Karl Ulrich Voss, Burscheid: Meine Leserbriefe in den Jahren 2012, 2013 u. 2014

Stand: Januar 2014

 

(2014/8) 22.1.2014
DIE WELT
Afghanistan-Bilanz; Jacques Schuster „Afghanistan und wir“ (DIE WELT 22.1.2014, S. 3)

Der Kardinalfehler des Westens ist m.E. nicht, dass er meint, erfolgreich Ordnungskriege führen zu können. Insbesondere die erste heiße Kriegsphase gelingt in aller Regel, siehe Afghanistan, Irak, Libyen und Mali. Des Westens Problem ist eher, dass er keinen selbsttragenden Ordnungsfrieden schafft, dass er sich zu oft nach dem Schema „rush in – declare victory – rush out“ aus der Affäre ziehen muss und dann instabile oder gar selbst destabilisierte Staaten zurücklässt.

Karl Otto Hondrich hatte Anfang der Neunziger Jahre den irritierenden Buch-Essay „Lehrmeister Krieg“ vorgelegt; und hier zeigt sich unser zweites Hauptdefizit: In Grunde können oder wollen wir gar nichts aus unseren Kriegen lernen, jedenfalls nicht in einem demokratischen Prozess: Vor der Wahl hatten der Verteidigungsminister und der Oppositionsführer die Devise ausgegeben, die Bundeswehr und ihre Auslandseinsätze aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Drum sind wir wohl verdammt, nicht nur die Fehler anderer zu wiederholen, sondern fortlaufend auch unsere eigenen Fehler.

Eine Anmerkung noch zum 11.9.2001: Natürlich ist genau das ein zentrales und wohl auch gar nicht vermeidbares Motiv. Gerade darum verlässt mich aber auch das extrem unbehagliche Gefühl nicht, alle unsere Strategien nach 2001 könnten – zum noch größeren Schaden des Westens – von den islamistischen Planern bereits genau kalkuliert gewesen sein. Und neben dem 11.9.2001 gehört schlüssig auch der 3.7.1979 genannt. Dieses Datum hatte Jimmy Carters Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski i.J. 1998 als Start der massiven strategischen Unterstützung afghanischer Mudschaheddin offenbart. Gegen eine Sowjetunion, die erst im darauffolgenden Dezember am Hindukusch aufmarschierte und die schließlich in dieser Bärenfalle verendete. Was man sicher auch der westlichen Intervention zugedacht hat.

Quelle zum 3. Absatz:
Interview des Nouvel Observateur mit Zbigniew Brzezinski in der Ausgabe v. 15./21.1.1998: http://www.voltairenet.org/article165889.html (französische Fassung) bzw. http://uliswahlblog.blogspot.de/2013/08/isaf-und-der-3-juli-1979.html (mit deutscher Übersetzung)

 

(2014/8) 21.1.2014
Kölner Stadt-Anzeiger
geplante neue Auslandseinsätze der Bundeswehr in Afrika (Holger Schmale „Wendepunkt in der Außenpolitik“, KStA v. 20.1.2014, S. 7; Peter Riesbeck „Militärisch und politisch helfen“, ebenda S. 4)

Überlegungen für ein stärkeres Engagement in Afrika gibt es offenbar schon länger. Es gab sie wohl bereits vor der Wahl, während derer die nunmehrigen Koalitionspartner CDU und SPD das Einsatzthema noch insgesamt tabuisiert hatten. Jedenfalls hatte dann der Bundespräsident unmittelbar nach unserem Urnengang etwas überraschend auf mehr internationales Engagement der Deutschen gepocht – und dabei ganz konkret Bezug auf Ermahnungen genommen, die man ihm während eines Frankreich-Besuchs ins Gebetbuch geschrieben hatte.

Mit der Solidarität unter Partnern wird hier auch das bewährte Motto ins Feld geführt, das bis heute die bei weitem meisten Bundestagsdebatten zu Auslandseinsätzen prägt. Dieses Motiv hat nur einen entscheidenden Nachteil: Es stützt sich - wie das so vertraute „Man kennt sich, man hilft sich“ - auf eine ausgesprochene Binnenmoral, nicht auf ein allseits verallgemeinerungsfähiges Konzept. Genau ein solches Konzept und dessen Debatte mit uns Bürgern, da gebe ich Margot Käßmann und auch dem früheren Bundespräsidenten Horst Köhler völlig recht, das fehlt uns völlig. Und die Chance einer breiten demokratischen Fundierung wurde leider auch bei der 2013er Wahl vertan. Sicher nicht ohne jeden Hintersinn.

Quellen:

-         Devise de Maizières und Steinbrücks für den 2013er Wahlkampf:
http://www.presseportal.de/pm/55903/2468313/waz-verteidigungsminister-de-maizi-re-sicherheitspolitik-aus-dem-wahlkampf-heraushalten

-         Joachim Gaucks Rede "Die Freiheit in der Freiheit gestalten" v. 3.10.2013

-         als Kontrast: Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler am 10.10.2005:
http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2005/10/20051010_Rede.html

 

(2014/7) 20.1.2014
DER SPIEGEL
NSA-Affäre; Beitrag von Nikolas Blome, Hubert Gude, Horand Knaup, Ralf Neukirch, Laura Poitras, Marcel Rosenbach, Jörg Schindler, Fidelius Schmid u. Holger Stark "Keiner wird gewinnen" (DER SPIEGEL 4/2014 v. 20.1.2014, S. 18ff)

Bei Ermittlungen zu Angela Merkels Handy-Gate würde mich das Wissen oder sträfliche Nichtwissen der Spitzen der deutschen Dienste interessieren, brennend sogar! Ebenso sicher werde ich gerade davon nie etwas hören. Der Staat hat viele Geheimnisse, die Bürger aber sollen keine haben. Das ist das genaue Gegenteil von Kants Vorstellung: Dass nämlich das leitende Prinzip einer rechtsstaatlichen Republik – wie schon der Name sagt – Publizität zu sein hat.

 

(2014/6) 17.1.2014
Frankfurter Allgemeine
Aktivitäten der Geheimdienste (Udo Di Fabio „Ist das Grundrecht ein Ladenhüter?“, F.A.Z. 13.11.2013; Sascha Lobo „Die digitale Kränkung des Menschen“, F.A.S. 12.1.2014; Evgeny Morozov „“Mehr Politik!“, F.A:Z. 15.1.2014; Shoshana Zuboff „Wir stehen am Abgrund, Mr. President“, F.A.Z. 17.1.2014)

Sascha Lobos digitale Kränkung erlebt man sicher intensiver, wenn sich ein hoher Besitzstand an Wissen und Würden plötzlich enttäuscht zeigt. Wer nüchtern vermerkt, dass der Preis unserer Freiheit Marginalität ist, jedenfalls in der statistischen Menge, der kann am Rande durchaus er selbst sein und auch glücklich.

Ob – wie es Evgeny Morozov und aus einem anderen Blickwinkel Shoshana Zuboff fordern – die existenten politischen Kräfte eine Re-Revolution einleiten können? Ich bin nicht sicher. Die Umwälzung der letzten Jahrzehnte, die man auch als vitale und hochprofitable Kinder-Herrschaft deuten kann, sie war ja nicht etwa auf eine gut durchblutete, partizipationsorientierte, responsive Demokratie gestoßen. Sodass nun breiter demokratischer Entzug oder zumindest Verlustängste aktivierend wirken würden. Hand auf’s Herz: Unsere repräsentative Staatsform gilt vielen heute eher als eine bloße Erklärung von Macht, weniger als eine offenherzige Schnittstelle zum Ausleuchten und Teilen von Herrschaft. In einer grundlegend veränderten Wahrnehmungswelt mag daher die heute näher liegende Frage sein: Investieren wir nicht zu viel in ein Partei- und Delegiertensystem, das sich zunehmend als leicht irritierter wirtschafts-, sozial- und kulturpolitischer Trittbrettfahrer geriert? Das in seiner abgesonderten Geschäftigkeit vor und nach Wahlen bei näherem Hinsehen eher an Potemkinsche Dörfer oder Rommels Panzer-Attrappen erinnert?

Vielleicht aber verschafft die Debatte unseres Exekutiv-Industriellen Datenkomplexes – ich danke F.A.Z. & F.A.S. für den breiten Raum und das differenzierte Spektrum – neben dem hilfreichen bedingten Reflex beim persönlichen Datenhaushalt, wie ihn Di Fabio wünscht, auch ein wenig Demut und Gelassenheit: Gegenüber denjenigen Kulturen nämlich, denen wir „mangels eigener Aufklärung und Reformation“ gerne eine individuell lebenswerte Staatlichkeit absprechen und die wir unermüdlich ermahnen, endlich auf einen technokratischen Erfolgskurs einzuschwenken.

 

(2014/5) 16.1.2014
DIE WELT
No-Spy-Abkommen zwischen Deutschland und den USAA, Kommentar von Ansgar Graw "Ami-Spion, go home?" (DIE WELT v. 15.1.2014, S. 3)

Spionage und sogar die Hassliebe unter Spionen trägt sicher auch ihren Teil zum Weltfrieden bei; das nutzt dann wohl am Ende auch uns. Und das artige Händeschütteln unter Realpolitikern, mit dem Blick nicht auf das Gegenüber, sondern in die Kameras: Es ist sicher immer nur die Geste, für die es jeder hält, und kein Vertragsschluss. Da muss man ebenso wenig drum geben wie um aufgeregtes Ankündigen unter Wahl-Stress. Aber ein verschärftes globales Wettrüsten der code-maker und code-braker hilft wahrscheinlich niemandem außer den Herstellern von Exaflop-Rechnern und ihrer Kühlanlagen.

Am besten ist nüchternes Wissen der Bürger um das öffentliche oder private oder gar arbeitsteilige Datensammeln, ist persönliche Umsicht und ist der feste Wille, darüber nicht in einen schizophrenen und erosiven Zielkonflikt zu den Grundwerten westlicher Demokratien zu gelangen.

 

(2014/4) 10.1.2014
Frankfurter Allgemeine
Streckungsfonds zur Dämpfung von Verbraucherkosten i.R.d. Energiewende (Andreas Mihm "Aigners Rangierbahnhof", F.A.Z. v. 6.1.2014, S. 1), Zukunftspläne Ronald Pofallas (u.a. Kerstin Schwenn "Pofalla am Zug", F.A.Z. v. 3.1.2014, S. 11) und geplante Autobahnmaut

Absolut unerreicht sind Talent und Drang der Politiker, immer neues frisches Wasser aus dem Stein zu schlagen, genauer: aus ihren Mitwesen, aus uns. Sei es, arglosen und früher freundlich durchreisenden Nachbarn nun einen Wegezoll abzupressen, sei es, über schattige Streckungsfonds Geld aus der Zukunft unserer Kinder herbei zu beamen. Oder sei es gar, schillernde Amtsbeziehungen über die Wandelhalle in lebenslange persönliche Sonderziehungsrechte umzumünzen; man kennt sich, man hilft sich. 

Unerreicht kurz aber auch die Halbwertzeit heiliger Gelübde, wie das der ubiquitären Schuldenbremse, deren Splitter man gleichwohl noch für Jahrhunderte in einer Monstranz vor sich hertragen kann. Das Geld anderer Leute großflächig zu verrieseln, es ist kein Privileg der Sozialisten.

 

(2014/3) 8.1.2014
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 13.1.2014
Bestechung i.R.v. griechischen Rüstungsbeschaffungen; Hans Leyendecker, Klaus Ott und Tasos Telloglou "Das Geld gehört dem Volk" (Süddeutsche v. 4./.5./6.1.2014, S. 19)

Über levantinisches Gebaren sollte sich die Ponente nicht mokieren, wir haben lange aufgeholt und überholt. Es macht nicht eben stolz auf unser ach so wertegeleitetes nationales und europäisches Wirtschaftssystem: Dass wir nicht nur die alte ägäische Paranoia nutzen, um einem bereits maroden Staat sinnfreie Militaria anzudrehen. Sondern dass unser Angebot der griechischen Nachfrage noch bestechend auf die Sprünge hilft. 

Richtig, das Geld gehört dem Volk. Aber ist es erst einmal in Staatsknete verwandelt, dann liegt es häufig erschreckend schutzlos da. Um entweder in windigen Rüstungsdeals verbraten zu werden - und/oder als Rettungsmaßnahme für ein Volk, das sich genau daran verschluckt hat.

Und eine wohlfeile Illusion aus den Sonntagsreden unserer Politiker gehört gleich mit zerstört: Dass nämlich deutsche Rüstungsgeschäfte jedenfalls deutsche Arbeitsplätze sichern würden. Grundfalsch. Denn per Saldo reduzieren Verkäufe dieser hoch wertschöpfenden Produkte an ein weniger entwickeltes Land, das in aller Regel auch mit gegenläufigen Waren- und Produktströmen finanzieren muss, die Zahl der Arbeitsplätze des liefernden Staates. Trist, aber wahr: den Nutzen hat ganz partikulär derjenige, der die Waffen selbst schmiedet. Wir anderen zahlen nur.

 

(2014/2) 3.1.2014
DIE ZEIT
Initiative des Bundestagspräsidenten bzgl. einer Verlängerung der Legislaturperioden ("Lammerts Foul", DIE ZEIT Nr. 2 v. 2.1.2014, S. 9)

Gar so arg ist die Lammert'sche Spielverlängerung doch gar nicht und vielleicht sogar höchst kostensparend. Wir müssen sie nur mit weiteren taktischen Finessen verbinden, z.B. mit den seitlichen Arabesken z.B. von Ronald Pofalla, Eckard von Klaeden oder Gerhard Schröder, und dann auch konsequent zu ihrem Ende hin denken.

Dann könnten wir eine kontinuierliche Erneuerung des Parlaments in einem geschlossenen Kreislauf mit der für die Professionalität unseres Parlaments eh' so unverzichtbaren Lobby organisieren und irgendwann auf die kostentreibenden Wahlen auch ganz verzichten: Ein unbesorgtes Spiel völlig ohne An- und Abpfiff, auch ohne Schiedsrichter.

 

(2014/1) 3.1.2014
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 5.1.2014
Vorschlag des Bundestagspräsidenten, die Legislaturperiode auf fünf Jahre zu verlängern (Markus Decker "Politiker wollen länger regieren", "Mehr Zeit zum Regieren", KStA v. 28./29.12.2013, S. 1 u. 4)

Ein erfrischender Vorschlag von Norbert Lammert: Für die gleichen Wahlkosten 125% statt nur 100% Regierungszeit! 

Vielleicht ist dabei noch etwas anderes drin als Elemente der direkten Demokratie, die ja leider nach den aktuellen Absprachen der Politprofis nur geringe Realisierungschancen haben. So könnten wir etwa nach amerikanischem Vorbild die Amtszyklen des Regierungschefs begrenzen oder, wie in der Türkei, die Zahl der Legislaturperioden jedes Abgeordneten. Denn nach der neuen Lammert-Formel müsste z.B. der arme Dr. Riesenhuber, der im Alter von 40 Jahren in den 8. Bundestag eingezogen war, uns über sein 95. Jahr hinweg dienen. Schwer vorstellbar, wie man über eine solch gewaltige Spanne die notwendige Repräsentativität aufrecht erhalten könnte!

Und, da wir uns alle dann auf längere Zeit verdingen würden, käme jedenfalls dies künftig nicht mehr in Frage: Schicksalhafte Themen kurzerhand für den Wahlkampf zu tabuisieren, wie etwa grad eben noch die Auslandseinsätze und die Reform der Bundeswehr.

P.S. Quelle zum letzten Absatz:
http://www.presseportal.de/pm/55903/2468313/waz-verteidigungsminister-de-maizi-re-sicherheitspolitik-aus-dem-wahlkampf-heraushalten

 

(2013/42) 6.12.2013
DAS PARLAMENT, abgedruckt 30.12.2013
Berichterstattung / Kommentierung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr in DAS PARLAMENT v. 2.12.2013 (Alexander Heinrich „Mit doppeltem Einsatz“, S. 1; Jörg Biallas „Schwerste Entscheidung“, S. 1; Pro & Contra Abzug aus Afghanistan, S. 2; Interview mit André Wüstner, Vors. Bundeswehrverband, „Ein enormer Kraftakt“, S. 2; Eric Chauvistré „Operation Abwarten“, S. 3; Dokumentation laufender Auslandseinsätze S. 4f)

Wenn wir ehrlich sind: Bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr ist in den vergangenen Jahren zu wenig so gelaufen wie geplant. Die Kosten, der militärische ebenso wie der zivile Blutzoll und die Dauer der Engagements waren in praktisch jedem Einzelfall höher, einschneidender und letztlich irreversibler als prophezeit. Darum freue ich mich über die breite Abdeckung im (Periodikum) Parlament. Aber ich bin tief verärgert über den quasi nicht messbaren Stellenwert, den die Politik dem Souverän, dem lebenden Wähler zugemessen hatte. Tatsächlich hatte der amtierende Verteidigungsminister ja noch im Mai 2013 den Spitzenkandidaten der SPD darin bestärkt, die Bundeswehr einschließlich der Auslandseinsätze und der Neuaufstellung aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Das erfüllt nicht meinen Anspruch an die demokratische Behandlung von Schicksalsfragen und auch nicht an eine Politik, die den historischen Erfahrungen Deutschlands gerecht wird.

Aus meiner Sicht ist nicht nur das Für und Wider einzelner Einsätze sorgfältig abzuwägen. Wenn wir als Staat politisch gebildeter Bürger lernfähig sein wollen, dann muss die Politik vor jeder Wahl Rechenschaft ablegen über Nutzen und Lasten und über ihr daraus schlüssig abgeleitetes künftiges Programm für den Einsatz auswärtiger Gewalt – mit nachvollziehbaren Grenzen für eben dieses künftige Gewalthandeln, nicht mit Passepartouts wie „Krise“, „Konflikt“ und „Vorsorge“. Diese mögen zwar das Mit-Entscheiden in Bündnisgremien erleichtern; sie lassen aber den ersten, den aufgeklärtesten und für uns Bürger wichtigsten Abschnitt des Grundgesetzes de facto leer laufen.

P.S. Quelle zur zitierten Äußerung von Lothar de Maizière im Wahlkampf zum 18. Bundestag:
http://www.presseportal.de/pm/55903/2468313/waz-verteidigungsminister-de-maizi-re-sicherheitspolitik-aus-dem-wahlkampf-heraushalten (BM de Maizière 8.5.2013 zur WAZ).
Anmerkung: Das ist der Standard seit ca. 20 Jahren, siehe eine entsprechende Positionierung von BM Kinkel gegenüber n-tv am 10.9.1993 = http://www.vo2s.de/mi_1993_kinkel-ntv.pdf. Die Fortsetzung klandestiner Politik macht sie m.E. aber nicht demokratisch überzeugender. Sie schleift sie höchstens weiter ein.

 

(2013/41) 25.11.2013
Kölner Stadt-Anzeiger, Lokalteil Rhein-Berg, abgedruckt 19.12.2013
i.J. 2014 anstehende Bürgermeisterwahl in Burscheid, u.a. Verzicht der SPD (Berichterstattung / Kommentierung in der 47. Wo.)

Gut, es ist dem BfB-Kandidaten schon einmal anzurechnen, dass er eine bloße Akklamation der bestehenden Herrschaft verhindert - will sagen, dass es bei der kommenden Wahl überhaupt eine Auswahl geben wird und keine Farce. Trotzdem habe ich ein sehr schlechtes Gefühl: Die beiden einzigen Burscheider Bewerber kämen dann ja aus dem praktisch gleichen Denk-Stall. Sollten andere, sehr traditionsreiche Parteien tatsächlich nicht die Kraft bzw. das Geld für eine eigene persönliche politische Alternative aufbringen? Wie wäre es dann mit einer parteifreien Kandidatur? Wie wäre es womöglich mal mit einer unabhängigen Bürgermeisterin, der ersten im Übrigen? Kandidieren macht sogar Spaß und ich würde es von ganzem Herzen unterstützen!

 

(2013/40) 12.11.2013
TIME
NSA & CIA; Michael Crowley "Spy vs. Spy" (TIME Nov. 11, 2013, p. 14)

For me, there's a collateral advantage of the spy crisis, i.e. the relaxing notion: The secret & foreign services all around the world are exercising the same skills and tricks - and there's not so much need to meticulously define brave or evil axes.

We knew that before. But we should talk it out louder and more often.

 

(2013/39) 11.11.2013
DIE WELT
NSA, CIA, BND & BfV; Alan Posener "Die Krise der Spione" (DIE WELT v. 11.11.2013, S. 3)

Sich erwischen zu lassen, das mag sehr unprofessionell sein. Ist es aber Ausweis fachlicher Kompetenz, nicht erwischt zu haben oder nicht sorgfältig geschützt zu haben? 

Den Spitzen unserer eigenen Dienste billige ich im Grunde eine tiefe Erfahrung und Sachkunde zu. Allerdings kann die horizontale Loyalität - diejenige auf der Staaten-übergreifenden nachrichtendienstlichen Arbeitsebene - persönlicher, arbeitsteiliger und gruppendynamisch zwingender sein als die vertikale Loyalität gegenüber der jeweils eigenen politischen Führung. Dann aber wäre ein personeller Neuanfang auch auf dieser Seite des Atlantiks umso notwendiger: als vertrauensbildende Maßnahme gegenüber der Kanzlerin und für die Bürgerinnen und Bürger, deren Interessen sie mit sehr hohem Zuspruch verwaltet."

 

(2013/38) 6.11.2013
DER SPIEGEL
NSA-Abhörskandal; Ralf Neukirch, René Pfister, Laura Poitras, Marcel Rosenbach, Jörg Schindler, Fidelius Schmid u. Holger Stark "Ohnmächtige Wut" (SPIEGEL 45/2013, S. 30ff)

Unsere Kanzlerin muss eine sehr, sehr beherrschte Frau sein - oder noch ohnmächtiger als gedacht: Dass sie Obama nicht die Feldjäger auf den Hals hetzen will: geschenkt. Aber dass genau die beiden hoch alimentierten Herren, die sie seit Jahren hätten effizient warnen und schützen müssen, noch auf einen gepflegten bourbon zu ihren amerikanischen Freunden aus dem Schattenreich reisen durften, selbstredend unter Stillschweigen! Das verstehe wer mag.

 

(2013/37) 5.11.2013
DIE ZEIT
NSA-Abhörskandal; Helmut Schmidt "Überflüssige Dienste" (DIE ZEIT Nr. 45 v. 31.10.2013, S. 2)

Kann man sich so einfach zurücklehnen? Das Gesinde tut eben, was es immer tut: lauschen und tratschen? Ein Kanzler mag ja Berichte mit dem Aufdruck BND, MAD oder BfV links liegen lassen. Aber das exekutive Umfeld, in dem er und seine Minister Entscheidungen treffen oder bekräftigen, das kann mit Information und Desinformation von Diensten gesättigt sein. Vor diesem typischen Mimikri versagt sein Selektionsmechanismus oder Bauchgefühl. 

Als Steuerbürger stört mich aber noch weit mehr: Darf eine Regierung in bestenfalls überflüssige Dienste Milliarden investieren, etwa in den derzeit laufenden Umzug des BND nach Berlin?

 

(2013/36) 27.10.2013
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 29.10.2013
NSA-Abhörskandal, Peter Pauls „Wir sind alle Merkel“ (KStA v. 26./27.10.2013, S. 4)

Dass das Misstrauen gegenüber der Kanzlerin in Potenz Misstrauen gegenüber uns alle bedeute, das stimmt m.E. nur bedingt. Die Dienste verfolgen sehr differenzierte Strategien – und müssen dies schon aus reiner Ökonomie:

Schlüsselpersonen wie die Kanzlerin sind zur Optimierung von Beeinflussungs- und Verhandlungsstrategien im Fokus, wie es Susan Rice in ihrer damaligen Funktion als UN-Botschafterin mal freimütig bekannte: Wie froh sie doch sei über die „intelligence“ des NSA, da sie immer „in Verhandlungen einen Schritt voraus“ sei!

Normal Sterbliche wie wir sind eher Gegenstand einer Rasterfahndung, mit ihren Daten aus Reisen, aus Mail- und Internet-Kommunikation und aus dem grenzüberschreitenden Austausch der Dienste. Online-, Telefon- und Post-Überwachung kommen dabei auch in Betracht, sind aber nur eine Eskalationsstufe für eine begrenzte Zahl von Fällen.

Am schlechtesten zu greifen, aber unzweifelhaft laufende Aktivität gegnerischer wie befreundeter Dienste ist der dritte Sektor, die Unterstützung der Wirtschaftspionage. Leider hatte hier das Zauberwort „Terrorismusbekämpfung“ nach nine-eleven alle Schutzdeiche eingerissen. Hier liegt aus meiner Sicht ganz wesentlicher, aber vielfach noch ausgeblendeter politischer Reparaturbedarf.

 

(2013/35) 25.10.2013
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 4.11.2013
NSA-Abhörskandal; zu Berthold Kohlers Kommentar "Freund und Feind" (F.A.Z. v. 25.10.2013, S. 1)

Im Grundlehrgang für Geheimschutzbeauftragte lernen Sie gleich zu Anfang: "Es gibt befreundete und gegnerische Dienste. Gehen Sie vorsorglich davon aus, dass beide in etwa das Gleiche können und auch tun. Und bei der Industriespionage, da gibt es erst recht keine verlässliche Freund-Feind-Kennung."

Seltsam genug - in den Festansprachen zum diesjährigen Jahrestag des Bundesverbandes der Deutschen Industrie am 11. Juni hatte das mit keinem Wort Erwähnung gefunden. Obwohl bereits aller Anlass bestanden hätte.

 

(2013/34) 18.10.2013
Kölner Stadt-Anzeiger
Initiative der Bundesregierung gegen verschärfte EU-Abgaswerte für PKW; Friedemann Siering "Dem Erfindergeist vertrauen" (KStA v. 16.10.2013, S. 4)

Danke für den Ansporn! Premium und Klasse sind auch nie eine Frage von Masse. Was spricht denn gegen intelligentes Retro? Mit den Maßen der Sechziger Jahre kann man sehr noble Karossen schneidern, elegantere gar als heute. Als zusätzliche Denkhilfe für die PS-Vorstände empfehle ich diesen Passus für den anstehenden Koalitionsvertrag: „Die Bundesregierung beschafft ausschließlich Dienst-PKW, die pro Kilometer 95 Gramm CO2 oder weniger ausstoßen.“

Nebenbei könnte sich die künftige Regierung als sehr konsequent erweisen: An eher unerwarteter Stelle, nämlich im Bundeswehr-Weißbuch 2006 findet sich in der Risiko-Analyse ein äußerst beherzigenswerter Satz: „Für die Energieversorgungssicherheit sind dabei … die Reduzierung des Energiebedarfs durch sparsame und effiziente Energieverwendung von herausragender Bedeutung.“ Das Weißbuch verknüpft zudem an mehreren Stellen globale Umweltveränderungen, an denen die Industriestaaten einen entscheidenden Anteil haben, mit den Risiken Extremismus und Massenmigration. Ein Grund mehr für ein gutes Beispiel und den bewährten Pädagogen-Spruch „Fordern statt verwöhnen!“

P.S.
Quelle zum Bw-Weißbuch, das ebenfalls zur Zeit einer schwarz-roten Koalition herausgegeben worden ist: Kap. 1.1 Sicherheit, S. 22 (Zitat), s. ferner S. 19-21
http://www.bmvg.de/portal/a/bmvg/!ut/p/c4/Dca7DYAwDAXAWVgg7unYAuicYCVP-Qrnsz7omqObfoUnPHfUwolOuhx2u4zN0xuFC_IGQddWEzqi4eLF1i7mqXFkKf-WQNUOF6jFY_sAY_7e5g!!/

 

(2013/33) 11.10.2013
DIE ZEIT
Tag der Einheit; Leitartikel von Jörg Lau in der ZEIT v. 10.10.2013, S. 1 („Wofür stehen wir?“)

Der Untertitel von Jörg Laus Leitartikel knüpft an die Rede von Joachim Gauck zur Einheit an und fragt, ob wir denn das tun, was wir könnten. Das impliziert: eher tun wir zu wenig als zuviel. Aber wie sich vergewissern, ob und was wir zusätzlich oder anders tun können, ohne unsere Bilanz zu verschlechtern? In einer repräsentativen Demokratie ist der Weg klar: Wer sich um die Macht bewirbt, der legt ein Programm dazu vor, wie er sie ausüben will. Der Bewerber tut gut daran, das neue – oder das fortgeschriebene – Programm mit den guten und schlechten Erfahrungen der Vergangenheit schlüssig zu machen. Das überzeugendste Programm gewinnt, wird idealiter bis zur Folgewahl an der Realität getestet und der demokratisch optimierende Zyklus beginnt von neuem. Eine bessere Legitimationsquelle als die Prüfung durch Wähler kann es für die Machtentfaltung eines demokratischen Staates nicht geben, wollen wir unsere Staatsform nicht ad absurdum führen.

Und das genau irritiert mich an der Rede von Joachim Gauck so sehr: Sie kommt wenige Tage nach der Wahl. Sie kam nicht im Mai, als der amtierende Ressortchef für Verteidigung und der Spitzenkandidat der anderen Volkspartei in einem gentleman's agreement die Bundeswehr, ihre Auslandseinsätze und die gesamte Neuaufstellung aus dem Wahl-Diskurs ausklammerten – dies im Übrigen durchaus effizient: Auch ISAF und die lessons learnt in Kunduz haben dann keine bemerkbare Rolle gespielt, ebensowenig in der Ansprache zur Einheit.

In einer thematisch ähnlichen Rede hatte Horst Köhler dem Parlament, der Regierung und den Parteien eine intensive Vergewisserung für die Bürger und gemeinsam mit ihnen aufgegeben. Auch Köhler stellte Fragen, aber sie waren offener als die Fragen Gaucks: 'Welchen Schutz verspricht die neue Sicherheitspolitik, welche Gefahren bringt sie möglicherweise mit sich, ist der Nutzen die Kosten wert und welche Alternativen haben Deutschland und die Deutschen bei alledem eigentlich?' Diese Fragen stellen sich kurz vor dem Aus von ISAF noch dringlicher als im Oktober 2005. Sie sind nicht beantwortet und niemand konnte über Antworten abstimmen. Könnte Deutschland dann konsequent für eine Weltordnung werben, in der Redefreiheit, Gewaltenteilung, demokratische Teilhabe und Rechtsstaatlichkeit gelten?

Schließlich: Gauck spricht von Solidarität, und da kommt grundsätzlich zweierlei in Betracht: Zum einen Solidarität im militärischen Bündnis – so verstehe ich seinen Appell primär – und diese verbinde ich in erster Annäherung mit Binnenmoral oder Selbstgerechtigkeit, kollektivem Eigennutz, ad-hoc-Handlungsstrategien und institutionell mit dem VN-Sicherheitsrat. Zum anderen wäre da die mitmenschliche Solidarität und die verbinde ich mit universaler Moral, Menschenrechtsschutz, der golden rule bzw. dem kategorischen Imperativ und der VN-Vollversammlung. Diese Form der Solidarität ziehe ich vor und in der Rückschau hätte ich die Milliarden-schweren ISAF-Spesen eher in Aufnahme und Integration von Menschen gesteckt, ferner in die Konversion der Industrie, die Militaria exportiert. Warum für Deutschland eigentlich kein schlagkräftiges humanitäres "Drohpotenzial" aufbauen? Was ich im Übrigen auch für den im Falle Deutschlands historisch schlüssigeren Weg halte, gegen alle selbst-referentiellen Vorhalte französischer Spitzenpolitiker.

P.S.
Quelle zu Abs. 2 des Leserbriefs:
http://www.presseportal.de/pm/55903/2468313/waz-verteidigungsminister-de-maizi-re-sicherheitspolitik-aus-dem-wahlkampf-heraushalten
und zu Abs. 3:
http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2005/10/20051010_Rede.html

 

(2013/32) 8.10.2013
DER SPIEGEL
Entwicklung in Afghanistan; Notiz "Taliban kommen zurück" im SPIEGEL 41/2013 S. 82

Demokratisch sehr irritierend: Im Mai tabuisiert unser Verteidigungsminister de Maizière seinen Aufgabenbereich für die Bundestagswahl. Direkt nach der Wahl räumt er den Vorposten Kundus. Und dazwischen appelliert unser oberster Bürger Joachim Gauck für mehr militärische Solidarität, auch bei fernen Konflikten. Was denn nun? 

Und: Wären unsere Milliarden bei der Aufnahme von Flüchtlingen nicht nachhaltiger und solidarischer angelegt gewesen?"

P.S. Quelle zum zweiten Satz:
http://www.presseportal.de/pm/55903/2468313/waz-verteidigungsminister-de-maizi-re-sicherheitspolitik-aus-dem-wahlkampf-heraushalten 

 

(2013/31) 7.10.2013
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 25.10.2013
Tag der Einheit; Beiträge von Roman Deininger "Unser Land ist keine Insel" (Süddeutsche v. 4.10.2013, S. 5) und Nico Fried "Rückzug ins Nirgendwo" (Süddeutsche v. 7.10.2013, S. 4)

Der Bundespräsident verlangt mehr "Solidarität" und eine "Versicherungspolice", die wir militärisch gesehen in Zukunft persönlich zahlen sollen. Wer genau hat aber unsere Solidarität verdient? Ein befreundeter Staatsmann, der seine Allianz vergrößern und damit überzeugender und schlagkräftiger gestalten will, oder doch Menschen, deren Menschenrechte wir bei einem Einsatz im Ausland ebenso fördern wie auch unumkehrbar verletzen können? Gaucks Appell für mehr, auch mehr militärisches Engagement in der Außen- und Sicherheitspolitik und gegen deutsches Ohnemicheltum könnte ich ja nachvollziehen, gäbe es so etwas wie erfolgreiche Benchmarks aus gelungenen Einsätzen und eine klare Handlungsstruktur nach Qualität des kategorischen Imperativs, idealiter im vergangenen Wahlkampf zur Diskussion gestellt und durch klares Wählervotum legitimiert. Aber genau daran hatten die Volksparteien wohl kein lebhaftes Interesse. Hätte sonst noch im Mai Verteidigungsminister de Maizière den Kanzlerkandidaten Steinbrück ausdrücklich dafür gelobt, dass der die Bundeswehr, die Neuaufstellung und die Auslandseinsätze aus dem Wahlkampf heraushalten wollte? 

Ein Vorgänger Gaucks hatte zum fünfzigjährigen Bestehen der Bundeswehr im Jahre 2005 die Form skeptischer Fragen aus der Sicht von Wahlbürgern gewählt, darunter auch, "welchen Schutz die neue Sicherheitspolitik verspricht, welche Gefahren sie mit sich bringt, ob der Nutzen die Kosten wert ist und welche politischen Alternativen Deutschland und die Deutschen bei alledem eigentlich haben". Er hatte auf der damaligen Kommandeurtagung in München eine breite gesellschaftliche Debatte der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik verlangt und die Vorbereitung konkret bei Parlament, Regierung und Parteien in Auftrag gegeben. Dies mit der sehr schlüssigen Erwägung, dass die Bürger erst dann die "nötige demokratische Kontrolle ausüben können". Das hätte ich mir von Joachim Gauck schon als Replik auf den im Mai regierungsseitig verhängten verteidigungspolitischen Maulkorb gewünscht - aber spätestens am vergangenen Sonntag, beim sang-, klang- und vor allem Rechenschafts-losen Räumen des Feldlagers in Kundus.

P.S. Quellen zum zweiten Absatz

Vorgabe de Maizières für den 2013er Wahlkampf:
http://www.presseportal.de/pm/55903/2468313/waz-verteidigungsminister-de-maizi-re-sicherheitspolitik-aus-dem-wahlkampf-heraushalten

Rede von Bundespräsident Horst Köhler am 10. Oktober 2005:
http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2005/10/20051010_Rede.html

 

(2013/30) 7.10.2013
DIE WELT
Symbolische Schlüsselübergabe im Feldlager Kundus (Daniel-Dylan Böhmer "Kundus war richtig" von WELT v. 7.10.2013, S. 1, u. Thorsten Jungholt "Abschied vom Schicksalsort", ebensa S. 5)

"Kundus war wohl so richtig wie der Kommunismus: Irgendwie herausfordernd und anziehend, aber mit lebenden Menschen und Politikern nicht zu machen. Ja, und wir haben auch nicht konsequent genug unsere demokratischen Prinzipien verteidigt, und zwar nicht einmal im deutschen Wahlkampf. Denn dort hatte Verteidigungsminister de Maizière die Bundeswehr, ihre Neuaufstellung und ihre Auslandseinsätze - damit auch ISAF und Kundus - bewusst herausgehalten. So hatte er es in einem Interview noch im Mai frank und frei bekannt. 

Hat er damit nicht die Verantwortung von den Wählern genommen und besitzt sie hinfort selbst? Das hätte er am Sonntag genau so erklären erklären können. Statt sich unter Abgabe bunter symbolischer Schlüssel und schulmeisterlichem Vorhalt einer traditionellen afghanischen Erzählung flugs zu absentieren. Das war ein bizarres Glasperlenspiel neuerer Art!"

P.S.
Quelle zum ersten Absatz:
http://www.presseportal.de/pm/55903/2468313/waz-verteidigungsminister-de-maizi-re-sicherheitspolitik-aus-dem-wahlkampf-heraushalten 
Zum zweiten Absatz: Das vordergründige Geschichtchen lautete nach dem Redemanuskript wie folgt:  "Es war einmal ein Bauer, der hatte drei Söhne. Als er starb, ließ er seine Söhne zu sich kommen und sagte: Ich habe einen Schatz für Euch. Er befindet sich auf dem Feld. Wer ihn als erster findet, dem gehört er. Der Vater starb. Die Söhne gruben jede Ecke des Feldes um. Den Schatz fanden sie nicht. Als sie jedoch im Herbst die besonders guten Erträge verkauft hatten, verstanden sie die Worte des Vaters."  Anm.: Besser, de Maizière hätte seinen drei afghanischen Söhnen die Passage nach Deutschland empfohlen, bezahlt und die Einreise vorab mit BMI abgestimmt gehabt ;-)

 

P.P.S.
Das Defizit bei der demokratischen Absicherung der Außen- und Sicherheitspolitik folgt, wie ich zugebe, längerer Tradition, siehe schon das Interview des damaligen Außenministers Kinkel mit n-tv i.J. 1993, im damals anlaufenden Wahlkampf zum 13. Deutschen Bundestag:
 www.vo2s.de/mi_1993_kinkel-ntv.pdf

 

(2013/29) 7.10.2013
Kölner Stadtz-Anzeiger
Aufgabe des Feldlagers in Kundus; Kommentar „Flucht aus Afghanistan“ von Steffen Hebestreit (Kölner Stadt-Anzeiger 7.10.2013, S. 4)

"Zwei Nachrichten kann ich ja noch in etwa übereinander bringen: Dass Verteidigungsminister de Maizière im Mai die Auslandseinsätze der Bundeswehr aus dem Wahlkampf heraus halten wollte – und dass er dann wenige Tage nach der Wahl mit dem Räumen von Kundus einen sehr symbolträchtigen Schritt aus Afghanistan heraus tut. Eine positive Bilanz zu ziehen, das wäre sicher auch ihm schwer gefallen - da ist Steffen Hebestreit völlig zuzustimmen - und auch eine Evaluation der Auslandseinsätze insgesamt wollte die Bundesregierung im Wahlkampf sicher tunlichst vermeiden. Am ehesten fühle ich mich jetzt übrigens an das damals fluchtartige Räumen des Feldlagers in Belet Huen erinnert, nach Scheitern der Mission in Somalia.

Völlig aus der Zeit gefallen wirkt auf mich allerdings eine dritte Nachricht der letzten Tage, nämlich der Appell von Bundespräsident Gauck in seiner Rede zum Tag der deutschen Einheit: Als er deutlich mehr außen- und sicherheitspolitisches Engagement Deutschlands einforderte, mehr militärische Solidarität, auch bei fernen Konflikten. So wie ISAF oder UNOSOM II? 

P.S. die Quelle zu de Maizières erstaunlichem Maulkorb für den Wahlkampf, sein eigenes Ressort betreffend: http://www.presseportal.de/pm/55903/2468313/waz-verteidigungsminister-de-maizi-re-sicherheitspolitik-aus-dem-wahlkampf-heraushalten

 

(2013/28) 4.10.2013
DIE WELT, abgedruckt 11.10.2013
Tag der Einheit; Bericht / Kommentar zu Joachim Gaucks Rede "Die Freiheit in der Freiheit gestalten" v. 3.10.2013 (Torsten Krauel, „Inselrepublik Deutschland“, DIE WELT v. 4.10.2013, S. 1, und Hannelore Crolly „Deutschland ist keine Insel“, ebenda S. 4)

Sehr richtig, die außenpolitische Debatte ist überfällig, im Grunde seit 20 Jahren. Joachim Gauck adressiert dafür in seiner Rede zur Einheit die Bürgerinnen und Bürger. Nur: Wie kann der Diskurs dort beginnen? Für den Wahlkampf zum 18. Deutschen Bundestag hatten sich Lothar de Maizière und Paar Steinbrück just das Gegenteil vorgenommen und sie waren darin auch recht erfolgreich – nämlich die Bundeswehr aus dem Wahlkampf heraus zu halten. 

Will man dagegen bürgerliche Aufmerksamkeit und demokratische Substanz für die Aufgabe schaffen, dann braucht es offenbar etwas anderes: Auswahlfähige, differenzierte Aussagen der einzelnen Parteien, welche abgrenzbaren Aufgaben sie den Streitkräften in den kommenden vier Jahren zuweisen wollen, andererseits, welche Fähigkeiten oder Fallgruppen als Lehre aus den Einsätzen – gerade auch aus ISAF! – ausscheiden sollen. Exakt ein solches Verfahren hatte der frühere Bundespräsident Horst Köhler der Politik in seiner hellsichtigen Rede zum fünfzigjährigen Bestehen der Bundeswehr am 10. Oktober 2005 ins Stammbuch geschrieben.

 

(2013/27) 4.10.2013
Frankfurter Allgemeine
Tag der Einheit; „Deutschland darf kein schlafwandelnder Riese sein“, F.A.Z. v. 4.10.2013, S. 2 / rso)

Der Bundespräsident fordert, ein somnambules Deutschland möge nun doch aus seinem Traum erwachen und in der Außen- und Sicherheitspolitik entschlossene Schritte vorwärts setzen. Nach der offiziösen Agenda der gerade vergangenen Wahl überraschen solche Wort sehr. Hatte nicht noch im Mai Verteidigungsminister Thomas de Maizière den SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück ganz ausdrücklich dafür gelobt, dass die Bundeswehr, die Auslandseinsätze und die Bundeswehrreform aus dem Wahlkampf zum 18. Deutschen Bundestag herausgehalten werden sollen? Und das Thema hatte dann ja auch keine bemerkbare Rolle gespielt. 

Und kann man bei der in stabiler Demoskopie attestierten, über Jahre kritischen Haltung der Bürgerinnen und Bürger etwa zu ISAF sagen, auch hier läge ein lobenswertes Maß von innerem Einverständnis mit ihrem Land vor? Steht nicht nach wie vor der noch von Horst Köhler am 10. Oktober 2005 mit unmissverständlichen Worten an Parlament, Regierung und Parteien gerichtete Auftrag offen, sein Auftrag nämlich zu einer gesamtgesellschaftlichen Debatte über die erweiterten Aufgaben der Bundeswehr? Kann man Einsätze wie in Afghanistan, im Irak, in Libyen oder in Mali schon als Benchmark oder de-facto--Standard nehmen oder bedarf es nicht doch zuvor einer sehr differenzierenden Evaluation der Außen- und Sicherheitspolitik der letzten 20 Jahre, ihrer ursprünglichen Ziele, ihrer zu mühsamen Erfolge und ihrer zu einschneidenden Nebenfolgen? Und vor allem: Geht es überhaupt um Solidarität mit Partnern und damit um die nach aller Erfahrung Interessen-verschobene Binnenmoral eines Bündnisses – oder geht es nicht doch um den kategorischen Imperativ, also um ein allgemein gültiges, strukturiertes Handlungskonzept, das nach gehöriger Abstimmungsarbeit nationalrechtlich wie auch völkerrechtlich dann auch dem Rechtsstaatsgebot entspricht? Und das auch potenzielle eigene Menschenrechtsverletzungen ehrlich mit in die Bilanz stellt – wie sie am Kundus erschreckend real geworden waren?

P.S. Quelle zu dem im ersten Absatz zitierten Lob de Maizières: 
http://www.presseportal.de/pm/55903/2468313/waz-verteidigungsminister-de-maizi-re-sicherheitspolitik-aus-dem-wahlkampf-heraushalten

 

(2014/26) 9.9.2013
Kölner Stadt-Anzeiger
lokale Berichterstattung zur Bundestagswahl 2013; Bert-Christoph Gerhards Reportage „Souveräner Platzhirsch Bosbach“ (Kölner Stadt-Anzeiger, Lokalteil Rhein-Wupper v. 6.9.2013, S. 28)

Ganz so souverän und siegessicher wie der Stadt-Anzeiger habe ich den Platzhirschen nun doch nicht erlebt. Gut, es gab geschliffene Rhetorik und vieles lief wie vom Teleprompter. Aber der amtierende Champion wurde auch sehr emotional, etwa als es um die Bewertung des ISAF-Einsatzes ging. Als "reine Demagogie" brandmarkte er es, in Afghanistan keine Verbesserungen zu erkennen. Welche, das sagte er konkret dann aber nicht. Dafür bediente er sich gleich selbst demagogischer Techniken - polarisierte extrem mit Gräueltaten der Taliban, überging gleichzeitig aber geflissentlich etwa die Feuerhölle von Kundus, in der auch viele junge Menschen ganz elendlich gestorben sein müssen. Auf die Frage, welche Art Einsätze der Bundeswehr er nach ISAF erwarte und welche definitiv nicht, blieb er jede Antwort schuldig.

Auch bei der Bewertung der Ausspähung durch Nachrichtendienste war seine Einschätzung zwischen naiv und abwiegelnd - "Wer will das denn alles lesen?" - um gleich an den folgenden Tagen durch weitere Enthüllungen über das Brechen von Verschlüsselungen und das Auslesen von Verbindungsdaten sicher geglaubter Mobilgeräte widerlegt zu werden.

 

(2014/25) 9.9.2013
WZ / Bergischer Volksbote
lokale Berichterstattung zur Bundestagswahl 2013; Ekkehard Rüger "Politrunde genügte sich selbst" (Bergischer Volksbote v. 6.9.2013, S. 15)

Ausgerutscht, wie der Volksbote schreibt? Vielleicht. Aber da gilt halt: Aufstehen, Krönchen richten, weiterlaufen! Für mich hat sich der Abend gelohnt, speziell weil ich den CDU-Kandidaten später auf Augenhöhe fragen durfte: Welchen Bundeswehreinsatz könne er sich nach der Wahl vorstellen und welchen definitiv nicht? Er konnte oder wollte darauf nicht antworten, auch sonst niemand auf dem Podium. Ich hätte dazu immerhin einen konkreten Vorschlag.

Und nun zu den Ausrutschern. Mein politischer Punkt ist hier: Die Abhängigkeit der Kommunen von der Gewerbesteuer ist wie ein großes Kasino, in dem ein paar Profis ein paar Asse mehr im Ärmel haben. Und da spielt es am Ende gar keine so große Rolle, ob Firmen wirklich krank sind – Goetze war es im Jahr der großen Gewerbesteuer-Rückforderung wohl nicht – oder ob sie sich nur lokal krankschreiben lassen. Und in dieser Hinsicht könnte man die zwei Großen aus Burscheid auch schon mal verwechseln. Nur eine Randnotiz: Ich hatte bei beiden Firmen einen Gesprächstermin erbeten. Beide waren nicht interessiert und eine sprach dann auch Klartext: „Wir sind mit der gegenwärtigen Administration sehr zufrieden.“ Schön das.

 

(2013/24) 30.8.2013
DER SPIEGEL
Syrien; Hans Hoying, Christoph Reuter und Alexander Bühler "Assads kaltes Kalkül" (SPIEGEL 35/2013, S. 79ff)

Für einen Mord will man ein Motiv, für den Massenmord an unschuldigen Kindern, Frauen und Greisen ein besonders nachvollziehbares. Assad glaube schlicht, ihm könne keiner? Das ist kein schlüssiger Handlungsanlass für den Chef eines in Ruinen fallenden Staats, ohne Fahrkarte nach nirgendwo. Das ist der Vorwurf der Lästerung und die ungeschminkte vogelfrei-Erklärung, gleichzeitig Motiv und Absolution für diejenigen, die Assad nun "erlösen" könnten.

Der Artikel hätte der Vollständigkeit halber noch erwähnen dürfen: Deutschland hat wackere Beihilfe zu Aufbau und Versorgung sowohl der irakischen als auch der syrischen Giftgas-Produktion geleistet - trotz geschäftiger Kriegswaffen-Export-Kontrolle. Irgendetwas ist auch in unserem Staate sehr faul.

P.S.: Quellen zu Abs. 2
http://www.tagesspiegel.de/meinung/ruestung-syrische-chemiewaffen-mit-deutscher-hilfe/6916620.html
http://de.wikipedia.org/wiki/Chemiewaffenprogramm_des_Irak

 

(2013/23) 29.8.2013
Süddeutsche Zeitung
Syrien; Wolfgang Ischinger, Nie wieder Srebrenica (Süddeutsche v. 28.8.2013, S. 2)

Ischinger rückt den erwarteten Militärschlag zutreffend in die Nähe einer Strafexpedition. An seinem strategischen Plan bleibt dann aber der Übergang zu der eigentlich anvisierten diplomatischen Lösung völlig unkalkulierbar. Und der Vergleich mit Bosnien ist wohl eher vom dortigen Ergebnis her Wunsch-gedacht.

Die Problemlage in Syrien hat mit Landkarten, Fahnen und Staatsangehörigkeiten kaum noch etwas zu tun. Moskau und Washington mögen sich auch als diplomatische Garanten des Friedens verstehen – am Verhandlungstisch müssten allerdings ganz andere Nationen und Gruppen sitzen, wenn denn die Ergebnisse repräsentativ und nachhaltig sein sollten, Gruppen, die man ggfs. nicht einmal aufwerten oder stärken will. Zum anderen sind die großen Player der Geopolitik und ist insbesondere die sich nun wieder formierende Allianz der Aktiven viel stärker in den Granattrichter-Teppich des Nahen Ostens verstrickt, als dass sie als ehrliche Makler auftreten könnten. Ihre unbezahlten Hypotheken reichen zurück zu der eigennützigen und bis heute wirkenden Operation Ajax, mit der der säkulare iranische Staatspräsident Mossadegh gestürzt und ein despotischer Reza Pahlewi installiert wurde, über die fatale Waffenbrüderschaft mit einem – erst mit Giftgas-Technologie ertüchtigten und später in die Schlinge fallen gelassenen – Saddam Hussein bis zu den verwickelten Konfrontationen der neueren Zeit. Nichts, was den dringend erforderlichen Vorschuss an Vertrauen und Verlässlichkeit schaffen würde, nur immer mehr desselben.

Erst recht verstehe ich die Dosierung nicht, in der Ischinger äußere Gewalt unterstützt – offensichtlich zu wenig, um alle Konfliktparteien bis zur Passivität zu schwächen, offensichtlich zu viel, um Frieden oder zumindest Waffenstillstand wahrscheinlicher zu machen und neue zivile Opfer zu vermeiden. Aber wahrscheinlich genug, um die Waffendepots nach dem bewährten Muster „old out, new in“ zu sortieren.

 

(2013/22) 22.7.2013
Das Parlament
Aussetzen der Wehrpflicht; Alexander Weinlein "Ein Staat baut auf die Freiwilligen" (Das Parlament v. 15.7.2013, S. 6)

Die Wehrpflicht halte ich noch immer für eine sachgerecht ernüchternde Fußfessel für ambitionierte Außen- und Sicherheitspolitiker. Zumindest müssten die Tatbestandsvoraussetzungen einen Auslandseinsatzes deutlich klarer definiert sein als durch dehnbare Begriffe wie "Krise", "Konflikt" und "Vorbeugung", bevor wir ganz auf die Freiwilligen bauen. 

Darum will und kann ich unserem Verteidigungsminister auch nicht darin zustimmen, die Auslandseinsätze und die Neuausrichtung der Bundeswehr aus dem Wahlkampf herauszuhalten, wie er es noch im Mai des Jahres gefordert hat. Schicksalhafte Fragen gehören in den Diskurs mit den Wählern. Was sonst? Und: wann sonst?

P.S. Quelle zu der zitierten Äußerung von Herrn BM de Maizière 
http://www.presseportal.de/pm/55903/2468313/waz-verteidigungsminister-de-maizi-re-sicherheitspolitik-aus-dem-wahlkampf-heraushalten

 

(2013/21) 21.7.2013
Kölner Stadt-Anzeiger
Reaktion der Bundesregierung auf die "Prism"-Affäre (Burkard v. Pappenheim "EU soll Daten nach deutschem Vorbild schützen", KStA v. 19.7.2013, S. 1; "Eine Bedrohung für uns alle", Interview mit der Kanzlerin, ebd. S. 3)

Ob die EU Daten nach deutschem Vorbild - oder jedenfalls ohne qualitative Abweichungen von unseren Standards - schützen wird und ggfs. wann, das treibt mich eher wenig um. Die wesentliche Frage ist, ob und wann die amerikanischen Dienste genau das tun würden und inwieweit selbst der amerikanische Präsident seine Dienste beim besten Willen beeinflussen könnte - zuverlässig und für uns transparent.

Wenn die Kanzlerin nun erstmal eine eingehende Aufklärung des Sachverhalts ankündigt, so spielt sie am ehesten auf Zeit. Der BND hat an der Berliner Chausseestraße jüngst eine Geheimschutzfestung mit der Kantenlänge eines U-Bahn-Streckenabschnitts aus dem Boden gestampft; er wird in seinen Hallen und Höhlen und auch aus der jahrzehntelangen transallantischen Kooperation der Dienste über hoch detaillierte Fakten verfügen. Sonst wäre der BND zum wiederholten Mal sein Geld nicht wert.

Gleich zu Anfang des Interviews fordert die Kanzlerin die Balance zwischen der - von ihr auch zuerst genannten - Sicherheit vor Terrorismus und dem Schutz unserer Daten. Das aber sollten wir nüchtern und mit dem gebotenen Augenmaß angehen: Die ganz wesentlichen Risiken für unser Leib und Leben und für die Lebenschancen unserer Nachkommen, sie resultieren nicht aus Terrorismus, sondern aus anderen, um Größenordnungen relevanteren Ursachen. Und selbst im Falle des Terrorismus haben wir das Risiko in den letzten Jahren wohl fortlaufend und mutwillig selbst erhöht, auch durch eine von manichäischem Schwarz-Weiß-Denken geprägte Außen- und Sicherheitspolitik. Die allerdings einigen unter uns großen Nutzen gebracht hat. Ich votiere im Zweifel für den Schutz der Bürgerrechte.

 

(2013/20) 18.7.2013
Kölner Stadt-Anzeiger
Wahlberichterstattung; Sarah Brasack & Daniela Fobbe-Klemm „Das Internet kennt keinen Feierabend. Kandidaten im Bergischen Kreis bereiten sich auf den Wahlkampf vor – auch mit Hilfe von Twitter und Facebook“ (Kölner Stadt-Anzeiger, Ausgabe Rhein-Wupper v. 17.7.2013, S. 27)

Darf ich bescheiden drauf hinweisen? Da wäre noch eine kleine, aber feine parteifreie Kandidatur für den Rheinisch-Bergischen Kreis: Meine.
Und wer kann, der findet sie sogar in diesem neuen Internet.

 

(2013/19) 16.7.2013
Kölner Stadt-Anzeiger
Extremismus unter Soldaten; Bericht und Kommentar von Mira Gajevic („Bundeswehr zieht Extremisten an“, „Der MAD ist spät dran“, KStA v. 15.7.2013, S. 1 u. 4)

Der MAD ist sogar sehr spät dran. Das damalige Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr in München hatte bereits im Jahre 1993 in einer eingehenden Studie auf einen Trend der Bewerber zum rechten Rand des politischen Spektrums aufmerksam gemacht, siehe das SOWI-Arbeitspapier Nr. 77 vom März 1993. Im Grunde brauchte sich schon damals niemand zu wundern, dass von einer robusteren Aufgabe robustere Kerle angezogen werden.

Aber halt: Dürfen wir das derzeit überhaupt debattieren? Hat nicht Verteidigungsminister de Maizière noch im Mai den Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten Steinbrück ganz ausdrücklich dafür gelobt, dass dieser die Bundeswehr aus dem Wahlkampf heraushalten will? Und hatte unser Verteidiger nicht noch zackig hinzugefügt, diese – das nenne ich jetzt einfach mal so – Auszeit aus der Demokratie solle nicht nur für die Auslandseinsätze gelten, sondern für die gesamte Neuausrichtung der Bundeswehr? Lupenreine Demokraten allesamt, wie mir scheint.

P.S.: Quelle zur zitierten Aussage des Verteidigungsministers:
http://www.presseportal.de/pm/55903/2468313/waz-verteidigungsminister-de-maizi-re-sicherheitspolitik-aus-dem-wahlkampf-heraushalten

 

(2013/18) 21.5.2013
Kölner Stadt-Anzeiger, publiziert 21.5.2013 unter http://www.ksta.de/politik/bundesrechnungshof-schon-frueh-bedenken-gegen-drohnenprojekt-,15187246,22799754,view,DEFAULT.html
gestoppte Beschaffung der Euro-Hawk-Drohne; Mira Gajevic „Druck auf de Maizière wächst“, u. „Der fliegende Wal ist gestrandet“; Steffen Hebestreit „Im Blindflug“ (KStA 21.5.2013, S. 1, 2 u. 4)

Die Drohnenprojekte sind von der Art, die Regierungschefs, Verteidigungs- und Haushaltsausschüsse schnell und nachhaltig betören kann: Trendige technokratische Problemlösungen mit einer eingängigen Legende, mit dem Versprechen, auswärtige Gewalt ohne Reue und gemeinsam mit Waffen- und Rüstungspartnern projizieren zu können, perspektivisch gar noch bei anderen Waffensystemen einige Euro sparen zu können.

Wie ein Schelmenstück wirkt, wenn die deutschen Drohnen nun an Verkehrsregeln scheitern. Und nicht an dem sehr ernsthaften Argument, dass sie nur ein weiteres Beispiel eskalierender Rüstung sind, mit eher Konflikt-stärkendem als Konflikt-lösendem oder gar Konflikt-vorbeugendem Potenzial, und dass sie in einem völkerrechtlichen Schattenreich operieren.

 

(2013/17) 14.4.2013
Frankfurter Allgemeine
Zypern-Rettung; Holger Steltzner "Reiche Zyprer, arme Deutsche" (F.A.Z. 11.4.2013, S. 1)

Was genau an den EZB-Zahlen zur Vermögensverteilung in der EU ist so neu? Dass die deutsche Gesellschaft beim Familienvermögen – ebenso wie bei den Bildungsschichten, und auch dadurch perpetuiert – fest geschachtelt ist, das blieb vielleicht weithin unbeachtet, war aber nicht unbekannt. Auch die im Ländervergleich signifikante deutsche Spreizung ist ein eher alter Hut; der von Corrado Gini entwickelte Koeffizient ist heute knapp über 100 Jahre alt und ein viel gebrauchtes Standardwerkzeug. Und schließlich konnte man dies annehmen: Der Nutzen der neueren ökonomischen Strategien weist einen Gradienten von oben nach unten auf - unabhängig davon, wo die systemrelevanten Eliten gerade einmal lokalisiert sind; und das gilt natürlich auch für die aktuellen Feuerwehreinsätze.

Aus meiner Sicht hat allerdings der von Holger Stetzner am Ende herausgehobene Vergleich unter ehemaligen Comecon-Volkswirtschaften mehr allgemeine Aufmerksamkeit verdient, mögen auch diese Fakten bereits vorher recht gut erschlossen gewesen sein: Staaten ohne einen starken internen Wiedervereinigungspaten haben es ganz offenbar besser verstanden, das vorhandene und entwicklungsfähige Vermögen gleichmäßiger und chancengerechter auf die i.J. 1989 anwesenden Landeskinder zu übertragen, als das in den Spielregeln von Beitritt a.k.a. Wiedervereinigung für Ossis angelegt war.

Genau dieser Umstand wird Deutschland noch viel Frust-getragene DDR-Nostalgie bescheren und als rituelles Gegenmittel wiederkehrende Berichte und erregte Plenardebatten über die breite Aufarbeitung von SED-Unrecht. Obwohl die Opfer der ökonomischen Wiedervereinigung mehrheitlich solche Bürgerinnen und Bürger im Osten waren, die weder mit der SED noch mit der Stasi irgendetwas gemein hatten. Auch da gibt es eben einen unverdienten und sehr bedauerlichen ökonomischen Gradienten.

Quellen:

-        Zur EZB-Umfage siehe F.A.Z.-Beitrag mit Ländervergleich: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/armut-und-reichtum/ezb-umfrage-deutsche-sind-die-aermsten-im-euroraum-12142944.html; Pressemitteilung der EZB v. 9.4.2013 (englisch) siehe hier: http://www.ecb.int/press/pr/date/2013/html/pr130409_1.en.html

-        Bericht der Bundesregierung zum Stand der Aufarbeitung der SED-Diktatur siehe http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/121/1712115.pdf ; zur Debatte in der Plenarsitzung v. 22.3.2013 (TOP 30) siehe Protokoll http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/17/17232.pdf

 

(2013/16) 22.3.2013
Frankfurter Allgemeine
ZDF-Dreiteiler "Unsere Mütter, unsere Väter"; Debatte in der Frankfurter Allgemeinen (u.a. Frank Schirrmacher "Die Geschichte deutscher Albträume", F.A.Z. v. 15.3.2013, S. 31; Interview mit Nico Hofmann "Es ist nie vorbei", F.A.Z. v. 18.3.2013, S. 27; Martin Schulz "Was die Geschichte dieses Films uns lehrt", F.A.Z. v. 20.3.2013, S. 25)

Wenn ich die schwer entzifferbaren Zeilen aus dem vielbändigen Kriegstagebuch meines Vaters lese – viele von uns hüten wohl einen solchen Schatz – dann habe ich ganz andere Ängste, als dass ich mit ihm zu wenig über seine Zeit in der Nähe von Kursk oder später bei Belgrad gesprochen hätte; ich habe das Tagebuch auch für meine Kinder ins Lesbare übersetzt. Mehr plagt mich vielmehr die Vorstellung, das Schlechteste sei gar nicht nur zeitweise und unmittelbar kriegsbedingt zum Vorschein gekommen. Sondern: Der Krieg habe den damals gegnerischen Völkern Lehren erteilt, die noch heute Menschen fressen. Völkern, die in ihrer technokratischen Orientierung schon seinerzeit seltsam verwandt und strukturell vergleichbar waren und die gleichermaßen von darwinistischen Weltbeherrschungs- wie von Endgegner-Phantasien geprägt waren und sind. Lehren, die den geopolitischen Einfluss auch nach dem Krieg sehr robust sicherten und sichern, und das besonders augenfällig bei zentralen Verlierern und Gewalttätern; Robert Harris hatte dafür in seinem Romandebüt "Fatherland" ebenso irritierende wie treffende Bilder gewählt. 

Mich verstört, dass nach einer Zeit der Benommenheit auch Deutschland wieder zurück zu einer heute gerne beschworenen machtpolitischen Normalität gefunden hat. Zwar nicht zu einem Vernichtungskrieg nach Maßstab der beiden Weltkriege, wohl aber zu Interventionen und Strafexpeditionen – neudeutsch: zur power projection – wie im frühen 20. Jahrhundert, zur Zeit der Hunnenrede. Der damalige Verband hat sich in ähnlicher Weise neu konfiguriert – wie das sprichwörtliche Pack, das sich schlägt und flugs wieder verträgt. 

Am meisten aber erschüttert mich: Alles dies konnte ohne den sachtesten Federstrich des Grundgesetzgebers und ohne ernsthafte gesellschaftliche Debatte voran schreiten. Das Konkreteste, was wir zu den Gründen und Zielen der neuen Außen- und Sicherheitspolitik in Händen halten, sind Weißbücher und Verteidigungspolitische Richtlinien: Verfassungsrechtlich ein Nullum, noch eine Notverordnung hätte mehr juristisches und demokratisches Gewicht. Mancher mag diese Politikentwicklung fern der Bürger gar als besonderen Ausweis staatsmännischer Kunst rühmen, als effiziente Führung eines zur Modernisierung alleine nicht fähigen Staatsvolks. Doch machen wir uns nichts vor: Auch unser neues Bündnis hat, gemeinsam handelnd oder auch getrennt, schon wieder einige Millionen Kerben auf dem Holz, jede Kerbe ein Zivilist, darunter in großer Mehrzahl Kinder, Frauen, Greise. Mit einem robusten Interventionismus zur Wahrung wohlverstandener Interessen und trotz all der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Menschenrechte und der Barmherzigkeit, die wir ganz unverdrossen im Schilde führen. 

Und nun geht es gar nicht mehr um Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern. Es geht um die politisch Wachen und Aktiven, geschätzt ab 12 Jahren Alter. Es geht auch um die hierzu schrecklich nichtssagenden Wahlprogramme. Und es geht um hier und nun wieder verwüstete Seelen. Wenn der Dreiteiler diese Reflektion anstieße und aus einer Erinnerungskultur zu einer jetztzeitigen Besinnungskultur führte, dann wären für mich Geld der Gebühreneinzugszentrale und die kollektive Zeit an der Mattscheibe einmal sehr gut investiert.

 

(2013/15) 28.2.2013
Kölner Stadt-Anzeiger
Bundeswehr; Interview mit Verteidigungsmininister de Maizère am 24.2.2013 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung u. UNIFIL-Vorkommnis; Kommentare von Steffen Hebestreit „Kühler Dienstherr“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 27.2.2013, S. 4) u. „Besser genau hinsehen“ (KStAnz v. 28.2.2013, S. 4)

Ich erwarte, unsere Außen- und Sicherheitspolitiker werden sich im anlaufenden Wahlkampf an das Maß des Verteidigungsministers de Maizière halten: Nicht nach Anerkennung gieren, einfach gute Arbeit leisten. Dazu gehört als erstes, nach 20 Jahren nun endlich eine differenzierte Bilanz der erweiterten Außen- und Sicherheitspolitik zu ziehen, die Erfolge und die enttäuschten Erwartungen zu resümieren. Etwa: Was bleibt von UNOSOM II, war LIBELLE notwendig und wird ISAF ein Erfolg gewesen sein? Sodann, so hoffe ich, werden die Wahlbewerber in einem Dialog mit uns Bürgern und speziell mit den Soldaten unter uns Bürgern einen aktuellen Soldateneid und eine Wehrverfassung vereinbaren, die gegenüber dem Status des Kalten Kriegs auf die neue Konfliktrealität zutrifft.

Ein klarer Auftrag, das hat fast jeder schon zu spüren bekommen, erleichtert Berufswahl und Berufsausübung. Unsere Soldaten brauchen keine maximierten Zustimmungsraten bei Einsatzbeschlüssen; parlamentarische Einmütigkeit ersetzt keine Rechtsstaatlichkeit oder auch nur Berechenbarkeit. Aber eine Sinn stiftende, definierte – will sagen eine klar umrissene und begrenzte – Aufgabe wäre gegen Frust und für wirksame innere Führung sehr wirksam. Sie würde auch gegen aggressive Langeweile immunisieren, wie sie sich gerade im UNIFIL-Einsatz realisierte.

 

(2013/14) 21.2.2013
Frankfurter Allgemeine
Promotionsüberprüfungen; Berichte u. Kommentierungen u.a. in der F.A.Z. v. 7.2.2013: Günther Nonnenmacher „Kein Ruhmesblatt“ u. Heike Schmoll „Nur Verlierer“ (beide S. 1), Reinhard Müller „der Doktor vor Gericht“ u. Jürgen Kaube „Akribisch“ (beide S. 8)

Die modernen akademischen Dramen lösen in den Redaktionen und auch bei der schreibenden Leserschaft in der Regel Nachsorge aus. Mal bedauernd, mal hämisch, mal das Verfahren oder die auf allen Seiten Beteiligten hin und her wendend – seltener aber strukturell oder gerichtet auf eine bessere Leistungsfähigkeit unserer so genannten Wissensgesellschaft. Und wenn man einmal ganz profan annehmen darf, dass auch akademische Auszeichnungen so wie auch andere sozialen Attribute auf Marktkräfte reagieren, dann sollten auch ökonomische Werkzeuge als Remedur im Blick bleiben.

Da wäre insbesondere die entschlossene Verknappung und das Kappen aller Insignien, die sich am ehesten akademischen Schein und bürgerliche Eitelkeit zunutze machen, – in bisweilen sehr obskuren Händeln. Wozu sind Titel honoris causa oder – bei den Ingenieuren – Ehren halber überhaupt gut, wenn man über die unmittelbaren Akteure hinaus schaut? Muss, wer keine ernsthafte wissenschaftliche Arbeit schreibt, aber an der Universität teils launige, teils fahrige Vorlesungen anbietet, mehr als „zeitarbeitender Dozent“ heißen? Pardon, liebe wirkliche Dozenten, wenn überhaupt?

Wozu braucht es Amtsbezeichnungen wie „Direktor und Professor“, die bestenfalls den Vakanzen-Annoncen der betreffenden Einrichtungen eine Art Goldfaden einwirken sollen, die die Wissenschaft aber rein gar nicht weiter tragen? Auch das so eingängige, weil Fehlsteuerung annehmlich machende Verjährungsargument („Zitierfehler sind unschlüssigerweise länger zu ahnden als Totschlag!“) kann man ganz anders wenden und fragen: Müsste eine akademische Auszeichnung nicht eine aktuelle wissenschaftliche Kompetenz anzeigen und wäre sie daher nicht zumindest jahrzehntweise durch eine neue originelle Forschungsleistung und/oder eine veritable Lehrleistung aufzupolieren – bis man seinen Titel dann, sagen wir ab siebzig, dauerhaft versteinern lassen dürfte?

Man könnte auch ganzen Zünften die dort in bedingtem Reflex, aber mit marginalem wissenschaftlichem Delta produzierten Aushängeschilder ausreden. Das Tragen akademischer Grade, das so viele Zeitgenossen beschwipst, könnten wir schließlich auch mit einer Genusssteuer belegen, vielleicht gar Prämien ausloben für die, die ihren Titel ohnehin schon Leid sind und abgeben möchten.

Nach alledem wäre nicht nur zu hoffen, dass mehr Qualität die Quantität ablöst, sondern dass wir uns deutlich degressiv mit den Höhen und Tiefen des Titelmarktes abzuplagen hätten, privat wie medial.

 

(2013/13) 20.2.2013
Dolomiten, abgedruckt 26.2.2013
Promotionsüberprüfungen; Florian Stumfall „Zu viel der Ehre für Annette Schavan“ (Dolomiten v. 19.2.2013, S. 3)

Die Zitierfehler in Annette Schavans Dissertation werden kaum die Fähigkeit beeinflusst haben, ihre Referentenstelle gut auszuüben und die junge Schavan wäre sicher selbst ohne Promotion für diese Arbeit inhaltlich gut qualifiziert gewesen. 

Die Defizite der derzeitigen wie auch der voran gegangenen Affären und Debatten liegen eher in der Personalisierung. Ernsthaft fragen sollte man strukturell – und das auch fächer- und natürlich grenzüberschreitend: Sind die Insignien der Wissenschaft nicht schon lange zu Lametta der selbst ernannten Wissensgesellschaften denaturiert, zu einem bizarren Titelhandel rund um Ehrendoktorate, Honorarprofessuren oder Lego-artig konfigurierte Dissertations-Themen im primären Interesse der Doktorväter? In Deutschland darf man wohl auch die Amtsbezeichnung „Direktor und Professor“, die einige Institutionen nutzen, zu diesem Markt der Eitelkeiten rechnen. 

Strategische Verknappung könnte den Wert unserer Orden der Wissenschaft steigern. Vielleicht auch, akademische Würden nur mit einer definierten Halbwertzeit zu vergeben. Dann braucht auch niemand mehr das „Totschlags“-Argument mit der Verjährung zu bemühen.

Anm.
Unmittelbar nachdem ich obigen (kritischen) Leserbrief von meinem Mail-Account abgesendet hatte, bekam ich schon Werbung eines Schweizer Beratungsunternehmens eingeblendet, das sich auf die Vermittlung von Dr.- und Professorgraden honoris causa bzw. von Honorarprofessuren spezialisiert hat. Die Werbe-Bots sind offenbar noch recht grobschlächtig in ihrer Zuordnung. Oder schon viel durchtriebener, als wir denken.

 

(2013/12) 12.2.2013
DER SPIEGEL
Promotionsüberprüfungen; Jan Friedmann, Barbara Schmidt, Fidelius Schmidt u. Markus Verbeet "Auf Abruf" (DER SPIEGEL 7/2013 S. 26f)

Nehmen wir doch "Bildungsrepublik" und "lebenslanges Lernen" ernst und drainieren den Markt der Eitelkeiten: Akademische Titel hielten nur auf Zeit - oder auf Abruf - und wir würden sie wie einen Personenbeförderungsschein verlängern, sagen wie alle zehn Jahre durch frischen Leistungsnachweis. Ab 67 dürften wir sie auch in unsere post-mortem-Visitenkarte meißeln lassen. Der Honorar-Professor würde schlichter Dozent und die skurrile Amtsbezeichnung "Direktor und Professor" firmierte künftig nur mehr als Direktor. Vielleicht könnten wir sogar den Dr.-Ing. E.h. zum gemeinverständlichen Dr.-Ing. h.c. umwidmen. Aber das wäre schon arg revolutionär.

 

(2013/11) 4.2.2013
DER SPIEGEL
Beschaffung von Drohnen für die Bundeswehr; Thomas Darnstädt „Ein Feind namens Müller“ (DER SPIEGEL 6/2013 v. 4.2.2013, S. 41)

Volle Zustimmung! Das einzige, was Drohnen mit Flugzeugen oder Artillerie gemein haben, das ist die attraktive Beschaffung. Für mich gehören Drohnen zu den ehrlosen Strategien, die eine – zunächst – ohnmächtige Wut auslösen können. Am Beispiel der Giftmischer und Meuchelmörder hat Kant diese Art Cleverness als todsicheren Keim künftiger Konflikte kategorisiert.

Quellen:

-        Zu Kant / zu den von ihm so genannten "ehrlosen Stratagemen" wie Meuchelmördern / percussores und Giftmischern / venefici siehe seine immer aktuelle Schrift "Zum ewigen Frieden", 1795, 6. Präliminar-Artikel (Reklam-Ausgabe S. 7f, siehe in der folgenden Internet-Ausgabe http://homepage.univie.ac.at/benjamin.opratko/ip2010/kant.pdf auf S. 8).

-        Zur Problematik automatisierter Waffen, u.a. Drohnen s. eingehend P. W. Singer, Brookings Institution, Wash. „Der ferngesteuerte Krieg", Spektrum der Wissenschaften 12/2010 S. 70ff = http://www.spektrum.de/alias/pdf/sdw-10-12-s070-pdf/1055086?file

 

(2013/10) 26.1.2013
Kölner Stadt-Anzeiger
Zulassung von Frauen zu Kampfeinsätzen in den USA; Kommentar von Damir Fras "Frauen an die Front" (KStA v. 25.1.2013, S. 4)

Schon das Aufheben der allgemeinen Wehrpflicht und das Anlocken der jungen Menschen mit den schlechteren Bildungs- und Erwerbschancen für die heute typischerweise robusten Auslands-Einsätze darf man als Verleitung zur Prostitution verstehen. Oder: als schreienden Missbrauch eines seit Jahrzehnten beständig wachsenden social divide. Aber jungen Frauen die besonders attraktiven Kampfzulagen hinzuhalten, für Einsätze, die lebensgefährlich sind und die den allermeisten männlichen Parlamentariern nicht einmal im Traum in den Sinn kämen, das ist aus meiner Sicht nochmals anrüchiger und krass menschenverachtend – auch in Deutschland.

Ich halte nichts von Kinder, Küche, Kirche. Aber K wie Krieg ist nicht die Alternative.

 

(2013/09) 22.1.2013
FOCUS, abgedruckt 28.1.2013
Mali; Harald Kujat "Gute Gründe zum Handeln" (FOCUS 4/2013, S. 30)

In einem militärischen Eingriff zu Gunsten eines bedrohten Regimes steckt das jedenfalls stillschweigende Versprechen, man wolle das betreffende Land in die eigenen Wirtschaftsbeziehungen einbinden und so auch dauerhaft stabilisieren, jedenfalls nach erfolgreichem Abschluss der Kampfhandlungen. Auch Harald Kujat betont in seinem Planspiel zu Recht den ökonomischen Teil einer Gesamtstrategie. Realitätsnah scheint mir eine solche Perspektive im Falle Malis aber nicht zu sein – wenn dies schon bei einem kulturell wie ökonomisch recht nahestehenden Land wie Griechenland trotz jahrzehntelanger systematischer Bemühung beider Seiten nicht recht glücken will. Um gar nicht erst von einem strukturell besser vergleichbaren und weitgehend hoffnungslosen Fall wie Afghanistan zu sprechen.

Ich sehe erhebliche Risiken und - wenn überhaupt - dann ausschließlich gruppendynamische bzw. bündnispolitische Gründe für ein robustes Mitwirken, und zwar nach dem eher berüchtigten Muster "TINA" oder: there is no alternative.

 

(2013/08) 22.1.2013
DIE ZEIT, abgedruckt 31.1.2013
Mali; Andrea Böhm "Al-Kaida im Nachbarhaus" (DIE ZEIT 17.1.2013, S. 5)

Okay – mögen unsere Politiker uns Bürger mal nicht verwöhnen, sondern intellektuell fordern, nach bester Pädagogen-Manier: Mit einer ergebnisoffenen Debatte um die eigenen Interessen, die eigene Rolle und die künftige Priorität unserer Außenpolitik. Nicht nur an einem ad-hoc-Beispiel, sondern wie es sich für Demokratie und Rechtsstaat gehört, also ganz nach Muster des kategorischen Imperativs. Dazu gehört auch eine offene Evaluation der bisherigen Missionen, des jeweiligen Nutzens, der Folgen und Lasten, also der „lessons learnt“. Oder: Wie effektiv konnte Deutschland konkret welche Interessen militärisch wahren, in den bald zwanzig Jahren „out-of-area“? Ich befürchte nur: Unsere politische Klasse denkt noch immer so, wie es der damalige Außenminister Kinkel im Bundestagswahlkampf 1993/94 einmal in einem Interview mit n-tv freimütig bekannte: „Ich möchte wirklich ungern mit diesem Thema in zwanzig Wahlkämpfe gehen, weil dies Deutschland schadet.“ Solches Denken macht zwar das Bündnisleben leichter, höhlt indessen die Demokratie aus.

Anzumerken bleibt: Der Konflikt in Mali und mögliche Lösungswege sind wohl nicht ohne die ursächliche Wirkung voran gegangener Auseinandersetzungen zu erfassen, insbesondere in Afghanistan und im Maghreb. Belmokhtar und Bin Ladin haben eine sehr ähnliche Entwicklung genommen; beide wurden mit der Unterstützung von Amerikanern und Pakistanis als hocheffiziente Mu’dschaheddin konditioniert oder: im Dschihad gegen das sowjetische Dar al-Harb, das Haus des Krieges. Krieg gegen den Westen, gegen das Nachbarhaus der Sowjets, ist da nur ein minimaler Übersprung. Jeder dieser Konflikte, ob in Afghanistan, im Irak, in Libyen oder nun in Mali taugt offenbar ohne Weiteres als Brutreaktor eines folgenden. Das sollten wir ins Kalkül ziehen.

 

(2013/07) 22.1.2013
Kölner Stadt-Anzeiger; veröffentlicht am 22.1.2013 als Internet-Kommentar
Mali; Niebel befürchtet Kriegsausweitung (KStA v. 22.1.2013, S. 4)

Es spricht viel dafür, über Koexistenz und Hilfe nachzudenken. In den letzten 20 Jahren hat sich in der Region um Timbuktu die Desertifikation um die Größenordnung von 100 km nach Süden verschoben – wohl nicht ohne unsere Mitverantwortung, wenn man die Klimaforschung ernst nimmt. Timbuktu versinkt im Sand und das einzige, was dort fließt, sind die Waffen, die man im Maghreb hat niederregnen lassen. In den letzten 20 Jahren haben wir das vorher von den Blöcken emsig umworbene und alimentierte Afrika, insbesondere die wenig Ertrag versprechenden Regionen und Völker, weitestgehend ausgeblendet, auch Mali; das rächt sich jetzt bitter. Und wenn wir konsequent alle die niederkämpfen wollten, die die Scharia eng anwenden oder gar offensiv verbreiten, dann müssten wir wohl bei Saudi Arabien anfangen.

 

(2013/06) 22.1.2013
DER SPIEGEL
Mali; Paul H. Mben u. Jan Puhl "Die Tore der Hölle" (DER SPIEGEL 4/2013, S. 84ff)

Es erinnert an den Zauberlehrling. Alle aktiven Komponenten des Konflikts stammen aus dem Norden: Gier nach Ressourcen bei Desinteresse an Menschen / Verantwortung für dynamische globale Desertifikation und für ein Timbuktu, das im Sand erstickt / Aktivisten wie Belmokhtar, in Afghanistan noch gegen die Sowjets konditioniert / eine Scharia, von den Saudis hart angewandt und aggressiv vermarktet. Und natürlich die Waffen, frisch aus dem Maghreb. Wenn uns da nur mehr vom Gleichen einfällt, steht genau mehr vom Gleichen zu erwarten.

 

(2013/05) 21.1.2013
Frankfurter Allgemeine
Mali; "De Maizière gegen Ausweitung ...", "Chaostruppe", F.A.Z. v. 21.1.2013, S. 1, 10; Thomas Scheen "Auf sich allein gestellt", F.A.Z. v. 18.1., S. 3; Günther Nonnenmacher "Berlin prüft", F.A.Z. v. 15.1., S. 1; Christian von Hiller "Mali - das sagenhafte Reich voller Gold und Bodenschätze", F.A:Z. v. 15.1., S. 10; Berthold Kohler "Deutsch-Nordwest?", F.A.Z. v. 14.1., S. 1

Alle die sattsam bekannten Module, sie sind wieder da: Ein Staat prescht vor, möglicherweise zum persönlichen Ruhm und Nutzen des Staatschefs, aber jedenfalls zur Wahrung der nationalen Interessen, auch bei der Energie- oder Rohstoffversorgung aus der fraglichen Region. Das Zielland hatten wir alle eine Zeit lang aus den Augen verloren – zu wesentlichen Teilen hatte es nach Ende der Blockkonfrontation nicht mehr viel gegolten. Ein Endgegner ist definiert, der ruchlos, zumindest nicht nach unseren Regeln denkt und zu massenhafter Vernichtung fähig scheint, und zwar gleich unter uns; dieser Feind hat, direkt oder indirekt, von unseren Waffenlieferungen profitiert und zentrale Figuren - wie in casu Belmokhtar - haben ihr Handwerk und ihren Furor in Afghanistan gegen die Sowjets erworben. Das nun durch Intervention zu stützende Regime hat alles andere als einen guten Leumund. Und zuletzt, aber nicht zumindest: trotz aller Schwachstellen der Mission wird für die Deutschen bereits der üble Ruf von Undankbarkeit und Feigheit für den Fall bereit gehalten, dass wir nicht zu den Fahnen eilen und dem wackeren Nachbarn beistehen. 

Den schlüssigen Plan für die Zukunft, den gibt es freilich wieder nicht, auch kein politisches, kein demokratisch abgesichertes Konzept, wie wir diese Kette von Gewaltexkursionen unterbrechen wollen – außer durch mehr Technik, mehr Rüstung, mehr Schulterschluss, mehr Tricks und Finten, mehr Abschreckung; mehr vom Gleichen also. 

Vielleicht können wir uns einmal nicht wie erinnerungsschwache Zauberlehrlinge gebärden und statt dessen über neue Module nachdenken: Über die Elemente einer nachhaltig kooperativen Koexistenz mit den Völkern und Stämmen dieses gottverlassenen Landstrichs, ohne jegliche Mentalreservation zum eigenen Nutzen. Und möglicherweise können wir allen manichäischen Domino-Theorien und auch allen selbst-referentiellen Monroe-Doktrinen entsagen. Selbst die gerade wieder viel zitierte Scharia hindert unseren Dialog wohl nicht grundsätzlich: Wird die Scharia nicht seit Menschengedenken nach einer besonders strenggläubigen Schule in einem uns sehr verbundenen Land angewandt und auch von dort druckvoll exportiert: in und von Saudi Arabien?

P.S.
Sehr instruktiv war für mich, noch einmal Peter Grubbes "Der Untergang der Dritten Welt. Der Krieg zwischen Nord und Süd hat begonnen" (1991/1994) zur Hand zu nehmen. Grubbe beginnt gerade mit einer düsteren Reportage aus einem bereits damals zunehmend im Sand versinkenden und völlig hoffnungslosen Timbuktu und leitet die dynamische Zunahme gewaltsamer Konflikte u.a. aus dem schlagartig entzogenen Engagement des Westens bzw. aus der strikten Priorisierung zu Gunsten der eigenen "wohlverstandenen Interessen" ab. 

 

(2013/04) 16.1.2013
Kölner Stadt-Anzeiger, veröffentlicht am 16.1.2013 als Internet-Kommentar
Mali; Axel Veiel „Hollande, der Feldherr““ (KStA v. 14.1.2013, S. 4)

Ob Dank der Militärintervention die Chancen steigen, dass aus Mali wieder ein funktionierendes Staatswesen nach unserem Geschmack wird, das mag man mit guten Gründen auch bezweifeln. Zumindest irritiert doch sehr, dass das Land - obwohl Musterland und wohl auch von strategischem Interesse - so lange aus den Augen war und schon lange einem "failed state" ähnelt. Oder dass Waffen, die der Westen freigiebig auf Libyen regnen ließ, so schnell eine neue Verwendung gefunden haben.

Die Effizienz einer außen- und wirtschaftspolitischen Denkrichtung, die Afghanistan, Ägypten, Irak, Iran, Jemen, Libyen, Mali, Pakistan, Saudi-Arabien und Syrien (Reihung hier schlicht alphabetisch) in ihrem jeweiligen heutigen Zustand möglich gemacht, darf getrost in Frage gestellt werden.

 

(2013/03) 15.1.2013
DIE WELT, abgedruckt 18.1.2013
Mali;  Kommentar Michael Stürmers "Spät kommt ihr" (DIE WELT 15.1.2013, S. 3)

Wenn Konflikte dieser Art mehr und mehr zur Regel werden, dann sollte jedenfalls ein Rechtsstaat, sollte insbesondere eine Demokratie möglichst trennscharfe Regeln für den Einsatz und die Grenzen militärischer Gewalt ausbilden, sollte also Berechenbarkeit, Vertrauen und Klarheit nach innen und außen schaffen. Das braucht auch keine 100.000 Seiten; ganz sicher würde eine einstellige Zahl völlig reichen. Wenn es nur einmal jemand anpacken würde, dabei auch nüchtern die Erfahrungen aus Somalia, dem Irak und Afghanistan nutzen würde. Im ersten relevanten Bundestagswahlkampf nach der 1990er Zeitenwende hatte sich der damalige Außenminister Kinkel noch sehr bedeckt gehalten: Er wolle mit diesem Thema nicht in Wahlkämpfe gehen, weil das Deutschland schade. Gerade steht wieder eine Wahl an - es ist noch nicht zu spät.

Noch eine Anmerkung: Die Waffen der malischen Islamisten stammen, wenn ich's recht verstehe, nicht nur aus schlecht gesicherten Beständen Gaddafis, sondern zu einem signifikanten Teil auch von den früheren libyschen Aufständischen bzw. von deren Unterstützern sowie aus ähnlich gelagerten Konflikten. Hergestellt sind sie allesamt in Industriestaaten.

 

(2013/02) 15.1.2013
Kölner Stadt-Anzeiger
etwaiger deutscher Beitrags zur Mali-Intervention; Steffen Hebestreit "Volle Rückendeckung für Frankreich" und "Bundeswehr nach Mali“ (KStA v. 14.1.2013, S. 3, 4); Axel Veiel "Der Zauderer als Feldherr" (KStA v. 15.1.2013, S. 4)

Steffen Hebestreit hat den Mechanismus knapp und zutreffend beschrieben: Der Westen hat Mali Hilfsgelder gestrichen, seine Armee und der ganze Staat sind geradezu implodiert und nun muss der Westen mit Gewalt intervenieren - wohl auch, um eigene Interessen und Ressourcen zu sichern, und vielleicht auch, um Führungsstärke zu beweisen. Nachhaltig fühlt sich diese Politik nicht an, aber heute auch nicht ungewohnt.

 

(2013/01) 11.1.2013
TIME magazine
Taliban; violent resistance against polio vaccination campaigns; Jeffrey Kluger's and Aryn Baker's article "Killing polio" (TIME No. 1/2013 p. 16 ff)

Blaming the Taliban as patrons of polio on the first TIME front page of 2013 may significantly add to public Manichaeism. Due to a multi-centennial experience the peoples of Asia are reacting quite skeptically anyway, whenever it says "I'm from a (western) government and I'm here to help!" 

And you may do different calculations as to public health, more blaming the West, e.g. in respect of some thousand Afghan civilian casualties following the ongoing military interference, or drug production, consume & exports, skyrocketing after the Kabul regime change of 2011.

P.S.
as to civilian casualties of the Afghanistan mission cf. the report of Susan G. Chesser, US Congressional research service, of Dec. 6, 2012, p. 3 f = 
http://www.fas.org/sgp/crs/natsec/R41084.pdf

 

(2012 / 42) 23.12.2012
Kölner Stadt-Anzeiger
Demografie; Kommentar von Tobias Kaufmann "Der Staat macht keine Kinder" (KStA v. 22./23.12.2012, S. 4)

Neben den erwähnten Gründen für zunehmende Kinderlosigkeit mag man noch ein weiteren sehen: Konsum und Kinder sind Fressfeinde. "Ich bin doch nicht blöd!" meinte zumindest auch "Ich bin doch nicht so blöd und kaufe Windeln!" Und Unterhaltungselektronik verspricht aller Komplexität zum Trotz noch immer Beherrschbarkeit - und sei es am Stecker.

Es ist ein wenig in Vergessenheit geraten: Speziell Mecklenburg-Vorpommern, unser heutiges demografisches Sorgenkind, hatte eine Alterspyramide zum Vorzeigen, als es noch nicht McPomm hieß, unmittelbar vor der Wirtschafts- und Währungsunion. Die Kinder hatte nicht der Staat gemacht, richtig. Aber Rahmenbedingungen wie Kinderbetreuung und das sog. "Abkindern", der Teilerlass von Baudarlehen, zeugen von einer gewissen Mittäterschaft. Der Regionalvergleich der im Kommentar zitierten Studie zeigt noch heute signifikante Unterschiede zwischen West und Ost, allerdings auch den überproportionalen Rückgang in den neuen Ländern.

Quelle: Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung „Keine Lust auf Kinder“ vom Dezember 2012
http://www.bib-demografie.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Download/Broschueren/keine_lust_auf_kinder_2012.pdf?__blob=publicationFile&v=9

 

(2012 / 41) 18.12.2012
SPIEGEL
Beschneidungsgesetz; Essay von Necla Kelek "Akt der Unterwerfung" (SPIEGEL 51/2012 v. 17.12.2012, S. 74f)

Necla Kelek zeigt auf den massiven rhetorischen Webfehler der Gesetzesbegründung und einiger darauf beruhender Beiträge aus der Bundestagsdebatte: Eltern können das Kindeswohl aus der Kindesnähe heraus typischerweise besser verfolgen, soweit noch richtig. Aber das Nähe-Argument greift nur, solange die Entscheidung der Eltern frei ist und nicht schon von einer anderen Instanz mit real unwiderstehlichem Drohpotenzial vorgegeben ist - letzteres ja noch wirkungsvoller, wenn es gar keine ernstzunehmende Integration gab. 

Der Staat und auch die Kirchen haben mit hastigem Wegschauen und oberflächlicher Institutionenpolitik gerade viel Kapital verspielt, jedenfalls bei mir. Am meisten stört mich, dass das systematische Wegschauen in den Dreissiger und Vierziger Jahren die nunmehrige Apathie alternativlos gemacht haben soll.

Quelle
Die amtliche Begründung zitiert gem. Drs. 17/11295, S. 12 für das Vorrecht der Eltern bei der Bestimmung des Kindeswohls die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts v. 9.2.1982, Az. 1 BvR 875/79 = BVerfGE 59, 358, 371. Dort heißt es unter juris-Rn. 64 wörtlich, Hervorhebung von mir:

"Das Elternrecht unterscheidet sich von den anderen Freiheitsrechten des Grundrechtskatalogs wesentlich dadurch, dass es keine Freiheit im Sinne einer Selbstbestimmung der Eltern, sondern zum Schutze des Kindes gewährt. Es beruht auf dem Grundgedanken, dass in aller Regel Eltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder Institution."

 

(2012 / 40) 18.12.2012
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 2.1.2013
Beschneidungsgesetz; Heribert Prantls Kommentar "Das Minimum" (Süddeutsche v. 13.12.2012, S. 4)

Was ist der konkurrenzlose Vorteil einer pluralistischen, einer multikulturellen, einer multireligiösen Gesellschaft? Aus meiner Sicht weniger das Abschotten und mehr der gemeinsame Vorrat an humanen Modellen, der offene Diskurs und das gemeinsame Lernen, auch das gemeinsame Verlernen.

Der Regierungsentwurf zum Beschneidungsgesetz enthält auf S. 11 einen der skurrilsten offiziellen Belege, die ich in dieser Republik je gelesen habe: "Aus Bayern wurde 1843 der Fall berichtet, dass die Polizeibehörde einen jüdischen Vater, der sich geweigert hatte, seinen Sohn beschneiden zu lassen, sogar anwies, sein Kind beschneiden zu lassen: Solange er der Religion angehöre, habe er sich auch deren Religionsgebräuchen zu unterwerfen (Der Orient 1843, Heft 40, S. 316)." Das ist die gute alte Ordnung der Schublade und der Ohrenmarken, die Bestimmung des Lebensweges von Geburt an, die Gesellschaft des Nebeneinander und Untereinander, das bisweilen peinlich berührte Wegschauen. 

Es ist nicht einmal sicher, dass der Strafrichter nun vor harten Entscheidungen sicher ist. Den konzentriertesten Beleg für die ungewöhnliche Unbestimmtheit des Gesetzes - etwa zur unabhängigen Aufklärung, zum Gewährleisten einheitlicher humaner Behandlungsstandards und zu einer hinschauenden Evaluation - liefern die Ausschussbegründungen aus dem Bundesrat und aus dem Bundestag.

Quellen

-         Gesetzentwurf v. 5.11.2012:
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/112/1711295.pdf

-         Stn. Rechtsausschuss / Gesundheitsausschuss des Bundesrates v. 19.10.2012:
http://www.bundesrat.de/cln_320/nn_8396/SharedDocs/Drucksachen/2012/0501-600/597-1-12,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/597-1-12.pdf

-         Stn. Rechtsausschusses des Bundestages v. 11.12.2012 (gesonderter Bericht in Drs. 17/11814 = Begründung der Beschlussempfehlung in Drs. 17/11800 vom Vortage):
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/118/1711814.pdf

 

(2012 / 39) 21.11.2012
Kölner Stadt-Anzeiger
Aufgaben der Bundeswehr; Aufruf von Lothar de Maizière zu einer breiten Debatte der Aufgaben und Einsätze der Bundeswehr (Steffen Hebestreit u. Volker Schade "Minister fordert Einsatz-Debatte", Kölner Stadt-Anzeiger v. 21.11.2012, S. 1; Burkhard von Pappenheim "Deutschland muss helfen", ebenda S. 4; auch zu „Gezielte Tötung ist erlaubt“, Interview von Mira Gajevic mit Prof. Heintschel von Heinegg, Kölner Stadt-Anzeiger v. 16.11.2012, S. 3) der nachfolgende Leserbrief:

Chapeau! Lothar de Maizières Appell zur tiefgreifenden gesellschaftlichen Debatte über die Auslandseinsätze der Bundeswehr trifft den Kern und kommt für den anlaufenden Wahlkampf zum 18. Bundestag gerade richtig: Für genau welche Werte sollen Bürgerinnen und Bürger - und das sind unsere Soldatinnen und Soldaten eben auch nach Aussetzen der Wehrpflicht - ins Feld ziehen? Was sind die Lektionen, die wir nach inzwischen mehr als hundert Einsatzbeschlüssen des Bundestages gelernt haben, was die Erfolge, was die eingesetzten Ressourcen und die Nebenfolgen? Welche Instrumente sehen wir als sachgerecht und hilfreich bei der Deeskalation von Konflikten an - wie steht es etwa mit verdeckt operierenden Einsatzkräften oder mit fernwirkenden Drohnen? 

Ich hoffe, alle Parteien nehmen den Ball aktiv auf und schreiben Greifbares und Auswahlfähiges in ihre Programme - und alle gesellschaftlich relevanten Gruppen wie die Glaubensgemeinschaften, die Verbände, die Wissenschaft und die Medien bereichern die Debatte mit konkreten Positionsangaben und Informationen. Dann kann die 2013er Wahl auch zu diesem für unsere Zukunft höchst relevanten Thema endlich eine legitimierende demokratische Aussage treffen.

Quellen

-        Liste der Einsatzbeschlüsse des Bundestages s. unter http://www.vo2s.de/mi_missionen.xls

-        Zur Problematik automatisierter Waffen, u.a. Drohnen s. eingehend P. W. Singer, Brookings Institution, Wash. „Der ferngesteuerte Krieg", Spektrum der Wissenschaften 12/2010 S. 70ff = http://www.spektrum.de/alias/pdf/sdw-10-12-s070-pdf/1055086?file

 

(2012 / 38) 14.10.2012
Kölner Stadt-Anzeiger
Beschneidung; zum Bericht und Kommentar von Thomas Kröter im KStAnz v. 26.9.2012 S. 1, 4 („Beschneidung soll straffrei bleiben“, „Die Debatte beruhigen“); Notiz im KStAnz v. 11.10.2012 S. 3 („Kabinett billigt Gesetzentwurf“) und Bericht im Internet-Angebot des KStAnz v. 11.10.2012 „Protest gegen Beschneidungsgesetz““

Es ist ein Dilemma von der Klasse eines antiken Dramas, zweifellos: Politische Korrektheit sollte eindeutig und stringent sein, im Idealfall wie Mathematik, und hier haben wir einen massiven Korrektheits-Konflikt. Das körperliche Zeichnen von Neugeborenen im Intimbereich ist eine Form der genitalen Verstümmelung, sie widerspricht allen aufklärerischen Werten und ist eindeutig inkorrekt. Aber das plötzliche und schockhafte Verbieten einer Jahrtausende währenden und durchgehend hingenommenen, selbst während der nationalistischen Gewaltherrschaft nicht verbotenen Praxis gegenüber einer in Deutschland – historisch praktisch noch gestern – mörderisch verfolgten Glaubensgemeinschaft ist ebenfalls politisch inkorrekt. Vielleicht gar noch politischer inkorrekt, zumal auch die christliche Kindstaufe das – wenn auch symbolische – Binden Entscheidungsunfähiger ist. Dann Augen zu und durch, in einer durch diesen offenbaren Konflikt paralysierten bzw. sedierten Gesellschaft? 

Die Lösung kann nur in einem gesellschaftlichen Prozess liegen, in einem Aufeinanderzugehen und in behutsamem Lernen, nicht in einer Ad-Hoc-Regelung. Ein Baustein, der beide Sichten und Bedürfnisse verbindet, wäre etwa eine zunächst symbolische und im Zeitpunkt der Selbstbestimmungsfähigkeit dann auch reale Beschneidung, nach Aufklärung über die Vor- und Nachteile nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft. Das entspricht auch der Positionierung des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte v. 11.10.2012. Begleiten sollten wir dies durch eine bereits frühe Information über den gemeinsamen Wertevorrat unserer Hauptreligionen, auch über ihre Überlieferungen, Riten und Feste. Ich selbst habe erst vor wenigen Tagen bewusst wahrgenommen, am 1. Januar werde traditionell die Beschneidung Jesu zelebriert.

 

(2012 / 37) 14.10.2012
DIE ZEIT
Beschneidung; Mariam Lau, „Die Sache mit der Beschneidung“(DIE ZEIT v. 11.10.2012, S. 5)

Mich zerreißt die Frage auch, da ich derzeit keine politisch korrekte Lösung sehe - zwischen den aufklärerischen Werten und einer jahrhundertelang hingenommenen, global verbreiteten Praxis, deren Nichtbeachtung viele Eltern in einen Gewissenskonflikt führen muss. Den Regierungsentwurf halte vich - wohl weil der Eile geschuldet - für materiell sehr dünn und wenig tragfähig.

Zu den Placebos des Entwurfs ist die effektive Schmerzbehandlung und die Aufklärung der Eltern zu rechnen, s. Erläuterungen des Besonderen Teils zu § 1631d neu (B, zu § 1631d neu, Absatz 1, Satz 2, Buchst. b und c, S. 23f). Beides wird in der neu eingefügten Vorschrift gerade nicht explizit gemacht, sondern als quasi selbstverständlich aus dem bereits bestehenden Normenbestand abgeleitet. Tatsächlich sieht die Praxis bei wichtigen Zielgruppen völlig anders aus, die reale Informations- und Gestaltungswirkung des Entwurfs dürfte damit in diesen Punkten sehr begrenzt bleiben, zumal mit Klagen kaum zu rechnen sein wird. Speziell die Erwähnung einer Pflicht zur Schmerzbehandlung hat am ehesten sedierende, Empathie-kappende    Wirkung für das Gesetzgebungsverfahren und die unbeteiligte breite Öffentlichkeit.

Und nehmen wir dennoch an, Aufklärung erfolge wirklich, im Einzelfall oder sogar regelmäßig: Wenn sich diese Aufklärung dann am Standard der verharmlosenden und oberflächlichen Darstellung im amtlichen Gesetzentwurf orientierte – siehe dort einerseits das stark übertreibende und gerade am Fall des Neugeborenen völlig vorbeigehende Herausstellen medizinischer Vorteile, andererseits die stark beschnitten anmutende Dokumentation physischer und psychischer Folgen (A II 4, S. 7f, 9 des Entw.) – dann würde sie ganz offenbar keinen signifikanten Anstoß zu einer elterlichen Entscheidung gegen Beschneidung liefern können. Sie würde das „weiter so“ unterstützen.

Angemerkt sei ferner: Der Entwurf schneidet an einer sensiblen Stelle – zurückhaltend gesprochen – sehr grob. Er leitet das Recht zur Zirkumzision Neugeborener u.a. aus dem Erziehungsrecht her, was in meinen Augen schon ein rechtes Sprachkunststück ist, denn Erziehung und Gestaltung des kindlichen Körpers sind wohl sehr unterschiedliche Kategorien. In der Herleitungskette dieses „Erziehungsrechts“ bezieht sich der Entwurf dann aber noch für die „Teilnahme an religiösen Handlungen, die ein Glaube vorschreibt oder in denen er Ausdruck findet“ auf einen Beschluss des Verfassungsgerichts aus dem 93. Entscheidungsband (A III 1 c, S. 14 des Entwurfs). Diese Entscheidung ist unter Kennern als Kruzifix-Urteil bekannt und ganz sicher will sie keine erhöhte Verfügungsmacht der Eltern über die Körper ihrer schutzbefohlenen Kinder empfehlen oder begründen.

Ich habe hohe Sympathie für die Positionierung des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte v. 11.10.2012, wonach ein Kind nach Erreichen der Religionsmündigkeit den positiven Willen äußern müsste und dürfte, aus religiösen Gründen beschnitten zu werden.

 

(2012 / 36) 13.10.2012
DIE WELT
Beschneidung; Matthias Kamann "Beschneiden will gelernt sein" (DIE WELT 11.10.2012, S. 4)

Sollte irgendein Parlamentarier angesichts eines Gesetzentwurfs, der schalmeienhaft die Vorteile der Beschneidung preist, mit Beispielen, die aber in aller Regel die Neugeborenen unter uns gar nicht interessieren müssen, weiter angesichts eines Entwurfs, der die gesundheitlichen und psychosozialen Konsequenzen einer Zirkumzision zackig mit einem bis dato ungelösten Gelehrtenstreit abtut und mit der „Evidenz normaler Lebensverhältnisse“ von einer Milliarde heute schon Beschnittener – sollte also einer unserer Repräsentanten auf den Gedanken kommen, sich selbst oder seinen Stammhalter an einer der sensibelsten Stellen mannhaft und trendig kürzen zu lassen: Ich rate sehr dringend davon ab. Und zufällig weiß ich sogar, wovon ich spreche. Hautnah.

 

(2012 / 35) 12.10.2012
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Entwurf eines Gesetzes über den Umfang der Personensorge bei der Beschneidung des männlichen Kindes; Kommentar von Reinhard Müller „Kindeswohl“ (F.A.Z. v. 11.10.2012, S. 10)

Die einzig tatsächlich näher bedenkenswerte – weil für das Kind bedrohliche – Folge einer Einschränkung des elterlichen Beschneidungsrechts ist das Abdrängen dieser Operation in einen illegalen Untergrund, wie es auch der Regierungsentwurf kurz unter „medizinethische Aspekte“ erwähnt (A II 5 des Regierungsentwurfes vom 8.10.2012, S. 10). 
Allerdings ist das eine geradezu reflexhafte Argumentationslinie. Sie spielte etwa bei einer fast zeitparallelen Debatte in New York rund um die für mich heute schwer vorstellbare Praxis der Metzitzah B’peh eine wesentliche Rolle – im englischen Sprachgebrauch oral suction, das Absaugen des bei der Beschneidung austretenden Blutes durch den Beschneider. Und dieses Argument wäre im Grunde inhaltsgleich anzuwenden auf die nach wie vor weit verbreitete weibliche Genitalverstümmelung. 

Die Argumentation mit einem "Schlimmeres verhüten" wäre die billige Selbstaufgabe des Rechts- und Verfassungsstaates gegenüber überlieferten Bräuchen, die für die Gesundheit und freie Entwicklung der Kinder schädlich sind. Offene Debatte, Hinschauen und Aufklärung ist der bessere Weg. Die abrahamitischen Religionen schenken uns unverzichtbare und auch zeitlos gültige Beiträge zur Ethik des gedeihlichen Zusammenlebens. Die Beschneidung zählt nicht dazu. Sie hat wohl Alter, aber keinen ethischen Inhalt und sie ist heute nur, weil sie ist. Treten wir ein paar Meter zurück, erweist sich die Beschneidung als gelebte Jungsteinzeit, als das schlimmst-mögliche Willkommen in unserer jetzigen Menschenwelt. Übrigens: Sollte mich jemand für nur theoretisch betroffen halten - er hätte unrecht.

P.S. zur Metzitzah B’peh siehe Beitrag in der F.A.Z.: http://m.faz.net/aktuell/politik/ausland/beschneidung-in-new-york-der-kampf-des-rabbis-11908568.html

 

(2012 / 34) 11.10.2012
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt: 29.10.2012
Beschneidung;  Kommentar von Heribert Prantl "Warum ein unnötiges Gesetz nötig wurde" (Süddeutsche v. 11.10.2012, S. 4) 

Wer immer den vom Parlament am 19. Juli eingeforderten und vom Kabinett am 10. Oktober prompt verabschiedeten Gesetzentwurf über „den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung eines männlichen Kindes" geschrieben hat: Er wird jenen Kölner Staatsanwalt verwünscht haben, der mit seiner Anschuldigungsschrift das Urteil des dortigen Landgerichts v. 7. Mai dieses Jahres ausgelöst hatte, und der Staatsanwalt wiederum jene Bürger, die eine zugrunde liegende Anzeige geschrieben hatten. Mit Händen greifen kann man den flehentlichen Wunsch – schon im Rahmen des fraktionsübergreifenden Antrags, bei seiner unmittelbaren Erörterung im Bundestag und auch im Kommentar in der Süddeutschen – alles möge doch bitte möglichst schnell wieder so friedlich sein wie noch im April: Nur kein Sonderweg, nur keine humanitären Schwachheiten. Das sehe ich doch anders, und ich weiß auch für den Gutteil meines Lebens, was Beschneidung ist und was sie – zugegeben: mit einer sehr schmalen Empirie – bewirken kann.

Schon der Name des Entwurfs stapelt tief. Es geht nicht nur um eine Feststellung des „Umfangs der Personensorge“. Jedenfalls die ganz allgemeine Unterstellung der Zirkumzision unter die Personensorge und die nunmehr gesetzliche Vermutung der Zuträglichkeit für das Kindeswohl sind eine signifikante Erweiterung gegenüber dem status quo. Ich kann dem Regierungsantrag auch nicht folgen, wo er im Wesentlichen diejenigen medizinischen Gründe für die Beschneidung anführt, die bei Neugeborenen gar keine Rolle spielen (A II 2 d, S. 7f), wo er Risiken und Langzeitwirkungen auf einen höchst oberflächlich reflektierten Akademikerstreit reduziert und damit neutralisiert (A II 2 4, S. 9f) und wo er insbesondere versucht, die Beschneidung als nach der bisherigen Rechtsprechung sachgerechte Ausprägung des Erziehungsrechts darzustellen. Ich lasse einmal dahingestellt, dass die zitierten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in einigen Fällen nicht das insinuierte Ergebnis tragen, etwa die 1995er Entscheidung zu Kruzifixen in Klassenzimmern, eine aus dem Jahre 1987 zur Lagerung von Chemiewaffen in Deutschland oder eine Entscheidung aus 1986 zur Vertretung eines Kindes bei Handelsgeschäften (s. A III 1 c, S. 14f). Wichtiger: Zulässige Erziehung im Sinne der bisherigen Rechtsprechung kann ich auch nach dem allgemeinen Sprachgebrauch nur als software, nicht als hardware verstehen. Sie darf auf Bildung und Orientierung abzielen, nicht aber auf irreversible Gestaltung des wehrlos ausgelieferten Körpers, schon gar nicht im Intimbereich. Hier wiegen das unmittelbare Wohl der schutzbefohlenen Kinder und das Versprechen künftiger freier Entfaltung aus meiner Sicht ganz undiskutabel stärker als das Interesse der Eltern an der Erfüllung einer auch noch so lange tradierten Pflicht.

Nun ist die Praxis aber ganz offenbar so, wie sie ist, die Eltern sind aus eigener Gebundenheit fern von unvoreingenommener Entscheidung und der Gesetzgeber befindet sich auch aus historischer Rücksicht – dies hat Reinhard Merkel in der Süddeutschen Zeitung v. 25./26. August (S. 12) sehr zutreffend angemerkt – in einem Dilemma, ja, in einem rechtspolitischen Notstand. Dann aber ist kein demokratischer Kurzschluss vonnöten und kein unausgewogener Gesetzentwurf, sondern eine noch offene seriöse Debatte, aus der alle Seiten lernen können und deren Ergebnis nicht den ethischen Anspruch der Aufklärung relativieren muss. 

Quellen

-         Entschließungsantrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD u. FDP v. 19.7.2012 „Rechtliche Regelung der Beschneidung minderjähriger Jungen
http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/103/1710331.pdf,
angenommen in der Plenarsitzung v. 19.7.2012 = Sitzung 17/189
http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/17/17189.pdf

-         Homepage BMJ mit link zum Regierungsentwurf eines „Gesetzes über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes“, beschlossen am 10.10.2012
http://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/pdfs/RegE%20Gesetz_ueber_den_Umfang_der_Personensorge_bei_einer_Beschneidung_des_maennlichen_Kindes.html?nn=1356288

-         Regierungsentwurf als pdf http://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/pdfs/RegE%20Gesetz_ueber_den_Umfang_der_Personensorge_bei_einer_Beschneidung_des_maennlichen_Kindes.pdf;jsessionid=E4BC69E72A2BE6C85C1CB2BED2A143FB.1_cid334?__blob=publicationFile

-         Homepage Bundesrat mit link zur dann folgenden, inhaltlich entsprechenden Bundesratsdrucksache v. 11.10.2012
http://www.bundesrat.de/cln_320/nn_6906/sid_44C10D926AB20A7089AAA53AEAF4498A/SharedDocs/Drucksachen/2012/0501-600/597-12.html?__nnn=true

-         Bundesratsdrucksache als pdf
http://www.bundesrat.de/cln_320/nn_8336/SharedDocs/Drucksachen/2012/0501-600/597-12,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/597-12.pdf

 

(2012 / 33) 17.9.2012
Kölner Stadt-Anzeiger
Waffenexporte, Kampfdrohnen; Interview von Steffen Hebestreit und Daniela Vates mit Verteidigungsminister Thomas de Maizière (KStA v. 15./16.9.2012, S. 8 „Keiner hat ein Veto-Recht“):

Natürlich gibt es beim Waffenexport Veto-Rechte, erklärte wie unerklärte; sonst funktionierte auch unsere immer wieder beschworene Bündnisfähigkeit nicht. Und ob in einem Land, das Abgeordnetenbestechung partout nicht ahnden will, Rüstungsexporte dem staunenden Volk immer erst nach Vollzug verkündet werden müssen, das ist auch alles andere als selbstverständlich. Zumal wir Bürger für wachsende internationale Instabilität, wie sie nicht zuletzt volatilen Waffenströmen geschuldet ist, immer öfter mit Preisgabe innerer Freiheitsrechte bezahlen müssen.

Am wenigsten überzeugend allerdings ist de Maizières abwiegelnde Einlassung zu den Drohnen. Das sind nun einmal weit fernwirkende Waffen, die sowohl einen national schmerzfreien Einsatz garantieren als auch einen minimalisierten Nebenschaden suggerieren, die damit die Einsatzschwelle klar herabsetzen. Es sind die Waffen der Wahl für Todeslisten und Regimewechsel, für das bequeme Unterfliegen des Völkerrechts. Immanuel Kant hätte sie zu den "ehrlosen Stratagemen" gezählt, zu jenen Taktiken also, die nach ihrem Einsatz einen nachhaltigen Frieden besonders gefährden müssten.

Das einzige, was Drohnen mit Flugzeugen oder Artillerie gemein haben, das ist die attraktive Beschaffung.

P.S.:
Zu Kant / zu den von ihm so genannten "ehrlosen Stratagemen" siehe seine weiter aktuelle Schrift "Zum ewigen Frieden", 1795, 6. Präliminar-Artikel (Reklam-Ausgabe S. 7f)

 

(2012 / 32) 24.8.2012
DIE ZEIT
Inlands-Einsätze der Bundeswehr; Leitartikel von Heinrich Wefing (DIE ZEIT v. 23.8.2012, S. 1)

Unsere Demokratie ist am 3.7.2012 noch ein gutes Stück repräsentativer, symbolischer und utopischer geworden. Die Menschen werden von Mandatierten vertreten, deren Auswahl praktisch ausnahmslos den Parteien obliegt. Die Mandatierten wiederum lassen sich bei grundlegenden, ja, bei den empfindlichsten Fragen von Richtern vertreten, deren persönliche Auswahl wiederum den Parteien gebührt, und umgehen damit das ohnehin kleine Restrisiko an der Wahlurne. Distanziert werden wir auch beim Einsatz selbst: Ob im Ausland oder künftig vielleicht im Inland, Berufssoldaten vertreten uns auch bei der praktischen Umsetzung, die beiderseitige Rückkopplung zwischen Regierung und Volk ist minimiert. Wie schon im Falle des Auslandseinsatzes sind auch die Anwendungsfälle der Inlandseinsatzes, wenn überhaupt, so nur nebelhaft fixiert und beide Optionen stehen unter dem offenen Vorbehalt der gerne zitierten „ultima ratio“. Will sagen „never say never“ oder auch: „a bisserl geht immer“.

Im Grunde aber geschieht uns die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts v. 3.7.2012 – der Türöffner für künftige Inlandseinsätze, von einem Türspalt spricht auch die hellsichtige abweichende Stellungnahme des Richters Gaier – ganz recht. Jedenfalls, wenn man es Demokratie-systematisch angeht: Ausländische Zivilisten müssen die Kollateralschäden deutscher Auslandseinsätze ohne jede demokratische Kontrolle bzw. ohne realistische Ausgleichsrechte ertragen. Kämen nun aber Deutsche bei einem Inlandseinsatz der Bundeswehr um oder zu Schaden, so könnte man diesen immerhin vorhalten: Ihr habt zumindest mittelbar mitgewirkt oder jedenfalls habt ihr im entscheidenden Moment den Mund gehalten.

Was kann man nun tun? Dass der Bundestag nun wie ein Mann – oder besser: wie eine Frau – aufstünde, das steht wohl doch nicht zu erwarten. Es ist ja das Vertrackte an solchen Sprüchen des Verfassungsgerichts: Sie bauen die 2/3-Hürde gleichzeitig in der Gegenrichtung auf. Vorher hätte man diese nur im Ausnahmefall organisierbare und hierzu trotz angestrengter Versuche auch nie zustande gebrachte Einigkeit benötigt, um die Verfassung zu Lasten der Bürger anzuschärfen. Nach einem de facto verfassungsändernden Beschluss aber braucht es eine eher noch größere Anstrengung, um den vorher sicher geglaubten Zustand wiederherzustellen; und eine nochmalige Rückwärtsrolle des Gerichts ist ja auf Jahre sehr unwahrscheinlich. Die einzige Chance der Bürgerinnen und Bürger ist, das Thema Außen-, Innen- und Sicherheitspolitik im beginnenden Wahlkampf durchzupauken und Klarheit und Rechenschaft zu verlangen, übrigens auch zum Nutzen der Bundeswehr und damit zum Sinn des 1994er Streitkräftebeschlusses, der das Tor zu "out of area" aufgestoßen hatte.

Eine letzte Anmerkung noch zur Sprache: Besonders auf der Hut müssen wir sein, wenn Neu-Sprech das bisher Undenkbare und Unsägliche aus dem Hut zaubert: „Katastrophisch“ gehörte vor der diesjährigen Entscheidung ebenso wenig zum deutschen Wortschatz wie i.J. 1984 das Wort „exekutivisch“, mit dem die Pershing II-Entscheidung des Bundesverfassungsgericht die parlamentarischen Mitwirkungsrechte relativiert hatte. Es ist wohl so: „Das Katastrophische ist gerne die Stunde des Exekutivischen.“

Quellen:

"exekutivisch": Pershing II-Entscheidg. v. 18.12.1984, BVerfGE 68, S. 1 (S. 87), 2 BvE 13/83

"katastophisch": LuftsicherhG-Entscheidg. v. 3.7.2012 (unter Rn. 43 der Netzfassung), 2 PBvU 1/11

 

(2012 / 31) 22.8.2012
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt am 27.8.2012
Einsätze der Bundeswehr im Inland, Heribert Prantl "Ein Katastrophen-Beschluss", Süddeutsche v. 18./19.2012, S. 4

Wie Heribert Prantl gehöre ich zum Klub der bekennenden Gaier-Fans und sehe bei der nun veröffentlichten Entscheidung vom 3.7.2012 nicht lediglich ein abweichendes Votum, sondern derer fünfzehn. Was diese Fünfzehn beim gequälten Auslegen der verfassungsbegründenden und verfassungsändernden Protokolle ausgeblendet haben, ist der erste und einzige Zweck rechtsstaatlich-demokratischer Verfassungen, nämlich der Schutz der Menschen- und Bürgerrechte. Bei Diskursen über die Motive der Väter und Mütter unseres Grundgesetzes gilt die einfache, auch von Richter Gaier beherzigte Auslegungshilfe: Im Zweifel zur Stärkung der Bürgerrechte oder: In dubio pro cive tuendo.

Eine Prognose: Die nun einen Spalt weit zum bewaffneten Inlandseinsatz geöffnete Türe muss nach der Logik des Militärischen zu einer neuen Beschaffungs- und Übungs-Anstrengung führen, zu einem logistischen jihad. Um das alte Scharfmacher-Motto sinngemäß umzumünzen: "Willst du den Bürgerfrieden schützen, dann rüste dich für den Bürgerkrieg!" So kann – auch da gebe ich Herrn Prantl völlig Recht – die scheinbare Begrenzung auf eine „ultima ratio“ zur selbst erfüllenden Prophezeiung geraten. „Ultima ratio“ wurde, nebenbei gesagt, bei den Auslandseinsätzen in jedem Einzelfall problemlos durch das viel stärker anrührende Schlagwort „Bündnistreue“ aus dem Feld geschlagen – „ultima ratio“ ist halt ein dürres Wort und seine realpolitische Übersetzung lautet einfach: „Never say never!“ Und Thomas de Maizières flapsige Bemerkung aus dem MDR-Interview vom 1.7.2012, er könne sich gar keine Region denken, wo deutsche bewaffnete Truppen nichts zu suchen hätten, sie hat flugs einen neuen, nun wirklich ubiquitären Sinn gewonnen: Der sicherheitspolitische Globus Deutschlands hat am 3.7.2012 seinen letzten weißen Flecken verloren.

Eine kleine Ergänzung noch zum Kommentar: So revolutionär der aktuelle Richterspruch auch anmutet – die Änderung unserer Wehrverfassung durch Gerichtsentscheid ist leider nicht so neu. Es hat eher schon schlechte Tradition, die Republik jenseits demokratischer Verfahren in den identitätsbildenden Merkmalen umzubauen, damit auch ohne Gefährdung der Herrschenden in Wahlen. Außenminister Kinkel hatte im anlaufenden 1994er Wahlkampf freimütig bekannt, und zwar in einem n-tv-Interview am 10.9.1993: Er hoffe doch, dass nun das Verfassungsgericht die Zulässigkeit von Auslandseinsätzen klären werde. Er wolle damit „wirklich ungern in 20 Wahlkämpfe gehen, weil das Deutschland schadet.“ Und die Mehrzahl der Verfassungsrechtler, die sich nach dem 1994er Streitkräfteurteil zu Wort meldeten, konstatierten trocken: Der so genannte konstitutive Parlamentsbeschluss sei bei Licht besehen ja gar keine Auslegung, sondern eine – ja, ja, eigentlich auf diesem Weg unzulässige – Ergänzung des Grundgesetzes. Und gingen geschmeidig zur Tagesordnung über. 

Das sollten wir nun nicht tun; Wahlkampf ist unsere Chance.

P.S.: Quellen:
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts v. 3.7.2012 mit abweichender Stellungnahme des Richters Gaier: 2 PBvU 1/11
de Maizière-Interview v.1.7.2012: http://www.mdr.de/nachrichten/bundeswehr180_cpage-1_zc-aae7aa91.html

  

(2012 / 30) 21.8.2012
Kölner Stadt-Anzeiger
bewaffneter Einsatz der Bundeswehr im Inland gemäß aktueller Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts v. 3.7.2012;
Thomas Kröter "Eine maßvolle Entscheidung" (KStA 18./19.8.2012, S. 3), Berichte von Ursula Knapp / Steffen Hebestreit "Heikle Mission im Inneren" bzw. "Bundeswehr darf im Inland kämpfen" (ebenda S. 3 u. S. 1); Beitrag bzw. Kommentar von Thomas Kröter "BND rückte mit Bundeswehr-Schiff aus" bzw. "Ein Fall für das Kanzleramt" (KStA 20.8.2012, S. 3 u. S. 4)

Eine merkwürdige Welt, in der es kaum noch jemanden zu stören scheint: Deutschland führt längst wieder Kriege, ohne sie zu erklären - wie bei den Strafexpeditionen um die Wende 19./20. Jahrhundert. Deutschland ergreift mit nachrichtendienstlichen Mitteln Partei in Konflikten Dritter. Deutschland denkt sich einen potenziellen militärischen Waffeneinsatz im Inland zurecht, überschreitet damit den eigenen Rubikon.

Grenzen, Kriterien oder zumindest Erfahrungs-Auswertungen dafür? Fehlanzeige, eher das vage Fußballer-Motto "Schau'n wir mal." Sind denn die 68er allesamt dahingerafft oder politisch adipös? Und gibt es neben dem Verfassungsrichter Gaier mit seiner hervorragend recherchierten abweichenden Stellungnahme zur Entscheidung v. 3.7.2012 kaum noch Verfassungspatrioten? 

Nebenbei: Hatte irgendjemand vorab das Wort "katastrophisch" vernommen? Kaum - es ist denn wohl eine Nebel werfende Zweckschöpfung des Verfassungsgerichts ebenso wie schon das Neu-Wort "exekutivisch" aus der Pershing II-Entscheidung von 1984 (sic!). Der Duden kennt beides nicht.

Quellen zum letzten Absatz:

"exekutivisch": Pershing II-Entscheidg. v. 18.12.1984, BVerfGE 68, 1 (87), 2 BvE 13/83

"katastophisch": LuftsicherhG-Entscheidg. v. 3.7.2012 (unter Rn. 43 der Netzfassung), 2 PBvU 1/11

 

(2012 / 29) 3.8.2012
Newsweek
Iraq war / balance of wars; Peter Beinart's commentary "The War We Abandoned" (Newsweek Aug. 8, 2012, p. 12)

Measures of accountability for military missions would be most valuable, and they are clearly worth our highest efforts, as regards political, research and jurisprudential ressources. It seems most cynical shooting billions and billions into outer space, e.g. for an mostly idle ISS, or tracing down the ultra tiny Higgs boson at the same price. But to scarcely investigate the driving forces behind the recurrent military bloodshed and the balance of military missions - the military sector itself being funded abundantly at the same time.

 

(2012 / 28) 2.8.2012
Kölner Stadt-Anzeiger
Ausrüstung der Bundeswehr mit Kampfdrohnen; Burkhard von Pappenheim "Werkzeuge des Krieges" (KStAnz v. 2.8.2012, S. 4)

Ich halte für gar nicht zynisch, über die Wahl der Waffen zu sprechen, gerade unterhalb der Schwelle der Massenvernichtung. Leider neigen auch Demokratien dazu, die für sie möglichst schmerzfreien, nicht zu den Wählern rückkoppelnden Waffen und Strategien einzusetzen. Der Schuss ohne Reue ist Mittel der Wahl für die verniedlichend so genannte power projection. Die effizienteste Konfliktvermeidung dagegen wäre, wie Kant in seiner ironisch benannten Schrift "Zum ewigen Frieden" anmerkte, das andere Extrem, nämlich der Kampf der Häuptlinge: Planen, Umsetzen und Schmerzempfinden in ein und der gleichen Person!

Es gibt ohnehin keine militärischen Königswege oder einen Vorteil, den wir auf Dauer zum Nulltarif bekämen: Gleich ob targeting-Strategien, ob Einsatz von clusterbombs, uranhaltiger Munition oder von angriffsfähigen oder auch nur aufklärenden Drohnen: Sie rufen nach allen vorliegenden Erkenntnissen Ohnmachts- und Rachegefühle hervor, die sich einen Weg zu den Bürgern der eingreifenden Staaten bahnen können: Terrorismus kann man schlüssig auch als die Waffe des Wehrlosen definieren. Kant warnte in der zitierten Schrift auch ausdrücklich vor "ehrlosen Stratagemen", die "das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen". Neben Meuchelmördern und Giftmischern hätte er heute auch Kampfdrohnen und Spezialeinsatzkräfte genannt.

Und schließlich: Die allerbeste Ausrüstung rechtsstaatlich-demokratischer Soldaten wären rechtlich tragfähige Kriterien dafür, wann und wo sie einzusetzen sind und wann und wo genau nicht. Derzeit folgt die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik am ehesten der Devise eines prominenten Ex-Kickers: "Schau'n wir mal!"

P.S. / Quelle
Die betreffenden Passagen aus dem "Ewigen Frieden" finden sich in der Reclam-Ausgabe auf den S. 7, 16f mit Fußn. auf S. 17; siehe auch S. 12f zur konfliktmindernden Wirkung einer Beteiligung der Bürger an militärischen Entscheidungen 

 

(2012 / 27) 22.7.2012
Daily Mail
Batman massacre; Dominic Sandbrook's Saturday Essay (Daily Mail of July 21, 2012, p. 18f)

Thanks for Dominic Sandbrook’s lucid analysis! My statement would be almost the same –with a slightly different tone: It may be a possibility that widespread anger suddenly turns into mob rule, even in decent and tolerant Britain. But the more imminent danger for Western democracy is the ongoing lack of political interest, a widespread fatalistic behaviour of middle class citizens still voting but not intellectually interacting with a more or less stable political class or caste.

And there could and should be a lot of debate - and politicians' responsiveness - around vital topics like economics or foreign and security politics, just to name a few items, where you don’t work out ever lasting solutions by the methods of natural sciences – but where you have to deal interests of groups not unlike the way of a humming bazaar. Democrats may be very intelligent and helpful – if you allow them taking an active stake in their res publica. They even might find out that panem et circenses aren’t necessarily for their benefit.

 

(2012 / 26) 5.7.2012
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 13.7.2012
Auftrag der Bundeswehr; Vorstoß von BM de Maizière für eine gesellschaftliche Debatte des Bundeswehr-Auftrages (Joachim Käppner, "Armee im Ungewissen", Süddeutsche v. 3.7.2012, S. 4, Daniel Brössler, "Einsatz überall", Süddeutsche v. 2.7.2012, S. 5)

Die eine Sicht: Nach 20 Jahren ist die erweiterte Außen- und Sicherheitspolitik tief eingeschliffen, der Bundestag hat mehr als hundertmal zugestimmt und niemals dagegen, eine Debatte kommt viel zu spät und sie könnte nur noch absegnen, aber keinen politischen Willen mehr bilden. Absegnen im Sinne des ständigen, aber bloß binnen-ethischen Narrativs „Mitmachen, nicht nur schmarotzerhaft profitieren!“. Oder mit dem Ziel eines Blankoschecks für das Bündnis.

Die andere Sicht: Zwanzig Jahre neue Militärpraxis geben allerbeste Gelegenheit zur detaillierten demokratischen Rechenschaft: Genau was wollen und was konnten wir mit genau welchen staatlichen Gewaltmitteln kurieren? Und wichtiger noch für einen Rechtsstaat: Was wollen wir definitivnicht? Die vage Vermutung de Maizières, Deutschland habe in prinzipiell allen „Regionen der Welt etwas zu suchen“, die kann es doch nicht sein. Man wende nur die „golden rule“ oder den kategorischen Imperativ darauf an: Dann hätten prinzipiell alle Staaten und Regionen der Welt auch bei uns „etwas zu suchen“. Das möchte ein Verteidigungsminister sicher nicht so recht leiden.

Erfreulich ist immerhin sein frisches Bekenntnis zur Demokratisierung der Außen- und Sicherheitspolitik. Das wäre eine völlig neue Debattenkultur. Außenminister Kinkel etwa hatte im 94er Wahlkampf klar gesagt, er wolle mit dem Thema lieber nicht „in zwanzig Wahlkämpfe gehen, weil das Deutschland schadet.“ Und Verteidigungsminister Jung hatte im Oktober 2006 den Versuch öffentlicher Debatte entnervt drangegeben, als BILD just am Tage der Pressekonferenz zum brandneuen Bundeswehr-Weißbuch mit dem – damals bereits betagten – Kabuler Schädelskandal aufgemacht hatte. Danach ist er mit dem Diskurs nie mehr in Tritt gekommen und auch die höchst bemerkenswerte Rede Köhlers zum fünfzigjährigen Bestehen der Bundeswehr – die Rede mit den mehr als zwanzig Fragen zu Aufgabe und Einbettung der Streitkräfte – sie war damit folgenlos verpufft. Die Fragen aber stehen heute noch an, nach Afghanistan mehr denn je.

·        Interview MDR / BM de Maizière v. 1.7.2012
http://www.mdr.de/nachrichten/bundeswehr180_cpage-1_zc-aae7aa91.html

·        Weißbuch 2006 (siehe zur intendierten gesellschaftlichen Debatte insbesondere Vorwort der Kanzlerin a.E.)
http://www.bundeswehr.de/resource/resource/MzEzNTM4MmUzMzMyMmUzMTM1MzMyZTM2MzEzMDMwMzAzMDMwMzAzMDY3NmE2ODY1NmQ2NzY4MzEyMDIwMjAyMDIw/WB_2006_dt_mB.pdf

·        Rede v. BPräs Dr. Köhler v. 10.10.2005
http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2005/10/20051010_Rede.html

 

(2012 / 25) 19.6.2012
NewScientist
successful launch of a rocket built by a private enterprise; Paul Marks, Sparking the next space age (NewScientist of 12 May 2012, p. 6)

I'm not too happy. Wasn't the plot of early 007-movies just that: Some nasty NGO built a rocket to trigger a hassle between the great powers? And didn't we count launcher technologies as a most pestilent ability needed to build weapons of mass destruction? At least I wouldn't want that kind of outsourcing going all around the world. 

 

(2012 / 24) 13.6.2012
Time Magazine
Drones; Michael Crowley “Drone Dilemma” (TIME of June 18, 2012, p. 14)

Terrorism being most of all a weapon of those physically weak, the counterstrategy to be expected against a growing swarm of drones will be twofold: Looking for a conspirational habitat in densely populated places – and carrying the battle back to the metropolitan areas of the West. Both may but must not mean the same regions.

Roaming drones will be benevolent for election campaigns and for a certain type of industry, but may turn out very bad for us citizens. I’m sure we can get more life & peace & value for money out of non-military strategies.

 

(2012 / 23) 12.6.2012
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 18.6.2012
Reform des Parlamentsbeteiligungsgesetzes; Bericht von K.F. “CDU-Politiker fordern Flexibilität für Bundeswehreinsätze” (Frankfurter Allgemeine 6.6.2012, S. 5)

Das CDU-Papier v. 30.5.2012 „Europas sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit stärken. Es ist höchste Zeit.“ bezieht sich auf ein Glaubwürdigkeitsproblem deutscher Sicherheitspolitik und zitiert dafür die deutsche Enthaltung bei der Libyen-Resolution. Als Remedur wird nun ein vertrauensbildender Blankoscheck empfohlen – ein jährlicher Vorratsbeschluss des Parlaments nach allgemeiner Lagedebatte zur weiteren Ausfüllung durch den Europäischen Rat oder den Nato-Rat.

Aber hat die deutsche Sicherheitspolitik nicht ihr Glaubwürdigkeitsproblem zu allererst gegenüber den Bürgern, die etwa den Afghanistan-Einsatz über mehrere Legislaturperioden mit demoskopisch verlässlicher Mehrheit ablehnen? Müsste man nicht zumindest eine glaubwürdige Evaluation der bisherigen und der noch laufenden Interventionen anbieten? Von erreichten Zielen, von einer Bilanz auch der Kosten, Lasten und Nebenfolgen spricht das Papier allerdings an keiner Stelle.

An dem Vorschlag fällt auch auf: Das Poolen von Infrastruktur und Personal ist – ebenso wie die kontinuierliche Häutung der Nato nach 1989 – nun überhaupt nichts Neues oder Aufregendes. Bündnisfähigkeit war und ist in den inzwischen mehr als hundert Einsatzdebatten das absolut am häufigsten genutzte Einzelargument. Und gerade integrierte (AWACS-) Einsätze haben einerseits 1994 den Parlamentsvorbehalt als bündnisspezifische Alternative zum Gesetzesvorbehalt ausgelöst; sie haben andererseits das Verfassungsgericht im Jahre 2008 veranlasst, in der markanten Türkei-Entscheidung ausdrücklich auf die besonderen Risiken von „Bündnisroutine“ und „exekutiven Gestaltungsfreiräumen“, auf die „Eigengesetzlichkeiten der Bündnissolidarität“ hinzuweisen, auf die „erheblichen Risiken für Leben und Gesundheit deutscher Soldaten“ und auf die Funktion der „Beteiligung der Opposition in freier politischer Debatte“. Dies mache es „der öffentlichen Meinung besser möglich, über die politische Reichweite des jeweiligen Einsatzes zu urteilen“. Damit dürfte der nunmehrige Vorschlag vor Gericht niemals Bestand haben.

Die Initiative scheint mir doch arg pro Nato domo geschrieben zu sein und eher vom Realitätsbezug und von einer evidence-based-policy weg zu führen. Allerdings bekenne ich auch: Wenn gerade die Nato das von Cyril Northcote Parkinson definierte Gesetz falsifizieren würde, ich hätte wenig dagegen einzuwenden: Nach Parkinsons Gesetz ist das am leichtesten Verzichtbare für ein weiteres Wachsen, Blühen und Gedeihen einer beliebigen Institution gerade ihre Anfangsaufgabe; im Falle der Nato: Bollwerk gegen den Kommunismus gewesen zu sein. Die OSZE dagegen hat ihren Gründungszweck noch lange nicht eingebüßt und sie hat mindestens ebenso große Verdienste für die Neugestaltung des Kontinents wie die Nato. Ein Papier zu Gunsten der Potenziale und Ressourcen der OSZE würde ich daher sehr begrüßen. Das stünde Deutschland gut zu Gesicht.

·         CDU-Papier „Europas sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit stärken - Es ist höchste Zeit“
http://www.roderich-kiesewetter.de/fileadmin/user_upload/media/dokumente/2012/20120530-GSVP-Papier.pdf

·         Internet-Auftritt des Mitautors Roderich Kiesewetter, "Fragen und Antworten"
http://www.roderich-kiesewetter.de/index.php?id=4

·         Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts v. 7.5.2008 = 2 BvE 1/03 (siehe dort Nrn. 67-73 der Gründe)
http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es20080507_2bve000103.html

 

(2012 / 22) 11.6.2012
Süddeutsche Zeitung
Reform des Parlamentsbeteiligungsgesetzes; Peter Blechschmidt „Marschbefehl aus Brüssel“ (Süddeutsche v. 8.6.2012, S. 5)

Was ich dem aktuellen Vorstoß aus der CDU zu einer Reform des Parlamentsbeteiligungsgesetzes immerhin zugute halten könnte: Er bringt die Bundeswehr mal wieder in die Debatte.

Allerdings führt die Initiative von der wünschenswerten materiellen Definition, damit von einer Begrenzung des militärischen Aufgabenspektrums weit weg. Wie z.B. wollen wir es mit der „responsibility to protect“ halten bzw. dem frühzeitigen Eingreifen bei Verbrechen, die später nach dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs zu verfolgen wären? Und der Vorschlag mindert mit seiner absichtsvollen Delegation der Entscheidungskompetenz an die Exekutive noch dazu systematisch die Anlässe für gesellschaftliche Debatte und politische Rechenschaft zu den einzelnen militärischen Projekten. Kein Wort dann auch dazu, was wir bei unabhängiger Evaluation als Paradebeispiele oder Erfolgsmodelle der seit 1990 robust erweiterten Außen- und Sicherheitspolitik verstehen sollen. Sind es Einsätze der Kuwait-, Somalia-, Irak-, Kosovo- oder der Afghanistan-Klasse? Läuft es derzeit denn wirklich gut?

Die CDU-Initiative ist mit robuster exekutiver Logik geschrieben, einer Bündnislogik, gegen die sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Türkei-Entscheidung v. 7. Mai 2008 ausdrücklich verwahrt hatte und weiterhin verwahren muss. Denn dieser Vorstoß würde aus der inneren Führung eine bloß noch äußere Führung machen.

Anzuraten wäre zudem Herrn Kiesewetter, einem Mitautor des Papiers, seine homepage zügig anzupassen. Denn dort steht noch in seiner Rubrik "Fragen und Antworten" dies zu lesen: „Im Rahmen der parlamentarischen Demokratie entscheidet das deutsche Volk über seine gewählten Vertreter und Vertreterinnen im Bundestag über Auslandseinsätze. Somit wird jeder Einsatz debattiert bevor er stattfindet. Kein militärischer Einsatz darf am Bundestag vorbei beschlossen werden.“

·         CDU-Papier „Europas sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit stärken - Es ist höchste Zeit“
http://www.roderich-kiesewetter.de/fileadmin/user_upload/media/dokumente/2012/20120530-GSVP-Papier.pdf

·         Internet-Auftritt des Mitautors Roderich Kiesewetter, "Fragen und Antworten"
http://www.roderich-kiesewetter.de/index.php?id=4

·         Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts v. 7.5.2008 = 2 BvE 1/03 (siehe dort Nrn. 67-73 der Gründe)
http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es20080507_2bve000103.html

 

(2012 / 21) 4.6.2012
DIE ZEIT, abgedruckt 14.6.2012
Islam in Deutschland; ZEIT-Gespräch mit Herrn Bundespräsidenten Joachim Gauck (DIE ZEIT No. 23 v. 31.5.2012, S. 3f)

Die Leichtigkeit, mit der Joachim Gauck spontan Geistreiches formuliert, sie ist in der Tat bewundernswert. Um so schwerer fällt mir, seiner Differenzierung zwischen deutschen Muslimen und ihrem Glauben zu folgen. Müssten sie sich etwa von ihm trennen, um nicht nur mit dem Leib, sondern auch mit der Seele zu Deutschland zu gehören? Hat nicht unsere Aufklärung erst über islamischen Wissensdurst ihr Fundament gefunden? Sind Toleranz und Reform denn überall und immer im Christentum, aber nirgendwo und nie im Islam zu erkennen? Das hat etwa die sehr erfahrene Annemarie Schimmel anders gedeutet.

Und sind überdies nicht - aber das mag Herrn Gaucks überraschende Pointierung ja noch am ehesten erklären - gerade in den neuen Bundesländern die Christen eine sehr deutliche Minderheit? Nirgends auf der Welt glauben so wenig Menschen an Gott wie in Ostdeutschland.

P.S.
Zum letzten Satz siehe die aktuelle Studie von Tom W. Smith, University of Chicago unter http://www.norc.org/PDFs/Beliefs_about_God_Report.pdf

 

(2012 / 20) 24.5.2012
TIME
Greece’s weak economical status; Fareed Zakaria's article "Time to say Danke" (TIME May 28, 2012, p. 12)

It’s so comforting to be thanked, even by third parties. But I’m far from sure having deserved that “Danke”. Didn’t I pave the whole of Greece with costly German weaponry – same way and same time as archrival Turkey – and didn’t I plunder the Athens treasury by those sales? Did I really foster a self sustaining young Greek industry and welcome its exports over the past 20 years?

I’m afraid that Greece, slim and small and placed on the rim as it still is, has no extra resources for reform (although: German tabloids recently pressed Greece to ultimately sign over their Islands in the Sun). Even worse: Greece is the perfect model that the West is politically unable to give equal opportunities to peripheral marketplaces, e.g. for Afghanistan, Iraq, or the Maghreb reform countries. I’m sorry. I’m definitely not proud.

 

(2012 / 19) 3.5.2012
DIE WELT
gegenläufige Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Europa; Bericht "Euro-Zone kämpft mit Rekord-Arbeitslosigkeit", Kommentar v. Stefan von Borstel "Lohn der Reformen" (WELT v. 3.5.2012, S. 1)

Ich wäre mit gutem Rat sehr zurückhaltend. Denn die deutsche Export-Quote für ganz Europa - und sei es nur bei Panzern - könnte und würde uns und der Welt kaum gefallen. Abgesehen davon: Die Pose "Schaut nicht so dumm, schaut so wie wir!" kam selten gut. Erwägen wir einmal die Möglichkeit, dass es dem Kern so gut geht, auch weil es der Peripherie schlechter geht. Auch wenn dieser Gedanke zum fairen Teilen führen müsste.

 

(2012 / 18) 20.4.2012
Süddeutsche Zeitung
Islam in Deutschland; Statement von Unionsfraktionschef Volker Kauder, der Islam gehöre nicht zu Deutschland
(Roland Preuß in der Süddeutschen v. 20.4.2012, S. 4, 5)

Goethe würde das sicher postwendend unterschreiben: Wenn schon der Islam kein Teil deutscher Tradition sein sollte und darum heute hier nichts verloren hätte, dann der rote Weihnachtsmann alias Coca Cola umso weniger. Daran sollte sich ein Politiker der Kauder-Klasse einmal versuchen.

 

(2012 / 17) 19.4.2012
DIE WELT
weiter entwickeltes ATALANTA-Mandat; Dietrich Alexander „Die Spur des Geldes“ u. Thorsten Jungholt „Störtebeker-Strategie für Somalia“
(DIE WELT v. 19.4.2012, S. 1 u. 5)

„Nur eine kleine, nützliche, zusätzliche Option“ sagt ein achselzuckender Verteidigungsminister. Leider waren es die vielen kleinen zusätzlichen Schritte, die seit 1992 den Weg von einer Verteidigungsarmee zu einem aktiven Gestaltungswerkzeug ebneten, dabei häufig weniger getrieben von moralischen Werten als – wie offenbar auch hier – von der Binnenmoral einer Waffengemeinschaft, die kein Ohnemicheltum dulden will. Der am wahrscheinlichsten bleibende Effekt auch dieser Eskalation zwei Kilometer den Strand hinauf ist die weitere Erosion des Territorialitäts- und Souveränitätskonzepts, damit des Kernbestandteils unserer Friedensordnung nach 1945.

Und schließlich: Die Lösung des modernen Piraterie-Problems ist, wie Herr Jungholt zutreffend andeutet, eher auf den diskreten, klimatisierten Fluren von Bürotürmen zu finden als auf einem noch so langen und breiten Strand – und sie liegt sicher auch in einer entgegenkommenden und fairen Außenhandelspolitik. Der Bundestag sollte das neue Mandat sehr kritisch überdenken.

Die Parallele zu Klaus Störtebeker lässt sich im Übrigen weiter ziehen als zum Angriff auf Landstützpunkte: Der Freibeuter war hochgeachteter Vitalienbruder gewesen, hatte in kritischen Zeiten die Hansestädte mitversorgt. Zum „bad guy“ wurde er erst, als man ihn nicht mehr brauchte und nicht mehr entlohnte. Im Prinzip den gleichen Weg nahmen viele Fischer Nordostafrikas, nachdem hoch organisierte westliche Fangflotten ihre Fischgründe und ihre persönliche Zukunft sterilisiert hatten.

Anm.:

-        Kabinettbeschluss zu ATALANTA v. 18.4.2012: BT-Drs. 17/9339, zum erweiterten Einsatzgebiet siehe dort S. 6.

-        Zur Entwicklung der Piraterie in den Gewässern Somalias siehe u.a. diesen Wikipedia-Artikel sowie einen Bericht in DIE PRESSE; danach hatte die Bewaffnung der somalischen Fischer ihren historischen Ursprung in dem Eindringen fremder, u.a. europäischer Fischtrawler in somalische Fischgründe (!) und operierten in der Folge sogar fremde Fangflotten unter dem Schutz der ATALANTA-Mission (!!!); siehe ergänzend Stn. der Somalia-Expertin Annette Weber, SWP, in der die Autorin wegen der unabschätzbaren Eskalationsgefahr von einem Eingreifen an Land abrät.

-        Zu Störtebeker siehe diesen Wikipedia-Artikel

 

(2012 / 16) 16.3.2012
Frankfurter Allgemeine; abgedruckt 24.3.2012
Zukunft Afghanistans; Günther Nonnenmacher, „Afghanische Traditionen“
(Frankfurter Allgemeine v. 16.3.2012,S. 1):

„Kaum zu vermeiden“, das mag man auch vom Beginn der Afghanistan-Mission sagen, auch zu Verlauf und mutmaßlichem Ende derselben und sogar zu ihrem wohl gewaltsamen Nachspiel. Wäre aber dann nicht der ideale Zeitpunkt zu überlegen oder gar mit allem verfügbaren Verstand zu objektivieren, was an unseren Expeditionen und Missionen der letzten zwanzig Jahre so geschickt war – was Gewinne waren und was Kosten und Lasten?

Vielleicht gibt es doch Lektionen, die zu wiederholen wir vermeiden können. Und zwar, bevor daraus eigene Traditionen werden.

 

(2012 / 15) 12.3.2012
SPIEGEL
Drohnen; Thomas Darnstädt, Marc Hujer u. Gregor Peter Schmitz  "Bushs Erbe"
(SPIEGEL 11/2012, S. 94f)

In die hearts & minds der Orientalen haben sich die Drohnen nicht hinein gesprengt, können es auch gar nicht. Mich erinnern sie - wie auch der mehrfach dekorierte amerikanische Scharfschütze mit dem Kriegsnamen "Devil of Ramadi" - an die Zivilisationsbrüche der Assassinen, an die ausdrückliche Warnung Immanuel Kants vor "ehrlosen Stratagemen" und an seine Mahnung, "sich keine Feindseligkeiten zu erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen."

Aber wen stört das im Wahlkampf? Dort hilft es sogar eher, sich als hartgesottener Herr über Leben und Tod zu präsentieren.

P.S.
Zu den Assassinen: http://de.wikipedia.org/wiki/Assassinen

Zur zitierten Passage aus Kants "Zum ewigen Frieden", (2. Aufl.) 1796, 1. Abschnitt / Präliminarartikel Nr. 6, in der Reclam-Ausgabe auf S. 7 f (vollst. Wortlaut s. auch im Internet http://www.sgipt.org/politpsy/vorbild/kant_zef.htm):

6. "Es soll sich kein Staat im Kriege mit einem andern solche Feindseligkeiten erlauben, welche das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen: als da sind, Anstellung der Meuchelmörder (percussores), Giftmischer (venefici), Brechung der Kapitulation, Anstiftung des Verraths (perduellio) in dem bekriegten Staat etc."
Das sind ehrlose Stratagemen. Denn irgend ein Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes muß mitten im Kriege noch übrig bleiben, weil sonst auch kein Friede abgeschlossen werden könnte...

Eine weitere Passage aus dem "Ewigen Frieden" mag Obama als lernbereiten Erben Bushs erklären. Im Zweiten Zusatz / Geheimen Artikel (Reclam S. 33, 35) heißt es dort sehr hellsichtig:

Daß Könige philosophiren, oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen: weil der Besitz der Gewalt das freie Urtheil der Vernunft unvermeidlich verdirbt.

 

(2012 / 14) 7.3.2012
Frankfurter Allgemeine
Targeting; "Washington rechtfertigt Tötung von Amerikanern" u. Kommentar "Uramerikanisch"
(F.A.Z. v. 7.3.2012, S. 1 u. 8)

Der Kommentar "Uramerikanisch" bezieht klare Stellung gegen das gezielte Töten außerhalb von Kampfhandlungen, damit für die Menschenrechte und für den historischen Kern der atlantischen Wertegemeinschaft. Respekt!

P.S. zur hier sehr weit zurück reichenden Historie:
Nach der Überlieferung umfasste das Römische Zwölftafelgesetz von ca. 450 v. Chr. eine Vorschrift, wonach damals das Töten eines nicht verurteilten Menschen verboten war, s. tab. IX no. 6 : "Interfici . . .  indemnatum quemcunque hominem etiam XII tabularum decreta vetuerunt (Salvianus, de gubern. dei 8, 5, 24).", s. http://www.hs-augsburg.de/~harsch/Chronologia/Lsante05/LegesXII/leg_ta09.html

 

(2012 / 13) 7.3.2012
SPIEGEL
Militärische Opfer bei Auslandseinsätzen; Guido Mingels und Takis Würger "Ein Opfer, ein Held"
(SPIEGEL 10/2012, S. 50ff)

Als Opfer der Auslandseinsätze sehe ich noch eher Zivilisten wie Farah Abdullah, † 22.1.1994 bei Belet Huen / Somalia oder Sanja Milenkovic, † 30.5.1999 bei Vavarin / Serbien oder Bibi Khanum, † 28.8.2008 mit zwei Kindern bei Kundus / Afghanistan. Für mich gehören diese Namen zu einer Gedenkstätte – auch und gerade. Zugegeben: Man bräuchte dann deutlich mehr Raum, denn die zivilen stehen zu den militärischen Opfern erfahrungsgemäß im Verhältnis von 5 : 1 bis 10 : 1, und neo-heroische Inschriften wie "Für Frieden, Freiheit und Verantwortung" wären nicht so stimmig.

 

(2012 / 12) 22.2.2012
Frankfurter Allgemeine
Wahl des neuen Bundespräsidenten; zu: Günther Nonnenmacher "Nun doch Gauck", Berthold Kohler "Mime und Brünhilde", F.A.Z. v. 21.2.2012, S. 1; Georg Paul Hefty "Mit dem Auge des Verfassungsrechtlers", F.A.Z. v. 20.2.2012, S. 10

Den demokratischen Zauber einer Bundesversammlung kann ich nicht recht beurteilen: Mein Name hat nicht auf Bundes- oder Landeslisten gestanden. Nie wurde ich auch als Stimmträger dorthin delegiert, etwa wegen illustrer Bekanntheit aus Funk und Fernsehen. Und zum berichterstattenden Stand gehöre ich nun mal auch nicht. Von Ferne also, da habe ich diese Versammlung nun aber nicht als einen urdemokratischen Ort des selbstständigen Diskurses und der erkenntnisgeleiteten aktuellen Entscheidung erlebt. Mir erschien das Ergebnis regelmäßig als Folge von fürsorglicher parteilicher Vorsehung, je nach Stimmgewichten auch schon mal in mehreren Akten dramatisiert, aber auch dann um nichts weniger prädisponiert.

Wäre es dann wirklich schad' drum? Könnte es nicht so sein, dass die Ära der gut auf den Schild zu hebenden Nachkriegs-Vorbild-Politiker ohnehin endgültig passé ist? Richtig ist natürlich: Auch eine Volkswahl setzt einen Trichter-artigen Diskurs- und Sortierprozess voraus. Sonst wäre in der Abstimmung und in dem dazu führenden Verfahren keinerlei Erkenntnismehrwert zu finden, sondern wiederum nur Ritual oder gar schlimmer: Beliebigkeit. Aber ich glaube nicht, dass seriöse, vertrauensbildende Kandidat/inn/en für das erste Bürgeramt heute nur im Sichtfeld der Parteien sprießen oder dass sie nur in und mit den Wahlmaschinen der Parteien zu elektoraler Statur hochgezüchtet werden könnten.

Ein kleiner Vorteil noch: Zu Recht weist man darauf hin, dass die Bundesversammlung nach der Erfahrung der letzten Jahre spiegelbildlich und konsequent auch als Schutzwall gegen tagespolitisch befeuerte Rufmord-Kampagnen fungieren sollte. Beim Bürgerpräsidenten braucht man das wohl nicht, man könnte es beim Vorbehalt der Amtsenthebung wegen erwiesener strafrechtlicher Delinquenz belassen. Letzter und eigentlich entscheidender Vorteil: Die Präsidentenwahl würde wohl in der Regel nicht mehr als parteiliches Trend-Orakel herhalten müssen. Nur Nachteile hätte etwas mehr prickelnd fühlbare Demokratie also nicht.

 

(2012 / 11) 15.2.2012
Frankfurter Allgemeine
Afghanistan-Mission; Artikel „De Maizière warnt vor Seitenwechsel afghanischer Sicherheitskräfte" und zum Kommentar „Seitenwechsel“
(F.A.Z. v. 13.2.2012, S. 1 u. S. 8)

Lothar de Maizière kann ich gut verstehen: So fern ist der Tag nicht, an dem sich Deutschland nicht mehr aktiv am Hindukusch verteidigen wird, an dem der Saal der letzten Petersberg-Konferenz ausgefegt wird, an dem eine Bilanz zu Nutzen, Lasten und Nachhaltigkeit des Engagements ansteht und an dem bereits viele Afghanen an unsere Türe klopfen, die der ISAF oder der gegenwärtigen Karsai-Administration etwas zu nahe standen. Da täte der Politik ein kleiner, die Kausalität verdrängender Zeitpuffer durchaus gut – auch gegen den Vorwurf, schon wieder einigen Todfeinden á la Bin Laden sowohl das Handwerk als auch unsere Stärken und Schwächen beigebracht zu haben.

Archaische und atavistische Strukturen erklären die heute enttäuschten Hoffnungen nur wenig und liefern m.E. keine gute Legende. Da bedarf es nur eines Blickes auf den wesentlich moderneren, aber heute ebenso zerrütteten Irak. In jedem Fall hätte man schon das aus der sowjetischen Mission lernen können.

 

(2012 / 10) 8.2.2012
Frankfurter Allgemeine
Kriegsopfer und Staatenimmunität; Reinhard Müller „Rechtsfrieden“
(F.A.Z. v. 4.2.2012, S. 1)

Der Rechtsfrieden ist ein hohes Gut, sicherlich, und der ewige Frieden ist ohnehin nicht erreichbar. Dennoch macht sich Unbehagen breit, nach der aktuellen Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag u.a. zu Gewalttaten der SS in den italienischen Dörfern Civitella, Cornia und San Pancrazio ebenso wie schon nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte am 31.5.2011 zu Vergeltungsmaßnahmen der SS im griechischen Distomo und auch nach dem Einstellungsbeschluss des deutschen Generalstaatsanwalts am 16.4.2010 zum Angriff auf die zwei Tanklaster von Kundus.

Es passt für mich nicht recht zusammen, dass westliche Staaten seit dem Zusammenbruch des Ostblocks eine Übung weltweiter Interventionen ausgeprägt haben, die den Strafexpeditionen vor dem ersten Weltkrieg nicht unähnlich sehen, dass sie aus einer „responsibility to protect“ oder aus ihren „vested interests“ heraus die Souveränität anderer Staaten relativieren, dass sie zunehmend unkonventionelle Strategien und fernwirkende Instrumente nutzen – dass sie dann aber bei den notorischen selbst verursachten Menschenrechtsverletzungen und gegenüber potenziellen Opfern ihrer Missionen auf eine völlig ungeschmälerte eigene Souveränität pochen, gleichsam nach alter Väter Sitte. Dann fühle ich mich doch wieder an den ewigen Frieden erinnert, wo Kant über den „Staatseigentümer“ schreibt, der „durch den Krieg nicht das mindeste einbüßt, diesen also wie eine Art von Lustparthie aus unbedeutenden Ursachen beschließen, und der Anständigkeit wegen dem dazu allezeit fertigen diplomatischen Corps die Rechtfertigung desselben gleichgültig überlassen kann.“

Grundrechte haben sich historisch als Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat entwickelt. Staaten münzen sie heute ambitioniert und dynamisch zu pauschalen Eingriffsrechten gegenüber anderen Staaten um. Und gleichzeitig immunisieren sich die Eingreifenden gegen das Beklagen der durch sie selbst verursachten Grundrechtsverletzungen, die sie dann auch – sehr pragmatisch und euphemistisch – „bloß kollaterale“ nennen. Ob dieses neue Verständnis der nun gleichsam von den Menschen abstrahierten und treuhänderisch durchgesetzten Menschenrechte unter dem Strich den Menschen nutzt oder doch primär den exekutiven und geopolitischen Interessen, das ist freilich bis heute noch nicht evaluiert.

Quellen:
IGH v. 3.2.2012 = http://www.icj-cij.org/docket/files/143/16883.pdf
EGMR v. 31.5.2011 =
http://cmiskp.echr.coe.int/tkp197/view.asp?action=html&documentId=886559&portal=hbkm&source=externalbydocnumber&table=F69A27FD8FB86142BF01C1166DEA398649
Generalbundesanwalt v. 16.4.2010 = http://www.generalbundesanwalt.de/docs/einstellungsvermerk20100416offen.pdf
BVerfG v. 28.6.2004 = http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rk20040628_2bvr137901.html
Immanuel Kant, Zum Ewigen Frieden, 1795, Reclam-Ausgabe S. 13; Text siehe auch unter http://philosophiebuch.de/ewfried.htm

 

(2012 / 09) 20.1.2012
Frankfurter Allgemeine
Wannsee-Konferenz und auswärtige Gewalt; Rainer Blasius „Federführer der Vernichtung“
(F.A.Z v. 20.1.2012, S. 10)

Meine Anwandlung beim Lesen des Beitrags zur Wannseekonferenz am 20.1.1942 mag viel Kopfschütteln bewirken, vielleicht sogar Abscheu erregen: Denn sicherlich besteht ein gravierender Unterschied in der Schuld der Veranlasser und Organisatoren eines bewussten und grausamen Genozids und derjenigen Deutschen, die heute einen Auslandseinsatz der Bundeswehr politisch und exekutiv verantworten. Aber aus der Sicht der zivilen Opfer dieser Missionen weit jenseits unserer geographischen Grenzen muss das Delta nicht mehr so fundamental erscheinen, vielleicht sogar eher graduell, etwa bei dem Afghanistan-Einsatz, bei dem das Zurückziehen seit mindestens vier Jahren viel wahrscheinlicher ist als ein Erreichen der ursprünglichen Ziele.

Der Eindruck, wehr- und rechtloses Opfer zu sein, wird auch insoweit verstärkt werden: Der Grundrechtsabschnitt unserer Verfassung – die wesentliche und primär gesetzte Lehre und Verpflichtung aus der nationalsozialistischen Barbarei – und dessen klarer, zur offenen Abwägung von Gewalteinsatz und möglichen Schäden zwingender Gesetzesvorbehalt, sie sind nach der derzeit herrschenden Rechtsansicht bei Einsätzen im Rahmen von VN und NATO ganz und gar suspendiert. Deswegen werden trennscharfe und justiziable Tatbestände für Auslandseinsätze auch gar nicht erst erwogen und auch eine Verfassungsbeschwerde aus dem Ausland scheidet hier aus. Ebenso stumpf ist der strafrechtliche Schutz; auch das hat Albin Eser in dieser Zeitung vor kurzem mit guten Gründen hervorgehoben und problematisiert. Schließlich wäre auch ein etwa korrigierender zivilrechtlicher Abwehr- oder Entschädigungsanspruch praktisch aussichtslos, siehe etwa die aktuellen Entscheidungen zum Distomo-Massaker im 2. Weltkrieg oder zur Bombardierung der Brücke von Vavarin im Kosovokrieg. Und zu guter Letzt steht den Opfern im Ausland naturgemäß nicht die Möglichkeit zu, in Wahlen und Abstimmungen zum deutschen Parlament zurückzukoppeln.

Im Grunde leben wir mit der heute kaum je in Frage gestellten Betonung eines „Eigenbereichs exekutiver Handlungsbefugnis“, wie es das Bundesverfassungsgericht in seinem Streitkräfteurteil v. 12.7.1994 unter Bezug auf die frühere Pershing-Entscheidung hervorgehoben hatte und was es in seiner Entscheidung v. 7.5.2008 zur Luftraumüberwachung in der Türkei mit einer Warnung vor „exekutiven Gestaltungsfreiräumen“ und der „Räson einer Bündnismechanik“ nur sehr zaghaft relativiert hat. Der Verzicht auf materielle gesetzliche Regelung der Einsatzgründe mag auch an ein Ermächtigungsgesetz erinnern, zumindest an diejenigen aus der Phase des ersten Weltkrieges.

Es wäre nun sehr angebracht, den Nutzen und die Lasten des gegenwärtigen Regimes von Auslandseinsätzen vor der Wahl des 18. Bundestages gesellschaftsweit zu debattieren. Der bis heute fortwirkenden Warnung des damaligen Außenministers Kinkel vor der Wahl zum 13. (in Worten: dreizehnten) Bundestag, eine Wahlkampf-Debatte zu Auslandseinsätzen „würde Deutschland schaden“, der kann und will ich jedenfalls nicht beipflichten. Eher verpflichtet uns die Erinnerung an den administrativ breit unterstützten Massenmord zu einem hochsensiblen und effizient kontrollierten Umgang mit auswärtiger Gewalt, und zwar ganz ungeachtet von heutigen Zahlen und Dimensionen.

P.S. Quellen zu den Bezügen im 2.-4. Absatz:
Beitrag von Albin Eser
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/kriegsrecht-duerfen-soldaten-ueberhaupt-toeten-11581837.html;
BVerfG v. 15.02.2006, 2 BvR 1476/03 (Schadensersatz für Vergeltungsmaßnahmen im 2. Weltkrieg in Distomo/Griechenland);
BGH v. 02.11.2006,
III ZR 190/05, BGHZ 169, 348 = DÖV 2007, 429 (Bombardierung der Brücke von Varvarin/Jugoslawien);
BVerfG v. 12.07.1994, 12 BvE 3/92 u.a.
, BVerfGE 90, 286, 398f = NJW 1994, 2207, 2218f (Streitkräfteurteil);
BVerfG v. 07.05.2008,
2 BvE 1/03; BVerfGE 121, 135 = NJW 2008, 2018 (Türkei / NATO-Luftraumüberwachung);
Interview n-tv mit Außenminister Klaus Kinkel am 13.9.1993 siehe hier (dort S. 39 unten)

 

(2012 / 08) 16.1.2012
Frankfurter Allgemeine
gesellschaftliche Debatte zur Außen- und Sicherheitspolitik; zu: Albin Eser „Dürfen Soldaten überhaupt töten?“, F.A.Z. 28.12.2011, S. 29 u. zum Leserbrief von Wolfgang Schulenberg „Der Soldat im Einsatz ist Träger der Hoheitsgewalt.“, F.A.Z. v. 13.1.2012, S. 32:

Sowohl Albin Eser in seinem Beitrag „Dürfen Soldaten überhaupt töten?“ (F.A.Z. v. 28.12.2011) als auch Wolfgang Schulenberg in seinem Leserbrief in der F.A.Z. v. 13.1.2012 fordern mehr Kommunikation. Der Generalstäbler Schulenberg zielt dabei insbesondere auf die Verbesserung des gesellschaftlichen Rückhalts für die Soldaten vor Ort und eher auf die Form von Öffentlichkeitsarbeit. Der Strafrechtler Eser will die Definition des Bundeswehr-Auftrags fördern und ein Spannungsfeld im Rechts- und Verfassungssystem abbauen, ausgehend dabei vom Strafrecht, aber eben nicht beschränkt darauf. Aber auch Herr Schulenberg ist an einer „klaren Sicht auf den verfassungsmäßigen Auftrag der Bundeswehr“ interessiert; er beginnt selbst wohl ganz gezielt bei den in der Fachdebatte eher unstreitigen Fallgestaltungen wie den Einsätzen „zum Schutze des Bestandes der Bundesrepublik“ und solchen zur „Abwehr schwerster Bedrohungen für höchstrangige Rechtsgüter“. Jenseits dieser Fallgruppen aber warten noch die eigentlich brennenden Fragen zum rechtsstaatlich abgesicherten Aufgabenspektrum der Streitkräfte; sie führten ja sogar zum Rücktritt des letzten Bundespräsidenten. Beide Autoren stellen aus meiner Sicht einander ergänzende Anforderungen an die Politik – zur Organisation einer gesellschaftlichen Debatte, die der Bundeswehr unter den seit 1990 mindestens dreifach neu gewichteten Anforderungen eine Unterstützung der Bürger erlauben würde, die auch in Krisen belastbar wäre, und auch eine den Aufgaben angemessene Rekrutierung.

Ein Spannungsfeld besteht bis zum heutigen Tage: Zwar schienen sich die politischen Kontroversen rund um eine Änderung der Verfassung unmittelbar nach dem Streitkräfteurteil des Bundesverfassungsgerichts a.d.J. 1994 erledigt zu haben. Allerdings war diese Entscheidung auf eine Organklage ergangen und hatte mit der Zustimmungslösung eine dezidiert verfahrensrechtliche Lösung gewiesen. Das Streitkräfteurteil nimmt dagegen mit keinem Wort zum Grundrechtsschutz im ersten und prägenden Abschnitt des Grundgesetzes Stellung oder zur Abwägung individueller und gesamtstaatlicher Rechte. Im Kern bleibt damit ein Loyalitätskonflikt programmiert, den ein Soldat im Einsatz – Träger öffentlicher Gewalt, wie Wolfgang Schulenberg zu Recht feststellt – nicht selbst auflösen kann, nicht mit Taschenkarten, nicht mit einem Strafgesetzbuch, nicht mit einem Grundgesetz oder gar mit einer Bibel: Den Schutzgeboten aus Art. 2 GG, aus den §§ 211ff StGB und dem Tötungsverbot der Bibel steht eine im besonderen Gewaltverhältnis zwingende Befehlskette entgegen, die auf Art. 24 GG in der Interpretation des Bundesverfassungsgerichts, auf dem Weißbuch, den Verteidigungspolitischen Richtlinien und auf dem im konkreten Fall konstitutiven Einsatzbeschluss von Kabinett und Parlament und auf einem darauf wiederum ergangenen Einsatzbefehl beruht. Ein ähnliches Spannungsfeld wurde in einem Katechismus aus dem ersten Weltkrieg, der in der Feldseelsorge verwandt wurde, mit einer einfachen Fußnote beim Tötungsverbot des 5. Gebots rhetorisch aufgelöst: „Gilt nicht im Kriege!“

Nun können oder wollen wir offenbar weder den ersten Abschnitt des Grundgesetzes noch die §§ 211 ff des Strafgesetzbuches – oder moderne Bibeln – mit einer fortgeschriebenen Fußnote versehen, die unter den heutigen Bedingungen etwa lauten müsste: „Gilt nicht bei Krisen und Konflikten!“ Darum ist es höchst wünschenswert, im demokratischen Diskurs die in den o.g. F.A.Z.-Beiträgen geforderte Klärung und Vergewisserung herbeizuführen und dabei grundlegend herauszuarbeiten: Konkret zum Schutz welcher Rechtsgüter und unter Gefährdung welcher Rechtsgüter soll deutsche auswärtige Gewalt künftig dienen? Diese materielle Definition kann und muss als ergänzende Sicherung zur vom Verfassungsgericht bereits angeordneten Letzt-Zustimmung des Bundestages hinzutreten – auch und gerade zum Schutz der Soldaten im Einsatz!

P.S.
Link zum Beitrag von Albin Eser: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/kriegsrecht-duerfen-soldaten-ueberhaupt-toeten-11581837.html;
Link zum Leserbrief von Wolfgang Schulenberg hier.

 

(2012 / 07) 12.1.2012
DIE WELT
Anschlag auf iranischen Atomforscher; Michael Borgstede "Atomforscher stirbt bei Anschlag im Iran"
(DIE WELT 12.1.2012, S. 8)

Zur Bewertung des Attentats braucht es nur Kants kategorischen Imperativ. Und diese Analyse fällt noch negativer aus und für unsere sichere Zukunft noch besorgniserregender, wenn die Veranlasser des Attentats diejenige Waffentechnologie bereits selbst im Anschlag haben, die durch die tödliche Magnetbombe im Iran weiter verzögert werden soll. Das muss auch die Realpolitiker beunruhigen - die Anhänger eines aufgeklärten, verfassten und für andere Regionen beispielgebenden Staates sowieso.

 

(2012 / 06) 12.1.2012
TIME
weapon technology / drones; Mark Thomson "Stealth Army"
(TIME Jan. 09, 2012, p. 21):

What may be marketed as a big bargain in times of sparse budgets, it may turn too heavy a burden. The body-count of the ongoing millennium shows that drones already are far more lethal than atomic, biological or chemical weapons. They don't know any rule of law and are they are most readily employed in distant conflicts. Drones never make for friends, and they are bound to trigger terroristic avengers, being their very fitting mirror image.

P.S.
Although the situation is somewhat different, I’m reminded of Ray Bradbury’s “The City” from his 1951 collection “The Illustrated Man”, http://en.wikipedia.org/wiki/The_Illustrated_Man

 

(2012 / 05) 12.1.2012
Spektrum der Wissenschaft, veröffentlicht auf der Spektrum-Seite, s. www.spektrum.de/artikel/1138778
Wissenschaft und Religion; Christian Tapp, „Vernunft und Glaube“ (Spektrum 1/2012, S. 56-63) u. Streitgespräch zwischen Eckart Voland und Winfried Löffler „Was können Wissenschaft und Religion voneinander lernen?“ (S. 64-71)

Stärker als die Unterschiede faszinieren mich die Ähnlichkeiten: Gemeinsam ist Wissenschaft und Religion eine hohe Nähe zum Staat; das sichert einerseits gesellschaftliche Ressourcen und versorgt andererseits die staatlichen Repräsentanten mit Erklärungsmustern, Delphi-artigen Prognosen und nicht immer unparteiischen Entscheidungsgrundlagen. Strukturell ähnlich sind sich die Selig- und Heiligsprechungen und die peer-review-basierten Preise und Medaillen, die beide das irdische Leben zu überdauern versprechen. Beiden Lagern wohnt ein bald theokratisches, bald technokratisches, in jedem Fall stark geordnetes und hierarchisiertes Weltbild inne, auch eine Scheidung zwischen Theorie und Praxis. Dabei schreiben Wissenschaft wie Religion das offen Menschenfressende und Weltgefährdende ihres jeweiligen Weges regelmäßig und apologetisch einer üblen technischen oder praktischen Umsetzung zu. Beide Systeme müssen bei nachvollziehbaren Erklärungen des Ursprungs und Grundes letztlich passen – beim Ursprung der Gesamtwelt wie auch des Lebens. Selbst bei der Evolution unserer Art und bei der Determiniertheit individueller Eigenschaften bleiben die Erkenntnismöglichkeiten eher begrenzt und Überraschungen auf der Tagesordnung. Nobelpreise mögen typischerweise für nonkonforme Ansätze verliehen werden, aber auch sie folgen dem Axiom eines bilanzierbaren Nutzens der technisch dominierten Zivilisation, den zumindest die westlichen Religionen ebenfalls nicht in Frage stellen.

Das Erschreckendste aber ist für mich: Trotz ausgefeilter und sogar wegweisender Hermeneutik, trotz atemberaubender Erkenntnissprünge im Größten und im Kleinsten sind die Fortschritte und Beiträge beider Systeme beim verlässlichen Schutz von Grund- und Menschenrechten in den letzten 20 Jahren eine zu vernachlässigende Größe geblieben - eigentlich auch schon die diesem Ziel gewidmeten Ressourcen.

 

(2012 / 04) 6.1.2012
DIE ZEIT, abgedruckt 19.1.2012
Kreditaffäre des Bundespräsidenten (Bernd Ulrich "Leeres Schloss", DIE ZEIT 2/2012 v. 5.1.2012, S. 1; Tina Hildebrandt "Ein Mann, kein Wort", S. 3)

Keine Frage: Eine Staatskrise ist es nicht. Aber es ist an der Zeit, über neue Wege nachzudenken. Wenn wir mangels Repräsentanz nun allesamt Bundespräsident sind, dann können wir doch aus unserer Mitte einen neuen ersten Bürger wählen, oder? Das bisherige Assessment-Center mit der magischen ununterbrochenen Legitimationskette von Gnaden des Kanzleramtes und mit halb-ernsten Institutionen wie der Bundesversammlung, die zunehmend an eine Soap erinnerte oder an "Der Kongress tanzt": Hat das nicht in der Rückschau bessere, aber nun invalide Kandidaten zurück gelassen, und sorgt es nicht draußen vor den Staketenzäunen für immer verdrossenere oder schon apathische Bürger?

Also frisch ans Werk – mit einem neuen Konzept "Bürgerpräsident"! Dazu müssen wir ihm noch nicht einmal mehr konstitutionelle Muskeln geben; die Köhler'sche Interpretation des Prüfungsrechts bei der Ausfertigung von Gesetzen gemäß Artikel 82 GG gibt ja schon sehr viel Saft und Kraft. Aber wenn es noch etwas mehr Fitness und Konstitution sein soll: Dann würde zum Konzept "Bürgerpräsident" etwa eine eigene Rolle im Eingabewesen passen. Es fällt uns sicher noch mehr erfrischende Innovation ein, wenn wir nur wollen. Das alles kann sogar helfen, die fast schon wieder zu Staub zerfallenen Demokratie-Hoffnungen der Beitritts-Bürger unter uns einzulösen.

Als Motto: Occupy Bellevue!

 

(2012 / 03) 6.1.20112
DIE WELT
Kreditaffäre des Bundespräsidenten / Interview v. 4.1.2011 und zur Berichterstattung und Kommentierung in der WELT v. 5.1.2012 (Erstseiten-Artikel „Christian Wulff entschuldigt sich für ‚schweren Fehler‘ “; Kommentar v. Torsten Krauel „Wulffs dritter Versuch“, S. 1; Beitrag v. Daniel Friedrich Sturm „Wulff sucht die Offensive“, S. 4; Beitrag von Ulf Poschadt „Mitleid mit dem Parvenü“, S. 23)

Die folgenden Bemerkungen Wulffs sind mir am Mittwoch aufgestoßen: Den Abdruck eines kritischen Artikels während einer Auslandsreise verhindern zu wollen (Konnotation: in einer Phase der besonderen Schutzlosigkeit), das sei doch menschlich verständlich - auch wegen der besonderen persönlichen Belastung (zu Guttenberg lässt grüßen). Er wolle nicht Präsident eines Landes sein, in dem Freunde einem Präsidenten in Not nicht helfen dürften (und die Präsidenten in ihrer Not nicht dankbar sein dürften) oder bei denen er nicht ohne Beleg logieren könnte (selbst im Ausland, auch im Wochenmaßstab). Er habe nach der Verantwortung eines Ministerpräsidenten noch entscheidend dazuzulernen gehabt und alles sei doch arg schnell gegangen (noch ein kleiner Guttenberg). Er habe kein Recht gebrochen (das ist noch nicht abschließend geklärt - aber es würde auch ohne dies auf eine winkeladvokatorische Pose deuten, die sich nicht am Maßstab der persönlichen Integrität messen lassen will). Er wolle fünf Jahre im Amt lernen und beweisen, dass auch er Fehler nachhaltig vermeiden könne (das könnten für uns einige Lerneinheiten zu viel sein). Überhaupt: Wenn man zu strenge Maßstäbe anlege, fände man gar keine so fähigen (gemeint dann wohl: so entwicklungsfähigen) Kandidaten. Anders gesagt: Wer da ist ohne Sünde, der werfe den ersten Stein (dieser Rat allerdings müsste sich am ehesten an das Kanzleramt richten, das bekanntermaßen das Assessment-Center für neue Bundespräsidenten leitet).

Insgesamt frage ich mich, ob nicht in einer künftigen Volkswahl des ersten Bürgers mehr Weisheit stecken würde als in dem operettenhaften, teils Slapstick-artigen Inszenieren von Bundesversammlungen. Wir sollten das mal wagen. Übrigens glaube ich nicht, dass ein Normal-Verbraucher dem Amt nur unter Sysiphos-haften Anstrengungen das für eine Bürger-Demokratie notwendige Format verleihen könnte.

 

(2012 / 02) 4.1.2012
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 11.1.2011
Kreditaffäre des Bundespräsidenten, u.a Kommentar von Daniel Brösler "Merkels Schuld"
(Süddeutsche Zeitung v. 4.1.2012, S. 4)

Zum Auswachsen ist's: Nun droht mir in schneller Folge schon der zweite erste Bürger abhanden zu kommen - grad, dass ich ihn liebgewonnen hatte. Der spröde Köhler hatte mich erst mit seiner Rede vom 10.10.2005 zum fünfzigjährigen Bestehen der Bundeswehr überwältigt, mit seinen mehr als 20 luziden Fragen zu Auftrag und Nutzen der neuen Streitkräfte. Fragen, die vor und nach ihm keiner von unseren fast 700 parlamentarischen und exekutiven Repräsentanten zu stellen wagte, geschweige denn zu beantworten. Und verschluckt hatte er sich dann ausgerechnet an einer klaren Aussage, die schon seit Rühes Zeiten für jeden nachlesbar in allen Verteidigungspolitischen Richtlinien stand, selbst in denen aus der Ära Struck.

Und nun Wulff? Life und in Farbe habe ich ihn vor wenigen Monaten bei einer Konferenz zur Berufsbildung erlebt - und er hat mich gegen jedes mögliche Vorurteil kalt erwischt: Lebhaft, kompetent, souverän - authentischer als alles, was man sonst hätte auf die Bühne stellen können, und mehr als nur eine gute Show. Gut - sein Charisma war wahrscheinlich einfach das, was ein homo novus wie der junge Wulff in einer Partei gegen ein Karriereversprechen eintauschen konnte. Aber das Problem liegt natürlich tiefer, in dem für agile Aufsteiger unwiderstehlichen Sexappeal zwischen ökonomischer Reichtumsmacht und politischem Machtreichtum, der eine überzeugte Demokratie unbemerkt zur real existierenden machen kann. Als die WestLB ihren Ministerpräsidenten Rau mit einem insgeheim vorbereiteten opulenten Geburtstagsfestakt - wie er später sagte - völlig überraschte, war es ja auch nicht viel anders.

Bei Köhler wie Wulff war unsere Kanzlerin ja vielleicht nicht direkt allein schuldig, aber zumindest war sie angestrengt glücklos. Wir sollten sie und die ohnehin überbezahlte Bundesversammlung von den Assessment-Centern für künftige Präsidenten freistellen und unsere ersten Bürger in Zukunft selbst auswählen, einen Reserve-Ersten gleich dazu. Und in den Anstellungsvertrag sollten wir für beide klare Benimm- und Ausstiegsregeln hinein schreiben, von Anfang an.

 

(2012 / 01) 4.1.2012
Frankfurter Allgemeine
Rechtsgrundlage für Auslandseinsätze; Albin Eser "Dürfen Soldaten überhaupt töten?"
(F.A.Z. v. 28.12.2011, S. 29):

Herrn Eser herzlichen Dank und meine volle Zustimmung für seinen aufrüttelnden Anstoß, über auswärtige Gewalt nun einmal dezidiert im Lichte des Grundrechtsschutzes zu sprechen, damit völlig passfähig zum zentralen und auch redaktionell primär gesetzten Begründungszusammenhang des Grundgesetzes.

Nun sind wir im Nachdenken und Debattieren über Staat und Gewalt erfahrungsgemäß arge Spätzünder. Der Holocaust hatte erst zwei Jahrzehnte verzögert zu einem ernst zu nehmenden gesellschaftlichen Diskurs gefunden und auch hier sind es auch schon bald zwanzig Jahre: Eine grundlegende und massiv, teils irreversibel in Grundrechte eingreifende neue staatliche Handlungsform ereignet sich einfach so, ohne breite gesellschaftliche Debatte, ohne die für Rechtsstaaten typische vorherige, allgemeingültige Festlegung von Eingriffsgründen in einem Gesetz oder in einer Verfassung, wie sie Art. 19 Abs. 1 GG eigentlich ohne jede Möglichkeit der Missdeutung voraussetzt.

Namen wie Farah Abdullah, † 22.1.1994 bei Belet Huen/Somalia, Sanja Milenkovic, † 30.5.1999 bei Vavarin/Serbien oder Bibi Khanum, † 28.8.2008 mit zwei Kindern bei Kundus/Afghanistan, sind hier praktisch unbekannt. Das sind nur Beispiele für die mehreren Tausend ausländischer Opfer aus neuen Konflikten, an denen Deutschland beteiligt war und ist. Es sind häufig genug – wie auch in den genannten Fällen – junge Menschen; der Somali Farah Abdullah war das erste zivile Opfer, von dem ich hörte. Ein Denkmal für diese Toten wird es noch lange nicht geben; notorischerweise werden zuerst die staatseigenen Opfer geehrt. Umso wichtiger wäre, dass wir die Gründe unseres militärischen Eingreifens endlich im Wortsinne definieren, will sagen eindeutig begrenzen. In einem Rechtsstaat kann es keine Lizenz zum Töten mit Verbotsvorbehalt geben, sondern – wenn überhaupt – nur eine primäre Lebensgarantie mit klar auslesbaren und justiziablen Ausnahmen. Auch insoweit kann ich Herrn Eser nur aus vollem Herzen zustimmen und würde mir wünschen, dass die geballte Staatsrechtswissenschaft sich dessen mit Verve und Außenwirkung annähme. Bisher allerdings sind mir nur die nachdenklichen Beiträge von Martin Kutscha bekannt.

Kommen wir kurz auf den Holocaust zurück und zu einem Treppenwitz der Verfassungsgeschichte. Das Trauma des national und rassistisch verblendeten Unrechtsstaates und die Pseudo-Legitimierung seiner Exekutive durch das Ermächtigungsgesetz wurden nach 1945 der gedankliche Vater des Bundesverfassungsgerichts. Diesen Ursprung und den besonderen Auftrag, die staatliche Gewaltanwendung kontinuierlich in eindeutig überprüfbaren Schranken zu halten, hat das höchste Gericht in seiner grundlegenden Entscheidung zu Auslandseinsätzen a.d.J. 1994 aus meiner Sicht völlig ausgeblendet. Von Grundrechten oder von Wertekonflikten ist in dem mehr als hundert Seiten starken Urteil mit keinem Wort die Rede, wohl aber intensiv von den angestammten Rechten der Administration, für die das Gericht unter Bezug auf die Pershing-Entscheidung des Jahres 1985 [soweit von Interesse: BVerfGE 68, S. 1, 87] einen „Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnis und Verantwortlichkeit“ postuliert [soweit von Interesse: BVerfGE 90, S. 286, 389f]. Die Rechtswissenschaft liest das Urteil weit überwiegend nicht als nur verfassungsinterpretierend, sondern als de facto verfassungsändernd. Die Entscheidung ist nicht mit Richtermehrheit, sondern lediglich in einem durch das konkrete Antragsverfahren ermöglichten Patt ergangen. Unter dem Strich: Ohne verfassungsändernde parlamentarische Mehrheit, nicht einmal mit der Mehrheit des Richterkollegiums hat sich eine konstitutionelle Revolution ereignet, die der Exekutive erlaubt, jeweils ad hoc – und eben nicht nach generell festgelegten Eingriffsgrundlagen – in lebensbestimmende Grundrechte einzugreifen. Auch die Zustimmung der Parlamentsmehrheit darf man hier nicht als wachsames Korrektiv missverstehen: Das Plenum hat die bisher mehr als 100 Einsatzbeschlüsse selbst in sehr strittigen Fällen ausnahmslos passieren lassen und etwas anderes steht auch für die Zukunft kaum zu erwarten. Also: Das ohne Ermächtigungsgesetz kaum denkbare Bundesverfassungsgericht hat ein Stück weit den Weg zurück zum Geist eines Ermächtigungsgesetzes gewiesen. Und in der Folge wurden dann Einsätze auch mit der reflexhaft eingängigen Parole „Nie wieder Auschwitz“ beworben, selbst wo sie selbst tausendfachen Tod und Verletzung brachten. Was in einem im ersten Weltkrieg gedruckten Katechismus als Fußnote zum 5. Gebot zu lesen stand und was wohl schon damals den eklatanten Zivilisationsbruch hinweg definieren sollte, das scheint auch heute wieder zu glatt hinunter zu gehen "Gilt nicht im Kriege!"

Wir sollten nun die hinsichtlich der Grundrechtsrelevanz nicht abgewogene und auch im Kollegium nur gering unterstützte 1994er Entscheidung politisch zu Disposition stellen und den ersten Abschnitt des Grundgesetzes so würdigen, wie es unserer nachhaltigen historischen Lektion entspricht: In gesellschaftlicher Debatte, in Abwägung der Grund- und Menschenrechte von Inländern und Ausländern wird das Handlungsprogramm der auswärtigen Gewalt klar definiert bzw. eindeutig begrenzt. Als Schlüssigkeitstest kann dabei die Jahrtausende alte golden rule dienen, die für das nationale Recht ebenso wie das Völkerrecht nützlich ist: „Handle immer so, wie du selbst behandelt werden möchtest.“ Immanuel Kant hat sie in seinem zeitlosen Traktat „Zum Ewigen Frieden“ zitiert, in der Form des kategorischen Imperativs.

Dass wir konsequent auch unsere Bündnisrollen neu definieren müssen, das ist selbstverständlich. Aber wir dürfen uns auch nicht durch die Bündnisrollen definieren lassen. Diese Rollen waren in den letzten zwanzig Jahren typischerweise von institutionellen und administrativen Interessen geprägt und haben sich ohne ausreichende gesellschaftliche Debatte unter stetiger Entgrenzung der Risiken, Eingriffsarten und Eingriffsräume fortentwickelt. Der teils sehr erratische und klandestine Prozess hatte unsere Berechenbarkeit und die globale, regionale und nationale Sicherheit nicht denknotwendig gestärkt.

 

Und ein paar Sammlerstücke aus früheren Jahren:

 

(a) Die Mutter aller [meiner] Leserbriefe:

29.9.1992
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt 2.10.1992
Militär; Absage der "V 2 - Gedenkfeier" in Peenemünde (KStA. v. 29.9.1992)

Hätten wir am Deutschlandtag die Schöpfer der V 2 hochleben lassen, hätten wir auch die der Scud mitgefeiert. Die Scud ist wie die Mehrzahl der heute weltweit ausgerichteten Trägersysteme legitimer Nachfahre der V 2. Scud und V 2 sind brutale Massenvernichtungswaffen, die unter einem verantwortungslosen Regime bewußt zum Schaden der Zivilbevölkerung eines anderen Landes entwickelt und eingesetzt worden sind.

Demgegenüber ist der vorgebliche Kontext ziviler (!) Raumfahrtforschung, der etwa den jungen Wernher von Braun begeistert und geblendet haben mag, als Begründung eines V 2 - Festes geradezu absurd. Die Forschung hat sich gegen diese Wirtschaftsidee im doppelten Sinne auch ausdrücklich verwahrt.

Der Vorschlag war, wenn auch der count-down schweren Herzens in letzter Sekunde abgebrochen wurde, bereits eine verheerende Wunderwaffe gegen das Ansehen des neuen Deutschland im Ausland und unserer Repräsentanten im Inland.

 

(b) Der Leserbrief mit dem stärksten Verzögerungszünder:

29.5.2008
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt 30./31.5.2009, also bereits ein Jahr später
Wahl des Bundespräsidenten; Kandidaturen Hort Köhler / Gesine Schwan (KStA v. 27.-29.4.2008, u.a. Franz Sommerfeld "Mit Gesine Schwan nach links", KStA v. 27.5.2008, S. 4)

Entscheidend ist, so weiland ein großer Kanzler, was hinten raus kommt. Mehr Demokratie kommt raus, wenn bei einer Wahl die Wahl besteht. Das andere haben wir früher - meist nach Osten blickend - gerne als "Abnicken" verspottet und versuchen es selbst im Miniaturmaßstab der Schuldemokratie nach Kräften zu vermeiden.

Und die Gefahr durch die ewig Linken? Na ja, wenn man böse Ränke und abgekartete Spiele fürchtet oder wenn man ein barockes Theater von mehr als tausend wohlbestallten Spesenrittern von Herzen verhindern will, dann gibt es doch eine ganz natürliche Lösung: Die Wahl des obersten Bürgers durch die Bürger selbst. Wäre sicher auch die bessere Remedur gegen deren nachhaltige Verdrossenheit.

 

(c) Und der am weitesten gereiste Leserbrief:

22.08.1995
NIKKEI WEEKLY, JAPAN; abgedruckt 28.8.1995
Militärpolitik; Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki; THE NIKKEI WEEKLY of August 14, 1995

I refer to reports on WW II and especially to two letters to the editor printed in THE NIKKEI WEEKLY of August 14, 1995 (page 6). It is my impression that those two letters offer a unilateral and quite insulting interpretation of the motives behind the drop of atomic bombs onto Hiroshima and Nagasaki fifty years ago (e.g. N. Hale: "a merciful decision"). So I would like to show an alternative view:

It is certainly true, that Japanese military leaders commenced the hostilities against the USA. But the Japanese victims at Hiroshima and Nagasaki were in their vast majority civilians. And although they were victims, I am far from sure they were the real addressees of the bombs as well. There is quite a convincing hypothesis: The drop of the bombs in the first place aimed at impressing the counterparts of Truman at the Potsdam Conference of July/August 1945 - Truman, a just invested and still very uneasy-feeling American president. To add: according to now opened American files the Nagasaki bomb was also meant to test a completely redesigned ignition system.

The echoes of that demonstration of power strongly outlived that event. We hear them over and over again – from Iraq, from France, from China etc. So humanity will never forget those victims, even if some wanted to.

 

Weitere Leserbriefe aus 2011 / 2010 / 2009 / 2008 / 2007 / 2006 / 2005 / 2004 / 2003 / 2002 / 2001 / 2000 / 1999 / 1998 / 1997 / 1996 / 1995 / 1994 / 1993 / 1992
oder auch Briefe für Englisch-sprachige Medien.

Oder meine Leserbriefe, die zum Thema „out of area“ abgedruckt worden sind.

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