Karl Ulrich Voss, Burscheid: Meine Leserbriefe im Jahr 2012
Stand:
Januar 2013
(2012 / 42) 23.12.2012
Kölner Stadt-Anzeiger
Demografie; Kommentar von Tobias Kaufmann "Der Staat macht keine
Kinder" (KStA v. 22./23.12.2012, S. 4)
Neben den erwähnten Gründen für
zunehmende Kinderlosigkeit mag man noch ein weiteren sehen: Konsum und Kinder
sind Fressfeinde. "Ich bin doch nicht blöd!" meinte zumindest auch
"Ich bin doch nicht so blöd und kaufe Windeln!" Und
Unterhaltungselektronik verspricht aller Komplexität zum Trotz noch immer
Beherrschbarkeit - und sei es am Stecker.
Es ist ein wenig in Vergessenheit
geraten: Speziell Mecklenburg-Vorpommern, unser heutiges demografisches
Sorgenkind, hatte eine Alterspyramide zum Vorzeigen, als es noch nicht McPomm hieß, unmittelbar vor der Wirtschafts- und
Währungsunion. Die Kinder hatte nicht der Staat gemacht, richtig. Aber
Rahmenbedingungen wie Kinderbetreuung und das sog. "Abkindern",
der Teilerlass von Baudarlehen, zeugen von einer gewissen Mittäterschaft. Der
Regionalvergleich der im Kommentar zitierten Studie zeigt noch heute
signifikante Unterschiede zwischen West und Ost, allerdings auch den
überproportionalen Rückgang in den neuen Ländern.
Quelle: Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung
„Keine Lust auf Kinder“ vom Dezember 2012
http://www.bib-demografie.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Download/Broschueren/keine_lust_auf_kinder_2012.pdf?__blob=publicationFile&v=9
(2012 / 41) 18.12.2012
SPIEGEL
Beschneidungsgesetz; Essay von Necla Kelek "Akt der Unterwerfung" (SPIEGEL 51/2012 v.
17.12.2012, S. 74f)
Necla Kelek
zeigt auf den massiven rhetorischen Webfehler der Gesetzesbegründung und
einiger darauf beruhender Beiträge aus der Bundestagsdebatte: Eltern können das
Kindeswohl aus der Kindesnähe heraus typischerweise besser verfolgen, soweit
noch richtig. Aber das Nähe-Argument greift nur, solange die Entscheidung
der Eltern frei ist und nicht schon von einer anderen Instanz mit real
unwiderstehlichem Drohpotenzial vorgegeben ist - letzteres ja noch
wirkungsvoller, wenn es gar keine ernstzunehmende Integration gab.
Der Staat und auch die Kirchen haben
mit hastigem Wegschauen und oberflächlicher Institutionenpolitik
gerade viel Kapital verspielt, jedenfalls bei mir. Am meisten stört mich,
dass das systematische Wegschauen in den Dreissiger
und Vierziger Jahren die nunmehrige Apathie alternativlos gemacht haben soll.
Quelle
Die amtliche Begründung zitiert gem. Drs. 17/11295, S. 12 für das Vorrecht der Eltern bei
der Bestimmung des Kindeswohls die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
v. 9.2.1982, Az. 1 BvR 875/79 = BVerfGE
59, 358, 371. Dort heißt es unter juris-Rn. 64
wörtlich, Hervorhebung von mir:
"Das Elternrecht unterscheidet sich von den anderen
Freiheitsrechten des Grundrechtskatalogs wesentlich dadurch, dass es keine
Freiheit im Sinne einer Selbstbestimmung der Eltern, sondern zum Schutze des
Kindes gewährt. Es beruht auf dem Grundgedanken, dass in aller Regel Eltern
das Wohl des Kindes mehr am Herzen liegt als irgendeiner anderen Person oder
Institution."
(2012 / 40) 18.12.2012
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 2.1.2013
Beschneidungsgesetz; Heribert Prantls Kommentar
"Das Minimum" (Süddeutsche v. 13.12.2012, S. 4)
Was ist der konkurrenzlose Vorteil
einer pluralistischen, einer multikulturellen, einer multireligiösen
Gesellschaft? Aus meiner Sicht weniger das Abschotten und mehr der gemeinsame
Vorrat an humanen Modellen, der offene Diskurs und das gemeinsame Lernen,
auch das gemeinsame Verlernen.
Der Regierungsentwurf zum
Beschneidungsgesetz enthält auf S. 11 einen der skurrilsten offiziellen Belege,
die ich in dieser Republik je gelesen habe: "Aus Bayern wurde 1843
der Fall berichtet, dass die Polizeibehörde einen jüdischen Vater, der sich
geweigert hatte, seinen Sohn beschneiden zu lassen, sogar anwies, sein Kind
beschneiden zu lassen: Solange er der Religion angehöre, habe er sich auch
deren Religionsgebräuchen zu unterwerfen (Der Orient 1843, Heft 40, S.
316)." Das ist die gute alte Ordnung der Schublade und der
Ohrenmarken, die Bestimmung des Lebensweges von Geburt an, die Gesellschaft des
Nebeneinander und Untereinander, das bisweilen peinlich berührte
Wegschauen.
Es ist nicht einmal sicher, dass der
Strafrichter nun vor harten Entscheidungen sicher ist. Den konzentriertesten
Beleg für die ungewöhnliche Unbestimmtheit des Gesetzes - etwa zur unabhängigen
Aufklärung, zum Gewährleisten einheitlicher humaner Behandlungsstandards und zu
einer hinschauenden Evaluation - liefern die Ausschussbegründungen aus dem
Bundesrat und aus dem Bundestag.
Quellen
-
Gesetzentwurf
v. 5.11.2012:
http://dip21.bundestag.de/
-
Stn. Rechtsausschuss / Gesundheitsausschuss des Bundesrates v.
19.10.2012:
http://www.bundesrat.de/cln_
-
Stn. Rechtsausschusses des Bundestages v. 11.12.2012
(gesonderter Bericht in Drs. 17/11814 = Begründung
der Beschlussempfehlung in Drs. 17/11800 vom
Vortage):
http://dip21.bundestag.de/
(2012 / 39) 21.11.2012
Kölner Stadt-Anzeiger
Aufgaben der Bundeswehr; Aufruf von Lothar de Maizière zu einer breiten Debatte
der Aufgaben und Einsätze der Bundeswehr (Steffen Hebestreit u. Volker Schade
"Minister fordert Einsatz-Debatte", Kölner Stadt-Anzeiger v.
21.11.2012, S. 1; Burkhard von Pappenheim "Deutschland muss helfen",
ebenda S. 4; auch zu „Gezielte Tötung ist erlaubt“, Interview von Mira Gajevic mit Prof. Heintschel von Heinegg, Kölner Stadt-Anzeiger v. 16.11.2012, S.
3) der nachfolgende Leserbrief:
Chapeau! Lothar de Maizières Appell
zur tiefgreifenden gesellschaftlichen Debatte über die Auslandseinsätze der
Bundeswehr trifft den Kern und kommt für den anlaufenden Wahlkampf zum 18.
Bundestag gerade richtig: Für genau welche Werte sollen Bürgerinnen und Bürger
- und das sind unsere Soldatinnen und Soldaten eben auch nach Aussetzen der
Wehrpflicht - ins Feld ziehen? Was sind die Lektionen, die wir nach inzwischen
mehr als hundert Einsatzbeschlüssen des Bundestages gelernt haben, was die
Erfolge, was die eingesetzten Ressourcen und die Nebenfolgen? Welche
Instrumente sehen wir als sachgerecht und hilfreich bei der Deeskalation von
Konflikten an - wie steht es etwa mit verdeckt operierenden Einsatzkräften oder
mit fernwirkenden Drohnen?
Ich hoffe, alle Parteien nehmen den
Ball aktiv auf und schreiben Greifbares und Auswahlfähiges in ihre Programme -
und alle gesellschaftlich relevanten Gruppen wie die Glaubensgemeinschaften,
die Verbände, die Wissenschaft und die Medien bereichern die Debatte mit
konkreten Positionsangaben und Informationen. Dann kann die 2013er Wahl auch zu
diesem für unsere Zukunft höchst relevanten Thema endlich eine legitimierende
demokratische Aussage treffen.
Quellen
-
Liste
der Einsatzbeschlüsse des Bundestages s. unter http://www.vo2s.de/mi_
-
Zur
Problematik automatisierter Waffen, u.a. Drohnen s.
eingehend P. W. Singer, Brookings Institution,
Wash. „Der ferngesteuerte Krieg", Spektrum der
Wissenschaften 12/2010 S. 70ff = http://www.spektrum.de/alias/
(2012 / 38) 14.10.2012
Kölner Stadt-Anzeiger
Beschneidung; zum Bericht und Kommentar von Thomas Kröter
im KStAnz v. 26.9.2012 S. 1, 4 („Beschneidung soll
straffrei bleiben“, „Die Debatte beruhigen“); Notiz im KStAnz
v. 11.10.2012 S. 3 („Kabinett billigt Gesetzentwurf“) und Bericht im
Internet-Angebot des KStAnz v. 11.10.2012 „Protest gegen Beschneidungsgesetz““
Es ist ein Dilemma von der Klasse
eines antiken Dramas, zweifellos: Politische Korrektheit sollte
eindeutig und stringent sein, im Idealfall wie Mathematik, und hier haben wir
einen massiven Korrektheits-Konflikt. Das körperliche Zeichnen von Neugeborenen
im Intimbereich ist eine Form der genitalen Verstümmelung, sie widerspricht
allen aufklärerischen Werten und ist eindeutig
inkorrekt. Aber das plötzliche und schockhafte
Verbieten einer Jahrtausende währenden und durchgehend hingenommenen, selbst
während der nationalistischen Gewaltherrschaft nicht verbotenen Praxis
gegenüber einer in Deutschland – historisch praktisch noch gestern – mörderisch
verfolgten Glaubensgemeinschaft ist ebenfalls politisch inkorrekt. Vielleicht
gar noch politischer inkorrekt, zumal auch die christliche Kindstaufe das –
wenn auch symbolische – Binden Entscheidungsunfähiger ist. Dann Augen zu und
durch, in einer durch diesen offenbaren Konflikt paralysierten bzw. sedierten Gesellschaft?
Die Lösung kann nur in einem
gesellschaftlichen Prozess liegen, in einem Aufeinanderzugehen und in
behutsamem Lernen, nicht in einer Ad-Hoc-Regelung.
Ein Baustein, der beide Sichten und Bedürfnisse verbindet, wäre etwa eine
zunächst symbolische und im Zeitpunkt der Selbstbestimmungsfähigkeit dann auch
reale Beschneidung, nach Aufklärung über die Vor- und Nachteile nach dem
aktuellen Stand der Wissenschaft. Das entspricht auch der Positionierung des
Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte v.
11.10.2012. Begleiten sollten wir dies durch eine bereits
frühe Information über den gemeinsamen Wertevorrat unserer Hauptreligionen,
auch über ihre Überlieferungen, Riten und Feste. Ich selbst habe erst vor
wenigen Tagen bewusst wahrgenommen, am 1. Januar werde traditionell die
Beschneidung Jesu zelebriert.
(2012 / 37) 14.10.2012
DIE ZEIT
Beschneidung; Mariam Lau, „Die Sache mit der Beschneidung“(DIE ZEIT v.
11.10.2012, S. 5)
Mich zerreißt die Frage auch, da ich
derzeit keine politisch korrekte Lösung sehe - zwischen den aufklärerischen
Werten und einer jahrhundertelang hingenommenen,
global verbreiteten Praxis, deren Nichtbeachtung viele Eltern in einen
Gewissenskonflikt führen muss. Den Regierungsentwurf halte vich
- wohl weil der Eile geschuldet - für materiell sehr dünn und wenig tragfähig.
Zu den Placebos des Entwurfs ist die
effektive Schmerzbehandlung und die Aufklärung der Eltern zu rechnen, s.
Erläuterungen des Besonderen Teils zu § 1631d neu (B, zu § 1631d neu,
Absatz 1, Satz 2, Buchst. b und c, S. 23f). Beides wird in der neu eingefügten
Vorschrift gerade nicht explizit gemacht, sondern als quasi selbstverständlich
aus dem bereits bestehenden Normenbestand abgeleitet. Tatsächlich sieht die Praxis
bei wichtigen Zielgruppen völlig anders aus, die reale Informations- und
Gestaltungswirkung des Entwurfs dürfte damit in diesen Punkten sehr begrenzt
bleiben, zumal mit Klagen kaum zu rechnen sein wird. Speziell die Erwähnung
einer Pflicht zur Schmerzbehandlung hat am ehesten sedierende,
Empathie-kappende Wirkung für das
Gesetzgebungsverfahren und die unbeteiligte breite Öffentlichkeit.
Und nehmen wir dennoch an,
Aufklärung erfolge wirklich, im Einzelfall oder sogar regelmäßig: Wenn sich
diese Aufklärung dann am Standard der verharmlosenden und oberflächlichen
Darstellung im amtlichen Gesetzentwurf orientierte – siehe dort einerseits das
stark übertreibende und gerade am Fall des Neugeborenen völlig vorbeigehende
Herausstellen medizinischer Vorteile, andererseits die stark beschnitten
anmutende Dokumentation physischer und psychischer Folgen (A II 4, S. 7f, 9 des
Entw.) – dann würde sie ganz offenbar keinen signifikanten Anstoß zu einer
elterlichen Entscheidung gegen Beschneidung liefern können. Sie würde
das „weiter so“ unterstützen.
Angemerkt sei ferner: Der Entwurf
schneidet an einer sensiblen Stelle – zurückhaltend gesprochen – sehr grob. Er
leitet das Recht zur Zirkumzision Neugeborener u.a. aus dem Erziehungsrecht her, was in meinen Augen schon
ein rechtes Sprachkunststück ist, denn Erziehung und Gestaltung des kindlichen
Körpers sind wohl sehr unterschiedliche Kategorien. In der Herleitungskette
dieses „Erziehungsrechts“ bezieht sich der Entwurf dann aber noch für die
„Teilnahme an religiösen Handlungen, die ein Glaube vorschreibt oder in denen
er Ausdruck findet“ auf einen Beschluss des Verfassungsgerichts aus dem 93.
Entscheidungsband (A III 1 c, S. 14 des Entwurfs). Diese Entscheidung ist unter
Kennern als Kruzifix-Urteil bekannt und ganz sicher will sie keine erhöhte
Verfügungsmacht der Eltern über die Körper ihrer schutzbefohlenen
Kinder empfehlen oder begründen.
Ich habe hohe Sympathie für die
Positionierung des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte v. 11.10.2012,
wonach ein Kind nach Erreichen der Religionsmündigkeit den positiven Willen
äußern müsste und dürfte, aus religiösen Gründen beschnitten zu werden.
(2012 / 36) 13.10.2012
DIE WELT
Beschneidung; Matthias Kamann "Beschneiden will
gelernt sein" (DIE WELT 11.10.2012, S. 4)
Sollte irgendein Parlamentarier
angesichts eines Gesetzentwurfs, der schalmeienhaft
die Vorteile der Beschneidung preist, mit Beispielen, die aber in aller Regel
die Neugeborenen unter uns gar nicht interessieren müssen, weiter angesichts
eines Entwurfs, der die gesundheitlichen und psychosozialen Konsequenzen einer Zirkumzision zackig mit einem bis dato ungelösten
Gelehrtenstreit abtut und mit der „Evidenz normaler Lebensverhältnisse“ von
einer Milliarde heute schon Beschnittener – sollte also einer unserer Repräsentanten
auf den Gedanken kommen, sich selbst oder seinen Stammhalter an einer der
sensibelsten Stellen mannhaft und trendig kürzen zu
lassen: Ich rate sehr dringend davon ab. Und zufällig weiß ich sogar, wovon ich
spreche. Hautnah.
(2012 / 35) 12.10.2012
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Entwurf eines Gesetzes über den Umfang der Personensorge bei der Beschneidung
des männlichen Kindes; Kommentar von Reinhard Müller „Kindeswohl“ (F.A.Z. v.
11.10.2012, S. 10)
Die einzig tatsächlich näher
bedenkenswerte – weil für das Kind bedrohliche – Folge einer Einschränkung des
elterlichen Beschneidungsrechts ist das Abdrängen dieser Operation in einen
illegalen Untergrund, wie es auch der Regierungsentwurf kurz unter
„medizinethische Aspekte“ erwähnt (A II 5 des Regierungsentwurfes vom
8.10.2012, S. 10).
Allerdings ist das eine geradezu reflexhafte
Argumentationslinie. Sie spielte etwa bei einer fast zeitparallelen Debatte in
New York rund um die für mich heute schwer vorstellbare Praxis der Metzitzah B’peh eine wesentliche
Rolle – im englischen Sprachgebrauch oral suction,
das Absaugen des bei der Beschneidung austretenden Blutes durch den Beschneider. Und dieses Argument wäre im
Grunde inhaltsgleich anzuwenden auf die nach wie vor weit
verbreitete weibliche Genitalverstümmelung.
Die Argumentation mit einem
"Schlimmeres verhüten" wäre die billige Selbstaufgabe des Rechts- und
Verfassungsstaates gegenüber überlieferten Bräuchen, die für die Gesundheit und
freie Entwicklung der Kinder schädlich sind. Offene Debatte, Hinschauen und
Aufklärung ist der bessere Weg. Die abrahamitischen
Religionen schenken uns unverzichtbare und auch zeitlos gültige Beiträge zur
Ethik des gedeihlichen Zusammenlebens. Die Beschneidung zählt nicht dazu. Sie
hat wohl Alter, aber keinen ethischen Inhalt und sie ist heute nur, weil sie
ist. Treten wir ein paar Meter zurück, erweist sich die Beschneidung als
gelebte Jungsteinzeit, als das schlimmst-mögliche
Willkommen in unserer jetzigen Menschenwelt. Übrigens: Sollte mich jemand für
nur theoretisch betroffen halten - er hätte unrecht.
P.S. zur Metzitzah B’peh siehe
Beitrag in der F.A.Z.: http://m.faz.net/aktuell/politik/ausland/beschneidung-in-new-york-der-kampf-des-rabbis-11908568.html
(2012 / 34) 11.10.2012
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt: 29.10.2012
Beschneidung; Kommentar von Heribert Prantl "Warum ein unnötiges Gesetz nötig wurde"
(Süddeutsche v. 11.10.2012, S. 4)
Wer immer den vom Parlament am 19.
Juli eingeforderten und vom Kabinett am 10. Oktober prompt verabschiedeten
Gesetzentwurf über „den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung eines
männlichen Kindes" geschrieben hat: Er wird jenen Kölner Staatsanwalt
verwünscht haben, der mit seiner Anschuldigungsschrift das Urteil des dortigen
Landgerichts v. 7. Mai dieses Jahres ausgelöst hatte, und der Staatsanwalt
wiederum jene Bürger, die eine zugrunde liegende Anzeige geschrieben
hatten. Mit Händen greifen kann man den flehentlichen Wunsch – schon im Rahmen
des fraktionsübergreifenden Antrags, bei seiner unmittelbaren Erörterung im
Bundestag und auch im Kommentar in der Süddeutschen – alles möge doch bitte
möglichst schnell wieder so friedlich sein wie noch im April: Nur kein
Sonderweg, nur keine humanitären Schwachheiten. Das sehe ich doch anders, und
ich weiß auch für den Gutteil meines Lebens, was Beschneidung ist und was sie –
zugegeben: mit einer sehr schmalen Empirie – bewirken kann.
Schon der Name des Entwurfs stapelt
tief. Es geht nicht nur um eine Feststellung des „Umfangs der Personensorge“.
Jedenfalls die ganz allgemeine Unterstellung der Zirkumzision
unter die Personensorge und die nunmehr gesetzliche Vermutung der Zuträglichkeit
für das Kindeswohl sind eine signifikante Erweiterung gegenüber dem status quo. Ich kann dem Regierungsantrag auch nicht
folgen, wo er im Wesentlichen diejenigen medizinischen Gründe für die
Beschneidung anführt, die bei Neugeborenen gar keine Rolle spielen (A II 2 d,
S. 7f), wo er Risiken und Langzeitwirkungen auf einen höchst oberflächlich
reflektierten Akademikerstreit reduziert und damit neutralisiert (A II 2 4, S.
9f) und wo er insbesondere versucht, die Beschneidung als nach der bisherigen
Rechtsprechung sachgerechte Ausprägung des Erziehungsrechts darzustellen. Ich
lasse einmal dahingestellt, dass die zitierten Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts in einigen Fällen nicht das insinuierte
Ergebnis tragen, etwa die 1995er Entscheidung zu Kruzifixen in Klassenzimmern,
eine aus dem Jahre 1987 zur Lagerung von Chemiewaffen in Deutschland oder eine
Entscheidung aus 1986 zur Vertretung eines Kindes bei Handelsgeschäften (s. A
III 1 c, S. 14f). Wichtiger: Zulässige Erziehung im Sinne der bisherigen
Rechtsprechung kann ich auch nach dem allgemeinen Sprachgebrauch nur als software, nicht als hardware verstehen.
Sie darf auf Bildung und Orientierung abzielen, nicht aber auf irreversible
Gestaltung des wehrlos ausgelieferten Körpers, schon gar nicht im Intimbereich.
Hier wiegen das unmittelbare Wohl der schutzbefohlenen
Kinder und das Versprechen künftiger freier Entfaltung aus meiner Sicht ganz
undiskutabel stärker als das Interesse der Eltern an der Erfüllung einer auch
noch so lange tradierten Pflicht.
Nun ist die Praxis aber ganz
offenbar so, wie sie ist, die Eltern sind aus eigener Gebundenheit fern von
unvoreingenommener Entscheidung und der Gesetzgeber befindet sich auch aus
historischer Rücksicht – dies hat Reinhard
Merkel in der Süddeutschen Zeitung v. 25./26. August (S. 12) sehr
zutreffend angemerkt – in einem Dilemma, ja, in einem rechtspolitischen
Notstand. Dann aber ist kein demokratischer Kurzschluss vonnöten und kein
unausgewogener Gesetzentwurf, sondern eine noch offene seriöse Debatte, aus der
alle Seiten lernen können und deren Ergebnis nicht den ethischen Anspruch der
Aufklärung relativieren muss.
Quellen
-
Entschließungsantrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD u. FDP v. 19.7.2012 „Rechtliche Regelung der Beschneidung minderjähriger Jungen“
http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/103/1710331.pdf,
angenommen in der Plenarsitzung v. 19.7.2012 = Sitzung 17/189
http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/17/17189.pdf
-
Homepage
BMJ mit link zum Regierungsentwurf eines „Gesetzes über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des
männlichen Kindes“, beschlossen am 10.10.2012
http://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/pdfs/RegE%20Gesetz_ueber_den_Umfang_der_Personensorge_bei_einer_Beschneidung_des_maennlichen_Kindes.html?nn=1356288
-
Regierungsentwurf
als pdf http://www.bmj.de/SharedDocs/Downloads/DE/pdfs/RegE%20Gesetz_ueber_den_Umfang_der_Personensorge_bei_einer_Beschneidung_des_maennlichen_Kindes.pdf;jsessionid=E4BC69E72A2BE6C85C1CB2BED2A143FB.1_cid334?__blob=publicationFile
-
Homepage
Bundesrat mit link zur dann folgenden, inhaltlich entsprechenden Bundesratsdrucksache
v. 11.10.2012
http://www.bundesrat.de/cln_320/nn_6906/sid_44C10D926AB20A7089AAA53AEAF4498A/SharedDocs/Drucksachen/2012/0501-600/597-12.html?__nnn=true
-
Bundesratsdrucksache
als pdf
http://www.bundesrat.de/cln_320/nn_8336/SharedDocs/Drucksachen/2012/0501-600/597-12,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/597-12.pdf
(2012 / 33) 17.9.2012
Kölner Stadt-Anzeiger
Waffenexporte, Kampfdrohnen; Interview von Steffen Hebestreit und Daniela Vates mit Verteidigungsminister Thomas de Maizière (KStA v. 15./16.9.2012, S. 8 „Keiner hat ein Veto-Recht“):
Natürlich gibt es beim Waffenexport
Veto-Rechte, erklärte wie unerklärte; sonst funktionierte auch unsere immer
wieder beschworene Bündnisfähigkeit nicht. Und ob in einem Land, das
Abgeordnetenbestechung partout nicht ahnden will, Rüstungsexporte dem
staunenden Volk immer erst nach Vollzug verkündet werden müssen, das ist auch
alles andere als selbstverständlich. Zumal wir Bürger für wachsende
internationale Instabilität, wie sie nicht zuletzt volatilen Waffenströmen
geschuldet ist, immer öfter mit Preisgabe innerer Freiheitsrechte bezahlen
müssen.
Am wenigsten überzeugend allerdings
ist de Maizières abwiegelnde Einlassung zu den Drohnen. Das sind nun einmal
weit fernwirkende Waffen, die sowohl einen national
schmerzfreien Einsatz garantieren als auch einen minimalisierten Nebenschaden
suggerieren, die damit die Einsatzschwelle klar herabsetzen. Es sind die Waffen
der Wahl für Todeslisten und Regimewechsel, für das bequeme Unterfliegen des
Völkerrechts. Immanuel Kant hätte sie zu den "ehrlosen Stratagemen"
gezählt, zu jenen Taktiken also, die nach ihrem Einsatz einen nachhaltigen
Frieden besonders gefährden müssten.
Das einzige, was Drohnen mit
Flugzeugen oder Artillerie gemein haben, das ist die attraktive Beschaffung.
P.S.:
Zu Kant / zu den von ihm so genannten "ehrlosen Stratagemen"
siehe seine weiter aktuelle Schrift "Zum ewigen Frieden", 1795, 6. Präliminar-Artikel (Reklam-Ausgabe
S. 7f)
(2012 / 32) 24.8.2012
DIE ZEIT
Inlands-Einsätze der Bundeswehr; Leitartikel von Heinrich Wefing
(DIE ZEIT v. 23.8.2012, S. 1)
Unsere Demokratie ist am 3.7.2012
noch ein gutes Stück repräsentativer, symbolischer und utopischer geworden. Die
Menschen werden von Mandatierten vertreten, deren
Auswahl praktisch ausnahmslos den Parteien obliegt. Die Mandatierten
wiederum lassen sich bei grundlegenden, ja, bei den empfindlichsten Fragen von
Richtern vertreten, deren persönliche Auswahl wiederum den Parteien gebührt,
und umgehen damit das ohnehin kleine Restrisiko an der Wahlurne. Distanziert
werden wir auch beim Einsatz selbst: Ob im Ausland oder künftig vielleicht im
Inland, Berufssoldaten vertreten uns auch bei der praktischen Umsetzung, die
beiderseitige Rückkopplung zwischen Regierung und Volk ist minimiert. Wie schon
im Falle des Auslandseinsatzes sind auch die Anwendungsfälle
der Inlandseinsatzes, wenn überhaupt, so nur nebelhaft fixiert und beide
Optionen stehen unter dem offenen Vorbehalt der gerne zitierten „ultima ratio“. Will sagen „never say never“ oder auch: „a bisserl
geht immer“.
Im Grunde aber geschieht uns die
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts v. 3.7.2012 – der Türöffner für
künftige Inlandseinsätze, von einem Türspalt spricht auch die hellsichtige
abweichende Stellungnahme des Richters Gaier – ganz
recht. Jedenfalls, wenn man es Demokratie-systematisch angeht: Ausländische
Zivilisten müssen die Kollateralschäden deutscher
Auslandseinsätze ohne jede demokratische Kontrolle bzw. ohne realistische
Ausgleichsrechte ertragen. Kämen nun aber Deutsche bei einem Inlandseinsatz der
Bundeswehr um oder zu Schaden, so könnte man diesen immerhin vorhalten: Ihr
habt zumindest mittelbar mitgewirkt oder jedenfalls habt ihr im entscheidenden
Moment den Mund gehalten.
Was kann man nun tun? Dass der
Bundestag nun wie ein Mann – oder besser: wie eine Frau – aufstünde, das steht
wohl doch nicht zu erwarten. Es ist ja das Vertrackte an solchen Sprüchen des
Verfassungsgerichts: Sie bauen die 2/3-Hürde gleichzeitig in der Gegenrichtung
auf. Vorher hätte man diese nur im Ausnahmefall organisierbare und hierzu trotz
angestrengter Versuche auch nie zustande gebrachte Einigkeit benötigt, um die
Verfassung zu Lasten der Bürger anzuschärfen. Nach einem de facto verfassungsändernden Beschluss aber braucht es eine eher
noch größere Anstrengung, um den vorher sicher geglaubten Zustand
wiederherzustellen; und eine nochmalige Rückwärtsrolle des Gerichts ist ja auf
Jahre sehr unwahrscheinlich. Die einzige Chance der Bürgerinnen und Bürger ist,
das Thema Außen-, Innen- und Sicherheitspolitik im beginnenden Wahlkampf
durchzupauken und Klarheit und Rechenschaft zu verlangen, übrigens auch zum
Nutzen der Bundeswehr und damit zum Sinn des 1994er Streitkräftebeschlusses,
der das Tor zu "out of area" aufgestoßen
hatte.
Eine letzte Anmerkung noch zur
Sprache: Besonders auf der Hut müssen wir sein, wenn Neu-Sprech
das bisher Undenkbare und Unsägliche aus dem Hut zaubert: „Katastrophisch“
gehörte vor der diesjährigen Entscheidung ebenso wenig zum deutschen Wortschatz
wie i.J. 1984 das Wort „exekutivisch“,
mit dem die Pershing II-Entscheidung des Bundesverfassungsgericht die parlamentarischen
Mitwirkungsrechte relativiert hatte. Es ist wohl so: „Das Katastrophische
ist gerne die Stunde des Exekutivischen.“
Quellen:
"exekutivisch":
Pershing II-Entscheidg. v. 18.12.1984, BVerfGE 68, S. 1 (S. 87), 2 BvE 13/83
"katastophisch":
LuftsicherhG-Entscheidg. v. 3.7.2012 (unter Rn.
43 der Netzfassung), 2 PBvU
1/11
(2012 / 31) 22.8.2012
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt am 27.8.2012
Einsätze der Bundeswehr im Inland, Heribert Prantl
"Ein Katastrophen-Beschluss", Süddeutsche v. 18./19.2012, S. 4
Wie Heribert Prantl
gehöre ich zum Klub der bekennenden Gaier-Fans und sehe
bei der nun veröffentlichten Entscheidung vom 3.7.2012 nicht lediglich ein
abweichendes Votum, sondern derer fünfzehn. Was diese Fünfzehn beim gequälten
Auslegen der verfassungsbegründenden und verfassungsändernden Protokolle ausgeblendet haben, ist der
erste und einzige Zweck rechtsstaatlich-demokratischer Verfassungen, nämlich
der Schutz der Menschen- und Bürgerrechte. Bei Diskursen über die Motive der
Väter und Mütter unseres Grundgesetzes gilt die einfache, auch von Richter Gaier beherzigte Auslegungshilfe: Im Zweifel zur Stärkung
der Bürgerrechte oder: In dubio pro cive tuendo.
Eine Prognose: Die nun einen Spalt
weit zum bewaffneten Inlandseinsatz geöffnete Türe muss nach der Logik des
Militärischen zu einer neuen Beschaffungs- und Übungs-Anstrengung führen, zu
einem logistischen jihad. Um das alte
Scharfmacher-Motto sinngemäß umzumünzen: "Willst du den Bürgerfrieden
schützen, dann rüste dich für den Bürgerkrieg!" So kann – auch da gebe ich
Herrn Prantl völlig Recht – die scheinbare Begrenzung
auf eine „ultima ratio“ zur selbst erfüllenden
Prophezeiung geraten. „Ultima ratio“ wurde, nebenbei
gesagt, bei den Auslandseinsätzen in jedem Einzelfall problemlos durch das viel
stärker anrührende Schlagwort „Bündnistreue“ aus dem Feld geschlagen – „ultima ratio“ ist halt ein dürres Wort und seine realpolitische
Übersetzung lautet einfach: „Never say never!“ Und Thomas de
Maizières flapsige Bemerkung aus dem MDR-Interview vom 1.7.2012, er könne sich
gar keine Region denken, wo deutsche bewaffnete Truppen nichts zu suchen
hätten, sie hat flugs einen neuen, nun wirklich ubiquitären
Sinn gewonnen: Der sicherheitspolitische Globus Deutschlands hat am 3.7.2012
seinen letzten weißen Flecken verloren.
Eine kleine Ergänzung noch zum
Kommentar: So revolutionär der aktuelle Richterspruch auch anmutet – die
Änderung unserer Wehrverfassung durch Gerichtsentscheid ist leider nicht so
neu. Es hat eher schon schlechte Tradition, die Republik jenseits
demokratischer Verfahren in den identitätsbildenden
Merkmalen umzubauen, damit auch ohne Gefährdung der Herrschenden in
Wahlen. Außenminister Kinkel hatte im anlaufenden 1994er Wahlkampf freimütig
bekannt, und zwar in einem n-tv-Interview am
10.9.1993: Er hoffe doch, dass nun das Verfassungsgericht die Zulässigkeit von
Auslandseinsätzen klären werde. Er wolle damit „wirklich ungern in 20
Wahlkämpfe gehen, weil das Deutschland schadet.“ Und die Mehrzahl der
Verfassungsrechtler, die sich nach dem 1994er Streitkräfteurteil zu Wort
meldeten, konstatierten trocken: Der so genannte konstitutive
Parlamentsbeschluss sei bei Licht besehen ja gar keine Auslegung, sondern eine
– ja, ja, eigentlich auf diesem Weg unzulässige – Ergänzung des Grundgesetzes.
Und gingen geschmeidig zur Tagesordnung über.
Das sollten wir nun nicht tun;
Wahlkampf ist unsere Chance.
P.S.: Quellen:
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts v. 3.7.2012 mit abweichender
Stellungnahme des Richters Gaier: 2
PBvU 1/11
de Maizière-Interview v.1.7.2012: http://www.mdr.de/nachrichten/
(2012 / 30) 21.8.2012
Kölner Stadt-Anzeiger
bewaffneter Einsatz der Bundeswehr im Inland gemäß aktueller Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts v. 3.7.2012;
Thomas Kröter "Eine maßvolle Entscheidung"
(KStA 18./19.8.2012, S. 3), Berichte von Ursula Knapp
/ Steffen Hebestreit "Heikle Mission im Inneren" bzw.
"Bundeswehr darf im Inland kämpfen" (ebenda S. 3 u. S. 1); Beitrag
bzw. Kommentar von Thomas Kröter "BND rückte mit
Bundeswehr-Schiff aus" bzw. "Ein Fall für das Kanzleramt" (KStA 20.8.2012, S. 3 u. S. 4)
Eine merkwürdige Welt, in der es
kaum noch jemanden zu stören scheint: Deutschland führt längst wieder Kriege,
ohne sie zu erklären - wie bei den Strafexpeditionen um die Wende 19./20.
Jahrhundert. Deutschland ergreift mit nachrichtendienstlichen Mitteln Partei in
Konflikten Dritter. Deutschland denkt sich einen potenziellen militärischen
Waffeneinsatz im Inland zurecht, überschreitet damit den eigenen Rubikon.
Grenzen, Kriterien oder zumindest
Erfahrungs-Auswertungen dafür? Fehlanzeige, eher das vage Fußballer-Motto
"Schau'n wir mal." Sind denn die 68er
allesamt dahingerafft oder politisch adipös? Und gibt es neben dem
Verfassungsrichter Gaier mit seiner hervorragend
recherchierten abweichenden Stellungnahme zur Entscheidung v. 3.7.2012 kaum
noch Verfassungspatrioten?
Nebenbei: Hatte irgendjemand vorab
das Wort "katastrophisch" vernommen? Kaum -
es ist denn wohl eine Nebel werfende Zweckschöpfung des Verfassungsgerichts
ebenso wie schon das Neu-Wort "exekutivisch"
aus der Pershing II-Entscheidung von 1984 (sic!). Der Duden kennt beides nicht.
Quellen zum letzten Absatz:
"exekutivisch": Pershing
II-Entscheidg. v. 18.12.1984, BVerfGE 68, 1 (87), 2 BvE 13/83
"katastophisch": LuftsicherhG-Entscheidg. v. 3.7.2012 (unter Rn. 43 der
Netzfassung), 2 PBvU 1/11
(2012
/ 29) 3.8.2012
Newsweek
Measures
of accountability for military missions would be most valuable, and they are clearly
worth our highest efforts, as regards political, research and jurisprudential ressources. It seems most cynical shooting billions and
billions into outer space, e.g. for an mostly idle ISS, or tracing down the
ultra tiny Higgs boson at the same price. But to scarcely investigate the
driving forces behind the recurrent military bloodshed and the balance of
military missions - the military sector itself being funded abundantly at the
same time.
(2012 / 28) 2.8.2012
Kölner Stadt-Anzeiger
Ausrüstung der Bundeswehr mit Kampfdrohnen; Burkhard von Pappenheim
"Werkzeuge des Krieges" (KStAnz v.
2.8.2012, S. 4)
Ich halte für gar nicht zynisch,
über die Wahl der Waffen zu sprechen, gerade unterhalb der Schwelle der
Massenvernichtung. Leider neigen auch Demokratien dazu, die für sie möglichst
schmerzfreien, nicht zu den Wählern rückkoppelnden Waffen und Strategien
einzusetzen. Der Schuss ohne Reue ist Mittel der Wahl für die verniedlichend so
genannte power projection.
Die effizienteste Konfliktvermeidung dagegen wäre, wie Kant in seiner ironisch
benannten Schrift "Zum ewigen Frieden" anmerkte, das andere Extrem,
nämlich der Kampf der Häuptlinge: Planen, Umsetzen und Schmerzempfinden in ein
und der gleichen Person!
Es gibt ohnehin keine militärischen
Königswege oder einen Vorteil, den wir auf Dauer zum Nulltarif bekämen: Gleich
ob targeting-Strategien,
ob Einsatz von clusterbombs,
uranhaltiger Munition oder von angriffsfähigen oder auch nur aufklärenden
Drohnen: Sie rufen nach allen vorliegenden Erkenntnissen Ohnmachts-
und Rachegefühle hervor, die sich einen Weg zu den Bürgern der eingreifenden
Staaten bahnen können: Terrorismus kann man schlüssig auch als die Waffe des
Wehrlosen definieren. Kant warnte in der zitierten Schrift auch
ausdrücklich vor "ehrlosen Stratagemen",
die "das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen
müssen". Neben Meuchelmördern und Giftmischern hätte er heute auch
Kampfdrohnen und Spezialeinsatzkräfte genannt.
Und schließlich: Die allerbeste
Ausrüstung rechtsstaatlich-demokratischer Soldaten wären rechtlich tragfähige
Kriterien dafür, wann und wo sie einzusetzen sind und wann und wo genau nicht.
Derzeit folgt die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik am ehesten der Devise
eines prominenten Ex-Kickers: "Schau'n wir
mal!"
P.S. / Quelle
Die betreffenden Passagen aus dem "Ewigen Frieden" finden sich in der
Reclam-Ausgabe auf den S. 7, 16f mit Fußn. auf S. 17; siehe auch S. 12f zur konfliktmindernden Wirkung einer Beteiligung der Bürger an
militärischen Entscheidungen
(2012
/ 27) 22.7.2012
Daily Mail
Batman massacre; Dominic Sandbrook's Saturday Essay
(Daily Mail of July 21, 2012, p. 18f)
Thanks
for Dominic Sandbrook’s lucid analysis! My statement
would be almost the same –with a slightly different tone: It may be a
possibility that widespread anger suddenly turns into mob rule, even in decent
and tolerant
And
there could and should be a lot of debate - and politicians' responsiveness -
around vital topics like economics or foreign and security politics, just to
name a few items, where you don’t work out ever lasting solutions by the
methods of natural sciences – but where you have to deal interests of groups
not unlike the way of a humming bazaar. Democrats may be very intelligent and
helpful – if you allow them taking an active stake in their res publica.
They even might find out that panem et circenses aren’t necessarily for their benefit.
(2012 / 26) 5.7.2012
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 13.7.2012
Auftrag der Bundeswehr; Vorstoß von BM de Maizière für eine gesellschaftliche
Debatte des Bundeswehr-Auftrages (Joachim Käppner,
"Armee im Ungewissen", Süddeutsche v. 3.7.2012, S. 4, Daniel Brössler, "Einsatz überall", Süddeutsche v.
2.7.2012, S. 5)
Die eine Sicht: Nach 20 Jahren ist
die erweiterte Außen- und Sicherheitspolitik tief eingeschliffen, der Bundestag
hat mehr als hundertmal zugestimmt und niemals dagegen, eine Debatte kommt viel
zu spät und sie könnte nur noch absegnen, aber keinen politischen Willen mehr
bilden. Absegnen im Sinne des ständigen, aber bloß binnen-ethischen Narrativs „Mitmachen, nicht nur schmarotzerhaft
profitieren!“. Oder mit dem Ziel eines Blankoschecks für das Bündnis.
Die andere Sicht: Zwanzig Jahre neue
Militärpraxis geben allerbeste Gelegenheit zur detaillierten demokratischen
Rechenschaft: Genau was wollen und was konnten wir mit genau welchen
staatlichen Gewaltmitteln kurieren? Und wichtiger noch für einen Rechtsstaat:
Was wollen wir definitivnicht? Die vage Vermutung de
Maizières, Deutschland habe in prinzipiell allen „Regionen der Welt etwas zu
suchen“, die kann es doch nicht sein. Man wende nur die „golden rule“ oder den kategorischen Imperativ darauf an: Dann
hätten prinzipiell alle Staaten und Regionen der Welt auch bei uns „etwas zu
suchen“. Das möchte ein Verteidigungsminister sicher nicht so recht leiden.
Erfreulich ist immerhin sein
frisches Bekenntnis zur Demokratisierung der Außen- und Sicherheitspolitik. Das
wäre eine völlig neue Debattenkultur. Außenminister Kinkel etwa hatte im 94er
Wahlkampf klar gesagt, er wolle mit dem Thema lieber nicht „in zwanzig
Wahlkämpfe gehen, weil das Deutschland schadet.“ Und Verteidigungsminister Jung
hatte im Oktober 2006 den Versuch öffentlicher Debatte entnervt drangegeben,
als BILD just am Tage der Pressekonferenz zum brandneuen Bundeswehr-Weißbuch
mit dem – damals bereits betagten – Kabuler Schädelskandal aufgemacht hatte.
Danach ist er mit dem Diskurs nie mehr in Tritt gekommen und auch die höchst
bemerkenswerte Rede Köhlers zum fünfzigjährigen Bestehen der Bundeswehr – die Rede
mit den mehr als zwanzig Fragen zu Aufgabe und Einbettung der Streitkräfte –
sie war damit folgenlos verpufft. Die Fragen aber stehen heute noch an, nach
Afghanistan mehr denn je.
·
Interview MDR / BM de Maizière v. 1.7.2012
http://www.mdr.de/nachrichten/bundeswehr180_cpage-1_zc-aae7aa91.html
·
Weißbuch
2006 (siehe zur intendierten gesellschaftlichen Debatte insbesondere Vorwort
der Kanzlerin a.E.)
http://www.bundeswehr.de/resource/resource/MzEzNTM4MmUzMzMyMmUzMTM1MzMyZTM2MzEzMDMwMzAzMDMwMzAzMDY3NmE2ODY1NmQ2NzY4MzEyMDIwMjAyMDIw/WB_2006_dt_mB.pdf
·
Rede
v. BPräs Dr. Köhler v. 10.10.2005
http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2005/10/20051010_Rede.html
(2012
/ 25) 19.6.2012
NewScientist
successful launch of a rocket built by a private enterprise; Paul Marks,
Sparking the next space age (NewScientist of 12 May
2012, p. 6)
I'm
not too happy. Wasn't the plot of early 007-movies just that: Some nasty NGO
built a rocket to trigger a hassle between the great powers? And didn't we
count launcher technologies as a most pestilent ability needed to build weapons
of mass destruction? At least I wouldn't want that kind of
outsourcing going all around the world.
(2012
/ 24) 13.6.2012
Time Magazine
Drones; Michael Crowley “Drone Dilemma” (TIME of June 18, 2012, p. 14)
Terrorism
being most of all a weapon of those physically weak, the counterstrategy to be
expected against a growing swarm of drones will be twofold: Looking for a conspirational habitat in densely populated places – and
carrying the battle back to the metropolitan areas of the West. Both may but
must not mean the same regions.
Roaming
drones will be benevolent for election campaigns and for a certain type of
industry, but may turn out very bad for us citizens. I’m sure we can get more
life & peace & value for money out of non-military strategies.
(2012 / 23) 12.6.2012
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 18.6.2012
Reform des Parlamentsbeteiligungsgesetzes; Bericht von K.F. “CDU-Politiker
fordern Flexibilität für Bundeswehreinsätze” (Frankfurter Allgemeine 6.6.2012,
S. 5)
Das CDU-Papier v. 30.5.2012 „Europas
sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit stärken. Es ist höchste Zeit.“ bezieht
sich auf ein Glaubwürdigkeitsproblem deutscher Sicherheitspolitik und zitiert
dafür die deutsche Enthaltung bei der Libyen-Resolution. Als Remedur wird nun ein vertrauensbildender Blankoscheck
empfohlen – ein jährlicher Vorratsbeschluss des Parlaments nach allgemeiner
Lagedebatte zur weiteren Ausfüllung durch den Europäischen Rat oder den
Nato-Rat.
Aber hat die deutsche
Sicherheitspolitik nicht ihr Glaubwürdigkeitsproblem zu allererst gegenüber den
Bürgern, die etwa den Afghanistan-Einsatz über mehrere Legislaturperioden mit
demoskopisch verlässlicher Mehrheit ablehnen? Müsste man nicht zumindest eine
glaubwürdige Evaluation der bisherigen und der noch laufenden Interventionen
anbieten? Von erreichten Zielen, von einer Bilanz auch der Kosten, Lasten und
Nebenfolgen spricht das Papier allerdings an keiner Stelle.
An dem Vorschlag fällt auch auf: Das
Poolen von Infrastruktur und Personal ist – ebenso wie die kontinuierliche
Häutung der Nato nach 1989 – nun überhaupt nichts Neues oder Aufregendes.
Bündnisfähigkeit war und ist in den inzwischen mehr als hundert Einsatzdebatten
das absolut am häufigsten genutzte Einzelargument. Und gerade integrierte
(AWACS-) Einsätze haben einerseits 1994 den Parlamentsvorbehalt als
bündnisspezifische Alternative zum Gesetzesvorbehalt ausgelöst; sie haben
andererseits das Verfassungsgericht im Jahre 2008 veranlasst, in der markanten
Türkei-Entscheidung ausdrücklich auf die besonderen Risiken von „Bündnisroutine“
und „exekutiven Gestaltungsfreiräumen“, auf die „Eigengesetzlichkeiten der
Bündnissolidarität“ hinzuweisen, auf die „erheblichen Risiken für Leben und
Gesundheit deutscher Soldaten“ und auf die Funktion der „Beteiligung der
Opposition in freier politischer Debatte“. Dies mache es „der öffentlichen
Meinung besser möglich, über die politische Reichweite des jeweiligen Einsatzes
zu urteilen“. Damit dürfte der nunmehrige Vorschlag vor Gericht niemals Bestand
haben.
Die Initiative scheint mir doch arg pro Nato domo geschrieben zu sein und
eher vom Realitätsbezug und von einer evidence-based-policy
weg zu führen. Allerdings bekenne ich auch: Wenn gerade die Nato das von Cyril Northcote Parkinson definierte Gesetz falsifizieren würde,
ich hätte wenig dagegen einzuwenden: Nach Parkinsons Gesetz ist das am
leichtesten Verzichtbare für ein weiteres Wachsen, Blühen und Gedeihen einer
beliebigen Institution gerade ihre Anfangsaufgabe; im Falle der Nato: Bollwerk
gegen den Kommunismus gewesen zu sein. Die OSZE dagegen hat ihren
Gründungszweck noch lange nicht eingebüßt und sie hat mindestens ebenso große
Verdienste für die Neugestaltung des Kontinents wie die Nato. Ein Papier
zu Gunsten der Potenziale und Ressourcen der OSZE würde ich daher sehr begrüßen.
Das stünde Deutschland gut zu Gesicht.
·
CDU-Papier
„Europas sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit stärken - Es ist höchste
Zeit“
http://www.roderich-
·
Internet-Auftritt
des Mitautors Roderich Kiesewetter, "Fragen und
Antworten"
http://www.roderich-
·
Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts v. 7.5.2008 = 2 BvE
1/03 (siehe dort Nrn. 67-73 der Gründe)
http://www.
(2012 / 22) 11.6.2012
Süddeutsche Zeitung
Reform des Parlamentsbeteiligungsgesetzes; Peter Blechschmidt
„Marschbefehl aus Brüssel“ (Süddeutsche v. 8.6.2012, S. 5)
Was ich dem aktuellen Vorstoß aus
der CDU zu einer Reform des Parlamentsbeteiligungsgesetzes immerhin zugute
halten könnte: Er bringt die Bundeswehr mal wieder in die Debatte.
Allerdings führt die Initiative von
der wünschenswerten materiellen Definition, damit von einer Begrenzung des
militärischen Aufgabenspektrums weit weg. Wie z.B. wollen wir es mit der „responsibility to protect“ halten
bzw. dem frühzeitigen Eingreifen bei Verbrechen, die später nach dem Statut des
Internationalen Strafgerichtshofs zu verfolgen wären? Und der Vorschlag mindert
mit seiner absichtsvollen Delegation der Entscheidungskompetenz an die
Exekutive noch dazu systematisch die Anlässe für gesellschaftliche Debatte und
politische Rechenschaft zu den einzelnen militärischen Projekten. Kein Wort
dann auch dazu, was wir bei unabhängiger Evaluation als Paradebeispiele oder
Erfolgsmodelle der seit 1990 robust erweiterten Außen- und Sicherheitspolitik
verstehen sollen. Sind es Einsätze der Kuwait-, Somalia-, Irak-, Kosovo- oder
der Afghanistan-Klasse? Läuft es derzeit denn wirklich gut?
Die CDU-Initiative ist mit robuster
exekutiver Logik geschrieben, einer Bündnislogik, gegen die sich das Bundesverfassungsgericht
in seiner Türkei-Entscheidung v. 7. Mai 2008 ausdrücklich verwahrt hatte und
weiterhin verwahren muss. Denn dieser Vorstoß würde aus der inneren Führung
eine bloß noch äußere Führung machen.
Anzuraten wäre zudem Herrn Kiesewetter, einem Mitautor des Papiers, seine homepage zügig anzupassen. Denn dort steht noch in seiner
Rubrik "Fragen und Antworten" dies zu lesen: „Im Rahmen der
parlamentarischen Demokratie entscheidet das deutsche Volk über seine gewählten
Vertreter und Vertreterinnen im Bundestag über Auslandseinsätze. Somit wird
jeder Einsatz debattiert bevor er stattfindet. Kein militärischer Einsatz darf
am Bundestag vorbei beschlossen werden.“
·
CDU-Papier
„Europas sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit stärken - Es ist höchste
Zeit“
http://www.roderich-
·
Internet-Auftritt
des Mitautors Roderich Kiesewetter, "Fragen und
Antworten"
http://www.roderich-
·
Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts v. 7.5.2008 = 2 BvE
1/03 (siehe dort Nrn. 67-73 der Gründe)
http://www.
(2012 / 21) 4.6.2012
DIE ZEIT, abgedruckt 14.6.2012
Islam in Deutschland; ZEIT-Gespräch mit Herrn
Bundespräsidenten Joachim Gauck (DIE ZEIT No. 23 v. 31.5.2012, S. 3f)
Die Leichtigkeit, mit der Joachim
Gauck spontan Geistreiches formuliert, sie ist in der Tat bewundernswert. Um so
schwerer fällt mir, seiner Differenzierung zwischen deutschen Muslimen und
ihrem Glauben zu folgen. Müssten sie sich etwa von ihm trennen, um nicht nur
mit dem Leib, sondern auch mit der Seele zu Deutschland zu gehören? Hat nicht
unsere Aufklärung erst über islamischen Wissensdurst ihr Fundament gefunden?
Sind Toleranz und Reform denn überall und immer im Christentum, aber nirgendwo
und nie im Islam zu erkennen? Das hat etwa die sehr erfahrene Annemarie
Schimmel anders gedeutet.
Und sind überdies nicht - aber das
mag Herrn Gaucks überraschende Pointierung ja noch am ehesten erklären - gerade
in den neuen Bundesländern die Christen eine sehr deutliche Minderheit?
Nirgends auf der Welt glauben so wenig Menschen an Gott wie in Ostdeutschland.
P.S.
Zum letzten Satz siehe die aktuelle Studie von Tom W. Smith, University of
Chicago unter http://www.norc.org/PDFs/
(2012 / 20)
24.5.2012
TIME
It’s
so comforting to be thanked, even by third parties. But I’m far from sure
having deserved that “Danke”. Didn’t I pave the whole
of
I’m
afraid that Greece, slim and small and placed on the rim as it still is, has no
extra resources for reform (although: German tabloids recently pressed Greece
to ultimately sign over their Islands in the Sun). Even worse:
(2012 / 19) 3.5.2012
DIE WELT
gegenläufige Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Europa; Bericht "Euro-Zone
kämpft mit Rekord-Arbeitslosigkeit", Kommentar v. Stefan von Borstel "Lohn der Reformen" (WELT v. 3.5.2012, S.
1)
Ich wäre mit gutem Rat sehr
zurückhaltend. Denn die deutsche Export-Quote für ganz Europa - und sei es nur
bei Panzern - könnte und würde uns und der Welt kaum gefallen. Abgesehen davon:
Die Pose "Schaut nicht so dumm, schaut so wie wir!" kam selten gut.
Erwägen wir einmal die Möglichkeit, dass es dem Kern so gut geht, auch weil
es der Peripherie schlechter geht. Auch wenn dieser Gedanke zum fairen Teilen
führen müsste.
(2012 / 18) 20.4.2012
Süddeutsche Zeitung
Islam in Deutschland; Statement von Unionsfraktionschef Volker Kauder, der
Islam gehöre nicht zu Deutschland
(Roland Preuß in der Süddeutschen v. 20.4.2012, S. 4,
5)
Goethe würde das sicher postwendend
unterschreiben: Wenn schon der Islam kein Teil deutscher Tradition sein sollte
und darum heute hier nichts verloren hätte, dann der rote Weihnachtsmann alias
Coca Cola umso weniger. Daran sollte
sich ein Politiker der Kauder-Klasse einmal versuchen.
(2012 / 17) 19.4.2012
DIE WELT
weiter entwickeltes ATALANTA-Mandat; Dietrich
Alexander „Die Spur des Geldes“ u. Thorsten Jungholt
„Störtebeker-Strategie für Somalia“
(DIE WELT v. 19.4.2012, S. 1 u. 5)
„Nur eine kleine, nützliche, zusätzliche
Option“ sagt ein achselzuckender Verteidigungsminister. Leider waren es die
vielen kleinen zusätzlichen Schritte, die seit 1992 den Weg von einer
Verteidigungsarmee zu einem aktiven Gestaltungswerkzeug ebneten, dabei häufig
weniger getrieben von moralischen Werten als – wie offenbar auch hier – von der
Binnenmoral einer Waffengemeinschaft, die kein Ohnemicheltum
dulden will. Der am wahrscheinlichsten bleibende Effekt auch dieser Eskalation
zwei Kilometer den Strand hinauf ist die weitere Erosion des Territorialitäts-
und Souveränitätskonzepts, damit des Kernbestandteils unserer Friedensordnung
nach 1945.
Und schließlich: Die Lösung des
modernen Piraterie-Problems ist, wie Herr Jungholt
zutreffend andeutet, eher auf den diskreten, klimatisierten Fluren von
Bürotürmen zu finden als auf einem noch so langen und breiten Strand – und sie
liegt sicher auch in einer entgegenkommenden und fairen Außenhandelspolitik.
Der Bundestag sollte das neue Mandat sehr kritisch überdenken.
Die Parallele zu Klaus Störtebeker
lässt sich im Übrigen weiter ziehen als zum Angriff auf Landstützpunkte: Der
Freibeuter war hochgeachteter Vitalienbruder gewesen,
hatte in kritischen Zeiten die Hansestädte mitversorgt. Zum „bad guy“ wurde
er erst, als man ihn nicht mehr brauchte und nicht mehr entlohnte. Im Prinzip
den gleichen Weg nahmen viele Fischer Nordostafrikas, nachdem hoch organisierte
westliche Fangflotten ihre Fischgründe und ihre persönliche Zukunft
sterilisiert hatten.
Anm.:
-
Kabinettbeschluss zu ATALANTA v. 18.4.2012: BT-Drs. 17/9339, zum erweiterten Einsatzgebiet siehe
dort S. 6.
-
Zur
Entwicklung der Piraterie in den Gewässern Somalias siehe u.a. diesen Wikipedia-Artikel
sowie einen Bericht in DIE
PRESSE; danach hatte die Bewaffnung der somalischen Fischer ihren historischen
Ursprung in dem Eindringen fremder, u.a.
europäischer Fischtrawler in somalische Fischgründe (!) und operierten in
der Folge sogar fremde Fangflotten unter dem Schutz der ATALANTA-Mission (!!!); siehe ergänzend Stn.
der Somalia-Expertin Annette Weber, SWP, in der die Autorin wegen der
unabschätzbaren Eskalationsgefahr von einem Eingreifen an Land abrät.
-
Zu
Störtebeker siehe diesen Wikipedia-Artikel
(2012 / 16) 16.3.2012
Frankfurter Allgemeine; abgedruckt 24.3.2012
Zukunft Afghanistans; Günther Nonnenmacher, „Afghanische Traditionen“
(Frankfurter Allgemeine v. 16.3.2012,S. 1):
„Kaum zu vermeiden“, das mag man
auch vom Beginn der Afghanistan-Mission sagen, auch zu Verlauf und mutmaßlichem
Ende derselben und sogar zu ihrem wohl gewaltsamen Nachspiel. Wäre aber dann
nicht der ideale Zeitpunkt zu überlegen oder gar mit allem verfügbaren Verstand
zu objektivieren, was an unseren Expeditionen und Missionen der letzten zwanzig
Jahre so geschickt war – was Gewinne waren und was Kosten und Lasten?
Vielleicht gibt es doch Lektionen, die
zu wiederholen wir vermeiden können. Und zwar, bevor daraus eigene Traditionen
werden.
(2012 / 15) 12.3.2012
SPIEGEL
Drohnen; Thomas Darnstädt, Marc Hujer
u. Gregor Peter Schmitz "Bushs Erbe"
(SPIEGEL 11/2012, S. 94f)
In die hearts & minds der Orientalen haben sich
die Drohnen nicht hinein gesprengt, können es auch gar nicht. Mich erinnern sie
- wie auch der mehrfach dekorierte amerikanische Scharfschütze mit dem
Kriegsnamen "Devil of Ramadi"
- an die Zivilisationsbrüche der Assassinen, an die
ausdrückliche Warnung Immanuel Kants vor "ehrlosen Stratagemen"
und an seine Mahnung, "sich keine Feindseligkeiten zu erlauben, welche das
wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen."
Aber wen stört das im Wahlkampf?
Dort hilft es sogar eher, sich als hartgesottener Herr über Leben und Tod zu
präsentieren.
P.S.
Zu den Assassinen: http://de.wikipedia.org/wiki/
Zur zitierten Passage aus Kants
"Zum ewigen Frieden", (2. Aufl.) 1796, 1. Abschnitt / Präliminarartikel Nr. 6, in der Reclam-Ausgabe auf S. 7 f
(vollst. Wortlaut s. auch im Internet http://www.sgipt.org/politpsy/
6. "Es soll sich
kein Staat im Kriege mit einem andern solche Feindseligkeiten erlauben, welche
das wechselseitige Zutrauen im künftigen Frieden unmöglich machen müssen: als
da sind, Anstellung der Meuchelmörder (percussores),
Giftmischer (venefici), Brechung der Kapitulation,
Anstiftung des Verraths (perduellio)
in dem bekriegten Staat etc."
Das sind ehrlose Stratagemen. Denn irgend ein
Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes muß mitten
im Kriege noch übrig bleiben, weil sonst auch kein Friede abgeschlossen werden
könnte...
Eine weitere Passage aus dem
"Ewigen Frieden" mag Obama als lernbereiten
Erben Bushs erklären. Im Zweiten Zusatz / Geheimen Artikel (Reclam S. 33, 35)
heißt es dort sehr hellsichtig:
Daß Könige philosophiren, oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen: weil der Besitz der Gewalt das freie Urtheil der Vernunft unvermeidlich verdirbt.
(2012 / 14) 7.3.2012
Frankfurter Allgemeine
Targeting; "Washington rechtfertigt Tötung von
Amerikanern" u. Kommentar "Uramerikanisch"
(F.A.Z. v. 7.3.2012, S. 1 u. 8)
Der Kommentar
"Uramerikanisch" bezieht klare Stellung gegen das gezielte Töten
außerhalb von Kampfhandlungen, damit für die Menschenrechte und für den
historischen Kern der atlantischen Wertegemeinschaft. Respekt!
P.S. zur hier sehr weit zurück
reichenden Historie:
Nach der Überlieferung umfasste das Römische Zwölftafelgesetz von ca. 450 v.
Chr. eine Vorschrift, wonach damals das Töten eines nicht verurteilten Menschen
verboten war, s. tab. IX no. 6 : "Interfici . . . indemnatum quemcunque hominem etiam XII tabularum decreta vetuerunt (Salvianus, de gubern. dei 8, 5, 24).",
s. http://www.hs-augsburg.de/~harsch/Chronologia/Lsante05/LegesXII/leg_ta09.html
(2012 / 13) 7.3.2012
SPIEGEL
Militärische Opfer bei Auslandseinsätzen; Guido Mingels
und Takis Würger "Ein Opfer, ein Held"
(SPIEGEL 10/2012, S. 50ff)
Als Opfer der Auslandseinsätze sehe
ich noch eher Zivilisten wie Farah
Abdullah, † 22.1.1994 bei Belet Huen / Somalia oder Sanja Milenkovic, † 30.5.1999 bei Vavarin
/ Serbien oder Bibi Khanum,
† 28.8.2008 mit zwei Kindern bei Kundus /
Afghanistan. Für mich gehören diese Namen zu einer Gedenkstätte –
auch und gerade. Zugegeben: Man bräuchte dann deutlich mehr Raum, denn die
zivilen stehen zu den militärischen Opfern erfahrungsgemäß im Verhältnis
von 5 : 1 bis 10 : 1, und neo-heroische Inschriften wie "Für
Frieden, Freiheit und Verantwortung" wären nicht so stimmig.
(2012 / 12) 22.2.2012
Frankfurter Allgemeine
Wahl des neuen Bundespräsidenten; zu: Günther Nonnenmacher "Nun doch
Gauck", Berthold Kohler "Mime und Brünhilde", F.A.Z. v.
21.2.2012, S. 1; Georg Paul Hefty "Mit dem Auge
des Verfassungsrechtlers", F.A.Z. v. 20.2.2012, S. 10
Den demokratischen Zauber einer
Bundesversammlung kann ich nicht recht beurteilen: Mein Name hat nicht auf
Bundes- oder Landeslisten gestanden. Nie wurde ich auch als Stimmträger dorthin
delegiert, etwa wegen illustrer Bekanntheit aus Funk und Fernsehen. Und zum berichterstattenden Stand gehöre ich nun mal auch nicht.
Von Ferne also, da habe ich diese Versammlung nun aber nicht als einen
urdemokratischen Ort des selbstständigen Diskurses und der erkenntnisgeleiteten
aktuellen Entscheidung erlebt. Mir erschien das Ergebnis regelmäßig als Folge
von fürsorglicher parteilicher Vorsehung, je nach Stimmgewichten auch schon mal
in mehreren Akten dramatisiert, aber auch dann um nichts weniger prädisponiert.
Wäre es dann wirklich schad' drum?
Könnte es nicht so sein, dass die Ära der gut auf den Schild zu hebenden
Nachkriegs-Vorbild-Politiker ohnehin endgültig passé ist? Richtig ist
natürlich: Auch eine Volkswahl setzt einen Trichter-artigen Diskurs- und
Sortierprozess voraus. Sonst wäre in der Abstimmung und in dem dazu führenden
Verfahren keinerlei Erkenntnismehrwert zu finden, sondern wiederum nur Ritual
oder gar schlimmer: Beliebigkeit. Aber ich glaube nicht, dass seriöse,
vertrauensbildende Kandidat/inn/en für das erste Bürgeramt heute nur im Sichtfeld der Parteien sprießen oder
dass sie nur in und mit den Wahlmaschinen der Parteien zu elektoraler
Statur hochgezüchtet werden könnten.
Ein kleiner Vorteil noch: Zu Recht weist
man darauf hin, dass die Bundesversammlung nach der Erfahrung der letzten Jahre
spiegelbildlich und konsequent auch als Schutzwall gegen tagespolitisch
befeuerte Rufmord-Kampagnen fungieren sollte. Beim Bürgerpräsidenten braucht
man das wohl nicht, man könnte es beim Vorbehalt der Amtsenthebung wegen
erwiesener strafrechtlicher Delinquenz belassen. Letzter und eigentlich
entscheidender Vorteil: Die Präsidentenwahl würde wohl in der Regel nicht mehr
als parteiliches Trend-Orakel herhalten müssen. Nur Nachteile hätte etwas mehr
prickelnd fühlbare Demokratie also nicht.
(2012 / 11) 15.2.2012
Frankfurter Allgemeine
Afghanistan-Mission; Artikel „De Maizière warnt vor Seitenwechsel afghanischer
Sicherheitskräfte" und zum Kommentar „Seitenwechsel“
(F.A.Z. v. 13.2.2012, S. 1 u. S. 8)
Lothar de Maizière kann ich gut
verstehen: So fern ist der Tag nicht, an dem sich Deutschland nicht mehr aktiv
am Hindukusch verteidigen wird, an dem der Saal der letzten
Petersberg-Konferenz ausgefegt wird, an dem eine Bilanz zu Nutzen, Lasten und
Nachhaltigkeit des Engagements ansteht und an dem bereits viele Afghanen an
unsere Türe klopfen, die der ISAF oder der gegenwärtigen Karsai-Administration
etwas zu nahe standen. Da täte der Politik ein kleiner, die Kausalität
verdrängender Zeitpuffer durchaus gut – auch gegen den Vorwurf, schon wieder
einigen Todfeinden á la Bin Laden sowohl das Handwerk als auch unsere Stärken
und Schwächen beigebracht zu haben.
Archaische und atavistische
Strukturen erklären die heute enttäuschten Hoffnungen nur wenig und liefern m.E. keine gute Legende. Da bedarf es nur eines Blickes auf
den wesentlich moderneren, aber heute ebenso zerrütteten Irak. In jedem Fall
hätte man schon das aus der sowjetischen Mission lernen können.
(2012 / 10) 8.2.2012
Frankfurter Allgemeine
Kriegsopfer und Staatenimmunität; Reinhard Müller „Rechtsfrieden“
(F.A.Z. v. 4.2.2012, S. 1)
Der Rechtsfrieden ist ein hohes Gut,
sicherlich, und der ewige Frieden ist ohnehin nicht erreichbar. Dennoch macht
sich Unbehagen breit, nach der aktuellen Entscheidung des Internationalen
Gerichtshofs in Den Haag u.a. zu Gewalttaten der SS
in den italienischen Dörfern Civitella, Cornia und San Pancrazio ebenso
wie schon nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte am 31.5.2011 zu Vergeltungsmaßnahmen der SS im griechischen Distomo und auch nach dem Einstellungsbeschluss des
deutschen Generalstaatsanwalts am 16.4.2010 zum Angriff auf die zwei Tanklaster
von Kundus.
Es passt für mich nicht recht
zusammen, dass westliche Staaten seit dem Zusammenbruch des Ostblocks eine
Übung weltweiter Interventionen ausgeprägt haben, die den Strafexpeditionen vor
dem ersten Weltkrieg nicht unähnlich sehen, dass sie aus einer „responsibility to protect“
oder aus ihren „vested interests“ heraus
die Souveränität anderer Staaten relativieren, dass sie zunehmend
unkonventionelle Strategien und fernwirkende
Instrumente nutzen – dass sie dann aber bei den notorischen selbst verursachten
Menschenrechtsverletzungen und gegenüber potenziellen Opfern ihrer Missionen
auf eine völlig ungeschmälerte eigene Souveränität pochen, gleichsam nach alter
Väter Sitte. Dann fühle ich mich doch wieder an den ewigen Frieden erinnert, wo
Kant über den „Staatseigentümer“ schreibt, der „durch den Krieg nicht
das mindeste einbüßt, diesen also wie eine Art von Lustparthie
aus unbedeutenden Ursachen beschließen, und der Anständigkeit wegen dem dazu
allezeit fertigen diplomatischen Corps die Rechtfertigung desselben
gleichgültig überlassen kann.“
Grundrechte haben sich historisch
als Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat entwickelt. Staaten münzen sie
heute ambitioniert und dynamisch zu pauschalen Eingriffsrechten gegenüber
anderen Staaten um. Und gleichzeitig immunisieren sich die Eingreifenden gegen
das Beklagen der durch sie selbst verursachten Grundrechtsverletzungen, die sie
dann auch – sehr pragmatisch und euphemistisch – „bloß kollaterale“
nennen. Ob dieses neue Verständnis der nun gleichsam von den Menschen
abstrahierten und treuhänderisch durchgesetzten Menschenrechte
unter dem Strich den Menschen nutzt oder doch primär den exekutiven und
geopolitischen Interessen, das ist freilich bis heute noch nicht evaluiert.
Quellen:
IGH v. 3.2.2012 = http://www.icj-cij.org/docket/
EGMR v. 31.5.2011 = http://cmiskp.echr.coe.int/
Generalbundesanwalt v. 16.4.2010 = http://www.
BVerfG v.
28.6.2004 = http://www.
Immanuel Kant, Zum Ewigen Frieden,
1795, Reclam-Ausgabe S. 13; Text siehe auch unter http://philosophiebuch.de/
(2012 / 09) 20.1.2012
Frankfurter Allgemeine
Wannsee-Konferenz und auswärtige Gewalt; Rainer Blasius „Federführer der
Vernichtung“
(F.A.Z v. 20.1.2012, S. 10)
Meine Anwandlung beim Lesen des
Beitrags zur Wannseekonferenz am 20.1.1942 mag viel Kopfschütteln bewirken,
vielleicht sogar Abscheu erregen: Denn sicherlich besteht ein gravierender
Unterschied in der Schuld der Veranlasser und
Organisatoren eines bewussten und grausamen Genozids und derjenigen Deutschen,
die heute einen Auslandseinsatz der Bundeswehr politisch und exekutiv
verantworten. Aber aus der Sicht der zivilen Opfer dieser Missionen weit
jenseits unserer geographischen Grenzen muss das Delta nicht mehr so
fundamental erscheinen, vielleicht sogar eher graduell, etwa bei dem Afghanistan-Einsatz,
bei dem das Zurückziehen seit mindestens vier Jahren viel wahrscheinlicher ist
als ein Erreichen der ursprünglichen Ziele.
Der Eindruck, wehr- und rechtloses
Opfer zu sein, wird auch insoweit verstärkt werden: Der Grundrechtsabschnitt
unserer Verfassung – die wesentliche und primär gesetzte Lehre und
Verpflichtung aus der nationalsozialistischen Barbarei – und dessen klarer, zur
offenen Abwägung von Gewalteinsatz und möglichen Schäden zwingender
Gesetzesvorbehalt, sie sind nach der derzeit herrschenden Rechtsansicht bei
Einsätzen im Rahmen von VN und NATO ganz und gar suspendiert. Deswegen werden
trennscharfe und justiziable Tatbestände für Auslandseinsätze auch gar nicht
erst erwogen und auch eine Verfassungsbeschwerde aus dem Ausland scheidet hier
aus. Ebenso stumpf ist der strafrechtliche Schutz; auch das hat Albin Eser in
dieser Zeitung vor kurzem mit guten Gründen hervorgehoben und problematisiert.
Schließlich wäre auch ein etwa korrigierender zivilrechtlicher Abwehr- oder
Entschädigungsanspruch praktisch aussichtslos, siehe etwa die aktuellen
Entscheidungen zum Distomo-Massaker im 2. Weltkrieg
oder zur Bombardierung der Brücke von Vavarin im
Kosovokrieg. Und zu guter Letzt steht den Opfern im Ausland naturgemäß nicht
die Möglichkeit zu, in Wahlen und Abstimmungen zum deutschen Parlament
zurückzukoppeln.
Im Grunde leben wir mit der heute
kaum je in Frage gestellten Betonung eines „Eigenbereichs exekutiver
Handlungsbefugnis“, wie es das Bundesverfassungsgericht in seinem
Streitkräfteurteil v. 12.7.1994 unter Bezug auf die frühere
Pershing-Entscheidung hervorgehoben hatte und was es in seiner Entscheidung v.
7.5.2008 zur Luftraumüberwachung in der Türkei mit einer Warnung vor
„exekutiven Gestaltungsfreiräumen“ und der „Räson einer Bündnismechanik“ nur
sehr zaghaft relativiert hat. Der Verzicht auf materielle gesetzliche Regelung
der Einsatzgründe mag auch an ein Ermächtigungsgesetz erinnern, zumindest an
diejenigen aus der Phase des ersten Weltkrieges.
Es wäre nun sehr angebracht, den
Nutzen und die Lasten des gegenwärtigen Regimes von Auslandseinsätzen vor
der Wahl des 18. Bundestages gesellschaftsweit zu debattieren. Der bis heute
fortwirkenden Warnung des damaligen Außenministers Kinkel vor der Wahl zum 13.
(in Worten: dreizehnten) Bundestag, eine Wahlkampf-Debatte zu Auslandseinsätzen
„würde Deutschland schaden“, der kann und will ich jedenfalls nicht
beipflichten. Eher verpflichtet uns die Erinnerung an den administrativ breit
unterstützten Massenmord zu einem hochsensiblen und effizient kontrollierten
Umgang mit auswärtiger Gewalt, und zwar ganz ungeachtet von heutigen
Zahlen und Dimensionen.
P.S. Quellen zu den Bezügen im 2.-4.
Absatz:
Beitrag von Albin Eser: http://www.faz.net/aktuell/
BVerfG v. 15.02.2006, 2 BvR 1476/03
(Schadensersatz für
Vergeltungsmaßnahmen im 2. Weltkrieg in Distomo/Griechenland);
BGH v. 02.11.2006, III ZR 190/05, BGHZ
169, 348 = DÖV 2007, 429 (Bombardierung der Brücke von Varvarin/Jugoslawien);
BVerfG v. 12.07.1994, 12 BvE 3/92 u.a.,
BVerfGE 90, 286, 398f = NJW 1994, 2207,
2218f (Streitkräfteurteil);
BVerfG v. 07.05.2008, 2 BvE 1/03; BVerfGE 121, 135 = NJW 2008, 2018 (Türkei /
NATO-Luftraumüberwachung);
Interview n-tv mit Außenminister Klaus Kinkel am
13.9.1993 siehe hier (dort S. 39
unten)
(2012 / 08) 16.1.2012
Frankfurter Allgemeine
gesellschaftliche Debatte zur Außen- und Sicherheitspolitik; zu: Albin Eser
„Dürfen Soldaten überhaupt töten?“, F.A.Z. 28.12.2011, S. 29 u. zum Leserbrief
von Wolfgang Schulenberg „Der Soldat im Einsatz ist Träger der Hoheitsgewalt.“,
F.A.Z. v. 13.1.2012, S. 32:
Sowohl Albin Eser in seinem Beitrag
„Dürfen Soldaten überhaupt töten?“ (F.A.Z. v. 28.12.2011) als auch Wolfgang
Schulenberg in seinem Leserbrief in der F.A.Z. v. 13.1.2012 fordern mehr
Kommunikation. Der Generalstäbler Schulenberg zielt
dabei insbesondere auf die Verbesserung des gesellschaftlichen Rückhalts für
die Soldaten vor Ort und eher auf die Form von Öffentlichkeitsarbeit. Der
Strafrechtler Eser will die Definition des Bundeswehr-Auftrags fördern und ein
Spannungsfeld im Rechts- und Verfassungssystem abbauen, ausgehend dabei vom
Strafrecht, aber eben nicht beschränkt darauf. Aber auch Herr Schulenberg ist
an einer „klaren Sicht auf den verfassungsmäßigen Auftrag der Bundeswehr“
interessiert; er beginnt selbst wohl ganz gezielt bei den in der Fachdebatte
eher unstreitigen Fallgestaltungen wie den Einsätzen „zum Schutze des Bestandes
der Bundesrepublik“ und solchen zur „Abwehr schwerster Bedrohungen für
höchstrangige Rechtsgüter“. Jenseits dieser Fallgruppen aber warten noch die
eigentlich brennenden Fragen zum rechtsstaatlich abgesicherten Aufgabenspektrum
der Streitkräfte; sie führten ja sogar zum Rücktritt des letzten
Bundespräsidenten. Beide Autoren stellen aus meiner Sicht einander ergänzende Anforderungen
an die Politik – zur Organisation einer gesellschaftlichen Debatte, die der
Bundeswehr unter den seit 1990 mindestens dreifach neu gewichteten
Anforderungen eine Unterstützung der Bürger erlauben würde, die auch in Krisen
belastbar wäre, und auch eine den Aufgaben angemessene Rekrutierung.
Ein Spannungsfeld besteht bis zum
heutigen Tage: Zwar schienen sich die politischen Kontroversen rund um eine
Änderung der Verfassung unmittelbar nach dem Streitkräfteurteil des
Bundesverfassungsgerichts a.d.J. 1994 erledigt zu
haben. Allerdings war diese Entscheidung auf eine Organklage ergangen und hatte
mit der Zustimmungslösung eine dezidiert verfahrensrechtliche Lösung gewiesen.
Das Streitkräfteurteil nimmt dagegen mit keinem Wort zum Grundrechtsschutz im
ersten und prägenden Abschnitt des Grundgesetzes Stellung oder zur Abwägung
individueller und gesamtstaatlicher Rechte. Im Kern bleibt damit ein
Loyalitätskonflikt programmiert, den ein Soldat im Einsatz – Träger
öffentlicher Gewalt, wie Wolfgang Schulenberg zu Recht feststellt – nicht
selbst auflösen kann, nicht mit Taschenkarten, nicht mit einem Strafgesetzbuch,
nicht mit einem Grundgesetz oder gar mit einer Bibel: Den Schutzgeboten aus
Art. 2 GG, aus den §§ 211ff StGB und dem Tötungsverbot der Bibel steht
eine im besonderen Gewaltverhältnis zwingende Befehlskette entgegen, die auf
Art. 24 GG in der Interpretation des Bundesverfassungsgerichts, auf dem
Weißbuch, den Verteidigungspolitischen Richtlinien und auf dem im konkreten
Fall konstitutiven Einsatzbeschluss von Kabinett und Parlament und auf einem
darauf wiederum ergangenen Einsatzbefehl beruht. Ein ähnliches Spannungsfeld
wurde in einem Katechismus aus dem ersten Weltkrieg, der in der Feldseelsorge
verwandt wurde, mit einer einfachen Fußnote beim Tötungsverbot des 5. Gebots
rhetorisch aufgelöst: „Gilt nicht im Kriege!“
Nun können oder wollen wir offenbar
weder den ersten Abschnitt des Grundgesetzes noch die §§ 211 ff des Strafgesetzbuches
– oder moderne Bibeln – mit einer fortgeschriebenen Fußnote versehen, die unter
den heutigen Bedingungen etwa lauten müsste: „Gilt nicht bei Krisen und
Konflikten!“ Darum ist es höchst wünschenswert, im demokratischen Diskurs die
in den o.g. F.A.Z.-Beiträgen
geforderte Klärung und Vergewisserung herbeizuführen und dabei grundlegend
herauszuarbeiten: Konkret zum Schutz welcher Rechtsgüter und unter Gefährdung
welcher Rechtsgüter soll deutsche auswärtige Gewalt künftig dienen? Diese
materielle Definition kann und muss als ergänzende Sicherung zur vom
Verfassungsgericht bereits angeordneten Letzt-Zustimmung
des Bundestages hinzutreten – auch und gerade zum Schutz der Soldaten im
Einsatz!
P.S.
Link zum Beitrag von Albin Eser: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/kriegsrecht-duerfen-soldaten-ueberhaupt-toeten-11581837.html;
Link zum Leserbrief von Wolfgang Schulenberg hier.
(2012 / 07) 12.1.2012
DIE WELT
Anschlag auf iranischen Atomforscher; Michael Borgstede
"Atomforscher stirbt bei Anschlag im Iran"
(DIE WELT 12.1.2012, S. 8)
Zur Bewertung des Attentats braucht
es nur Kants kategorischen Imperativ. Und diese Analyse fällt noch negativer
aus und für unsere sichere Zukunft noch besorgniserregender, wenn die Veranlasser des Attentats diejenige Waffentechnologie
bereits selbst im Anschlag haben, die durch die tödliche Magnetbombe im Iran
weiter verzögert werden soll. Das muss auch die Realpolitiker beunruhigen - die
Anhänger eines aufgeklärten, verfassten und für andere Regionen
beispielgebenden Staates sowieso.
(2012
/ 06) 12.1.2012
TIME
weapon technology / drones; Mark Thomson "Stealth Army"
(TIME Jan. 09, 2012, p. 21):
What
may be marketed as a big bargain in times of sparse budgets, it may turn too
heavy a burden. The body-count of the ongoing millennium shows that drones already
are far more lethal than atomic, biological or chemical weapons. They don't
know any rule of law and are they are most readily employed in distant
conflicts. Drones never make for friends, and they are bound to trigger
terroristic avengers, being their very fitting mirror image.
P.S.
Although the situation is somewhat different, I’m reminded of Ray
Bradbury’s “The City” from his 1951 collection “The Illustrated Man”, http://en.wikipedia.org/wiki/
(2012 / 05) 12.1.2012
Spektrum der Wissenschaft, veröffentlicht auf der Spektrum-Seite,
s. www.spektrum.de/artikel/
Wissenschaft und Religion; Christian Tapp, „Vernunft und Glaube“ (Spektrum
1/2012, S. 56-63) u. Streitgespräch zwischen Eckart Voland
und Winfried Löffler „Was können Wissenschaft und Religion voneinander lernen?“
(S. 64-71)
Stärker als die Unterschiede
faszinieren mich die Ähnlichkeiten: Gemeinsam ist Wissenschaft und Religion
eine hohe Nähe zum Staat; das sichert einerseits gesellschaftliche Ressourcen
und versorgt andererseits die staatlichen Repräsentanten mit Erklärungsmustern,
Delphi-artigen Prognosen und nicht immer unparteiischen
Entscheidungsgrundlagen. Strukturell ähnlich sind sich die Selig- und
Heiligsprechungen und die peer-review-basierten
Preise und Medaillen, die beide das irdische Leben zu überdauern versprechen.
Beiden Lagern wohnt ein bald theokratisches, bald technokratisches, in jedem
Fall stark geordnetes und hierarchisiertes Weltbild
inne, auch eine Scheidung zwischen Theorie und Praxis. Dabei schreiben
Wissenschaft wie Religion das offen Menschenfressende und Weltgefährdende ihres
jeweiligen Weges regelmäßig und apologetisch einer üblen technischen oder
praktischen Umsetzung zu. Beide Systeme müssen bei nachvollziehbaren
Erklärungen des Ursprungs und Grundes letztlich passen – beim Ursprung der
Gesamtwelt wie auch des Lebens. Selbst bei der Evolution unserer Art und bei
der Determiniertheit individueller Eigenschaften bleiben die
Erkenntnismöglichkeiten eher begrenzt und Überraschungen auf der Tagesordnung.
Nobelpreise mögen typischerweise für nonkonforme
Ansätze verliehen werden, aber auch sie folgen dem Axiom eines bilanzierbaren
Nutzens der technisch dominierten Zivilisation, den zumindest die westlichen
Religionen ebenfalls nicht in Frage stellen.
Das Erschreckendste
aber ist für mich: Trotz ausgefeilter und sogar wegweisender Hermeneutik, trotz
atemberaubender Erkenntnissprünge im Größten und im Kleinsten sind die
Fortschritte und Beiträge beider Systeme beim verlässlichen Schutz von Grund-
und Menschenrechten in den letzten 20 Jahren eine zu vernachlässigende Größe
geblieben - eigentlich auch schon die diesem Ziel gewidmeten Ressourcen.
(2012 / 04) 6.1.2012
DIE ZEIT, abgedruckt 19.1.2012
Kreditaffäre des Bundespräsidenten (Bernd Ulrich "Leeres Schloss",
DIE ZEIT 2/2012 v. 5.1.2012, S. 1; Tina Hildebrandt "Ein Mann, kein
Wort", S. 3)
Keine Frage: Eine Staatskrise ist es
nicht. Aber es ist an der Zeit, über neue Wege nachzudenken. Wenn wir mangels
Repräsentanz nun allesamt Bundespräsident sind, dann können wir doch aus
unserer Mitte einen neuen ersten Bürger wählen, oder? Das bisherige Assessment-Center mit der magischen ununterbrochenen
Legitimationskette von Gnaden des Kanzleramtes und mit halb-ernsten
Institutionen wie der Bundesversammlung, die zunehmend an eine Soap erinnerte oder an "Der Kongress tanzt": Hat
das nicht in der Rückschau bessere, aber nun invalide Kandidaten zurück
gelassen, und sorgt es nicht draußen vor den Staketenzäunen für immer verdrossenere oder schon apathische Bürger?
Also frisch ans Werk – mit einem
neuen Konzept "Bürgerpräsident"! Dazu müssen wir ihm noch nicht
einmal mehr konstitutionelle Muskeln geben; die Köhler'sche Interpretation des
Prüfungsrechts bei der Ausfertigung von Gesetzen gemäß Artikel 82 GG gibt
ja schon sehr viel Saft und Kraft. Aber wenn es noch etwas mehr Fitness und
Konstitution sein soll: Dann würde zum Konzept "Bürgerpräsident" etwa
eine eigene Rolle im Eingabewesen passen. Es fällt uns sicher noch mehr
erfrischende Innovation ein, wenn wir nur wollen. Das alles kann sogar helfen,
die fast schon wieder zu Staub zerfallenen Demokratie-Hoffnungen der
Beitritts-Bürger unter uns einzulösen.
Als Motto: Occupy Bellevue!
(2012 / 03) 6.1.20112
DIE WELT
Kreditaffäre des Bundespräsidenten / Interview v. 4.1.2011 und zur
Berichterstattung und Kommentierung in der WELT v. 5.1.2012 (Erstseiten-Artikel
„Christian Wulff entschuldigt sich für ‚schweren Fehler‘ “; Kommentar v.
Torsten Krauel „Wulffs dritter Versuch“, S. 1;
Beitrag v. Daniel Friedrich Sturm „Wulff sucht die Offensive“, S. 4; Beitrag
von Ulf Poschadt „Mitleid mit dem Parvenü“, S. 23)
Die folgenden Bemerkungen Wulffs
sind mir am Mittwoch aufgestoßen: Den Abdruck eines kritischen Artikels während
einer Auslandsreise verhindern zu wollen (Konnotation: in einer Phase der
besonderen Schutzlosigkeit), das sei doch menschlich verständlich - auch
wegen der besonderen persönlichen Belastung (zu Guttenberg lässt grüßen).
Er wolle nicht Präsident eines Landes sein, in dem Freunde einem Präsidenten in
Not nicht helfen dürften (und die Präsidenten in ihrer Not nicht dankbar
sein dürften) oder bei denen er nicht ohne Beleg logieren könnte (selbst
im Ausland, auch im Wochenmaßstab). Er habe nach der Verantwortung eines
Ministerpräsidenten noch entscheidend dazuzulernen gehabt und alles sei doch
arg schnell gegangen (noch ein kleiner Guttenberg). Er habe kein Recht
gebrochen (das ist noch nicht abschließend geklärt - aber es würde auch ohne
dies auf eine winkeladvokatorische Pose deuten, die
sich nicht am Maßstab der persönlichen Integrität messen lassen will). Er wolle fünf Jahre im Amt lernen und
beweisen, dass auch er Fehler nachhaltig vermeiden könne (das könnten für
uns einige Lerneinheiten zu viel sein). Überhaupt: Wenn man zu
strenge Maßstäbe anlege, fände man gar keine so fähigen (gemeint dann wohl:
so entwicklungsfähigen) Kandidaten. Anders gesagt: Wer da ist ohne Sünde, der
werfe den ersten Stein (dieser Rat
allerdings müsste sich am ehesten an das Kanzleramt richten, das bekanntermaßen
das Assessment-Center für neue Bundespräsidenten
leitet).
Insgesamt frage ich mich, ob nicht
in einer künftigen Volkswahl des ersten Bürgers mehr Weisheit stecken würde als
in dem operettenhaften, teils Slapstick-artigen Inszenieren von
Bundesversammlungen. Wir sollten das mal wagen. Übrigens glaube ich nicht, dass
ein Normal-Verbraucher dem Amt nur unter Sysiphos-haften
Anstrengungen das für eine Bürger-Demokratie notwendige Format verleihen
könnte.
(2012 / 02) 4.1.2012
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 11.1.2011
Kreditaffäre des Bundespräsidenten, u.a Kommentar von
Daniel Brösler "Merkels Schuld"
(Süddeutsche Zeitung v. 4.1.2012, S. 4)
Zum Auswachsen ist's: Nun droht mir
in schneller Folge schon der zweite erste Bürger abhanden zu kommen - grad,
dass ich ihn liebgewonnen hatte. Der spröde Köhler hatte mich erst mit seiner
Rede vom 10.10.2005 zum fünfzigjährigen Bestehen der Bundeswehr überwältigt,
mit seinen mehr als 20 luziden Fragen zu Auftrag und Nutzen der neuen
Streitkräfte. Fragen, die vor und nach ihm keiner von unseren fast 700
parlamentarischen und exekutiven Repräsentanten zu stellen wagte, geschweige
denn zu beantworten. Und verschluckt hatte er sich dann ausgerechnet an einer
klaren Aussage, die schon seit Rühes Zeiten für jeden nachlesbar in allen
Verteidigungspolitischen Richtlinien stand, selbst in denen aus der Ära Struck.
Und nun Wulff? Life und in Farbe
habe ich ihn vor wenigen Monaten bei einer Konferenz zur Berufsbildung erlebt -
und er hat mich gegen jedes mögliche Vorurteil kalt erwischt: Lebhaft,
kompetent, souverän - authentischer als alles, was man sonst hätte auf die
Bühne stellen können, und mehr als nur eine gute Show. Gut - sein Charisma war
wahrscheinlich einfach das, was ein homo novus wie der junge Wulff in einer
Partei gegen ein Karriereversprechen eintauschen konnte. Aber das Problem liegt
natürlich tiefer, in dem für agile Aufsteiger unwiderstehlichen Sexappeal
zwischen ökonomischer Reichtumsmacht und politischem Machtreichtum, der eine
überzeugte Demokratie unbemerkt zur real existierenden machen kann. Als die WestLB ihren Ministerpräsidenten Rau mit einem insgeheim
vorbereiteten opulenten Geburtstagsfestakt - wie er später sagte - völlig
überraschte, war es ja auch nicht viel anders.
Bei Köhler wie Wulff war unsere
Kanzlerin ja vielleicht nicht direkt allein schuldig, aber zumindest war sie
angestrengt glücklos. Wir sollten sie und die ohnehin überbezahlte
Bundesversammlung von den Assessment-Centern für
künftige Präsidenten freistellen und unsere ersten Bürger in Zukunft selbst
auswählen, einen Reserve-Ersten gleich dazu. Und in den Anstellungsvertrag
sollten wir für beide klare Benimm- und Ausstiegsregeln hinein schreiben, von
Anfang an.
(2012 / 01) 4.1.2012
Frankfurter Allgemeine
Rechtsgrundlage für Auslandseinsätze; Albin
Eser "Dürfen Soldaten überhaupt töten?"
(F.A.Z. v. 28.12.2011, S. 29):
Herrn Eser herzlichen Dank und meine
volle Zustimmung für seinen aufrüttelnden Anstoß, über auswärtige Gewalt nun
einmal dezidiert im Lichte des Grundrechtsschutzes zu sprechen, damit völlig
passfähig zum zentralen und auch redaktionell primär gesetzten
Begründungszusammenhang des Grundgesetzes.
Nun sind wir im Nachdenken und
Debattieren über Staat und Gewalt erfahrungsgemäß arge Spätzünder. Der
Holocaust hatte erst zwei Jahrzehnte verzögert zu einem ernst zu nehmenden
gesellschaftlichen Diskurs gefunden und auch hier sind es auch schon bald
zwanzig Jahre: Eine grundlegende und massiv, teils irreversibel in Grundrechte
eingreifende neue staatliche Handlungsform ereignet sich einfach so, ohne
breite gesellschaftliche Debatte, ohne die für Rechtsstaaten typische
vorherige, allgemeingültige Festlegung von Eingriffsgründen in einem Gesetz
oder in einer Verfassung, wie sie Art. 19 Abs. 1 GG eigentlich ohne jede
Möglichkeit der Missdeutung voraussetzt.
Namen wie Farah Abdullah, † 22.1.1994 bei Belet Huen/Somalia, Sanja Milenkovic, † 30.5.1999 bei Vavarin/Serbien
oder Bibi Khanum,
† 28.8.2008 mit zwei Kindern bei Kundus/Afghanistan,
sind hier praktisch unbekannt. Das sind nur Beispiele für die mehreren Tausend
ausländischer Opfer aus neuen Konflikten, an denen Deutschland beteiligt war
und ist. Es sind häufig genug – wie auch in den genannten Fällen – junge
Menschen; der Somali Farah Abdullah war das erste zivile Opfer, von dem ich
hörte. Ein Denkmal für diese Toten wird es noch lange nicht geben; notorischerweise werden zuerst die staatseigenen Opfer
geehrt. Umso wichtiger wäre, dass wir die Gründe unseres militärischen
Eingreifens endlich im Wortsinne definieren, will sagen eindeutig begrenzen. In
einem Rechtsstaat kann es keine Lizenz zum Töten mit Verbotsvorbehalt geben,
sondern – wenn überhaupt – nur eine primäre Lebensgarantie mit klar auslesbaren
und justiziablen Ausnahmen. Auch insoweit kann ich Herrn Eser nur aus vollem
Herzen zustimmen und würde mir wünschen, dass die geballte
Staatsrechtswissenschaft sich dessen mit Verve und Außenwirkung annähme. Bisher
allerdings sind mir nur die nachdenklichen Beiträge von Martin Kutscha bekannt.
Kommen wir kurz auf den Holocaust
zurück und zu einem Treppenwitz der Verfassungsgeschichte. Das Trauma des
national und rassistisch verblendeten Unrechtsstaates und die
Pseudo-Legitimierung seiner Exekutive durch das Ermächtigungsgesetz wurden nach
1945 der gedankliche Vater des Bundesverfassungsgerichts. Diesen
Ursprung und den besonderen Auftrag, die staatliche Gewaltanwendung
kontinuierlich in eindeutig überprüfbaren Schranken zu halten, hat das höchste
Gericht in seiner grundlegenden Entscheidung zu Auslandseinsätzen a.d.J. 1994 aus meiner Sicht völlig ausgeblendet. Von
Grundrechten oder von Wertekonflikten ist in dem mehr als hundert Seiten
starken Urteil mit keinem Wort die Rede, wohl aber intensiv von den angestammten Rechten der Administration, für die das
Gericht unter Bezug auf die Pershing-Entscheidung des Jahres 1985 [soweit von Interesse: BVerfGE
68, S. 1, 87] einen „Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnis und
Verantwortlichkeit“ postuliert [soweit
von Interesse: BVerfGE 90, S. 286, 389f]. Die
Rechtswissenschaft liest das Urteil weit überwiegend nicht als nur verfassungsinterpretierend, sondern als de facto verfassungsändernd.
Die Entscheidung ist nicht mit Richtermehrheit, sondern lediglich in einem
durch das konkrete Antragsverfahren ermöglichten Patt ergangen. Unter dem
Strich: Ohne verfassungsändernde parlamentarische
Mehrheit, nicht einmal mit der Mehrheit des Richterkollegiums hat sich eine
konstitutionelle Revolution ereignet, die der Exekutive erlaubt, jeweils ad hoc
– und eben nicht nach generell festgelegten Eingriffsgrundlagen – in lebensbestimmende Grundrechte einzugreifen. Auch die
Zustimmung der Parlamentsmehrheit darf man hier nicht als wachsames Korrektiv
missverstehen: Das Plenum hat die bisher mehr als 100 Einsatzbeschlüsse selbst
in sehr strittigen Fällen ausnahmslos passieren lassen und etwas anderes steht
auch für die Zukunft kaum zu erwarten. Also: Das ohne Ermächtigungsgesetz kaum
denkbare Bundesverfassungsgericht hat ein Stück weit den Weg zurück zum Geist
eines Ermächtigungsgesetzes gewiesen. Und in der Folge wurden dann Einsätze
auch mit der reflexhaft eingängigen Parole „Nie
wieder Auschwitz“ beworben, selbst wo sie selbst tausendfachen Tod und
Verletzung brachten. Was in einem im ersten Weltkrieg gedruckten Katechismus
als Fußnote zum 5. Gebot zu lesen stand und was wohl schon damals den
eklatanten Zivilisationsbruch hinweg definieren sollte, das scheint auch heute
wieder zu glatt hinunter zu gehen "Gilt nicht im Kriege!"
Wir sollten nun die hinsichtlich der
Grundrechtsrelevanz nicht abgewogene und auch im Kollegium nur gering
unterstützte 1994er Entscheidung politisch zu Disposition stellen und den
ersten Abschnitt des Grundgesetzes so würdigen, wie es unserer nachhaltigen
historischen Lektion entspricht: In gesellschaftlicher Debatte, in Abwägung der
Grund- und Menschenrechte von Inländern und Ausländern wird das
Handlungsprogramm der auswärtigen Gewalt klar definiert bzw. eindeutig
begrenzt. Als Schlüssigkeitstest kann dabei die Jahrtausende alte golden rule
dienen, die für das nationale Recht ebenso wie das Völkerrecht nützlich ist:
„Handle immer so, wie du selbst behandelt werden möchtest.“ Immanuel Kant hat
sie in seinem zeitlosen Traktat „Zum Ewigen Frieden“ zitiert, in der Form des
kategorischen Imperativs.
Dass wir konsequent auch unsere
Bündnisrollen neu definieren müssen, das ist selbstverständlich. Aber wir
dürfen uns auch nicht durch die Bündnisrollen definieren lassen. Diese Rollen
waren in den letzten zwanzig Jahren typischerweise von institutionellen
und administrativen Interessen geprägt und haben sich ohne ausreichende
gesellschaftliche Debatte unter stetiger Entgrenzung
der Risiken, Eingriffsarten und Eingriffsräume fortentwickelt. Der teils
sehr erratische und klandestine Prozess hatte unsere
Berechenbarkeit und die globale, regionale und nationale Sicherheit nicht
denknotwendig gestärkt.
Und ein paar Sammlerstücke aus
früheren Jahren:
(a) Die Mutter aller [meiner]
Leserbriefe:
29.9.1992
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt 2.10.1992
Militär; Absage der "V 2 - Gedenkfeier" in Peenemünde (KStA. v. 29.9.1992)
Hätten wir am Deutschlandtag die
Schöpfer der V 2 hochleben lassen, hätten wir auch die der Scud
mitgefeiert. Die Scud ist wie die Mehrzahl der heute
weltweit ausgerichteten Trägersysteme legitimer Nachfahre der V 2. Scud und V 2 sind brutale Massenvernichtungswaffen, die
unter einem verantwortungslosen Regime bewußt zum
Schaden der Zivilbevölkerung eines anderen Landes entwickelt und eingesetzt
worden sind.
Demgegenüber ist der vorgebliche
Kontext ziviler (!) Raumfahrtforschung, der etwa den jungen Wernher von Braun
begeistert und geblendet haben mag, als Begründung eines V 2 - Festes geradezu
absurd. Die Forschung hat sich gegen diese Wirtschaftsidee im doppelten Sinne
auch ausdrücklich verwahrt.
Der Vorschlag war, wenn auch der count-down schweren Herzens in letzter Sekunde abgebrochen
wurde, bereits eine verheerende Wunderwaffe gegen das Ansehen des neuen
Deutschland im Ausland und unserer Repräsentanten im Inland.
(b)
Der Leserbrief mit dem stärksten Verzögerungszünder:
29.5.2008
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt 30./31.5.2009r
Wahl des Bundespräsidenten; Kandidaturen Hort Köhler / Gesine
Schwan (KStA v. 27.-29.4.2008, u.a.
Franz Sommerfeld "Mit Gesine Schwan nach
links", KStA v. 27.5.2008, S. 4)
Entscheidend
ist, so weiland ein großer Kanzler, was hinten raus kommt. Mehr Demokratie
kommt raus, wenn bei einer Wahl die Wahl besteht. Das andere haben wir früher -
meist nach Osten blickend - gerne als "Abnicken" verspottet und
versuchen es selbst im Miniaturmaßstab der Schuldemokratie nach Kräften zu
vermeiden.
Und
die Gefahr durch die ewig Linken? Na ja, wenn man böse Ränke und abgekartete
Spiele fürchtet oder wenn man ein barockes Theater von mehr als tausend
wohlbestallten Spesenrittern von Herzen verhindern will, dann gibt es doch eine
ganz natürliche Lösung: Die Wahl des obersten Bürgers durch die Bürger selbst.
Wäre sicher auch die bessere Remedur gegen deren
nachhaltige Verdrossenheit.
(c)
Und der am weitesten gereiste Leserbrief:
22.08.1995
NIKKEI WEEKLY, JAPAN; abgedruckt 28.8.1995
Militärpolitik; Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki; THE NIKKEI WEEKLY of
August 14, 1995
I refer to reports on WW II and
especially to two letters to the editor printed in THE NIKKEI WEEKLY of August
14, 1995 (page 6). It is my impression that those two letters offer a
unilateral and quite insulting interpretation of the motives behind the drop of
atomic bombs onto Hiroshima and Nagasaki fifty years ago (e.g. N. Hale: "a
merciful decision"). So I would like to show an alternative view:
It is certainly true, that Japanese
military leaders commenced the hostilities against the
The echoes of that demonstration of
power strongly outlived that event. We hear them over and over again – from
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