
Kommentar „Den Westen retten“ (Süddeutsche v. 17.2.2020, S. 4)
Selbstverständlich hat
der Westen ein hochwertiges Selbstbild. So wie eben andere Weltgegenden auch.
Aber nehmen wir einen aufgeklärten Zeitzeugen, sagen wir aus der Mitte Afrikas.
Er kennt Namen wie Cpt. Truman Smith, Gen. Groves,
Papa Doc Duvalier, Batista, Somoza, Reza Pahlewi, Saddam Hussein, Mossadegh,
Allende und Bishop, er weiß um Begriffe wie „decapitating“, „covert ops“,
"fracking"
oder „climate adaptation“;
er hat Eisenhowers „farewell address“ im
Sinn und den Dokumentarfilm „The Fog of War“.
So aufgeklärt dächte
unser Beobachter ganz sicher nicht an ein barmherziges, selbstloses und
friedliches westliches Wesen. Er hätte auch keine Angst vor mehr "westlessness"
– er dächte einfach an eine Historie von „recklessness“.
(2020/05)
13.2.2020
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 4.3.2020
Integriertes Entwicklungs- und Handlungskonzept für Burscheid; Bericht von Jan
Sting zur Rampe/Kanzel am Radweg („Für die Rampe wird gerodet“, Lokal-Ausgabe
Rhein-Wupper v. 11.2.2020, S. 28)
Der Mehrwert der Rampe
zur Hauptstraße bleibt im Nebel. Seit der Planung mit Stand Dezember 2016 haben
Steigung & Gefälle leider um ein sattes Drittel auf nun nicht mehr
barrierefreie 8% zugenommen - sehr schlecht u.a. für Kinderwagen, Rollstühle
und Fahrräder mit Muskelkraft. Und auch die von den Planern seinerzeit
angepriesene Magnetwirkung der Kanzel fällt bis auf Weiteres flach. Denn trotz
beharrlichster Suche hat sich ja niemand gefunden, der die Kanzel mal
„bespielen“ oder dort ein Stückchen Stadtmitte für den Radweg „inszenieren“
könnte.
Nun muss man sich eines
klarmachen: Die angejahrten Blechbäume an der evangelischen Kirche, die werden
irgendwann vergehen. Aber das Ende der Kanzel und ihrer beeindruckenden Pylone,
das würde kein derzeit lebender Burscheider mehr sehen. Vielleicht kann man
jedenfalls die 300.000€ für die Kanzel in besser sichtbare, sicherere und
nachhaltigere Innovationen umsetzen, etwa in eine Beleuchtung der Balkantrasse
zumindest zwischen Bad und Bahnhof.
(2020/04)
12.2.2020
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 17.2.2020
Thüringer Wahl; Leitartikel von Berthold Kohler „Die Sekundärexplosion“ (F.A.Z.
v. 11.2.2020, S. 1)
Mehr noch als an eine
Sekundärexplosion erinnern mich die Erfurter Chaos-Tage an den klassischen
Schuss ins eigene Knie, und dies gleich mehrfach. Die thüringische CDU – und
ebenso die FDP – war offenbar so sehr von Kopfjäger-Instinkten beherrscht, dass
voraussehbare eigene und gewichtigere collateral damages völlig außer Kalkulation blieben.
Was nun? Brächte ein
weiteres erregtes Debattieren von Personalien denn vor Ort wirklich weiter?
Vermutlich liegt das Problem doch eher in einer Stimmung bei signifikanten
Anteilen der Wählerschaft, bei der Wiedervereinigung irgendwie zweitklassig,
kolonisiert, manipuliert und nicht respektiert herausgekommen zu sein – ein
Gefühl, das die AfD immer genüsslicher ausbeutet, verstärkt und mit Ängsten und
Feindbildern garniert. Warum den Wählern nun nicht ein Angebot machen, das die
AfD so eben nicht machen kann oder will – das gute alte Verfassungsprojekt?
Beim Einigungsvertrag ist eine Hausaufgabe aus der früheren Präambel
bequemerweise unter die Schreibunterlage geschoben worden: Im Zuge der
Wiedervereinigung sollten eigentlich alle Deutschen das ja ausdrücklich nur
„für eine Übergangszeit“ geschriebene Grundgesetz durch eine finale und
gemeinsame Verfassung ersetzen.
Mehr als ein
Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung sind nun genügend Erfahrungen
zusammenzutragen, um die geschriebenen und die ungeschriebenen Grundsätze
unserer Verfassung – etwa auch beim Ausüben auswärtiger Gewalt – offen zu
debattieren und nach Erkenntnisstand sauber zu regeln. Ein solcher Prozess
würde den Bürgern aller Bundesländer einigenden und befriedigenden Respekt
erweisen und würde über noch so gewichtige Personalien weit hinausweisen.
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Präambel_des_Grundgesetzes_für_die_Bundesrepublik_Deutschland
(2020/03)
10.2.2020
DER SPIEGEL
Thüringer Wahl; Beiträge zum Spiegel-Titel Nr. 7/2020 v. 8.2.2020 „Der Dämokrat“, insbesondere Dirk Kurbjuweits
Leitartikel „Die Naiven und die Ruchlosen“
Irre, wie leichtfüßig
ein Lindner aus dem Chaos ausscheren kann! Und gleich noch eine Salve gegen den
laut Umfrage breit respektierten Alt-Ministerpräsidenten abfeuert. Als neuen
FDP-Wahl-Slogan empfehle ich: „Link und rechts zugleich – die Mitte aller
Mitten“. Dafür beanspruche ich auch kein Copyright.
(2020/02)
30.1.2020
Kölner Stadt-Anzeiger
Chinesische Rüstung; Bericht v. Steffen Trumpf „China ist zweitgrößter
Waffenproduzent“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 27.1.2020, s. 6)
Der Bericht erwähnt:
Ganz besonders seit 1999 habe China große Summen in die Modernisierung seiner
Rüstungsindustrie gesteckt. Das hatte auch eine historisch präzise
nachverfolgbare Ursache: Am 7. Mai 1999 hatte die NATO im Rahmen der Operation
Allied Forces / OAF kurz vor Mitternacht Belgrad bombardiert, um die serbische
Staatsführung zum Einlenken zu bewegen. Dabei hatten fünf Lenkbomben die
chinesische Botschaft getroffen; drei chinesische Journalisten waren ums Leben
gekommen, mehrere weitere schwer verletzt. China hat sogleich im folgenden
November eine neue Militärdoktrin aufgelegt; in diesem Zuge wuchsen die
militärischen Investitionen signifikant an.
Es ist halt so: Mehr
Waffen schaffen jedenfalls eines mit Sicherheit – mehr Waffen. Die moderne
chinesische Rüstung zählt zu den gewichtigsten „collateral
damages“ der frühen out-of-area-Missionen,
ist halt auch eine Frucht der nach 1990 zunehmend raumgreifenden und robusten
Außen- und Sicherheitspolitik des Westens. Unsere Rüstungsindustrie wird das
nicht stören, ganz im Gegenteil.
Quelle u.a.:
https://de.wikipedia.org/wiki/Bombardierung_der_chinesischen_Botschaft_in_Belgrad
(2020/01)
Süddeutsche Zeitung
Auschwitz; Kommentar von Alexandra Föderl-Schmid
„Gegen die Legenden“ (Süddeutsche v. 27.1.2020, S. 4)
„Nie wieder Auschwitz!“,
das ist eine hochberechtigte, dabei aber vergleichsweise risikolose Parole.
Keine, die eigenes Handeln zu sehr hinterfragt. Denn Auschwitz, das waren ja
ganz andere, zu einer völlig anderen Zeit, irgendwo im Nichts. Eine auch nur
annähernd bestialische, offizielle wie integrale Inhumanität, die wird kein
Zeitgenosse erwarten. Und selbst diejenigen, bei denen man klammheimliche
Gesinnungsgemeinschaft mit damaligen Tätern annimmt oder annehmen muss, das
sind ja typischerweise die anderen.
Mehr Mut, mehr Identifikation
und mehr Reflektion würde heute ein Ruf wie „Nie wieder Kunduz!“ verlangen:
Kunduz mit einer mutwilligen Flammenhölle am 4.9.2009 für mehr als hundert
Afghanen vom Kind bis zum Greis. Oder „Nie wieder Varvarin!“:
Varvarin, wo Jagdflugzeuge am 30.5.1999 einen
serbischen Schulbus in Brand schossen. Oder gar „Nie wieder Belet
Huen!“: Soweit bekannt, verzeichnete die Bundeswehr
hier am 22.1.1994 den ersten menschlichen „collateral
damage“. Lagerwachen hatten des Nachts versehentlich
einen jungen Somali namens Farah Abdullah erschossen; die Tat wurde später mit
dem archaischen Blutgeld bereinigt.
Die Zahl der zivilen
Opfer bei Konflikten, an denen sich Deutschland nach 1990 beteiligte, erreicht
oder übersteigt heute selbst bei einer konservativen Schätzung die 50.000. Der
richtige, zukunftsweisende Ruf wäre daher nach meinem Gefühl, wenn denn ernst
gemeint: „Nie wieder Krieg!“
Und ein paar
Sammlerstücke aus früheren Jahren:
Die Mutter aller
[meiner] Leserbriefe:
29.9.1992
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt 2.10.1992
Militär; Absage der "V 2 - Gedenkfeier" in Peenemünde (KStA. v. 29.9.1992)
Hätten wir am
Deutschlandtag die Schöpfer der V 2 hochleben lassen, hätten wir auch die der
Scud mitgefeiert. Die Scud ist wie die Mehrzahl der heute weltweit
ausgerichteten Trägersysteme legitimer Nachfahre der V 2. Scud und V 2 sind
brutale Massenvernichtungswaffen, die unter einem verantwortungslosen Regime bewußt zum Schaden der Zivilbevölkerung eines anderen
Landes entwickelt und eingesetzt worden sind.
Demgegenüber ist der
vorgebliche Kontext ziviler (!) Raumfahrtforschung, der etwa den jungen Wernher
von Braun begeistert und geblendet haben mag, als Begründung eines V 2 - Festes
geradezu absurd. Die Forschung hat sich gegen diese Wirtschaftsidee im
doppelten Sinne auch ausdrücklich verwahrt.
Der Vorschlag war, wenn
auch der count-down schweren Herzens in letzter
Sekunde abgebrochen wurde, bereits eine verheerende Wunderwaffe gegen das
Ansehen des neuen Deutschland im Ausland und unserer Repräsentanten im Inland.
Und
der am weitesten gereiste Leserbrief:
22.08.1995
NIKKEI WEEKLY, JAPAN; abgedruckt 28.8.1995
Militärpolitik; Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki; THE NIKKEI WEEKLY of August 14, 1995
I refer to reports on WW II and especially to two letters to the editor printed in THE NIKKEI WEEKLY of August 14,
1995. It is my impression that those two letters offer a unilateral and quite
insulting interpretation of the motives behind the drop of atomic bombs onto
Hiroshima and Nagasaki fifty years ago (e.g. N. Hale: "a merciful
decision"). So I would like to show an alternative view:
It is certainly true that Japanese military leaders commenced the
hostilities against the
The echoes of that demonstration of power strongly outlived that event.
We hear them over and over again – from
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oder
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Oder meine >100
Leserbriefe, die zum Thema Außen- und
Sicherheitspolitik, Auslandseinsätze bzw. „out of area“ veröffentlicht
worden sind.
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