Karl Ulrich Voss, Burscheid: Meine Leserbriefe im Jahr 2015

Stand: November 2015

 

(2015/25) 26.10.2015
DIE ZEIT
Flüchtlingsdebatte; Bernd Ulrich „Wut ohne Grenzen“ und Matthias Geis „Worte gegen die WUT der Worte“ (DIE ZEIT No 43 v. 22.10.2015, S. 2 u. 4)

Mit Grenzenlosigkeit hat die WUT viel zu tun, ist sie doch auch Folge der sicherheitspolitischen  Entgrenzung der letzten zwei Jahrzehnte. Wir können den aus Afghanistan kolportierten Spruch getrost ergänzen: „Ihr habt die Uhren, aber wir haben die Zeit, notfalls die Sandalen.

Es ist höchst lehrreich zu sehen, woher sie denn kommen, die Ströme von flüchtenden Männern und Frauen, Kindern wie Greisen. Die wichtigsten Ausgangspunkte oder Transitkanäle sind just jene Regionen und Staaten, die der Westen in den vergangenen Jahren in einer gar nicht schöpferischen Zerstörung umgestalten wollte. Das waren, mittels robuster militärischer Exkursionen oder durch eine resolute Diplomatie, insbesondere Irak, Afghanistan, Syrien und Libyen, aber auch ein noch immer geschüttelter Balkan.

Hier und da habe ich einen Tagtraum: Politiker, die in den Neunzigern einer neuen deutschen Normalität und einer „Armee im Einsatz“ das Wort geredet hatten – gerne auch mit beißender Polemik gegen die Friedensbewegung wie Wolfgang Schäuble in der Somalia-Bundestagsdebatte vom 21.4.1993 – sie würden vor einer Wahl heraustreten und ein wenig betreten bekennen: „Wir wollten gestalten. Wir haben die Konfliktlagen nicht durchschaut. Wir haben Strukturen zerstört, haben Konflikte geschürt und damit Flüchtlings-Lawinen losgetreten.“ Demokratische Rechenschaft und Lernbereitschaft könnte man das nennen und nachts träume ich realistischer.

Quellen

·         Plenardebatte des Bundestags zu UNOSOM II am 21.4.1993, siehe http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/12/12151.pdf; Beitrag von Wolfgang Schäuble auf den S. 12933ff, 12946

·         Zum Vergleich: Generaldebatte zum Haushalt 2016 und u.a. zur Flüchtlingsproblematik am 9.9.2015, dort wies ausschließlich Gregor Gysi auf Ursächlichkeiten der Außen- u. Sicherheitspolitik hin, siehe http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/18/18120.pdf ; polemisch kommentierter Beitrag v. Hrn. Gysi siehe S. 11603

 

(2015/24) 26.10.2015
DIE WELT
VW-Diesel-Manipulationen; „VW denkt an Eintauschprämie für alte Diesel“, „VW erwägt Eintauschprämie für manipulierte Autos“ (DIE WELT 26.10.2015, S. 1 und 10)

Genial – die Eintauschprämie! Die zurücklaufenden Wagen dann einfach in die wuchernden Megastädte der dritten Welt verticken – die haben zwar allesamt ein massives Problem mit Stickoxiden, sind aber meist nicht so etepetete wie wir – und die Sache läuft rund. Dumm nur, wenn’s dann so geht wie weiland beim Verschieben des Tschernobyl-Molkepulvers nach Ägypten, wenn nämlich der ganze Kladderadatsch postwendend retourniert wird.

Quelle zu vagabundierenden Milchprodukten nach Tschernobyl z.B.
http://www.zeit.de/1987/15/unternehmen-molkepulver/seite-9

 

(2015/23) 21.10.2015
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 5.11.2015
Flüchtlingsdebatte; Heribert Prantls Kommentar „Merkel auf dem Rückzug“ (Süddeutsche v. 19.10.2015, S. 4)

Wenn unsere Kanzlerin ein Engel der Flüchtlings-Aufnahme bleiben wollte, es stünde ihr ein sehr ehrenwertes Argument zu Gebot, nämlich die Übernahme von Verantwortung für unser Tun: Die allermeisten der zu uns strebenden Männer, Frauen und Kinder formen eine exakt gegenläufige Bewegung zu früheren oder teils noch laufenden Interventionen des Westens, seien es militärische Eingriffe, seien es destabilisierende diplomatische Initiativen – siehe Syrien, Afghanistan, Irak und die Balkan-Region.

Nehmen wir die Zahlen, die die auch im Bundestag gern gelesene Zeitschrift „Das Parlament“ im September 2015 nannte, so hatten mehr als zwei Drittel der diesjährigen Asylbewerber bis Ende Juli einen solchen Interventions-Hintergrund und es stammt gar mehr als ein Drittel wieder vom Balkan, dessen wir uns ja gleich zu Beginn der Neunziger Jahre mit einer nun raumgreifenden Außen- und Sicherheitspolitik angenommen hatten.

Was sollte uns der Lehrmeister Krieg sagen? Etwa „Weiter so!“ und „Um die humanitären Folgen nicht kümmern!“? Oder besser doch, dass wir als Zauberlehrlinge unterwegs waren und sind?

Quelle zu den genannten Zahlen:
Das Parlament Nr. 38/39 v. 14.9.2015, S. 1, http://www.das-parlament.de/2015/38_39

 

(2015/22) 21.10.2015
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 30.10.2015
Flüchtlingsdebatte; Günter Bannas „Einfache Antworten helfen nicht“ und Daniel Deckers „Verdruss in Köln“, (Frankfurter Allgemeine v. 20.10.2015, S. 1)

Die Politik steht vor einem Dilemma: Sie kann eine zunehmend unbeherrschbare Flüchtlingssituation nicht ohne einen eigenen schmerzlichen Lernprozess erklären: Die ganz hohen Flüchtlingswellen branden derzeit just aus jenen Regionen heran, die Deutschland oder die seine Verbündeten in den letzten beiden Jahrzehnten qua erweiterte Außen- und Sicherheitspolitik umgestalten wollten, teils durch militärische Einsätze „out of area“, teils durch resolute, auf Regime- und Systemwechsel zielende Diplomatie. Als da wären insbesondere: Syrien, Irak und Afghanistan mit zusammen 32% der Asylbewerber von Januar bis Juli 2015 – oder der Balkan, unser erstes sicherheitspolitisches Gesellenstück nach der 1989er Zeitenwende, mit heute wieder 39% Anteil. Nicht zu vergessen ein zerbrochenes Libyen, nun der Flüchtlingskanal der Wahl für Subsahara-Afrika.

Altgediente Politiker werden sich noch erinnern, etwa ein Wolfgang Schäuble: Er hatte in der Plenardebatte vom 21.4.1993 zum damaligen Somalia-Einsatz mit beißender Polemik diejenigen abgekanzelt, die an einer Interpretation von Landesverteidigung oder an einer erklärten Friedenspolitik festhalten wollten, wie es noch kurz zuvor unter Politikern und Juristen mehrheitliches Verständnis gewesen war. Ohnehin: Eine Mehrheit von Bürgerinnen und Bürgern für eine erweiterte Außen- und Sicherheitspolitik hat es m.E. bis heute nie gegeben, speziell auch nicht zum ISAF-Einsatz in Afghanistan. Nicht ohne Konsequenz hatte es dann auch vor der letzten Bundestagswahl ein schulterklopfendes Einvernehmen zwischen dem damaligen Kanzlerkandidaten Steinbrück und dem damaligen Verteidigungsminister de Maizière gegeben mit dem Ziel, die Auslandseinsätze und auch die Neustrukturierung der Bundeswehr "aus dem Wahlkampf herauszuhalten". Drum wäre jetzt ein grundlegender Sinneswandel erforderlich, und zwar eine Neuorientierung sowohl in der Politik-Bürger-Kommunikation als auch zum Nutzen und zu den mittelfristigen Folgen der militärischen Option. Für einen Politiker in Amt und Würden wäre dies eine Quadratur des Kreises und wäre kaum ohne nochmaligen Politik- oder Politikerverdruss lösbar.

Das eigentlich Erschreckende aber ist: Auch beim Klimawandel kann man mit einiger Berechtigung uns Industriestaaten als Veranlasser und Taktgeber identifizieren. Und der Klimawandel mag Migration, Angst und Hass in noch anderen Größenordnungen als heute auslösen; zu den Prognosen siehe auch den druckfrischen OECD-Bericht „Climate Change Mitigation. Policies and Progress“. In diesem Wetter werden dann ganz andere Politiker gefordert sein.

Quellen

·         Zu den genannten Asylbewerber-Anteilen:
Das Parlament Nr. 38/39 v. 14.9.2015, S. 1, http://www.das-parlament.de/2015/38_39

·         Plenardebatte zu UNOSOM II am 21.4.1993 mit Redebeiträgen von MdB Schäuble auf S. 12933ff, 12946; http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/12/12151.pdf

·         Thomas de Maizière am 8.5.2013 zur WAZ-Mediengruppe:
http://www.presseportal.de/pm/55903/2468313/waz-verteidigungsminister-de-maizi-re-sicherheitspolitik-aus-dem-wahlkampf-heraushalten.

·         OECD Bericht v. 20.10.2015 „Climate Change Mitigation. Policies and Progress“, http://www.oecd.org/environment/cc/climate-change-mitigation-9789264238787-en.htm

 

(2015/21) 20.10.2015
Kölner Stadt-Anzeiger
Flüchtlingsdebatte; Karl Doemens „Geistige Brandstifter“ – Klare Politiker-Worte an Pegida, KStA 20.10.2015, S. 5, der nachfolgende Leserbrief:

Selbst kleinste Initiativen können anrühren, etwa die Mini-Demonstration von Lothar de Maiziére mit seinem handgeschriebenen Plakat „DEMOKRATIE LEBT von Argumenten, nicht von Hass, Messern und Galgen“.

Eine bittere Pointe liegt darin: Dem heutigen Innen- und vormaligen Verteidigungsminister könnten wir ein ganz ähnliches Plakat vorhalten, nämlich „DIPLOMATIE LEBT von Argumenten, nicht von Panzern, Bomben oder vom Untergraben“. Denn sehen wir auf die Ausgangspunkte der derzeit wesentlichen Flüchtlingsströme, dann finden wir nur Regionen, in denen der Westen in den letzten zwei Jahrzehnten auf einen spektakulären Macht- und Systemwechsel gesetzt hatte, durch militärische Eingriffe oder durch eine ungeschminkt destabilisierende Diplomatie – Afghanistan, Irak, Teile Afrikas und wieder ganz vorn der Balkan.

Die inzwischen schwer beherrschbaren Migrationsfolgen spielen nun den ewigen Brandstiftern in die Hand. Will irgendein Politiker für die außen- und sicherheitspolitische Vorgeschichte Rechenschaft ablegen, Lehren ziehen oder gar Verantwortung übernehmen? Ich kenne keinen.

 

 

(2015/20) 17.10.2015
TIME
Refugees; Nancy Gibbs „A modern exodus“, TIME of October 19, 2015, p. 4, and further refugee-related articles of the same TIME issue

I definitely cherish Germans heartely welcoming refugees. But that may be their very debt as well – regarding that the significant majority of the new exodus is emerging from areas of misfired German interventions of the last two decades, be it by military force, be it by a resolute diplomacy, aiming at regime changes.

I cannot help thinking foreign policy is done by modern “Zauberlehrlinge”. Like Zbigniew Brzezinski, when he trustingly justified fuelling up jihadism by the then desired fall of the Soviet empire, in that famous 1998 interview with the Nouvel Observateur, Paris.

Source
Brzezinski: «Oui, la CIA est entrée en Afghanistan avant les Russes …», Le Nouvel Observateur January 15, 1998; to be retrieved e.g. under http://www.voltairenet.org/article165889.html
Excerpt
Le Nouvel Observateur:
Vous ne regrettez pas non plus d’avoir favorisé l’intégrisme islamiste, d’avoir donné des armes, des conseils à de futurs terroristes?
Zbigniew Brzezinski:
Qu’est-ce qui est le plus important au regard de l’histoire du monde? Les talibans ou la chute de l’empire soviétique? Quelques excités islamistes où la libération de l’Europe centrale et la fin de la guerre froide?

 

(2015/19) 30.9.2015
Kölner Stadtanzeiger
Flüchtlinge; Holger Schmale, „Ende eines tödlichen Irrwegs“, „Die Fehler des Föderalismus“ und „Osama bin Laden wäre zufrieden“ KStA v. 25.9., 24.9. und 11.9.2015, und zu Thomas Kröter, „Besser als der Tod“, KStA v. 29.9.2015 (jeweils S. 4)

Danke für die ganzheitliche Kommentierung des Zusammenhangs zwischen Außen- und Sicherheitspolitik und Flüchtlingsstrom und für den Appell zu mehr Realpolitik. Realpolitik bedeutet für mich eine fortlaufend – auch vor Wahlen – eng zur Wirklichkeit gekoppelte Strategie, damit auch Evaluation nach Zielen, Nutzen und Lasten.

Die Zahl der Kabinettbeschlüsse zu Auslandseinsätzen hat seit der 12. Legislatur – damals waren es fünf – hin zur 17. Legislatur mit achtunddreißig Beschlüssen massiv zugenommen; zur Hälfte der laufenden Legislatur sind es schon siebenundzwanzig! Sieht man auf die Herkunftsgebiete des anschwellenden Flüchtlingsstroms, so sind die heute schwärenden Fluchtpunkte solche, bei denen der Westen durch robuste militärische Einsätze oder durch eine destabilisierende Diplomatie klar auf Regimewechsel zielte: Irak. Afghanistan, Syrien – und neuerdings wieder, wie zu Beginn der Neunziger, ein weiter kriselnder Balkan. Mehr derselben Politik wäre ein schlechter Lehrmeister.

In der Generaldebatte zum 2016er Haushalt am 9.9.2015 haben die Fluchtgründe nur eine marginale Rolle gespielt; zumeist ging es in der bekannten schulmeisterlichen Art um Defizite vor Ort. Nur ein Redebeitrag fragte nach unseren eigenen kausalen Anteilen und wurde beißend polemisch pariert mit Einwürfen wie „Das ist momentan das Wichtigste, was zu klären ist!“ oder „Mit Ihnen wäre das nicht passiert!

Quelle zu den im zweiten Absatz genannten Zahlen
Die bisherigen Kabinettbeschlüsse und parlamentarischen Vorgänge zu Auslandseinsätzen sind u.a. dokumentiert unter http://www.vo2s.de/mi_missionen.xls

P.S.
Ich hatte kurz erwogen, aber dann doch verworfen, Alfred Neven DuMonts Kommentar „Der Weg ins Abseits“ zu zitieren, in dem er aus ungeschminkt kommerziellem Kalkül einer deutschen Teilnahme am Irak-Krieg das Wort geredet hatte (KStA 15./16.2.2003, S. 4 = http://www.ksta.de/debatte/der-weg-ins-abseits,15188012,14292298.html). Nur ein Auszug: „Präsident Bush hat gelegentlich, wenn auch verklausuliert, deutlich gemacht, dass nach einem erfolgreichen Irakkrieg nur die Nationen einen Teil am Ergebnis erhalten, die auch ihren Beitrag zum Erfolg geleistet haben. … Kriege, oft als Kreuzzüge verschönt, dienten, solange die Menschheit lebt, immer der eigenen Vorteilsnahme.“ Aber Herrn Neven DuMont fehlte die Erfahrung zweier im Ergebnis desaströser Einsätze und er kann heute dazu nicht mehr Stellung beziehen.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Geschehnisse in der Provinzhauptstadt Kundus sollte man unbedingt noch mal das läppische Märchen nachlesen, das Thomas de Maizière am 6.10.2013 in launiger Stimmung bei Übergabe des Feldlagers präsentiert hatte, nämlich die Geschichte vom schlauen deutschen Bäuerlein und seinen drei tumben afghanischen Söhnen (siehe näher http://uliswahlblog.blogspot.de/2013/10/papa-thomas-und-seine-marchenstunde-am.html).

 

(2015/18) 28.9.2015
SPIEGEL
VW-Abgas-Skandal; Johann Grolle et al. „Ende eines Mythos“ (DER SPIEGEL Nr. 40 v. 26.9.2015, S. 10ff)

Pardon, geht es wirklich um etwas Nachhilfebedarf in Amerikakunde? Eher doch um die Chuzpe einer technokratischen Elite, für die Vertraulichkeit heilig ist und jeder Whistleblower eine Höllengeburt. Der Kübel hat Deutschland beschmutzt. Oder auch: Auf „Made in Germany“ wimmeln die fetten Maden.

 

(2015/17) 24.9.2015
Das Parlament, abgedruckt 5.10.2015
Flüchtlinge; Claus Peter Kosfeld, „Einfach mal anpacken“ und zur Dokumentation der Generaldebatte zum Haushalt 2016 am 9.9.2015, Das Parlament Nr. 38/39 v. 14.9.2015

Es fällt schwer, daran vorbeizusehen: Die Staaten, in denen der Westen in den letzten Jahrzehnten qua raumgreifender Außen- und Sicherheitspolitik einen Regimewechsel herbeiführen wollte oder sogar erzielt hat – sei es durch robuste äußere Gewalt out of area, sei es durch entschlossene Diplomatie – sie gehören heute zu den schwärendsten Fluchtpunkten: Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien, wieder anwachsend auch der Balkan. Wir können die Zahlen aus der Grafik zu den Flüchtlingsströmen auf der Deckseite des „Parlaments“ nüchtern saldieren. Dann finden wir ca. 140.000 Männer, Frauen und Kinder mit Interventions-Geschichte bzw. signifikante mehr als 70% der Asylbewerber i.J. 2015 bis Ende Juli. Allein vom Balkan, einer als längst abgearbeitet wahrgenommenen Krisen- und Interventionsregion, waren es wieder etwa 76.000 oder fast 40% der Gesamtzahl.

Zu einem möglichen eigenen kausalen Anteil unserer Einsatzentscheidungen am Schicksal der Flüchtlinge hat sich in der achtstündigen Debatte nur Gregor Gysi geäußert. Der Krieg ist ein schlechter Lehrmeister, wenn er weit entfernt wütet und wenn die menschlichen Folgen nur mit Verzögerung zu uns durchsickern. Wie ließ sich der damalige Verteidigungsminister Jung in seinem Weißbuch 2006 zitieren: „Wir müssen Krisen und Konflikten rechtzeitig dort begegnen, wo sie entstehen und dadurch ihre negativen Wirkungen von Europa und unseren Bürgern weitgehend fernhalten.“ Er hat die Problemlösungsfähigkeit der Industriestaaten massiv überschätzt.

P.S.
Das Jung-Zitat findet sich im Weißbuch 2006 auf S. 18.
Das Weißbuch selbst bezieht sich in Kap. 1.2 „Die strategischen Rahmenbedingungen – Globale Herausforderungen, Chancen, Risiken und Gefährdungen“ mehrfach auf Risiken von Wanderungsbewegungen, allerdings jeweils nur auf Migration infolge (ggfs. reaktionsbedürftiger) schlechter Rahmenbedingungen des Einsatzgebietes, nicht aber auf einen Flüchtlingsstrom, den ein misslingender deutscher Waffeneinsatz auslösen oder verstärken könnte, siehe dort S. 19, 20, 22
.

 

(2015/16) 13.8.2015
DIE ZEIT
Hiroshima und Nagasaki; Beiträge von Theo Sommer „Wessen Schuld?“ und David Johst „Die Legende vom reumütigen Piloten“ (DIE ZEIT Nr. 32 v. 6.8.2015, S. 18, 19)

Über eine Schuld an der letzten Eskalation des Pazifikkrieges richten zu wollen, das scheint 70 Jahre nach den fatalen, in ihrer Dimension gar nicht fassbaren Ereignissen fast ausgeschlossen. War es überhaupt noch Element des Pazifikkrieges oder doch schon eines heraufziehenden oder wieder aufgelebten Ost-West-Gegensatzes? Waren die Bomben dual use, nämlich ein kurzer Prozess für Japan und der gleichzeitige Versuch, den unkalkuliert weiten Vorstoß des alten und neuen Angstgegners „Bolschewismus“ in Europa und Asien wieder einzudämmen? Diese Deutung ist für mich noch am wahrscheinlichsten.

Zur menschlichen Dimension: Den Angriff vom 6.8.1945 auf weit mehrheitlich Zivilisten, auf Männer wie Frauen und Kinder und Greise in einer zuvor strategisch ausgeklammerten Großstadt, man kann ihn als gezielte, nach den Definitionen unseres Strafrechts auch heimtückische Vivisektion einer vitalen Kommune werten.

Am allerwenigsten verständlich erscheint der am 9.8.1945 unmittelbar nachfolgende Angriff auf Nagasaki – wenn man ihn nicht als eine banale Genugtuung für die rivalisierende Pu- bzw. Implosions-Arbeitsgruppe in Los Alamos deutet. Deren grundlegend anderes Bomben-Design war zwar am 16.7.1945 schon im geheimen Trinity-Test, aber eben noch nicht wie in Hiroshima unter Feldbedingungen zum Zuge gekommen, gleichsam am lebenden Körper. „Gewonnen“ hat dieses bizarre Turnier übrigens die Uran-Fraktion. Zwar war die Sprengkraft der Plutonium-Bombe mit ca. 21 Kilotonnen TNT-Äquivalent fast doppelt so hoch. Aber wegen des zwischenzeitlich eingetrübten Wetters wurde das Stadtzentrum um zwei Kilometer verfehlt und die Zahl der direkten und indirekten Opfer blieb geringer, wenn auch noch immer apokalyptisch. Gerade der Wetterwechsel hatte den vom Militär vor Ort entschiedenen zweiten Einsatz ausgelöst, mit hoher Wahrscheinlichkeit auch in Sorge um eine Kapitulation Japans, die für den Auftritt der Bombe „Fat Man“ zu rasch gekommen wäre.

Waren die Bomben vielleicht tödlicher als erwartet? Wohl nicht, auch wenn der wissenschaftliche Leiter des Manhattan-Projekts dies später einmal so berichtete. Tatsächlich hatte schon das Frisch-Peierls-Memorandum vom März 1940, das vor einer möglichen deutschen Atombombe gewarnt hatte und damit grundlegend für die späteren Anstrengungen der Alliierten wurde, sowohl den möglichen taktischen Einsatz als auch die daraus folgende menschliche Katastrophe bewundernswert exakt vorausgesagt: „The blast from such an explosion would destroy life in a wide area. The size of this area … will probably cover the center of a big city. … The effect of these radiations is greatest immediately after the explosion, but it decays only gradually and even for days after the explosion any person entering the affected area will be killed.“ Recht genau so kam es.

Quellen

http://www.quora.com/Who-decided-to-drop-the-atomic-bomb-on-Hiroshima-and-Nagasaki-Was-it-Harry-Truman (Einsatzbefehl v. 25.7.1945)

http://web.stanford.edu/class/history5n/FPmemo.pdf (Frisch-Peierls-Memorandum, März 1940)

 

(2015/15) 6.8.2015
DIE WELT, abgedruckt 8.8.2015
Hiroshima; Dietrich Alexander „Das ‚Gesicht von Hiroshima‘ kann nicht vergessen (DIE WELT v. 6.8.2015, S. 8)

Fortgeschrittene Teleskope liefern mehr und mehr Hinweise auf Verwandte unseres Planeten in anderen Sonnensystemen; einige davon stuft die Forschung gar als noch stabilere, noch fruchtbarere „Super-Erden“ ein. Wenn aber solche Inkubatoren im Kosmos eher die Regel zu sein scheinen als die Ausnahme, wo um alles in der Welt sind sie dann, die klugen Bewohner dieser Welten – oder zumindest ihre Lebenszeichen?

Die gerade wegen Hiroshima und Nagasaki immer überzeugendere Antwort stimmt nicht eben optimistisch: Technische Zivilisationen löschen sich mit in ihrer Entwicklung zunehmender Wahrscheinlichkeit selbst aus. Deswegen dürfen wir Sunao Tsuboi und seine Lebenszeichen nicht schnell vergessen.

 

(2015/15) 25.7.2015
Süddeutsche Zeitung
Rücktritt von Wolfgang Bosbach vom Vorsitz des Innenausschusses; Robert Rossmann „Ein bisschen Rücktritt“ und „Weiter im Gespräch“ (S.Z. v. 24.7.2015, S. 4 u. 5)

Resonanz im Bauchraum zu erzeugen, das macht einem Wolfgang Bosbach so leicht keiner nach; auch deswegen ist er für einen christdemokratischen Klangkörper nicht so schnell zu ersetzen.

Im Grunde schafft er mit seinem Widerstand und jetzigen Teilrücktritt sogar eine Quadratur des Kreises: Unsere vielen neuen Gespenster und Mysterien – von Finanz- über Euro- und Griechenlandkrise bis hin zu invasiven Nachrichtendiensten, bröckelnder Infrastruktur, erfolglosen bis erschreckenden militärischen Interventionen, okkulten Freihandelsabkommen und west-östlicher Wiederanspannung – sie weisen nicht auf ein Versagen von Angehörigen der Mittel- oder Unterschichten; das neue Missbehagen müsste sich ja eher gegen Eliten richten.

Als sehr begabter und erfolgreicher Aufsteiger kann Wolfgang Bosbach aber schwerlich Advokat des Abstiegs von Angehörigen der Oberschicht sein. Näher liegt, einen selbstverschuldeten Sozialfall Griechenland herauszupräparieren, die Griechen abzukoppeln und als Person der Magnet für ein verunsichertes, latent euro- und vielleicht gar xenophobes Bürgertum zu bleiben; insofern gebe ich dem Kommentar Recht. Allerdings verhüllt der volksnahe Wobo damit massive Fehler in der Statik des Systems, die mittelfristig zu noch schlimmeren Folgen führen können, auch für die politische Stabilität.

 

(2015/14) 25.7.2015
Frankfurter Allgemeine
Rücktritt von Wolfgang Bosbach vom Vorsitz des Innenausschusses; Günter Bannas „Gegen den Strich“ (F.A.Z. v. 24.7.2015, S. 2)

Die CDU wäre mit dem sprichwörtlichen Klammerbeutel behandelt, wenn sie ein Medium wie Wolfgang Bosbach in einer schon wieder dem nächsten Wahlfest zuneigenden Legislaturperiode gehen ließe oder gar gehen hieße. Er kann herzerwärmend, druckfrisch und nachhaltig prägend sprechen und – fast ein Alleinstellungsmerkmal – dies auch alles in einem, gerne auch selbstironisch. Seine vitalen Wortbilder multiplizieren sich wie von selbst, etwa das von der Querkuh. Er ist ein begnadeter Verkäufer, weil man ihm abnimmt, dass er nur verkauft, was er selbst mit Genuss kaufen würde, und seinen lokalen Verband führt er mit natürlicherer Autorität als die Kanzlerin die deutsche politische Christenheit.

Nicht so sehr verstehe ich ihn als breit aufgestellten Analysten, Programm-Architekten oder Ideologen. Sein Wobo-Internetauftritt erscheint monochromatisch, auf die Wortbilder Griechenland-Misere und Transfer-Union bezogen. Mir fehlt dort jede differenzierende Bewertung der Krisenursachen, auch der früheren und heutigen Nutznießer und Treiber außerhalb Griechenlands. Immerhin findet sich ein Link zur aktuellen Studie des Ifo-Instituts, über die am 6.7.2015 auch die F.A.Z. berichtet hatte. Danach waren die Hilfskredite in grober Annäherung zu je einem Drittel den Geldgebern, den Kapitalexporten – offenbar typischerweise der griechischen Elite – und dem staatlichen und privaten Konsum zugute gekommen. Angesichts der fast zu vernachlässigenden Eigenproduktion muss auch dieses Drittel wiederum zu signifikanten Rückflüssen zu den Haupthandelspartnern geführt haben und kaum zu einer Erhöhung oder auch nur Stabilisierung des Lebensstandards der sozial mittleren und unteren Schichten. Die nach 2008 exorbitant aufgewachsene und nach den Hilfskrediten nur geringfügig gefallene Arbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit unterstützen diese Einschätzung.

Würde Wolfgang Bosbach auch insoweit zu nüchtern abgewogenen „lessons learnt“ beitragen, dann hielte ich ihn für einen idealen Politiker und für wieder unbedingt wählbar.

Quelle

Hans-Werner Sinn, "Die griechische Tragödie ", ifo Schnelldienst 68, Mai 2015
http://www.cesifo-group.de/DocDL/SD_Mai_2015_Sonderausgabe_1.pdf

 

(2015/13) 24.7.2015
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 4.8.2015
Rücktritt von Wolfgang Bosbach vom Vorsitz des Innenausschusses; Tobias Peter „Es stehen viele Kühe quer im Stall“ (KStA v. 24.7.2015, S. 4)

Die Rückgabe eines politischen Amtes hat für mich etwas Erfrischendes; sie ist Voraussetzung für politische Konvektion und leider viel zu selten. So weit so gut und durchaus ehrenhaft. Bei näherem Hinsehen bleibt mir dennoch ein „Aber“:

Wo war der Mahner Bosbach, als die Deutschen den Griechen – und sinnigerweise parallel ihrem Lieblingsfeind jenseits der Ägäis – für Unsummen Waffen verkauften, in einer Phase bereits dynamisch anwachsenden Handels- und Staatsdefizits und bei ebenso wuchernder Jugendarbeitslosigkeit? Ein Deutscher muss über den Zusammenhang zwischen volkswirtschaftlichem Niedergang und politischer Differenzierung und Radikalisierung nicht lange grübeln, speziell nicht als profilierter Innenpolitiker.

Syriza darf man getrost als direkte Folge eines jahrzehntelangen Niedergangs werten und das war hinsichtlich der inneren Sicherheit in Griechenland – und pardon: auch in Deutschland – sogar noch die politisch zivilisiertere Variante möglicher Entwicklung.

 

(2015/12) 18.6.2015
DIE ZEIT
zum Zeitgeist-Kommentar von Josef Joffe „Bibel der Freiheit“ (DIE ZEIT No. 25 v. 18.6.2015, S. 10)

Das Copyright für fundamentale Bürgerrechte ist noch ein wenig älter als 800 Jahre. Nach der Überlieferung hatte bereits eine frühere Magna Charta, nämlich das Römische Zwölftafelgesetz von ca. 450 v. Chr. das Töten eines nicht verurteilten Menschen verboten – das gehörte in der Folge gerade zum Kern des allseits begehrten römischen Bürgerrechts: "Interfici . . .  indemnatum quemcunque hominem etiam XII tabularum decreta vetuerunt."

Nun ist das Vertrackte mit den Menschenrechten: Der Staat versteht sie gerne plastisch. Und so halten wir es hic et nunc etwa bei den Auslandseinsätzen sehr flexibel: Der erste Abschnitt unseres Grundgesetzes verlangt für Eingriffe in Leben und Gesundheit zwar ein die Tatbestände abschließend aufzählendes Gesetz – Rechtsstaat, na klar! Oder auch: Kategorischer Imperativ, like, like! Geht es aber um Ausländer im Ausland und haben diese das Pech, dass Deutschland dort gerade militärisch intervenieren will, dann braucht es kein Gesetz mit vorab generell definierten Fallgruppen – die Einzelentscheidung eines Parlaments reicht, mit bis heute auch einhundertprozentiger Zustimmungsgarantie. Der zweite Abschnitt des Grundgesetzes toppt mit exekutiver Chuzpe den so edlen ersten. Daran will ganz erwartungsgemäß auch die Rühe-Kommission nicht rütteln. 

Wenngleich ihr Bericht unter Nr. 13 zaghaft an der Tragfähigkeit unserer Wehrverfassung zweifelt. Vielleicht hat die Kommission da auch ein wenig an den Geburtstag der Magna Charta gedacht.

Quellen

Lex duodecim tabularum, dort der tab. IX no. 6 zugeschrieben:
http://www.hs-augsburg.de/~harsch/Chronologia/Lsante05/LegesXII/leg_ta09.html

Bericht der Rühe-Kommisssion v. 16.6.2015:
https://www.bundestag.de/blob/379046/ec2f468a9323c99f9bff783edb611c9b/bericht-data.pdf

 

(2015/11) 18.6.2015
Süddeutsche Zeitung
zu den Beiträgen von Joachim Käpper „Das Recht, Nein zu sagen“ und Christoph Hickmann „Die Konsens-Kommission“ (Süddeutsche Zeitung 17.6.2015, S. 4, 6):

Wenn die Reichswehr ein „Staat im Staate“ war, dann ist unsere Bundeswehr „ein Staat um den Staat“. Das mag einen gewissen Sinn machen, wo es um die Abwehrfunktion geht. Aber hinsichtlich der demokratischen Transparenz, Mitbestimmung und Kontrolle ist die heutige Ummantelung um nichts besser die alte Reichswehr-Kapsel. Denn das ist und bleibt das Kernproblem seit den ersten Auslandseinsätzen in den frühen Neunzigern, damals in der Adria und in Somalia, als Integration bereits das zentrale und unwiderstehliche Argument war: Mit dem Anspruch einer Weltordnungspolitik entwickelt, verkauft und beschafft das Bündnis große Waffensysteme. Ihr integrierter Einsatz ist dann ebenso systemlogisch wie der Abwurf der ersten beiden Atombomben – damals für Steuer-Unsummen in zwei konkurrierenden Designs entwickelt, aber am primären Ziel nicht mehr mit scharfem Schuss zu testen.

In solchen exekutiv-kommerziellen Netzen wird eine demokratische Kontrolle leicht zum Störfaktor, mag sie auch noch so rituell ausgeformt sein – wie unser konstitutiver Parlamentsbeschluss mit seiner voraussehbar wie erfahrungsgemäß hundertprozentigen Erfolgsgarantie. Gar nach einer unabhängigen Evaluation des Erfolgs der raumgreifenden Realpolitik zu fragen, das traut man sich schon gar nicht.

Im Kommissionsbericht v. 16.6.2015 gibt es immerhin Lichtblicke oder Zeichen der Besinnung: Gemäß Nr. 12.1 soll die Bundesregierung vor den allfälligen Missionsverlängerungen nun ausdrücklich Verlauf und Zielerreichungsgrad bilanzieren – und hoffentlich wird sie dann unter „humanitäre Situation“ auch eigene Eingriffe in Menschenrechte aka Kollateralschäden mit objektivieren. Nach Nr. 12.2 soll die Bundesregierung die Unterrichtung über die häufig schicksalhaften Einsätze von Spezialkräften verbessern – mehr Transparenz würde deren Angehörige auch besser gegen den eigenen Komment schützen; der gedeiht ja im Verborgenen am allerbesten. Und die Nr. 13 besagt in völlig unerwarteter Offenheit: Zumindest einige Einsätze lagen nicht nur „out of area“, sondern auch außerhalb der Verfassung und der Bundestag sollte nun über die Reform unserer Wehrverfassung beraten. Auch das ist eine Forderung der frühen Neunziger. In der Zwischenzeit hat vieles die Gesetzesblätter gebläht, was gegenüber dem rechtsstaatlichen Einhegen öffentlicher Gewalt in jeder Hinsicht nachrangig war.

Quelle Kommissionsbericht:
https://www.bundestag.de/blob/379046/ec2f468a9323c99f9bff783edb611c9b/bericht-data.pdf

 

(2015/10) 28.4.2015
Kölner Stadt-Anzeiger
BND/NSA-Skandale; Markus Decker und Daniela Vates „Die willigen Helfer“ u. „Der nächste Skandal“ (KStA v. 25./26.4.2015, S. 4 u. 6); „Wer wusste was im Kanzleramt?“ (KStA 27.4.2015 S. 6); „Von der Vergangenheit eingeholt“ (KStA 28.4.2015, S. 5)

Manche Menschen haben eine Drachenhaut, gesintert im Bourbon jahrelanger transatlantischer Dienste-Besprechungen. Sie scheinen unkaputtbarer selbst als Minister oder als die meisten Staatschefs. Dem Chef des BND schadet rein gar nichts: Ob er seine Kanzlerin wie ein Dummchen ausschauen lässt, ob er mit fliegenden Teppichen zaubert oder ob seine neue Berliner Trutzburg Maß und Plan verliert oder gar absäuft. Selbst wenn er von seinen Spy&Spy-Kumpanen genagelt und abgefischt wird – und das seit Jahren: Dann mögen zwar Geschosse abgefeuert werden. Aber diese können selbst in vollem Flug noch ihr Ziel wechseln. Sie finden nun vielleicht einen Minister, dem man neben einer durchschnittlichen Fehlerrate höchstens vorwerfen kann, er habe die Einheit weder vorhergesehen noch sie mit Gemeinsinn gestaltet, dafür aber in seinem Fortkommen intensiv von ihr profitiert.

Sicher, die Dienste und eine nordatlantisch, technokratisch und antikommunistisch geeichte Staatsräson währen von Steinzeit bis Steinzeit und bevorzugt ohne Demokraten. Das mag man an den Namen und dem nachhaltigen Wirken etwa von Truman Smith, Ernst Franz Sedgwick Hanfstaengl, Charles Lindbergh, Henry Ford, Joseph Kennedy, Wernher von Braun und Reinhard Gehlen nachvollziehen. Und auf seine Weise bestätigt selbst Wladimir Putin die realpolitisch angesagten Qualitäten.

Aber haben wir nicht genau die Republik, die wir Bürger verdienen, und müssen wir wirklich auf den nächsten Skandal warten?

 

(2015/9) 27.3.2015
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 10.4.2005
Bundeswehr-Spezialkräfte; Christoph Hickmann, „Hart an der Grenze“ (Süddeutsche Zeitung v. 24.3.2015, S. 3)

Aufständische Terroristen und Spezialkräfte bilden gemeinsam ein perpetuum mobile der auswärtigen Gewalt: Wo Kriege nicht mehr erklärt werden, wo Kriegsgründe diffuser und letztlich eigennütziger werden, wo Einsatzkräfte zunehmend ohne Parlament und Bürger auskommen, da ist die zivile Geisel oder ist der Anschlag im öffentlichen Raum das zynische, aber letztlich konsequente Mittel der Wahl. Remedur ist dann der nicht mehr konventionelle Kampfstil, den Spezialkräfte nochmals weiter entfernt von der bürgerlichen oder parlamentarischen Kontrolle gelehrt bekommen und ausüben. Die im Beitrag beschriebene Auswahl und Ausbildung, das elitenhafte Selbstverständnis und die nach außen abschottende Kameradschaft – sie unterscheiden sich von Chris Kyles biografischen Eindrücken („American Sniper“) nur graduell, aber nicht grundsätzlich.

In Grunde reden wir von „German snipers“ und genau von dem, vor dessen Giftwirkung Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ mit guten Gründen gewarnt hatte: Vertrauenswidrige Strategien wie Meucheln und Giftmischen, die dann jedem nachhaltigen Frieden entgegenstehen. Mindestens ebenso fatal ist die zersetzende Wirkung für den Rechtsstaat und die repräsentative Demokratie – wenn nämlich fundamentale Rechte ohne konkrete Eingriffsgrundlage verletzt werden und selbst die Parlamentskontrolle nicht greift. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner 2008er Entscheidung zur Beteiligung an der Luftsicherung der Türkei warnend auf mögliche „Eigengesetzlichkeiten der Bündnissolidarität“ hingewiesen und darauf, dass die Mitwirkung des Bundestages nicht „im Lichte exekutiver Gestaltungsfreiräume oder nach der Räson einer Bündnismechanik“ bestimmt werden dürfe, sondern „im Zweifel parlamentsfreundlich“, auch wegen des immanenten „politische(n) Eskalations- und Verstrickungspotenzial(s)“. In einer folgenden Anhörung des Bundestages am 25.9.2008 haben sodann alle beteiligten Experten die stark beschränkte Information über den Einsatz von Spezialkräften im Wege des eingefahrenen sogenannten Obleuteverfahrens als nicht rechtmäßig und als korrekturbedürftig eingeschätzt. Verändert hat sich danach nichts. Beim Drama am Kundus am 4.9.2009 war die Task Force 47 an der verhängnisvollen Entscheidung zur Bombardierung der Tanklaster beteiligt.

Wichtig scheint mir: Fast jeder führt hier geradezu instinktiv Geheimhaltung ins Feld – um die jeweiligen Operationen und eben auch die Beteiligten selbst zu schützen. Aber Geheimhaltung isoliert die Menschen in Spezialkräften auch vor genau dem Schutz, den ihnen das „Parlament des Heeres“ schuldet, und fördert gerade jenen einigelnden Komment und ein verqueres Verständnis von Professionalität und Leistungsbeweis. Transparenz wäre jedenfalls in der Rückschau gefahrlos möglich und ein demokratischer Mehrwert. Um nochmals Kants „Ewigen Frieden“ zu zitieren: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publicität verträgt, sind unrecht."

Quellen:

Die Kant-Zitate stammen aus "Zum Ewigen Frieden" (2. Auflage 1796), 6. Präliminarartikel (Reclam-Ausgabe S. 7f) und Anhang II. (Reclam S. 50), siehe ansonsten http://philosophiebuch.de/ewfried.htm

Bundesverfassungsgericht v. 7.5.2008, Az. 2 BvE 1/03 (Beteiligung an der vorsorglichen Luftüberwachung der Türkei gegen mögliche Angriffe aus dem Irak): http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2008/05/es20080507_2bve000103.html

Oben zitierte Anhörung des Bundestages am 25.9.2008 u.a. zur parlamentarischen Kontrolle von Spezialkräften:
http://www.vo2s.de/mi_pbg-anh.htm (Dokumentation incl. Protokoll); http://www.vo2s.de/mi_pbg2008_drs_16-G-27_voss.pdf (Gutachten des Verfassers dieses Leserbriefs)

Das Obleute-Verfahren findet sich kurz beschrieben in dieser Antwort der Bundesregierung 14.11.2014 auf eine parlamentarische Anfrage (S.54):
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/032/1803215.pdf

 

(2015/8) 19.3.2015
Süddeutsche Zeitung
Aufstockung der MifrFi; Nico Frieds Bericht und Kommentar „Acht Milliarden für die Bundeswehr“ und „Hart im Nehmen“ (Süddeutsche Zeitung v. 18.3.2015, S. 1 u. 4)

Da zeigt sich der Charme der Exekutive: Seit 1990 erleben wir nun den mindestens vierten Umbau der Bundeswehr, wie immer: extrem aufwändig. Aber das Regelhafte und prinzipiell Legislative – nämlich das Aufgabenspektrum der Bundeswehr, ihre definierte Rolle und die Abwägung zu den durch ihren Einsatz bedrohten Rechten – das bleibt ungesagt, konsequent auch jede Ableitung aus den bisherigen Einsatz-Erfolgen oder Fehlschlägen. Wie jedes Mal wird die staunende Öffentlichkeit auch 2016 wieder ein Weißbuch empfangen, das zwar tapfer auf die neuen und zahllosen Herausforderungen der Zukunft weist, das aber die nähere Vergangenheit und unsere lessons learnt – etwa aus ISAF – pfleglichst im Dunkel lässt.

Deutschland habe doch einen so schicken Parlamentsvorbehalt, mag sich mancher beruhigen, und das sei schließlich mehr als in vielen anderen demokratischen Staaten wie USA oder Großbritannien. Nur: Bisher blieb rein gar nichts vorbehalten, die 140 Einsatz-Anträge des Kabinetts hat das Parlament erwartungsgemäß zu 100% indossiert. Bei Licht besehen, ist der Parlamentsvorbehalt ein lebensgefährlicher Taschenspielertrick: Beliebige Interessen, und seien es auch rein ökonomische, können ad hoc und fern dem in einem Rechtsstaat sonst zentralen Gesetzesvorbehalt selbst das Lebensrecht aufwiegen, und das ist das Höchstrecht, das alle anderen Grundrechte erst ermöglicht. Bevor wir noch mehr in gewachsene Verantwortung, sprich: in letale auswärtige Gewalt investieren, sollten wir reden.

Quelle zur Zahl der konstitutiven Parlamentsbeschlüsse (derzeit 140)
http://www.vo2s.de/mi_missionen.xls

 

(2015/7) 17.3.2015
DER SPIEGEL
Extremisten in der Bundeswehr; „Schutz vor Salafisten“ (SPIEGEL 12/2015 v. 16.3.2015, S. 17)

Dienste sind immer smart und fix – aber das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr war noch etwas schneller. Es hatte im SOWI-Arbeitspapier Nr. 77 aus dem März 1993 davor gewarnt: Die erweiterten Aufgaben und Handlungsformen der Bundeswehr verändern das Spektrum der Bewerber signifikant. Bereits damalige Daten verwiesen „auf die Gefahr, dass die Bundeswehr zunehmend für junge Männer attraktiv ist, die den demokratischen Werten kaum oder gar nicht verbunden sind“ bzw. „dass rechtsorientierte Modernitätsverlierer (selbst) unter den Wehrpflichtigen deutlich überrepräsentiert sein werden“.

Was Wunder: Aufgaben ziehen diejenigen magnetisch an, die sie bewältigen wollen. Unter den Tausenden deutschen Soldaten mit Einsatz-Erfahrung schlummern nicht nur traumatisierte Zeitbomben, sondern auch solche, die es von Anfang an als elektrisierend erlebt haben - wie ein Chris Kyle. Lange bevor man erschaudernd über ISIS oder IS grübelte. Made by Germany.

Quelle:
SOWI-ArbeitspapierNr. 77  v. Heinz-Ulrich Kohr „Rechts zur Bundeswehr, links zum Zivildienst? Orientierungsmuster von Heranwachsenden in den alten und neuen Bundesländern Ende 1992“, März 1993; Zitate oben siehe unter 6.2 und 7.4 (S. 24) = http://www.mgfa.de/html/einsatzunterstuetzung/downloads/ap077.pdf?PHPSESSID=931748af0e86616800373655acaf2902
siehe auch Zusammenfassung der Studie unter https://dokumente.unibw.de/pub/bscw.cgi/d4059006/07-buzi.pdf, nämliche Zitate dort S. 15

 

(2015/6) 28.2.2015
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 11.3.2015
Demografie / Islam; Jasper von Altenbockum „Die große Reparatur“ u. Rainer Herrmann „Islam in unserer Mitte“ (F.A.Z. v. 26.2.2015, S. 1)

Einwanderung bedeutet Anpassungsschmerzen und nachhaltigen Reparaturbetrieb, soweit einverstanden, und sie kann höchstens ein Beitrag sein, wenn wir die bröckelnde Alterspyramide sanieren wollen; auch da bin ich noch dabei.

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf würde ich dagegen nicht als bloßen Wahn von der Agenda kicken. Denn da gibt es, sicher unter hier und jetzt ordnungspolitisch eher als frivol geltenden Bedingungen, doch erstaunliche Beispiele. Mecklenburg-Vorpommern gilt heute zu Recht als Landstrich, wo sich demografiepolitisch Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Nur war das nicht immer so. Kurz vor der Wiedervereinigung wies die Region ein Altersprofil auf, nach dem sich heute alle Demographen die Finger lecken würden. Klar, mit den signifikanten Einschnürungen zweier Großkriege, aber ansonsten tatsächlich weitgehend vital und pyramidal. Unter den Werkzeugen: das „Abkindern“ von Baudarlehen, die bevorzugte Wohnungsversorgung für junge Familien und eine praktikable ausbildungs- oder arbeitsplatznahe Kinderbetreuung. Alles zusammen machte mehr aus als disjunkte Vereinbarkeit, eher schon breites Vereinbaren, typischerweise auch früh in der Qualifikationsphase. Wie gesagt, ordnungspolitisch hier und da anzüglich, aber keineswegs undenkbar und vielleicht noch erhaltenswerter als selbst das Ampelmännchen.

Zum zweiten: Das Reproduktivverhalten ist Moden, Krisen und Reizen zugänglich – siehe eben Mecklenburg-Vorpommern, wo sich Anno 1989ff die Jungens erst einmal an den schnell gekauften GTI’s und an den alten Alleenbäumen abarbeiteten und wo die Mädchen sorgenvoll in die Zukunft und auch schon nach Westen blickten. Das führt uns zu einem Mechanismus, der m.E. viel mächtiger und nachhaltiger wirkt als etwaige kritische Doppelrollen, zumal er noch tiefer in unserem Wirtschaftsmodell verankert ist: Krisen kosten Fertilität, aber fesselnde Ablenkung noch mehr. Kinderwunsch und Konsumwünsche konkurrieren, sind im Grunde Fressfeinde: „Denn sooo muss Technik, mein Geiz ist geil, ich bin doch nicht blöd und gönn’ mir ja sonst nichts – schon gar keine unproduktiven Läuse im Pelz, keine Nachkommen – zumal deren Zukunft ja eh’ lausig wäre!“ Diese Weltsicht ist über jahrzehntelange Beschallung gesellschaftlich tief eingesenkt – und auch das sollten wir aufarbeiten, gegen naturgemäß absehbare Widerstände.

Drittens, und nun komme ich auf Einwanderung zurück: In der Heimat der meisten Zuwanderer scheint unsere Sonne länger und intensiver. Vielleicht kann Input ex oriente dann die Durchschnittstemperatur unserer Rituale ein wenig anheben, damit auch den reproduktiven oder demografischen Wirkungsgrad nördlich des Alpenhauptkammes. Ich merke noch an: Den Islam in unserer Mitte mit exekutiver Perfektion zu zentralisieren, das scheint mir falsch. Die Elektrotechnik hielt für solche Strategien einen Fachbegriff bereit, der seit 1945 zum Glück politisch verpönt ist. Ich wünsche mir einen Euro-Islam so wenig wie einen Euro-Protestantismus oder gar ein Euro-Christentum oder einen Euro-Gottglauben. Hierarchisierung passt zum Islam am allerwenigsten, wäre dann vorhersehbar auch uneinlösbar. Ich halte sehr viel von fruchtbarer Konkurrenz und Kohabitation von Spiritualität und glaube, eine nicht primär materialistisch orientierte Sinngebung kann einen liebevolleren, sinnlicheren und belastbareren Umgang der Menschen untereinander fördern. Die Folgen könnten uns dann auch demografisch nutzen. Zur Bekräftigung füge ich aus der Familienanamnese hinzu: Meine Frau habe ich anlässlich einer Kirchenfreizeit kennen gelernt; wir erfreuen uns heute dreier Kinder und bereits dreier Enkel.

 

(2015/5) 27.2.2015
Kölner Stadt-Anzeiger
„American Sniper“ von Chris Kyle; Sebastian Moll „Clint Eastwoods Film spaltet die USA“ (Kölner Stadtanzeiger v. 21./22.2.2015, S. 2) u. Anke Westphal „Ein Patriot“ (KStA-Magazin v. 26.2.2015, S. 2f)

Ich rate zu folgendem Vorgehen: Erstens den „American Sniper“ lesen, am besten mit dem sehr stimmigen rauen Buchschnitt („rough cut“) der amerikanischen Ausgabe. Oder aber den Film erleben. Zweitens im Plenarprotokoll 12/151 die Schlüsseldebatte des Bundestages vom 21.4.1993 zum neuen militärischen Aufbruch nachblättern, zur patriotisch gestimmten Solidarität bei AWACS und UNOSOM II, damals schon mit allen klassischen Versatzstücken der neuen robusten Diplomatie: „Weltinnenpolitik“, „Frieden und Freiheit“, „Humanität“, „Handlungs- und Bündnisfähigkeit“, „Dankbarkeit“ im Gegensatz zu „Totalverweigerung“, „Erbärmlichkeit sogenannter Ostermarschierer“, „Brunnenbohren“ und „Krisen- und Konfliktbewältigung“.

Danach ist leicht nachzuvollziehen, was das Kernelement des Redaktionsprozesses für das gerade angekündigte Bundeswehr-Weißbuch 2016 sein muss: Eine nüchterne Bilanz der westlichen Auslandseinsätze nach 1993, und zwar einerseits zu den verkündeten Zielen und andererseits zu den realen Erfolgen, Fristen, Lasten und Schäden, bei uns und anderen.

P.S. Link zum zitierten Plenarprotokoll:
http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/12/12151.pdf
Die genannten Punkte finden sich konzentriert etwa im betont kämpferischen Redebeitrag von Wolfgang Schäuble, S. 12933 ff (in der pdf S. 13 ff)

 

(2015/4) 20.2.2015
Frankfurter Allgemeine
Weißbuch 2016; Johannes Leithäuser "Deutschland will sich strategisch neu verorten" (F.A.Z. v. 18.2.2015, S. 4)

Welches Deutschland will bzw. soll sich strategisch neu verorten, das Deutschland der Bürger? Diese stehen einem erweiterten sicherheitspolitischen Engagement wohl noch mehrheitlich kritisch gegenüber - schon ISAF war ihnen über Jahre zuviel und das Ende von ISAF haben wohl nur sehr wenige als Sieg begreifen können.

Auch wenn man das gesamte Interventionsgeschehen seit UNOSOM II Revue passieren lässt: Es fallen wenige Erfolgsgeschichten ins Auge, bis auf die Eintagsfliege LIBELLE eigentlich nichts, was in der geplanten Frist zu einem Abschluss ohne Reue geführt werden konnte. Nachteilige Nebenfolgen der Eingriffe wird man ebenso wenig ausblenden können, von Zehntausenden toten und verletzten Zivilisten über endemische Traumatisierung und Radikalisierung bis zur Konditionierung anderer wesentlicher Militärdoktrinen - etwa der chinesischen nach der Bombardierung der Belgrader Botschaft. Wo Interventionen des Westens als zivilisierendes Projekt gemeint waren, da haben sie typischerweise faulige und infektiöse Staatsreste und vagabundierende Waffenhaufen zurückgelassen - und gerade nicht Rechtsstaaten und Demokratien. Schon das Weißbuch 2006 konnte bestenfalls das westliche Europa als Hort von Frieden und Stabilität beschreiben. Heute wird die Diagnose noch kritischer ausfallen und wir müssen uns fragen: Trotz oder wegen eines seit 1990 robusteren Verständnisses von Außenpolitik? Brauchen wir mehr Desselben?

An den Anfang des neuen Weißbuch-Prozesses möchte ich daher die ganz offen debattierte Frage stellen: Was sind die "lessons learnt", nicht nur, aber auch aus ISAF, und was sind unsere verantwortungsvollen Handlungsalternativen? Gerne würde ich dazu auch die Position unseres ersten Bürgers hören, und nun über ein "Mehr" hinausgehend: Eindeutig definiert nach dem Muster des kategorischen Imperativs.

 

(2015/3) 19.2.2015
Süddeutsche Zeitung
Weißbuch 2016; Stefan Braun „Leitfaden für eine veränderte Welt“ (Süddeutsche v. 18.2.2015, S. 5)

Ein ohne Tabus geführter Diskurs über die Prioritäten und Alternativen künftiger Außen- und Sicherheitspolitik kann einer Demokratie nicht schaden. Und besser streiten wir lebhaft bereits während des Redaktionsprozesses; denn unmittelbar nach Veröffentlichung des Weißbuchs 2006 war es wegen des damals überlagernden Kabuler Schädel-Skandals schon wieder zu spät und absolut fruchtlos.

Ernst nehmen könnte ich den Prozess allerdings nur unter zwei Bedingungen: Erstens bilanziert die Bundesregierung nüchtern Ziele, Nutzen und Lasten der zwischenzeitlichen Einsatzentscheidungen, ISAF eingeschlossen. Zweitens definiert der Bundespräsident nach dem guten Vorbild des kategorischen Imperativs – und gemäß der rechtsstaatlichen Grundanforderung aus Artikel 19 Absatz 1 unseres Grundgesetzes – abschließend diejenigen Fallgruppen, bei denen er ein erweitertes militärisches Engagement mit Eingriffen in Leben, Gesundheit und Freiheit für zwingend notwendig hält. Ich bleibe vorerst gespannt auf seine präzise und nach Werten abgewogene Handlungsanleitung.

P.S. zu den zwischenzeitlichen Einsatzentscheidungen:
Seit dem 25.10.2006 = Veröffentlichungsdatum d. Weißbuchs 2006 zähle ich nach heutigem Stand 80 konstitutive Parlamentsbeschlüsse von insgesamt 138 zu bewaffneten Auslandseinsätzen - damit ein reiches Reservoir für Evaluation, siehe bei Interesse http://www.vo2s.de/mi_missionen.xls

 

(2015/2) 19.2.2015
DIE WELT, abgedruckt 20.2.2015
Weißbuch 2016; Thorsten Jungholt „Von der Leyen schreibt ein Buch ‚ohne Tabus‘ “ (DIE WELT 18.2.2015, S. 4)

So blind war das Weißbuch 2006 nun auch wieder nicht: Terrorismus, Cyberwar und Migration zählte es bereits ausdrücklich zu unseren Sicherheitsrisiken, Staatsversagen sowieso. Und die Kanzlerin hatte im Vorwort sogar eine breite gesellschaftliche Debatte angemahnt – was dann freilich durch den zeitgleich diskutierten „Kabuler Schädelskandal“ völlig verpuffte.

Das allerdings stand so nicht im Weißbuch: Dass Migration auch kausale Folge auswärtiger Gewalt sein kann, Menschenrechtsverletzungen ebenso. Wenn ich denn einen Wunsch äußern darf: Evaluation wird kein Tabu sein und das Weißbuch 2016 wird nüchtern Nutzen und Lasten des zwischenzeitlichen Einsatzgeschehens bilanzieren, z.B. anhand der sich heute aufdrängenden Frage „ISAF – was bleibt?“

Mehr deutsche Verantwortung – gut. Dann aber auch intelligentere deutsche Verantwortung durch Nachschau und Nachsorge!

 

(2015/1) 23.1.2015
Frankfurter Allgemeine
Arabischer Terrorismus; Rainer Herrmann, Arabische Abgründe (F.A.Z. 22.1.2015, S. 1)

Abgründe lauern nicht nur auf Araber. Wer ein kleines Austrittserlebnis wagen will, der erkennt eskalierende Verrohung auch bei uns, auf der staatlichen wie auf der individuellen Ebene: Die Hemmschwelle für auswärtige Gewalt ist seit UNOSOM II in den frühen Neunziger Jahren stetig gesunken, Zehntausende deutscher Soldaten hat der Krieg verwandelt und teils stark traumatisiert, gerade bei Sondereinsätzen in Grauzonen des Völkerrechts. Selbst wackere frühere Pazifisten haben längst ihren Frieden mit dem Krieg gemacht, wenn er denn grob assoziativ ihr Programm fördern könnte, etwa bei Gleichstellung der Geschlechter und sonstigen Menschenrechten.

Fehlende Selbstkritik und mangelnde Aufklärung mag man auch uns anlasten: Eine unabhängige Evaluation der bisherigen Auslandseinsätze – mancher nennt sie auch schon wieder Strafexpeditionen – sie fehlt. Es gibt keinen Lehrmeister Krieg und praktisch keine lessons learnt. Selbst wo sich die Regierung zaghaft selbst evaluiert, wie etwa beim vierten und nun letzten Afghanistan-Fortschrittsbericht, da kann das Ergebnis nur erschrecken: Just bei demjenigen Punkt, den sich der Westen gerne als Kernkompetenz und Alleinstellungsmerkmal an die Brust heften würde, zeigt sich ein massiver Fehlschlag: Afghanistan steckt am Ende des als integrativ verkauften ISAF-Einsatzes in einer gefährlichen Wirtschaftskrise; das Staatswesen würde beim Abzug westlicher Hilfe förmlich implodieren – nota bene mit Ausnahme der heute so florierenden und hoch profitablen Narkotika-Industrie. Lassen wir hier einen massiven zivilen Blutzoll in den Einsatzgebieten besser unbeachtet, er übersteigt die Opfer des Terrorismus um mehrere Größenordnungen und – ich hoffe, diese Perspektive erschreckt niemanden – wird auch nicht durch eine hoheitliche Handlungsform exemt oder ethisch hochwertig.

Im Gesamtbild unseres gewagten Austrittserlebnisses verschwimmen die Grenzen zwischen Christentum und Islam, zwischen erster und dritter Welt, zwischen Mobilität und Migration, zwischen Hochebene und Abgrund.

P.S.
4. Fortschrittsbericht Afghanistan v. 20.11.2014 siehe http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/18/032/1803270.pdf

 

 

Und ein paar Sammlerstücke aus früheren Jahren:

 

Die Mutter aller [meiner] Leserbriefe:

29.9.1992
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt 2.10.1992
Militär; Absage der "V 2 - Gedenkfeier" in Peenemünde (KStA. v. 29.9.1992)

Hätten wir am Deutschlandtag die Schöpfer der V 2 hochleben lassen, hätten wir auch die der Scud mitgefeiert. Die Scud ist wie die Mehrzahl der heute weltweit ausgerichteten Trägersysteme legitimer Nachfahre der V 2. Scud und V 2 sind brutale Massenvernichtungswaffen, die unter einem verantwortungslosen Regime bewußt zum Schaden der Zivilbevölkerung eines anderen Landes entwickelt und eingesetzt worden sind.

Demgegenüber ist der vorgebliche Kontext ziviler (!) Raumfahrtforschung, der etwa den jungen Wernher von Braun begeistert und geblendet haben mag, als Begründung eines V 2 - Festes geradezu absurd. Die Forschung hat sich gegen diese Wirtschaftsidee im doppelten Sinne auch ausdrücklich verwahrt.

Der Vorschlag war, wenn auch der count-down schweren Herzens in letzter Sekunde abgebrochen wurde, bereits eine verheerende Wunderwaffe gegen das Ansehen des neuen Deutschland im Ausland und unserer Repräsentanten im Inland.

 

 

Und der am weitesten gereiste Leserbrief:

22.08.1995
NIKKEI WEEKLY, JAPAN; abgedruckt 28.8.1995
Militärpolitik; Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki; THE NIKKEI WEEKLY of August 14, 1995

I refer to reports on WW II and especially to two letters to the editor printed in THE NIKKEI WEEKLY of August 14, 1995 (page 6). It is my impression that those two letters offer a unilateral and quite insulting interpretation of the motives behind the drop of atomic bombs onto Hiroshima and Nagasaki fifty years ago (e.g. N. Hale: "a merciful decision"). So I would like to show an alternative view:

It is certainly true, that Japanese military leaders commenced the hostilities against the USA. But the Japanese victims at Hiroshima and Nagasaki were in their vast majority civilians. And although they were victims, I am far from sure they were the real addressees of the bombs as well. There is quite a convincing hypothesis: The drop of the bombs in the first place aimed at impressing the counterparts of Truman at the Potsdam Conference of July/August 1945 - Truman, a just invested and still very uneasy-feeling American president. To add: according to now opened American files the Nagasaki bomb was also meant to test a completely redesigned ignition system.

The echoes of that demonstration of power strongly outlived that event. We hear them over and over again – from Iraq, from France, from China etc. So humanity will never forget those victims, even if some wanted to.

 

Weitere Leserbriefe aus 2014, 2013, 2012,  2011 / 2010 / 2009 / 2008 / 2007 / 2006 / 2005 / 2004 / 2003 / 2002 / 2001 / 2000 / 1999 / 1998 / 1997 / 1996 / 1995 / 1994 / 1993 / 1992
oder auch Briefe für Englisch-sprachige Medien.

Oder meine Leserbriefe, die zum Thema „out of area“ abgedruckt worden sind.

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