Karl Ulrich Voss, Burscheid: Meine Leserbriefe im Jahr 2021

Stand: Oktober 2021

 

(2021/35) 20.10.2021
Kölner Stadt-Anzeiger
Rubrik „Pro & Contra“ zu jungen Parlamentariern von Maximilian Arnhold und Markus Decker u. Beitrag „
Isch over" zu Wolfgang Schäuble von Eva Quadbeck (Kölner Stadt-Anzeiger v. 19.10.2021, S. 2 u. 4)

Mehr als das Eintrittsalter von Parlamentariern würde mich die Restlaufzeit interessieren. Sollten nicht grundsätzlich zwei Perioden genug sein – und könnte damit nicht eine viel breitere demokratische Durchmischung und Befähigung gelingen? Nicht nur im Parlament, sondern auch in Parteiämtern?

Ein langes Verharren in politischen Blasen mag die Wahl von neuen Wegen immer weiter verengen, es mag Funktionäre in der Lobby berechenbarer und ansprechbarer machen und Haltungen wie die eines Hagen von Tronje belohnen. Der hoch begabte Wolfgang Schäuble ist auch dafür kein schlechtes Beispiel. Vielleicht könnten Parteien sogar noch einen kleinen Schritt weiter gehen – und auch einmal parteilose Bewerber unterstützen; denn die zur gesellschaftlichen Gestaltung nützliche Kompetenz ist vermutlich kein Patent der Parteien, schon rein statistisch nicht.

 

(2021/34) 16.10.2021
Frankfurter Allgemeine
Großer Zapfenstreich / Bundeswehr nach Afghanistan; Kommentar von Berthold Kohler „Was wir den Soldaten schulden“ (Frankfurter Allgemeine v. 14.10.2021, S. 1)

Der größere Teil der Menschheit wird Verständnis dafür aufbringen, wenn wir unseren Soldaten und ihren Verwandten danken, auch und gerade nach einer verlorenen und umso schlechter zu begründenden Anstrengung. Weniger Verständnis mag es dafür geben, dass wir erst mit noch wesentlich größerer Verzögerung, vermutlich erst nach dem Abtritt der verantwortlichen Politiker-Generation, der noch zahlreicheren Opfer vor Ort gedenken werden, dieser mehreren zehntausend Zivilisten oder Kombattanten in Afghanistan. Wobei wir die gegnerischen Kombattanten dann wohl nicht mehr „Aufständische“ nennen werden, sondern „Widerständler“.

Es wäre sehr zu begrüßen: Wenn sich ein sich neu konstituierender Bundestag nachvollziehbar und insgesamt als Parlament der Armee verstehen wollte – wenn er in einer offenen Evaluation der Einsätze seit Beginn der Neunziger Jahre eine neue Basis für ein besser informiertes Vertrauensverhältnis zwischen Soldaten, Bürgern und Abgeordneten legen wollte. Das ist eindeutig eine große Herausforderung, auch an das Selbstverständnis aller Beteiligten; aber ebenso unzweideutig ist diese Anstrengung geschuldet.

 

(2021/33) 16.10.2021
Süddeutsche Zeitung
Großer Zapfenstreich / Bundeswehr nach Afghanistan; „Alles umsonst?“ von Mike Szymanski (Süddeutsche v. 14.10.2021, S. 6)

Alles umsonst? Schwer zu sagen – es gab ja drei regierungsintern verfasste sogenannte Fortschrittsberichte zu Afghanistan und der dritte und letzte vom Januar 2014 ließ bereits fast ungeschminkt erkennen, dass insbesondere eine politische Stabilisierung des Landes nicht geglückt war. Danach wurde wohl nur mehr ein das Ansehen wahrender Ausstieg gesucht.

Wenn wir heute Licht ins Dunkel bringen wollen, wenn wir sowohl die Wünsche des amtierenden Bundespräsidenten in seiner teils sehr deprimierten Ansprache vom 13.10.2021 beantworten wollen als auch die vielen wohlgesetzten Fragen des damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler auf der Kommandeurtagung vom 10.10.2005, dann hilft jetzt offenbar nur eine offene Evaluierung des gesamten Einsatzgeschehens seit 1992 – nach Zielen, nach Folgen und Nebenfolgen, nach Opfern, Kosten und Dauer.

Richtig: Die Welt sollte uns Deutschen nicht gleichgültig sein. Aber neue Herausforderungen können wir erst dann verantwortungsvoll annehmen, wenn wir wissen: Wo haben wir der Welt genutzt? Wo hingegen haben unser Einsatz und unsere Opfer unter dem Strich zu Schaden gereicht? Und die in den bisherigen 224 parlamentarischen Einsatzverfahren so prominent genutzte Vokabel „Bündnisfähigkeit“ muss danach – bei allem natürlichen Pragmatismus – nicht unsere oberste Tugend bleiben.

Quellen:

Dritter Fortschrittsbericht zu Afghanistan
https://www.auswaertiges-amt.de/blob/250824/61c83d2b93f9b60d0deb2563421510e9/fortschrittsbericht-januar-2014-data.pdf

Rede des früheren Bundespräsidenten Horst Köhler auf der Kommandeurtagung am 10.10.2005 https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2005/10/20051010_Rede.html

Auszug aus Köhlers Rede:

… Mich macht nachdenklich: Die Bundeswehr wird von einer Selbstverteidigungsarmee umgebaut zu - was eigentlich? einer Armee im Einsatz? einer Interventionsarmee?; der Deutsche Bundestag stimmt mehr als vierzig Mal dem Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland zu; aber die Deutschen wirken von all dem kaum berührt oder gar beeindruckt. …

Alle diese Einstellungen mögen gutartig sein; aber zeugen sie nicht auch von einem bedenklichen Mangel an Kenntnissen, an aufgeklärtem Eigeninteresse und an politischem Wirklichkeitssinn? Wenn die Deutschen so wenig vom Ernst des Lebens wissen, auf den die neue Bundeswehr eine Antwort ist, dann werden sie nur schwer einschätzen können, welchen Schutz die neue Sicherheitspolitik verspricht, welche Gefahren sie möglicherweise mit sich bringt, ob der Nutzen die Kosten wert ist und welche politischen Alternativen Deutschland und die Deutschen bei alledem eigentlich haben. Das müssen sie aber einschätzen können, damit sie die nötige demokratische Kontrolle ausüben können, damit sie innerlich gewappnet sind für die kommenden Herausforderungen und damit sie den Dienst ihrer Mitbürger in Uniform zu schätzen wissen und aus Überzeugung hinter ihnen stehen. …

Diese Debatte braucht klare Analysen, welche deutschen Interessen es zu schützen und zu fördern gilt, vor welchen Herausforderungen und Bedrohungen wir dabei stehen, auf welche Ressourcen wir zählen können, wie wir vorgehen und welche Rolle dabei die Bundeswehr übernimmt. Vor allem der Deutsche Bundestag, die Bundesregierung und die politischen Parteien sind gefordert, eine solche Gesamtschau zu entwickeln und den Bürgern vorzustellen. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe, denn wo es um die Lebensinteressen unseres Landes geht, da muss ein Konsens der Demokraten möglich sein. …

 

(2021/32) 7.10.2021
Kölner Stadt-Anzeiger / Rhein-Berg
Planungsausschuss 5.10.2021; Aussichtsplattform und Rampe an der Hauptstraßenbrücke; Hans-Günter Borowski „Plattform ohne Glaswände“ u. Notiz „Mann stirbt nach Sturz auf der Balkantrasse“ (Lokalteile Rhein-Wupper v. 7.10.2021 S. 36 und v. 28.6.2021, S. 34)

Nach der planerischen Vision soll ein Ensemble aus einem prestigeträchtigen Skywalk und einer herausfordernder Rampe unser Burscheid aus dem „städtebaulichen Einerlei herausheben“. Aber in der harten Realität erweist sich das mehr und mehr als Schildbürgerstreich: Immer teurer, erfahrungsgemäß halsbrecherisch, besonders Regress-riskant, auf 100 Jahre unkaputtbar und tatsächlich sinnfrei. Denn da wäre ja noch eine Alternative, die das alles nicht hat – die kurze und barrierefrei ausbaufähige Anbindung der mittleren Hauptstraße über die vorhandene Schnittstelle an der Montanusstraße, zwischen dem heutigen Büdchen und dem Volksbank-Areal.

Die Stadt wäre gut beraten, würde sie zur komfortablen Brückenverbreiterung die nach 2016 fallengelassene schmalere „Plattform Nord“ realisieren, gerne auch mit Glas und Licht, und würde die Stadtmitte völlig barrierefrei auf dieser Seite anbinden, dann sogar an einigen Lokalen und Geschäften entlang. Aus dieser Richtung kommt wegen des Radbusses sogar mehr Verkehr als von Opladen herauf. Nach dem tödlichen Unfall am 26. Juni auf der mit 6% Gefälle noch flacheren (!) Jahnstraßen-Rampe sollte Burscheid die hochkritische 8%-Variante schnell z.d.A. schreiben und dabei auch noch haufenweise Landes- und Stadtknete einsparen. Dies sollte auch nicht zu einer noch ungewissen Zeit später einmal geprüft werden, wie es auf Nachfrage am 5.10.2021 im Ausschuss hieß – sondern vor weiteren Horror-Unfällen.

P.S.:

Das Zitat zum "städtebaulichen Einerlei" stammt von einer Informationsveranstaltung der Stadt zur Rampe/Plattform am 13.5.2019, und zwar aus der Präsentation von Frau Gruß-Rinck / ASS-Büro. Siehe zu den Info-Veranstaltungen auch https://www.burscheid.de/bauen-wohnen/burscheid-2025-iehk/ergebnisse-buergerveranstaltungen, leider jeweils ohne jede Dokumentation von dort sehr kritischen Bürgerbeiträgen.

Die o.g. "Plattform Nord" steht im IEHK 2016 (https://www.burscheid.de/fileadmin/user_upload/redakteure/Bauen_und_Wohnen/IEHK/IEHK_2025_Konzept.pdf) bei der Kostenschätzung auf S. 202 noch mit 72 T€ zu Buche, die "Plattform Süd" a.k.a. "Skywalk" oder "Kanzel" mit 300 T€. Die Gesamtkosten sind (trotz des genannten Verzichts auf ein Element) von zunächst projektierten 534 T€ auf derzeit 818 T€ hochgeschnellt, Ende offen.

 

(2021/31) 6.10.2021
RGA / Bergischer Volksbote, abgedruckt 9.10.2021
Planungsausschuss 5.10.2021; Aussichtsplattform und Rampe an der Hauptstraßenbrücke (Ausgabe v. 6.10.2021: „Politiker wählen die schlichtere Variante“)

Am 26. Juni war ein Skateboard-Fahrer an der Rampe von der Jahnstraße herunter tödlich verunglückt. Spätestens da hätten im Stadtrat alle Alarmglocken läuten müssen: Denn die projektierte Rampe, die mit der Aussichtsplattform an der Hauptstraßen-Brücke gekrönt werden wird, soll mit 8% nochmals signifikant steiler abfallen und sie wird nicht in einer Geraden auslaufen, sondern am Fuße des Gefälles in übergeordneten Querverkehr einmünden.

Burscheid würde damit nicht nur hohe Risiken für Benutzer jeden Alters schaffen – die Stadt liefe wegen des deutlichen und bewussten Überschreitens einschlägiger Normen auch in ein kaum abzuwendenes Haftungsrisiko: Nach Nr. 3.6 der bundesweiten Empfehlungen für den Bau von Radverkehrsanlagen (ERA 2010) liegt der Grenzwert für die verbundene Nutzung durch Radfahrer und Fußgänger sicherheitshalber bei nur 3%. Und spätestens im Haftungsfall werden die ERA den hier relevanten Stand der Technik definieren.

Ein kritisches Licht wird dann auch auf einen im Ausschuss kurz behandelten Punkt fallen: Auf der Wermelskirchener Seite der Hauptstraßenbrücke steht in sogar noch geringerem Abstand von der Brücke eine in jeder Hinsicht überlegene Lösung bereit – völlig barrierefrei und zu 100% ERA-gerecht ausbaufähig. Dies ist der Weg zur Trasse zwischen dem Volksbank-Areal und dem heutigen Büdchen, der über die Montanusstraße und noch dazu an diversen Geschäften und Lokalen entlang schnell und flach zur mittleren Hauptstraße führt; dieser Weg ist sogar im Burscheider Entwicklungskonzept auf S. 150 eingezeichnet. Auf Nachfrage in der Ausschusssitzung: Diese sehr naheliegende und tatsächlich risikofreie Anbindung werde man vielleicht später einmal prüfen, keinesfalls aber jetzt. Vermisst werden dort wohl in besonderem Maße „Highlight“ und „Glamour“ oder ein prickelnder Anklang an den Altenaer Erlebnisaufzug. Man mag auch zynisch sagen: No risk, no fun!

 

(2021/30) 2.9.2021
Kölner Stadt-Anzeiger
Afghanistan; Leitartikel von Kristina Dunz „Der Schrecken bleibt noch lange“ (KStA v. 2.9.2021, S. 2)

Das viel größere Kartenhaus hinter dem Afghanistan-Einsatz ist die in den Neunzigerjahren definierte Interventionspolitik wohl selbst: robuste und prinzipiell globale Einsätze zum Werben für oder zum Verteidigen von westlichen Werten und Anschauungen. Gescheitert sind wir selten militärisch. Gescheitert sind wir eher an den politischen Kosten, insbesondere an der durch robuste Einsätze wirksam getriggerten Migration, wo zwar frühere Ordnungen entschlossen aufgebrochen werden konnten, aber eine neue Struktur auch in Jahrzehnten nicht zu stabilisieren war, trotz des Einsatzes von Billionen.

Allerdings möchte ich keinesfalls die Nato, nicht einmal die Bundeswehr bitten, gescheiterte Politik aufzuarbeiten. Zu groß ist das Risiko, dass man dabei gleich neue und langfristig noch stabilere Feindbilder und Geschäftsmodelle entwirft und etabliert, die ebenso weltumspannend angelegt sind. Tatsächlich sollte die Vergewisserung eine Kernaufgabe des Parlaments in der 20. Legislatur werden. Dabei wäre für mich die Rückbesinnung auf die Grundlage der VN, auch der OSZE sehr fruchtbar – das bewusste Aushalten der Koexistenz politischer bzw. sozialer Systeme. Wandel durch Annäherung und eine gezielte Stabilisierung sind dann auch ein erfolgversprechendes Rezept für Umgang, Arbeit und Leben mit Taliban. Wir werden so keine schnelle Bewegung hin zu einer Gleichstellung wie noch zu Zeiten sowjetischer oder westlicher Besatzung schaffen – aber bei guten Vorbildern eine tragfähige Evolution in diese Richtung.

 

(2021/29) 28.8.2021
DER SPIEGEL Nr. 35 v. 28.8.2021, abgedruckt im SPIEGEL Nr. 36 v. 4.9.2021
Afghanistan; Beitrag v. Christoph Reuter „Fluch des Triumphs“ (DER SPIEGEL Nr. 35 v. 28.8.2021, S. 72ff)

„Tarnen, Täuschen und Verpissen“ ist okay in der Grundausbildung, aber keine Option für Afghanistan. Klar: Wir könnten den Taliban nun fasziniert beim vorausgesagten Kontrollverlust zuschauen, könnten vielleicht mit klammheimlicher Freude noch nachhelfen. Aber das wäre strohdumm. Wir müssen die Region stabilisieren, müssen eine neue schwärende Terrorwunde verhindern. Die Welt ist seit 1990 kleiner geworden und die Vorwarnzeit kürzer. Gerade die Neuauflage eines Stellvertreter-Bürgerkriegs wie zwischen Gulbuddin Hekmatyār, Ahmad Schah Massoud und Abdul Raschid Dostum wäre fatal; das hat das Land nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft 1989 schon einmal pulverisiert und vergiftet. Waisenknaben sind die Taliban bestimmt nicht. Aber auch einige unserer traditionellen Freunde sind keine Klosterschülerinnen und bei uns selbst habe ich zunehmend Zweifel.

P.S.:
Im Zusammenhang mit dem Irak/Iran-Konflikt zitiert man Kissinger mit einem sehr zynischen Spruch: „
It’s a pity both sides can’t lose.“ Es wurde eine klassische self fulfilling prophecy: Am Ende haben dort tatsächlich beide Seiten verloren und wir mit ihnen. Heute sind die Risiken noch massiv gesteigert.

 

(2021/28) 26.8.2021
Kölner Stadt-Anzeiger
Afghanistan; Bericht von Matthias Koch „Retten oder zurücklassen gemäß Liste“ u. Kommentar von Tobias Peter „SPD mit neuen Machtoptionen“ (KStA v. 26.8.2021, S. 2 u. 4)

Die Linke ist außenpolitisch nicht regierungsfähig? Margot Käßmann wäre es dann auch nicht oder Harald Kujat, früherer Generalinspekteur der Bundeswehr. Auch nicht die Mehrheit der Bundesbürger in allen einschlägigen demoskopischen Umfragen der letzten 20 Jahre. Alle haben sich kritisch zum Verlauf in Afghanistan positioniert, Kujat immerhin insoweit, als der Einsatz über einen Kameradschaftsdienst hinausging.

Eines der hellsichtigsten Bücher, die ich je gelesen habe, ist die „Anleitung zum Unglücklichsein“ des österreichischen Psychologen Paul Watzlawick, dort speziell das Kapitel „Mehr desselben“. Danach verstärken wir im Angesicht des Scheiterns geradezu manisch die bereits objektiv widerlegten Handlungsmuster. Der Westen setzt sich derzeit galaktischem Gelächter aus, insbesondere in der sehr unrühmlichen Nachspielzeit des Einsatzes. Derweil ist unser Schild und Speer, die Nato, schon behände hinter die Kulissen gesprungen. Von dort wird es sicher bald tönen „Jetzt sehen wir doch ganz klar: 2% des Bruttoinlandsprodukts, das war noch viel zu bescheiden!“

P.S.:
Auf S. 2 des Berichts ist eine Prognose fettgedruckt herausgehoben: „50.000 - das war eine Zahl, die niemand hören wollte in einem Bundestagswahlkampf.“ Der dort zitierte Luftwaffenoffizier L. hatte im Mai 2021 diese Größenordnung einer Evakuierung von Hilfskräften errechnet. Nun könnte man an ein äußerst zynisches politisches Kalkül denken – Truppen abziehen und danach einfach wie gefesselt zuwarten, bis sich die Schleusen von selbst schließen, die Verantwortung dann öffentlichkeitswirksam bei Dritten suchen, insbesondere bei den Diensten, bei Verbündeten und bei den gewöhnlichen Verdächtigen, bei den Taliban. Allerdings halte ich einen solchen politisch geplanten Ablauf für sehr unwahrscheinlich. Speziell im Vorwahl-Modus war es vermutlich auf Seiten der politischen Ebene schlicht Überforderung, war es zu wenig kontinuierliche systematische Information über den langjährigen Verlauf des E insatzes und über das Stimmungsbild vor Ort, im Grunde auch: zu wenig Rückkopplung von Schmerzempfinden. Das mündete dann auf Regierungsebene in die Realitätsverweigerung der sprichwörtlichen drei Affen – dabei eben auch in das Nicht-Hören-Wollen.

Die Erklärung der Kanzlerin in der Debatte am 25.8.2021, man habe halt keine unnötige Unruhe durch vorzeitige Evakuierungen schüren wollen, klingt dagegen wie ein sehr bemühtes Herausreden. Und sie beweist m.E. eben diese stupende Realitätsferne – mit dem gleichzeitig eingestandenen Unterlassen der logistischen Vorbereitungen für den jedenfalls nüchtern einzukalkulierenden Eventualfall.

 

(2021/27) 24.8.2021
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT:
https://blog.zeit.de/leserbriefe/2021/08/27/19-august-2021-ausgabe-34/
Afghanistan; Samiha Shafy „Aus der Traum“ u. Ulrich Ladurner „Doppelfehler“ (DIE ZEIT No. 34 v. 19.8.2021, S. 1)

Nach 9/11 war es m.E. wieder mehr der Geist von Huntingtons „Clash of Civilizations“ als der von Fukuyamas „End of History“. Geschäftsmodell dieser Intervention war nicht das selbstverständliche und hier nur etwas vorweggenommene Konvergieren, sondern die bewusste Konfrontation. Und die Pose des Westens war dann auch tatsächlich eine paternalistische, nicht ein Begegnen auf Augenhöhe. Etwa: „Guck nicht so dumm, guck so wie wir!“ Wenn wir je ein repräsentatives Meinungsbild brauchten, dann haben wir – ebenso wie vordem die Russen – auf Kabul fokussiert, bestenfalls auf die Provinzhauptstädte, und auf die von uns alimentierten Eliten, nie weiter oder tiefer. Das hätte gestört.

Ein intimer Kenner des afghanischen war theater, der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat hatte es im März 2012 (sic!) äußerst nüchtern bewertet: Als kameradschaftliche Hilfe für die USA habe die Expedition funktioniert – aber eben nicht als zivilisatorisches Unterstützen der Menschen vor Ort. Ja, Kameradschaft ist wichtig. Weil man vielleicht später einmal darauf zurückkommen will. Aber es bleibt eine Sekundärtugend und eine Art Geschäft oder Selbst-Versicherung. Genauso wird es auch die Mehrheit der Afghaninnen und Afghanen am bitteren Ende eines vagen Traums gesehen haben. Dafür dann noch sterben?

 

(2021/26) 22.8.2021
DER SPIEGEL
Afghanistan; zu den Berichten über den eiligen Abzug aus Afghanistan in der Ausgabe v. 21.8.2021 (insbesondere Mathieu von Rohr „Der große Selbstbetrug“, Maik Baumgärtner et al. „Die Unbezwingbaren“, Florian Gathmann et al. „Wegducken in Berlin“)

Am Hindukusch: Gerächt, an einer Kundus-Furt mit einem monströsen Flammenwerfer das rationelle Töten von Menschenmengen gelernt und die Bilanzen der westlichen Wehrwirtschaft verteidigt. Es kommt heute nicht so überraschend, wenn die Afghaninnen und Afghanen unsere weitere Präsenz nicht mehrheitlich mit ihrem Leben decken wollen.

Und um den Kandidaten Laschet nur minimal zu ergänzen: Nicht allein die Nato hat eine epochale Schlappe zu verdauen. Aber dessen ungeachtet wird unsere Nato zwei Wochen nach der Wahl wieder wie Zieten aus dem Busch springen und versuchen, ihre mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts einzutreiben – für mehr desselben. Business as usual.

Quellen
„Die Deutschen müssen das Töten lernen“, Titelbild SPIEGEL Nr. 47/2006 v. 19.11.2006:
https://www.spiegel.de/spiegel/print/index-2006-47.html
Tanklaster im Kundus am 4.9.2009:
https://de.wikipedia.org/wiki/Luftangriff_bei_Kundus

 

(2021/25) 17.8.2021
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 24.8.2021
Afghanistan; Berichten u. Kommentaren anlässlich des rapiden Rückzugs aus Afghanistan: Tomas Avenarius u. Tobias Matern „Kapitulation vor den Taliban“; Björn Finke „Hilflos in Brüssel“, Nicolas Richter „Unwürdiges Ende“ (Ausgabe v. 16.8.2021, S. 2 u. 4)

Die Perspektiven für Afghanistan könnten die besten seit vielen Generationen sein: In einer sich dynamisch entwickelnden Region hat dieses Land heute eine multiple Drehscheiben-Funktion und kann um das Beste aus mehreren Welten pokern, besser jedenfalls als derzeit die meisten afrikanischen Staaten.

Wenn die Afghanen nun die richtigen Karten spielen, sie könnten sich doch noch auf die versprochene Schweiz am Hindukusch zu entwickeln. Könnten steinreich werden wie die Saudis – die die Taliban ohnehin schon länger als Bollwerk gegen die verhassten Schiiten anleiten, alimentieren und armieren – und wie bei den Golfstaaten würden wir dann nur zu gerne über Defizite bei der Stellung der Frau, beim Achten von Menschenrechten und rechtsstaatlichen Garantien hinwegsehen. So kann es laufen; die ersten Aktien werden sicher schon gedruckt.

Das Leid aber werden Ortskräfte und Sympathisanten tragen, die mutterseelenallein vor Ort bleiben. Unser Herr Laschet in spe warnt ja schon mit feinem Gespür vor neuen Flüchtlingswellen und in ganz ähnliche Richtung zielte bereits das Gleichnis aus altem afghanischem Erzählgut, das unser früherer Verteidigungsminister de Maizière beim feierlichen Schließen des Stützpunktes Kundus am 6.10.2013 zum Besten gegeben hatte, kurz gefasst: Bleibet im Lande und nähret euch redlich! Vielleicht macht sich jemand mit Regierungsverantwortungs-Potenzial endlich klar, dass erfahrungsgemäß dies der nachhaltigste collateral damage moderner Straf-Expeditionen ist: Völkerwanderungen jeden Maßstabs.

P.S. Links zum letzten Absatz:
http://uliswahlblog.blogspot.com/2013/10/papa-thomas-und-seine-marchenstunde-am.html
https://www.sueddeutsche.de/politik/abzug-aus-afghanistan-bundeswehr-uebergibt-camp-kundus-an-afghanen-1.1787722

 

(2021/24) 17.8.2021
Frankfurter Allgemeine
Afghanistan; Doppel-Kommentar v. Andreas Ross „Flucht aus der Verantwortung“ und Christian Meier „Afghanisches Kartenhaus“ (F.A.Z. v. 16.8.2021, S. 1)

Das ist aus meiner Sicht eine fromme Selbsttäuschung: Das Projekt „Aufbau Afghanistan“ sei noch nicht lebensfähig gewesen. Ein intimer Kenner der Lage vor Ort wie Harald Kujat hatte bereits vor zehn Jahren nüchtern konstatiert, alle zivilen Facetten des Einsatzes seien gescheitert.

Es hat viel Ironie, es ist sogar ein klassischer Treppenwitz der Weltgeschichte: Zbigniew Brzezinski, früherer Sicherheitsberater von Jimmy Carter, hatte sich noch in einem Interview mit dem Pariser Le Nouvel Observateur im Januar 1998 gebrüstet – wohlgemerkt vor nine-eleven, aber bereits deutlich nach dem ersten Sprengstoff-Anschlag auf das World Trade Center am 26.2.1993: Der CIA habe schon vor dem russischen Einmarsch strategisch mit den afghanischen Mujaheddin kooperiert. Am Tage des Einmarsches habe er dann triumphierend an Carter gekabelt: Endlich könne man den Russen ihr eigenes Vietnam bereiten; die sogenannte „Bear Trap“ sei ausgelegt und gespannt.

Nun: Aus heutiger Sicht haben sich unsere Partner dann zu freudetrunken auf die Schenkel geklopft, haben aus dem tiefen Fall der Russen deutlich zu wenig gelernt. Sie sind nun in ihre eigene Falle getappt und die Deutschen – zu Zeiten des Vietnam-Debakels noch durch die deutsch-deutsche Teilung geschützt – haben sich beim "Great Game" gleich mit verzockt. Ein heute wieder sehr lehrreiches Buch: Karl Otto Hondrichs „Lehrmeister Krieg“. Und nicht zu Unrecht kommen einem auch die Dominosteine wieder in den Sinn.

Quellen
Kujat-Interview: Mitteldeutsche Zeitung v. 17.3.2012 "Nicht länger als gewünscht", siehe z.B.
hier
Brzezinski-Interview im Le Nouvel Observateur mit beigefügter deutscher Übersetzung siehe etwa
http://uliswahlblog.blogspot.com/2013/08/isaf-und-der-3-juli-1979.html

 

(2021/23) 17.8.2021
DIE WELT
Afghanistan; Klaus Geiger „Der Preis der Freiheit“  (DIE WELT v. 16.8.2021, S. 1)

Welche und wessen Freiheit? Das ist das rhetorische Grundproblem, wenn die hearts & minds anderer Staaten zu gewinnen sind, und es wächst mit dem Quadrat des kulturellen und ökonomischen Abstands und prinzipiell auch mit der Aufenthaltszeit: Fremde Truppen im Land können sich nur schwer lange als Befreier darstellen, unabhängig davon, was sie an zivilisatorischem Fortschritt im Gepäck haben. Das war schon so bei den Franzosen im Land und bei den am Ende dadurch provozierten deutschen Freischärlern, etwa beim Lützschowschen Freikorps, von dem wir unsere Nationalfarben ableiten. Und so ist es bei den Amerikanern und den Taliban.

Wobei zur Komplexität noch beiträgt: Die Taliban werden seit Jahrzehnten von den mit Amerika befreundeten Saudis angeleitet, alimentiert und armiert – als Bollwerk gegen die auf der arabischen Halbinsel verhassten Schiiten. Was wiederum ein wenig erklärt, warum das afghanische Kartenhaus der zeitweise westlich orientierten Eliten so blitzschnell kollabierte. Wir haben wohl noch sehr viel zu lernen.

 

(2021/22) 7.8.2021
Kölner Stadt-Anzeiger
Afghanistan; Kommentar v. Matthias Koch „Ein Traum ist geplatzt“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 5.8.2021, S. 4)

Richtig, ein Traum ist geplatzt. Oder auch: Erneut hat sich eine Fata Morgana in Luft aufgelöst. Erneut, weil schon die Russen gebannt auf die Hauptstadt und auf die Provinzhauptstädte gestarrt hatten. Auf die Menschen und Eliten, die dort schon so sprachen und lebten wie sie, speziell die jungen Frauen. Der ländliche Rest, so dachten die Russen ebenso wie heute wir, der würde dem „zivilisierten“ Beispiel unwiderstehlich und zeitnah folgen. Im Grunde aber ist es dies das Weltbild des oberflächlichen, selbstverliebten und erinnerungsschwachen Zauberlehrlings.

Denn es trat ein heute gerne verdrängter Umstand hinzu – die kurzsichtige, selbstzerstörerische Konkurrenz von Industriegesellschaften. Zbigniew Brzezinski, seinerzeitiger Sicherheitsberater des Präsidenten Jimmy Carter hatte sich in einem Interview mit dem Pariser Le Nouvel Observateur noch im Januar 1998 damit gebrüstet, die Amerikaner seien doch schon vor dem russischen Einmarsch aktiv in Afghanistan gewesen, hätten im Bunde mit den dortigen Gotteskriegern erfolgreich gegen die Sowjets gestanden. Die entgeisterte Frage des Reporters, ob dies nicht zum Erstarken des Islamismus beigetragen hätte, konterte Brzezinski mit blasierter Bravour: Was bitte wären denn ein paar aufgeregte Islamisten gegen den Sturz der Sowjetunion? Der Treppenwitz der Weltgeschichte ist nur: Die Russen gelten heute schon nach kurzer Frist wieder als erstrangiger Feind – und ein zwischenzeitlich ertüchtigter, aufgebrachter und internationalisierter Islam als ein mindestens so ruchloser Gegner.

Dann bleibt noch eine Übung speziell des deutschen Zauberlehrlings in Erinnerung zu rufen, Mitte der Achtziger Jahre: Die mit Orden belohnte, aber sicherlich nicht verfassungskonforme „Operation Sommerregen“. Als nämlich deutsche und amerikanische Dienste inniglich mit den Mujahedin kooperierten, um unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe (!) aus dem russisch besetzten Afghanistan moderne russische Waffen herauszuschleusen. Besteht noch Ungewissheit, wer für den psychotischen Zustand dieser Region ganz wesentliche Mitverantwortung trägt?

Quellen:

Brzezinski-Interview 1998
Les Révélations d'un Ancien Conseilleur de Carter: ‘Oui, la CIA est Entrée en Afghanistan avant les Russes...’" Le Nouvel Observateur [Paris], Jan. 15-21, 1998, S. 76.  auf https://www.voltairenet.org/article165889.html, mit deutscher Übersetzung siehe http://uliswahlblog.blogspot.com/2013/08/isaf-und-der-3-juli-1979.html

Operation Sommerregen 1985ff
https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Sommerregen_(Bundesnachrichtendienst)

Anlage: Cartoon 2001
Siehe auch beigefügten Cartoon von Steve Breen aus der San Diego Union Tribune 2001 ("That was fast!"). Er dokumentiert plastisch das auf die Zentren fokussierende Wunschdenken des Westens nach der unerwartet schnellen militärischen Niederlage der Taliban

 

(2021/21) 3.7.2021
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT =
https://blog.zeit.de/leserbriefe/2021/07/09/1-juli-2021-ausgabe-27/ sowie abgedruckt am 15.7.2021
Abzug aus Afghanistan (Ausgabe No. 27 v. 1.7.2021, S. 2f: Peter Dausend, Lea Frehse u. Talib Sha Amiri „Der schlimmste Feind ist die Vergeblichkeit“)

Was bleibt? Diese Frage bezieht sich nun nicht nur auf RESOLUTE SUPPORT, sondern ebenso auf UNOSOM II. Beide Missionen bilden eine verblüffende Parabel, die mehr als 25 Einsatzjahre überspannt und verklammert: Auch UNOSOM II musste hastig abgebrochen werden, weil ein weiterer Aufenthalt brandgefährlich geworden wäre. Was nebenbei zeigt: Wenn Deutschland sich seitdem im Kampf bewährt hat, wenn es, wie es einmal hieß „das Töten gelernt“ hat, dann in einer Trittbrettfahrer-Position.

Schon bei UNOSOM II gab es auch den ersten für uns bekannten collateral damage, jenen jungen Somali Abdullahi Farah Mohamed, den Wachen des Feldlagers in Belet Uen vor Tagesanbruch des 21.1.1994 erschossen hatten. Und wie etwa im Falle der jungen afghanischen Mutter Bibi Khanum, die am 28.8.2008 versehentlich mit zweien ihrer Kinder an einem Streckenposten bei Kundus getötet worden war, hatte die Bundeswehr für den menschlichen Verlust das traditionelle „Blutgeld“ verhandelt und gezahlt – und musste dies im weiteren Einsatz noch vielfach wiederholen, mit einer sehr speziellen, kaum altruistisch oder empathisch zu nennenden Professionalisierung in Ethnologie.

Ja, wenn man sich anstrengt, dann wird man auch positive Einzelfolgen der Einsätze finden können. Viele aber davon verblassen extrem schnell oder sind lange verblichen. Eigentlich erinnern die Missionen in der Rückschau erschreckend an die selbstgerechten militärischen Strafexpeditionen des Neunzehnten und des beginnenden Zwanzigsten Jahrhunderts, konkret auch an die Rede des letzten deutschen Kaisers am 27.7.1900, als er in Bremerhaven das deutsche Einsatzkorps zum Niederschlagen des Boxeraufstands nach China verabschiedete. An diese Rede, die uns Deutschen den nicht mehr weg zu waschenden nom de guerre „die Hunnen“ eingetragen hat - aufgefrischt am 4.9.2009 an einer Kundus-Furt.

Als Lektion zumindest der letzten 25 Jahre sollten wir das Grundgesetz wieder beim Wort nehmen und uns – und unsere NATO-Beihilfe – auf Verteidigung gegen gegenwärtige militärische Angriffe beschränken. Und sollte diese Verteidigung 2% des Bruttoinlandsprodukts kosten, dann sollten wir das beisteuern. Aber eben nur mit diesem Nachweis.

P.S.
Hunnenrede am 27.7.1900:
https://de.wikipedia.org/wiki/Hunnenrede
UNOSOM II; erster dokumentierter ziviler Personenschaden: siehe Bundestags-Drs. 12/6989
https://dserver.bundestag.de/btd/12/069/1206989.pdf

 

(2021/20) 3.7.2021
DAS PARLAMENT, abgedruckt 12.7.2021
Ende des Afghanistan-Einsatzes (DAS PARLAMENT,
Ausgabe Nr. 26/27 v. 28.6.2021, insbesondere: „Lehren aus Afghanistan“, „Harte Lektionen“, und „Düstere Aussichten“)

Was sind die Lehren, mit einer Einsatzerfahrung von heute mehr als 25 Jahren? Meine Bilanz ist recht ernüchternd: Seit UNOSOM II konnten die Streitkräfte die in sie gesetzten Erwartungen in unterschiedlichen Allianzen nicht erfüllen – nicht erfüllen, was zentrale Missionsziele anbetrifft, nicht, was die jeweilige Dauer anbetrifft und insbesondere auch nicht, was die Präzision und das Verhüten humaner Schäden anbetrifft. Bringt man es auf den Punkt, so verlief nur eine einzige Operation wirklich überzeugend, blieb auch ohne bekannte „collateral damages“. Dies war der ultrakurze deutsche Evakuierungseinsatz LIBELLE am 14. März 1997. Aber selbst dieser Eingriff wäre durch frühzeitige Reaktion der diplomatischen Vertretung wohl zu vermeiden gewesen.

Die harten Lektionen aus dem Gebrauch auswärtiger Gewalt müssen wir am Ende auch im Hauptbuch der Nation, in unserem Grundgesetz wiederfinden – spätestens als ein Arbeitsergebnis der 20. Legislatur. Denn auch die Grundannahmen des Streitkräfteurteils a.d.J. 1994 mit seinem pragmatischen Dispens von der Anwendung des Art. 19 GG sind heute sehr in Frage gestellt.

P.S.
Zur Operation LIBELLE siehe etwa
https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Libelle

 

(2021/19) 2.7.2021
Kölner Stadt-Anzeiger
Afghanistan; Kommentar und Bericht von Markus Decker in der Ausgabe v. 1.7.2021 („Ein historischer Einsatz endet“ u. „Bundeswehr beendet nach 20 Jahren Afghanistan-Einsatz“, S. 4 u. 6)

Richtig, ohne die USA hätte die Bundeswehr keinen Tag länger in Afghanistan bleiben können. Hier spiegelt sich das hastige Abrücken aus Somalia zum 23. März 1994; der damals nur einjährigem Einsatz am Horn von Afrika hatte gleichwohl auch schon erste „Kollateralschäden“ gezeitigt. Richtig auch: Ein objektivierbares Ergebnis bewaffneter Interventionen ist gesteigerter Migrationsdruck; er kann von gescheiterten Staaten ausgehen, aber eben sehr intensiv von gescheiterten militärischen Interventionen, von einem failing state building und von dauerhaft destabilisierten Regionen.

Und insbesondere richtig ist die Mahnung des Bundes Deutscher Einsatzveteranen: Die vielen Soldaten, die nach den Worten der Verteidigungsministerin „an Leib und Seele verwundet“ zurückgekehrt sind, sie tragen ein hohes Risiko, aus dem Blickfeld der hohen Politik verdrängt zu werden – als ein toxisches Überbleibsel eines gescheiterten Projekts. Dass sich kein Spitzenpolitiker fand, um die letzten heimkehrenden Soldaten zumindest symbolisch aufzunehmen, spricht genau schon diese Sprache. Für eine solche menschliche und demokratische Geste hätte sich auch ein Pandemie-sicheres Konzept finden lassen, hätte man das gewollt. Für mich klingt's wie der allfällig-drastische Spruch aus der Grundausbildung: "Tarnen, täuschen und verpissen!"

P.S. zu Abs. 1 / Kollateralschäden in Somalia
Siehe
Bundestags-Drs. 12/6989 v. 8.3.1994 zum Tod des jungen Somali, den Wachsoldaten in der Nacht vom 20. auf den  21.1.1994 am Feldlager in Belet Uen erschossen hatten. Weitere Entsprechung: Auch hier hatte die Bundeswehr in der Folge ein traditionelles "Blutgeld" entrichtet – wie später dann wiederholt in Afghanistan.

 

(2021/18) 1.7.2021
Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Afghanistan; Berichte und Kommentar in der Ausgabe v. 1.7.2021 („Kramp-Karrenbauer verspricht ungeschönte Afghanistan-Bilanz“, „Bittere Lehren aus Afghanistan“ und „Nur noch ein Bürgermeister?“ von Christian Meier und Nikolas Busse, F.A.Z. S. 1 u. 8)

Bittere Lehren aus Afghanistan, die gibt es länger, als uns lieb sein kann. So falsch lag etwa der frühere Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat nicht, als er im März 2012 analysierte: Als ein altruistischer, als ein zivilisatorischer oder humanitärer Einsatz sei die Afghanistan-Mission bereits gescheitert. Gelten lassen wollte er sie schon vor 10 Jahren nur mehr als das Stärken eines geschätzten Bundesgenossen, als den eher eigennützigen Beweis von Team- und Bündnisfähigkeit, als eine Integrationsübung. Wir sollten daher nicht in erster Linie von einem gescheiterten Staat sprechen, sondern von einer gescheiterten Projektion und Intervention. Manches Problem ist heute verschärft und ohne Weiteres kann dies auch zum Simile eines abrupten Endes der strukturell ähnlichen Einsätze in Mali geraten.

Nicht zu vergessen: Jetzt beginnt die Uhr zu ticken mit jener etwa hundertjährigen Frist, nach deren Ablauf wir uns bei einer Zivilbevölkerung für nicht erklärliche Entfaltung auswärtiger Gewalt entschuldigen werden, unter anderem wegen des Desasters in der Kundus-Furt.

 

(2021/17) 1.7.2021
Süddeutsche Zeitung
Afghanistan; Berichten und Kommentar zum Abschluss des Afghanistan-Einsatzes (Ausgabe v. 1.7., S. 1,2 u. 4: „Der Westen geht, der Krieg bleibt“, „Die Generation Einsatz geht“, „Zurück auf Null“ von Tobias Matern, Mike Szymanski und Joachim Käppner)

Ist es nicht Feigheit vor dem Freund, wenn die erste politische Garde bei Heimkehr der letzten Afghanistan-Soldaten kneift? In jedem Fall wirkt es wie Schule schwänzen beim Lehrmeister Krieg, wenn man im Bundestag mit einigem Pathos die größtmögliche Geschlossenheit für einen Einsatz einfordert, aber den Rückkehrenden nicht nach Kräften den Rücken stärkt. Wenn es nicht mehr um die Kampfmoral und Kampfkraft geht, sondern um die Sinnsuche und die bisweilen schwere Rückverwandlung zum zivilen Mitbürger.

Wir stünden heute anders da, hätten wir bereits nach dem ersten dokumentierten zivilen Opfer eines Auslandseinsatzes versucht, Nutzen und Lasten der erweiterten Außen- und Sicherheitspolitik offen zu objektivieren und unsere realistisch erreichbaren Ziele zu schärfen. Das erste Kriegsopfer der Nachkriegszeit war der in der Drucksache 12/6989 v. 8. März 1994 beschriebene Tod des jungen Somali Abdullahi Farah Mohamed am 21.1.1994 am Feldlager von Belet Uen. Der damals bald folgende überstürzte Abmarsch der Truppe ähnelte in vielen Details dem aktuellen Rückzug aus Afghanistan und könnte, wenn wir nichts wirklich lernen wollen, das Simile für ein abruptes Ende in Mali werden.

P.S.
„Lehrmeister Krieg“:  siehe Karl Otto Hondrichs gleichnamigen Essay-Band, heute leider nur noch gebraucht zu erhalten

 

(2021/16) 1.7.2021
DIE WELT
Afghanistan; Beitrag von Thorsten Jungholt „Planlos in Mali“ (DIE WELT v. 1.7.2021, S. 5)

Wenn „Wagenburg“ die typische taktische Variante für Missionen in instabilen Ländern wird, wenn ein Erfolgsausweis schon deshalb schwer zu führen ist, weil es bislang an klaren militärischen Zielen fehlte – dann ist die vom verteidigungspolitischen Sprecher der CDU geforderte Anpassung der Ausrüstung bestenfalls Kosmetik. Oder schlimmer: ein lebensgefährliches Spiel auf Zeit.

Wirklich bemerkenswert ist das völlige Fehlen der ersten politischen Garde bei der Heimkehr der letzten Soldaten aus Afghanistan. „Awol“ nennt man das gemeinhin, „Absent without leave“. Denn es reicht nicht, freudig Verantwortung zu übernehmen, wenn der Einsatz jung ist und hochgesteckte Pläne noch keinen Praxistest bestehen mussten. In der Demokratie sind Zeichen von Verantwortung und Rechenschaft zum Abschluss eines Projekts am wichtigsten. Gerade vor einer Wahl.

 

(2021/15) 29.6.2021.
Kölner Stadt-Anzeiger
Mali, Afghanistan; Kommentar von Markus Decker in der Ausgabe v. 28.6.2021 („Zweifelhafter Einsatz in Afghanistan“) und Bericht v. 29.6. („Kommando zurück!“)

Afghanistan und Mali weisen, wie schon Somalia, Libyen und der Irak, auf ein Paradox der erweiterten Außen- und Sicherheitspolitik seit Mitte der Neunziger Jahre hin – oder auf einen ernsten Webfehler: Gerade bei signifikanten System-Unterschieden ist die nachhaltige Gestaltungskraft auswärtiger Gewalt offenbar viel geringer als erhofft. Es mag sogar noch schlimmer stehen: Weil wir die Perspektive der mit uns vor Ort kooperierenden Eliten übernehmen – und diese unsere – könnte bereits der Eindruck militärischer Anfangserfolge eine bloße Fata Morgana sein oder jedenfalls länger als realistisch aufrecht erhalten bleiben.

Es ist tatsächlich Zeit für ein systematisches Aufarbeiten unserer diversen Auslandseinsätze, nach Lasten und Erträgen. Am ehrlichsten wäre dies noch vor der Wahl. Aber das scheint inzwischen sehr unrealistisch. Drum sollten diejenigen, die sich um Regierungsverantwortung bewerben, den Wählern die offene Evaluation zumindest für die 20. Legislatur in die Hand versprechen.

 

(2021/14) 17.6.2021.
DIE ZEIT, veröffentlicht in der online-Ausgabe der ZEIT
https://blog.zeit.de/leserbriefe/2021/06/25/17-juni-2021-ausgabe-25/
NATO-Strategie; Leitartikel „Es ist nicht nur China“ von Jörg Lau (DIE ZEIT No. 25 v. 17.6.2021)

Es ist nicht nur China – aber die Front gegen China ist brutal genug. Und sehr kontraproduktiv: Nehmen wir nur kurz an, den Westen plagten Zukunftsängste und er müsste seine Verfahren, Strukturen und Werte kritisch analysieren. In dem sonst gerne bemühten Wettbewerb würde ihm das manichäische Verteufeln eines etwaigen Opponenten aber wenig helfen; zumindest trüge das nicht weit. Es könnte ihn davon abhalten, eigene Optimierungen zu bedenken – vielleicht ein direkteres, responsiveres und für junge Menschen attraktives Demokratiemodell anstelle des über Jahrzehnte stabil durchgesinterten Systems hoher Repräsentation mit angebauter Lobby.

Es mag sich ferner lohnen, sich nur für Augenblicke in das Geschichtsbild eines ganz durchschnittlichen Festland-Chinesen zu versetzen. Diesem sind die „Ungleichen Verträge“ nach den beiden Opiumkriegen und das Hongkong-Oktroi des 19. Jahrhunderts ähnlich ins Langzeit-Gedächtnis gebrannt wie einem Deutschen die Versailler Verträge oder das militärische Besetzen des Ruhrgebiets. Das wird ihm ganz aktuell Angst machen.

Nur: Das alles muss im Kalkül der NATO, die selbst eine hochaktive Lobby ist und eine solche hat, nicht stören und nicht schaden: Sollte China auf das Gerassel mit herbeigesehnten neuen Panzerketten und Schiffsschrauben ganz menschlich reagieren, d.h. mit eigener Rüstung, dann kann man launig "nachrüsten", und zwar bei den ganz großen Gebinden, bei Schiffen, U-Booten und der Infrastruktur zur power projection. Und das mutwillige Destabilisieren ganzer Räume, ein massiver ziviler Blutzoll und im Millionenmaßstab losgetretene Migration: Hat dergleichen in den letzten 25 Jahren das blau schimmernde stählerne Ansehen gemindert? Hat sich jemand daran gemacht, das Interventionsgeschehen nach Ende der letzten (!) Blockkonfrontation systematisch nach Nutzen und Lasten zu evaluieren? Wenn die NATO je ein Stabilitätsanker war, dann ist ihre Trosse lang zersplissen und zerrissen.

P.S.: Ein zu Sorge Anlass gebendes Beispiel aus der jüngeren Vergangeheit ist das gezielte Ausgrenzen der Chinesen bei Aufbau und Nutzung der ISS. Im Grunde hat es Motivation und autonome Kompetenz Chinas nur gesteigert. Chinas neue, unabhängige Fähigkeiten mögen dann argumentativ ("warnend") für einen neuen SDI-Ansatz des Westens genutzt werden, wie er in den aktuellen NATO-Verlautbarungen auch schon anklingt und der - ob er diesmal zum Ziele führt oder nicht - die internationalen Beziehungen und das Sicherheitsgefühl von Milliarden Individuen über Jahrzehnte massiv lädieren wird.

 

(2021/13) 16.6.2021
Kölner Stadt-Anzeiger
NATO-Strategie; Leitartikel „Für eine schnellere, smartere Nato“ von Matthias Koch in der Ausgabe vom 15.6.2021, S. 4

Zumindest braucht die NATO in diesen neuen Zeiten kein Feindbild aus der Mottenkiste. Sie braucht etwas, was künstliche Intelligenz noch nicht zustande bringen wird: Eine Rückkopplung zu denen, denen sie dienen will – also eine kluge Evaluation der ersten 40 Jahre Nordatlantikpakt und der dann folgenden 30 Jahre nach Ende der Blockkonfrontation. Eine öffentliche Reflektion nach Nutzen und Lasten, und zwar für uns Bürgerinnen und Bürger, nicht für die NATO und nicht für das ewig vitale Geflecht aus Wehrtechnik, Verwaltung und Truppe.

 

(2021/12) 16.6.2021
Süddeutsche Zeitung
NATO-Strategie; Bericht von Daniel Brössler und Matthias Kolb zum NATO-Gipfel („Nato rüstet sich für Wettstreit mit China“, Süddeutsche v. 15.6.2021, S. 1) und Kommentar von Daniel Brössler („Party der Erlösten“, ebenda S. 4)

Die Wagenburg ist wieder das strategische Design der Stunde. Ringsumher hörbares Aufatmen über das wiedergeborene, erlösende, heilige Bild von Feinden und systemischen Herausforderern. Nicht mehr sozialistisch? Egal, auf jeden Fall totalitär, unmenschlich und – was Verträge angeht – doch bekanntermaßen verschlagen und unzuverlässig. Bekanntermaßen?

Ich sehe das anders. Wir steuern unbeirrt auf die nächste Blockkonfrontation zu, zum Nutzen der NATO und des schon von Eisenhower warnend beschriebenen unersättlichen Geflechts aus Verwaltung, Truppe und Rüstungswirtschaft. Koexistenz wozu? Alles in Party-Laune. Nur dass die Risiken in einer engeren und instabileren politischen und physischen Umwelt inzwischen deutlich  gewachsen sind und dass gleichzeitig der Alarm-Ruf auf diverse nur diffus zu beschreibende Beistandsfälle erweitert wird.

 

(2021/11) 15.6.2021
Frankfurter Allgemeine
NATO-Strategie; Nikolas Busses Kommentar „Die neuen Aufgaben der NATO“ (Frankfurter Allgemeine v. 15.6.2021, S. 1)

Sehr richtig: Auch die schmerzhaftesten Wahlprozesse müssen nicht viel ändern. Und mit Joseph Biden haben wir zwar einen besser gesitteten Hegemon. Aber der Anspruch auf Vorherrschaft musste der gleiche bleiben. Tatsächlich fordert Biden sogar mehr politische und wirtschaftliche Allianz dort, wo Russland oder China ihre jeweils eigene Monroe-Doktrin bzw. ihren eigenen Cordon Sanitaire geltend machen. Und ganz nebenbei lassen sich mit den nun wieder ganz neu definierten militärischen Bedarfen frische Geschäfte triggern, etwa an den Küsten des Pazifik.

Eine besonders stiefmütterlich behandelte Frage bleibt indessen: Mit welchen Fähigkeiten, Ressourcen und Einsätzen haben wir in den Jahren nach 1990 unsere Sicherheit vor gegenwärtigen Angriffen oder auch vor Terrorismus tatsächlich gesteigert? Fehlt da nicht eine uns Bürgerinnen und Bürger überzeugende Evaluation von mehr als 100 Entsende-Entscheidungen unseres hohen Hauses?

 

(2021/10) 11.6.2021
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 18.6.2021
Preise in der Gastronomie; zu den beiden Berichten von Thorsten Breitkopf betreffend den Vorstoß von Dehoga „Gastwirte sollen Preise erhöhen“ und „Dehoga: Restaurants sollen mehr Geld verlangen“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 11.6.2021, S. 1 u.9)

Da traut man doch seinen ordnungspolitischen Augen kaum: Ein Interessenverband will „seinen“ Gastwirten generell höhere Preise verordnen. Planwirtschaft? Eine Marktwirtschaft wirbt doch üblicherweise so für ihre Überlegenheit: Preise und Leistungen lassen sich am feinfühligsten vor Ort austarieren, dort, wo Angebot und Nachfrage gegeneinander verhandelt werden.

Auch die Argumentation ist mehr als grobschlächtig: Vielleicht kann man das gleiche Schnitzel nicht zweimal essen oder kann es – bei erzwungenem Verzicht – „später nicht nachessen“. Aber natürlich gibt es auch Rebound- und Erholungseffekte nach der Krise: Sei es aufgestauter Konsumbedarf, sei es nachhaltig ins Inland zurückgelenkter Tourismus. Aber in Zeiten von Null-Zinsen und entwerteter Altersvorsorge die Inflation zu befeuern – das ist schon ein starkes Stück. Was bloß ist hier das eigenen Interesse der Interessenvertretung? Oder geht es hier eher um die Fixkosten, damit um das langfristige Stabilisieren der Vermieter-Erträge?

Was in der Tat ernst ist, seit langem ernst ist, das ist die Fluktuation der Mitarbeiterschaft. Hier sollten die Verbände ihre Hausaufgaben machen, gerade was attraktive Konzepte für Ausbildung und Nachwuchs betrifft. Aber Gastwirten und Gästen Lerneinheiten in ökonomischer Rhetorik aufzuzwingen – das sollten sie doch besser stecken lassen.

P.S.
Ich war im BMBF über ca. 10 Jahre lang für das Berufsbildungsgesetz / BBiG zuständig. Dabei hat sich mir die sehr hohe Abbrecherquote speziell bei der Ausbildung zum Koch / zur Köchin tief eingeprägt, ebenso die notorischen Klagen der Auszubildenden aller Gastronomieberufe über erhebliche Mängel der Ausbildung. Man darf in sehr vielen Fällen davon ausgehen, dass Ausbildung mit ihren vergleichbar sehr geringen Lohnkosten als essenzieller Teil des jeweiligen Geschäftsmodells betrieben wird und dass den Auszubildenden selbst deutlich zu wenig Aufmerksamkeit und Qualifikation "geschenkt" wird. Wirksame Konzepte des Dehoga-Verbandes gegen diesen für die Branche dauerhaft hoch kritischen Befund sind mir dagegen nicht erinnerlich. Es ist kein wirkliches Wunder, wenn Motivation und Adhäsion dann gering ausgeprägt werden und berufliche Alternativen attraktiv werden.

 

(2021/09) 4.6.2021
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 8.6.2021
Stadtentwicklung Burscheid; Bericht von Jan Sting „Das Zentrum wird erweitert“ (Lokalausgabe Rhein-Wupper v. 29./30.5.2021, S. 44)

Die Burscheider Händler-Gemeinschaft sollte nicht lange in schönen neuen Architektur-Bildchen schwelgen. Besser, sie bemüht belastbaren ökonomischen Sachverstand und zieht sich schon mal warm an. Für ein Montanus-Center sieht selbst unser städtisches Entwicklungskonzept 2025 bekanntlich kein dauerhaft tragfähiges Geschäftsmodell. Dann wird die Hauptstraße auch nicht etwa im Windschatten einer „neuen Mitte“ vorankommen. Im Gegenteil darf sie einen krassen Unterbietungswettbewerb erwarten.

Allerdings mag es für einige Angebote eine spätere Pointe geben: Einzelgeschäfte könnten mit klugem digitalen Service am Ende sogar besser bestehen als eine weitere klobige Mall. Die würde dann der Stadt wie ein aus der Zeit gefallener Klotz am Beine hängen. Architekten brauchen sich daran nicht zu stören; sie ziehen mit ihren bunten Bildchen einfach weiter.

 

(2021/08) 20.5.2021
Kölner Stadt-Anzeiger
Eckpunkte Bundeswehr; Kommentar von Daniela Vates „Umzingelt von Gefahren“ (KStA v. 19.5.2021, S. 4)

Hast Du einen Feind, so hat der Tag Struktur. Wenn ich die Eckpunkte der Verteidigungsministerin recht verstehe, ist es jetzt nicht mehr so sehr der ferne, fremde Feind – der, den man so gerne mit Strafexpeditionen einhegen wollte. Das war ja auch nirgendwo so recht geglückt, zuletzt auch nicht in Afghanistan.

Besonders angesagt ist nun wieder der gute alte Landfeind, gegen dessen groß Macht und viel List man sich neu rüsten und entrüsten kann. Und vorbei ist's mit der zeitweise sprichwörtlichen Umzingelung durch lauter Freunde. Im Grunde dürfen wir für diese noch vor der Wahl gezogene Lehre dankbar sein – es ist ja gleichzeitig eine etwas verschämte Evaluation der letzten 20 Jahre und ihrer sehr speziellen erweiterten Außen- und Sicherheitspolitik. Eigentlich ist es eine Bankrotterklärung verbunden mit dem Angebot, schnell neue Aktien zu zeichnen.

 

(2021/07) 11.5.2021
Kölner Stadt-Anzeiger
Corona; Kommentar von Thorsten Fuchs „Freiheit in Sicht“ (Ausgabe v. 8./9.5.2021, S. 4), auch zum Interview mit Hermann-Josef Tebroke „Wir brauchen einen Neustart“ (Lokalausgabe Rhein-Wupper daselbst S. 41)

Stimmt, die Freiheit kommt in Sicht. Aber wird dann, wie an Gummifäden gezogen, alles wieder in eine vorherige Lage zurückschnellen? In Handel und Kultur, bei Kirchen, Vereinen und Politik? Das ist höchst unwahrscheinlich. Nur ein Beispiel: Wir werden einen Vorteils- und Lastenausgleich zwischen den sehr verschieden betroffenen Waren-Verteilsystemen brauchen, zwischen Internetplattformen, Großmärkten und Detailhandel, zumindest für eine mehrjährige Anpassungszeit. Wir sollten etwa auch Schule und Tourismus dauerhaft neu und krisenfest organisieren. Denn Covid 'X ist nicht nur nicht unwahrscheinlich. Im Gegenteil begünstigen wir neue Pandemien derzeit strukturell durch invasive Wirtschaftsformen.

Bei alledem wird die zweite – eigentlich erste – wesentliche Herausforderung immer mitzudenken sein: ein deutlich progressiver Klimaschutz. Und welche Phase wäre für im besten Sinne konkurrierende politische Konzepte und für die Abstimmung der Bürgerinnen und Bürger richtiger als eben der Wahlkampf einer vitalen Demokratie? Allerdings hört man hier von solchen mittelfristig angelegten Strategien noch wenig.

 

(2021/06) 25.4.2021
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 1./2.5.2021
Stadtentwicklung Burscheid; Bericht und Kommentar von Jan Sting in der Lokal-Ausgabe Rhein-Wupper v. 24./25.4.2021, S. 42 („Drogeriemarkt in der Lindenpassage“; „Die volle Dröhnung“)

Da stimme ich völlig zu: Ein Drogeriemarkt in der Lindenpassage kann für Burscheids angedachte Montanus-Magistrale bitter werden. Sogar das Integrierte Entwicklungs- und Handlungskonzept (IEHK 2025) selbst hatte zu dem neu zu errichtenden Einzelhandelszentrum schon ein ernstes Fragezeichen vermerkt: „Eine erste Wirtschaftlichkeitsbetrachtung kommt zu dem Ergebnis, dass die Entwicklung des Areals auch mit einem SB-Markt wirtschaftlich nicht auskömmlich ist“, so das IEHK 2025 ausdrücklich auf S. 158. In Angriff genommen wurde es dennoch. Die Ideen für die Montanusstraße wurden sogar Dreh- und Angelpunkt für viele andere Planungen – etwa für das Auftrennen des Busbahnhofs auf künftig verschiedene Plätze oder für die höchst irritierenden Ausführungen des Konzepts zur Auskömmlichkeit des Netto-Standorts. Nicht ganz fehl geht sicher ferner, wer auch die himmelstürmende Fahrradrampe zur Hauptstraßenbrücke und die aussichtslose Aussichtsplattform gerade im Zusammenhang mit einem „neuen Zentrum Montanusstraße“ sieht: Als eine Art Placebo für die Hauptstraßen-Ladenlokale gegen eine bald erwartete vielfältige Konkurrenz eben aus dem „neuen Zentrum“.

Gäben wir die Montanus-Visionen auf, wäre das sicher zunächst schmerzlich. Auf mittlere Sicht könnte Burscheid aber eine vielleicht sehr schwerwiegende Planungsruine vermeiden und einige Bürger/innen würden aufatmen.

P.S.:
Man kann sich einen weiteren Satz des IEHK zum geplanten Geschäftszentrum Montanusstraße auf der Zunge zergehen lassen, siehe dort S. 156 (Unterstreichung von mir):
Die Ansiedlung eines Einzelhandelsangebots in integrierter Lage in der Montanusstraße stellt einen zentralen Aspekt der Innenstadtentwicklung Burscheids dar. Der Zielvorstellung folgend, das Zentrum der Stadt zu stärken, kann die Kaufkraft in die Stadt zurückgeholt und durch die Schaffung von Konkurrenz auch gebunden werden.“
M.E. zeigt das ein naives, jedenfalls unzulässig vereinfachendes Architekten-Verständnis von Ökonomie. Bei einem insgesamt nur wenig auszuweitenden Marktvolumen wird der Ausbau auf der Angebotsseite in einem weiter anziehenden Wettbewerb im Zweifel zu Lasten der wirtschaftlich schwächeren und weniger modern aufgestellten Angebote auf der Hauptstraße gehen. Mal ganz abgesehen davon, dass das IEHK nur zwei Seiten weiter selbst die nachhaltige Wirtschaftlichkeit des neuen Geschäftszentrums in Frage stellt, siehe obiges Zitat im Leserbrief. Was dann nur durch noch aggressiveren Wettbewerb und auch nur zeitweise aufgefangen werden könnte.

 

(2021/05) 22.3.2021
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 19.3.2021
zum Beitrag von Thorsten Breitkopf „Rheinmetall setzt auf Elektro-Panzer“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 19.3.2021, S. 8)

Sind wir auf dem Weg zum Öko-Panzer, vielleicht gar zum Öko-Einsatz? Der umweltverträglichste Panzer ist der, der nie zusammengeschweißt wird. Tatsächlich blenden wir die ökologischen Langzeitwirkungen von Waffeneinsätzen zu gerne aus, speziell in den ariden und semi-ariden Regionen des Globus. Beispiel: Das Sprengen von Tanklastern in einer Kundus-Furt, einer regionalen Haupt-Wasserader, war eine erstrangige Umweltkatastrophe. Diese Szenario aus mehreren Kubikmetern an halbverbrannten Treibstoffen und Schmierstoffen, mal für ein Gedankenspiel an den Oberlauf der Weser verlegt, es hätte uns hierzulande wochenlang Schlagzeilen in 72-Punkt-Schrift beschert. Aber so?

Darum sollten wir uns Gedanken machen. Aber nicht um Öko-optimierte Panzer, die vielleicht mal eingesetzt werden können, um seltene Erden auf aller Welt zu sichern. Vielleicht mit dem Siegel direkt unter der Kanone „Wir.Dienen.Öko!

 

(2021/04) 26.2.2021
Süddeutsche Zeitung
Afghanistan; Kommentar von Daniel Brössler „Neue Kameraden“ (Süddeutsche v. 25.2.2021, S. 4)

Pragmatisch betrachtet ist es richtig: Allein herauszugehen oder gar allein dort zu bleiben, das wäre ein besonderes Risiko. So, wie im Falle der zweiten UNOSOM-Mission, als sich die Deutschen i.J. 1994 schleunigst nach den Amerikanern aus Belet Uen absetzen mussten. Wie der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière 2012 sagte: In einer militärischen Operation ist der Rückzug nun mal das Schwerste. 2012 hatte der frühere Generalinspekteur Harald Kujat die primären Ziele der Afghanistan-Mission schon offen als „gescheitert“ erklärt; allerdings hatte auch er damals das erfolgreiche Einstehen für einen Bundesgenossen hervorgehoben.

Beklemmend wirkt auf mich: Kameradschaft, egal ob neue oder alte, kann ich nicht zu den universellen Menschenrechten zählen. Aber Kameradschaft – oder in älterem Wortgebrauch das „Spießgesellentum“ oder die „Waffenbrüderschaft“ – sie hat zu allen Zeiten die fundamentalen Rechte Dritter massiv geschädigt. Allseitig anerkannte Zahlen liegen für Afghanistan zwar nicht vor, aber seröse Erhebungen gehen für die letzten 10 Jahre von jeweils einer Größenordnung von 3.000 getöteten und 6.000 verletzten Zivilpersonen aus. Auch das bedeutet eben der Beschluss der Bundesregierung: Dieser Blutzoll wird sich auf unbestimmte Zeit fortsetzen. Schon weil eine Begründung des Auswärtigen Amtes zum abermaligen Verlängerungsbeschluss wie reines Wunschdenken wirkt: Auf künftig „bessere Ausstiegsbedingungen“ zu setzen. Sind wir in einer Zeitschleife gefangen?

 

(2021/03) 26.2.2021
Frankfurter Allgemeine,
abgedruckt 4.3.2021
Afghanistan; Kommentar von Christian Meier „Ziele für Afghanistan“ und Bericht „Afghanistan-Einsatz bis 2022“ (Frankfurter Allgemeine v. 25.2.2021, S. 1 u. 5)

Das ist das nicht endende Dilemma des Afghanistan-Einsatzes: Ein Abrücken der Truppe ist ebenso wenig mit Ziel, Sinn und Werten zu füllen wie das das weitere Ausharren. Schon im März 2012 hatte der frühere Generalinspekteur Harald Kujat die Stabilisierungsziele der Verbündeten offen als gescheitert erklärt. Wenn das Auswärtige Amt nun eine erneute Verlängerung damit begründet, abermals auf „bessere Ausstiegschancen“ zu warten, dann erinnert mich das an die Zeitschleife des Groundhog Day.

 

(2021/02) 16.2.2021
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 1.3.2021
Burscheider Kultur; Beitrag von Jan Sting „SPD engagiert sich für die Musikschule“ (Ausgabe v. 15.2.2021, S. 24)

Der Zorn ist verständlich: Burscheid hat eine gewaltige Tradition und Verantwortung für die bürgerliche Musik; unsere kleine Stadt beherbergt mit der Musicalischen Academie von 1812 immerhin das älteste deutsche Laienorchester. Damit gute musikalische Kompetenz in Burscheid zuhause bleibt, müssen wir unsere Musikschule mindestens so fördern wie viele andere Städte das aus gutem Grund schon tun. Und wenn’s noch ein bisschen überdurchschnittlich geraten könnte – auch das könnte der Musikstadt überhaupt nicht schaden!

 

(2021/01) 12.1.2021
Frankfurter Allgemeine
Außen- u. Sicherheitspolitik; Kommentar „Schock und Schande“ von Berthold Kohler (Frankfurter Allgemeine v. 8.1.2021, S. 1)

Muss Berlin nun mehr Entschlossenheit und Führungsstärke in einem weltweiten Ringen mit Moskau und Peking an den Tag legen? Davon würden rund um den Globus am ehesten die profitieren, denen das existente Machtgefüge ohnehin ein Dorn im Auge ist. Erster Punkt der Tagesordnung ist aus meiner Sicht: So schnell als möglich zum regelbasierten System internationaler Zusammenarbeit und Koexistenz zurückkehren und allen manichäischen Scheidungen der Staaten, Regionen und Gruppen entgegenwirken. Und, frei nach Kant, auf schandhafte Deals verzichten.

 

(2020/32) 29.12.2020
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 5.1.2021
Kampfdrohnen; Interview von Andreas Niesmann mit Rolf Mützenich über eine gesellschaftliche Debatte zu Kampfdrohnen (Kölner Stadt-Anzeiger v. 28.12.2020, S. 8)

Es gibt einen sehr praktischen Aspekt beim Einsatz von Kampfdrohnen. Man könnte es nennen: den „Stinkefinger-Effekt“. Diese Drohnen sind die Botschaft an alle Aufständischen dieser Welt: „Seht her – wir tun das, weil wir's können. Ohne Risiko für uns!“

Was macht dann ein aufgebrachter Aufständischer, früher oder später? Er sprengt Weihnachtsmärkte mit Wählern in die Luft. Weil er ja die Hersteller, Generäle, Soldaten und Abgeordneten nicht unmittelbar erreichen kann. So wenig wie Churchill einen Hitler und dessen V2 erreichen konnte. Und dann bin ich wieder bei Herrn Mützenich: Wir sollten sehr intensiv darüber sprechen: Ob wir das wirklich wollen.

 

 

Und ein paar Sammlerstücke aus früheren Jahren:

 

Die Mutter aller [meiner] Leserbriefe:

29.9.1992
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt 2.10.1992
Militär; Absage der "V 2 - Gedenkfeier" in Peenemünde (KStA. v. 29.9.1992)

Hätten wir am Deutschlandtag die Schöpfer der V 2 hochleben lassen, hätten wir auch die der Scud mitgefeiert. Die Scud ist wie die Mehrzahl der heute weltweit ausgerichteten Trägersysteme legitimer Nachfahre der V 2. Scud und V 2 sind brutale Massenvernichtungswaffen, die unter einem verantwortungslosen Regime bewußt zum Schaden der Zivilbevölkerung eines anderen Landes entwickelt und eingesetzt worden sind.

Demgegenüber ist der vorgebliche Kontext ziviler (!) Raumfahrtforschung, der etwa den jungen Wernher von Braun begeistert und geblendet haben mag, als Begründung eines V 2 - Festes geradezu absurd. Die Forschung hat sich gegen diese Wirtschaftsidee im doppelten Sinne auch ausdrücklich verwahrt.

Der Vorschlag war, wenn auch der count-down schweren Herzens in letzter Sekunde abgebrochen wurde, bereits eine verheerende Wunderwaffe gegen das Ansehen des neuen Deutschland im Ausland und unserer Repräsentanten im Inland.

 

Und der am weitesten gereiste Leserbrief:

22.08.1995
NIKKEI WEEKLY, JAPAN; abgedruckt 28.8.1995
Militärpolitik; Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki; THE NIKKEI WEEKLY of August 14, 1995

I refer to reports on WW II and especially to two letters to the editor printed in THE NIKKEI WEEKLY of August 14, 1995. It is my impression that those two letters offer a unilateral and quite insulting interpretation of the motives behind the drop of atomic bombs onto Hiroshima and Nagasaki fifty years ago (e.g. N. Hale: "a merciful decision"). So I would like to show an alternative view:

It is certainly true that Japanese military leaders commenced the hostilities against the USA. But the Japanese victims at Hiroshima and Nagasaki were in their vast majority civilians. And although they were victims, I am far from sure they were the real addressees of the bombs as well. There is quite a convincing hypothesis: The drop of the bombs in the first place aimed at impressing the counterparts of Truman at the Potsdam Conference of July/August 1945 - Truman, a just invested and still very uneasy-feeling American president. To add: according to now opened American files the Nagasaki bomb was also meant to test a completely redesigned ignition system.

The echoes of that demonstration of power strongly outlived that event. We hear them over and over again – from Iraq, from France, from China etc. So humanity will never forget those victims, even if some wanted to.

 

Weitere Leserbriefe
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oder auch ein paar Briefe für Englisch-sprachige Medien.

Oder meine >150 Leserbriefe, die zum Thema Außen- und Sicherheitspolitik, Auslandseinsätze bzw. „out of areaveröffentlicht worden sind.

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