Karl Ulrich Voss,
Burscheid: Meine Leserbriefe im Jahr 2021
Stand: Oktober 2021
(2021/35) 20.10.2021
Kölner Stadt-Anzeiger
Rubrik „Pro & Contra“ zu jungen Parlamentariern von Maximilian Arnhold und
Markus Decker u. Beitrag „Isch over"
zu Wolfgang Schäuble von Eva Quadbeck (Kölner
Stadt-Anzeiger v. 19.10.2021, S. 2 u. 4)
Mehr als das
Eintrittsalter von Parlamentariern würde mich die Restlaufzeit interessieren.
Sollten nicht grundsätzlich zwei Perioden genug sein – und könnte damit nicht
eine viel breitere demokratische Durchmischung und Befähigung gelingen? Nicht
nur im Parlament, sondern auch in Parteiämtern?
Ein langes Verharren in
politischen Blasen mag die Wahl von neuen Wegen immer weiter verengen, es mag
Funktionäre in der Lobby berechenbarer und ansprechbarer machen und Haltungen
wie die eines Hagen von Tronje belohnen. Der hoch begabte Wolfgang Schäuble ist
auch dafür kein schlechtes Beispiel. Vielleicht könnten Parteien sogar noch
einen kleinen Schritt weiter gehen – und auch einmal parteilose Bewerber
unterstützen; denn die zur gesellschaftlichen Gestaltung nützliche Kompetenz
ist vermutlich kein Patent der Parteien, schon rein statistisch nicht.
(2021/34) 16.10.2021
Frankfurter Allgemeine
Großer Zapfenstreich / Bundeswehr nach Afghanistan; Kommentar von Berthold
Kohler „Was wir den Soldaten schulden“ (Frankfurter Allgemeine v. 14.10.2021,
S. 1)
Der größere Teil der
Menschheit wird Verständnis dafür aufbringen, wenn wir unseren Soldaten und
ihren Verwandten danken, auch und gerade nach einer verlorenen und umso
schlechter zu begründenden Anstrengung. Weniger Verständnis mag es dafür geben,
dass wir erst mit noch wesentlich größerer Verzögerung, vermutlich erst nach
dem Abtritt der verantwortlichen Politiker-Generation, der noch zahlreicheren
Opfer vor Ort gedenken werden, dieser mehreren zehntausend Zivilisten oder
Kombattanten in Afghanistan. Wobei wir die gegnerischen Kombattanten dann wohl
nicht mehr „Aufständische“ nennen werden, sondern „Widerständler“.
Es wäre sehr zu
begrüßen: Wenn sich ein sich neu konstituierender Bundestag nachvollziehbar und
insgesamt als Parlament der Armee verstehen wollte – wenn er in einer offenen
Evaluation der Einsätze seit Beginn der Neunziger
Jahre eine neue Basis für ein besser informiertes Vertrauensverhältnis zwischen
Soldaten, Bürgern und Abgeordneten legen wollte. Das ist eindeutig eine große
Herausforderung, auch an das Selbstverständnis aller Beteiligten; aber ebenso
unzweideutig ist diese Anstrengung geschuldet.
(2021/33) 16.10.2021
Süddeutsche Zeitung
Großer Zapfenstreich / Bundeswehr nach Afghanistan; „Alles umsonst?“ von Mike
Szymanski (Süddeutsche v. 14.10.2021, S. 6)
Alles umsonst? Schwer
zu sagen – es gab ja drei regierungsintern verfasste sogenannte
Fortschrittsberichte zu Afghanistan und der dritte und letzte vom Januar 2014
ließ bereits fast ungeschminkt erkennen, dass insbesondere eine politische
Stabilisierung des Landes nicht geglückt war. Danach wurde wohl nur mehr ein
das Ansehen wahrender Ausstieg gesucht.
Wenn wir heute Licht
ins Dunkel bringen wollen, wenn wir sowohl die Wünsche des amtierenden
Bundespräsidenten in seiner teils sehr deprimierten Ansprache vom 13.10.2021
beantworten wollen als auch die vielen wohlgesetzten Fragen des damaligen
Bundespräsidenten Horst Köhler auf der Kommandeurtagung
vom 10.10.2005, dann hilft jetzt offenbar nur eine offene Evaluierung des
gesamten Einsatzgeschehens seit 1992 – nach Zielen, nach Folgen und
Nebenfolgen, nach Opfern, Kosten und Dauer.
Richtig: Die Welt
sollte uns Deutschen nicht gleichgültig sein. Aber neue Herausforderungen
können wir erst dann verantwortungsvoll annehmen, wenn wir wissen: Wo haben wir
der Welt genutzt? Wo hingegen haben unser Einsatz und unsere Opfer unter dem
Strich zu Schaden gereicht? Und die in den bisherigen 224 parlamentarischen
Einsatzverfahren so prominent genutzte Vokabel „Bündnisfähigkeit“ muss danach –
bei allem natürlichen Pragmatismus – nicht unsere oberste Tugend bleiben.
Quellen:
Dritter
Fortschrittsbericht zu Afghanistan
https://www.auswaertiges-amt.
Rede des früheren
Bundespräsidenten Horst Köhler auf der Kommandeurtagung
am 10.10.2005 https://www.bundespraesident.
Auszug aus Köhlers
Rede:
… Mich macht
nachdenklich: Die Bundeswehr wird von einer Selbstverteidigungsarmee umgebaut
zu - was eigentlich? einer Armee im Einsatz? einer Interventionsarmee?;
der Deutsche Bundestag stimmt mehr als vierzig Mal dem Einsatz bewaffneter
Streitkräfte im Ausland zu; aber die Deutschen wirken von all dem kaum berührt
oder gar beeindruckt. …
Alle diese
Einstellungen mögen gutartig sein; aber zeugen sie nicht auch von einem
bedenklichen Mangel an Kenntnissen, an aufgeklärtem Eigeninteresse und an
politischem Wirklichkeitssinn? Wenn die Deutschen so wenig vom Ernst des Lebens
wissen, auf den die neue Bundeswehr eine Antwort ist, dann werden sie nur
schwer einschätzen können, welchen Schutz die neue Sicherheitspolitik
verspricht, welche Gefahren sie möglicherweise mit sich bringt, ob der Nutzen
die Kosten wert ist und welche politischen Alternativen Deutschland und die
Deutschen bei alledem eigentlich haben. Das müssen sie aber einschätzen können,
damit sie die nötige demokratische Kontrolle ausüben können, damit sie
innerlich gewappnet sind für die kommenden Herausforderungen und damit sie den
Dienst ihrer Mitbürger in Uniform zu schätzen wissen und aus Überzeugung hinter
ihnen stehen. …
Diese Debatte braucht
klare Analysen, welche deutschen Interessen es zu schützen und zu fördern gilt,
vor welchen Herausforderungen und Bedrohungen wir dabei
stehen, auf welche Ressourcen wir zählen können, wie wir vorgehen und
welche Rolle dabei die Bundeswehr übernimmt. Vor allem der Deutsche Bundestag,
die Bundesregierung und die politischen Parteien sind gefordert, eine solche
Gesamtschau zu entwickeln und den Bürgern vorzustellen. Das ist eine
Gemeinschaftsaufgabe, denn wo es um die Lebensinteressen unseres Landes geht,
da muss ein Konsens der Demokraten möglich sein. …
(2021/32) 7.10.2021
Kölner Stadt-Anzeiger / Rhein-Berg
Planungsausschuss 5.10.2021; Aussichtsplattform und Rampe an der
Hauptstraßenbrücke; Hans-Günter Borowski „Plattform ohne Glaswände“ u. Notiz
„Mann stirbt nach Sturz auf der Balkantrasse“ (Lokalteile Rhein-Wupper v.
7.10.2021 S. 36 und v. 28.6.2021, S. 34)
Nach der planerischen
Vision soll ein Ensemble aus einem prestigeträchtigen Skywalk und einer
herausfordernder Rampe unser Burscheid aus dem „städtebaulichen Einerlei
herausheben“. Aber in der harten Realität erweist sich das mehr und mehr als
Schildbürgerstreich: Immer teurer, erfahrungsgemäß halsbrecherisch, besonders
Regress-riskant, auf 100 Jahre unkaputtbar und tatsächlich sinnfrei. Denn da
wäre ja noch eine Alternative, die das alles nicht hat – die kurze und
barrierefrei ausbaufähige Anbindung der mittleren Hauptstraße über die vorhandene
Schnittstelle an der Montanusstraße, zwischen dem
heutigen Büdchen und dem Volksbank-Areal.
Die Stadt wäre gut
beraten, würde sie zur komfortablen Brückenverbreiterung die nach 2016
fallengelassene schmalere „Plattform Nord“ realisieren, gerne auch mit Glas und
Licht, und würde die Stadtmitte völlig barrierefrei auf dieser Seite anbinden,
dann sogar an einigen Lokalen und Geschäften entlang. Aus dieser Richtung kommt
wegen des Radbusses sogar mehr Verkehr als von Opladen herauf. Nach dem
tödlichen Unfall am 26. Juni auf der mit 6% Gefälle noch flacheren (!)
Jahnstraßen-Rampe sollte Burscheid die hochkritische 8%-Variante schnell z.d.A.
schreiben und dabei auch noch haufenweise Landes- und Stadtknete einsparen.
Dies sollte auch nicht zu einer noch ungewissen Zeit später einmal geprüft
werden, wie es auf Nachfrage am 5.10.2021 im Ausschuss hieß – sondern vor
weiteren Horror-Unfällen.
P.S.:
Das Zitat zum
"städtebaulichen Einerlei" stammt von einer Informationsveranstaltung
der Stadt zur Rampe/Plattform am 13.5.2019, und zwar aus der Präsentation von
Frau Gruß-Rinck / ASS-Büro. Siehe zu den Info-Veranstaltungen auch https://www.burscheid.de/
Die o.g.
"Plattform Nord" steht im IEHK 2016 (https://www.burscheid.de/
(2021/31) 6.10.2021
RGA / Bergischer Volksbote, abgedruckt 9.10.2021
Planungsausschuss 5.10.2021; Aussichtsplattform und Rampe an der
Hauptstraßenbrücke (Ausgabe v. 6.10.2021: „Politiker wählen die schlichtere
Variante“)
Am 26. Juni war ein
Skateboard-Fahrer an der Rampe von der Jahnstraße herunter tödlich verunglückt.
Spätestens da hätten im Stadtrat alle Alarmglocken läuten müssen: Denn die
projektierte Rampe, die mit der Aussichtsplattform an der Hauptstraßen-Brücke
gekrönt werden wird, soll mit 8% nochmals signifikant steiler abfallen und sie
wird nicht in einer Geraden auslaufen, sondern am Fuße des Gefälles in
übergeordneten Querverkehr einmünden.
Burscheid würde damit
nicht nur hohe Risiken für Benutzer jeden Alters schaffen – die Stadt liefe
wegen des deutlichen und bewussten Überschreitens einschlägiger Normen auch in
ein kaum abzuwendenes Haftungsrisiko: Nach Nr. 3.6
der bundesweiten Empfehlungen für den Bau von Radverkehrsanlagen (ERA 2010)
liegt der Grenzwert für die verbundene Nutzung durch Radfahrer und Fußgänger
sicherheitshalber bei nur 3%. Und spätestens im Haftungsfall werden die ERA den
hier relevanten Stand der Technik definieren.
Ein kritisches Licht
wird dann auch auf einen im Ausschuss kurz behandelten Punkt fallen: Auf der
Wermelskirchener Seite der Hauptstraßenbrücke steht in sogar noch geringerem
Abstand von der Brücke eine in jeder Hinsicht überlegene Lösung bereit – völlig
barrierefrei und zu 100% ERA-gerecht ausbaufähig. Dies ist der Weg zur Trasse
zwischen dem Volksbank-Areal und dem heutigen Büdchen, der über die Montanusstraße und noch dazu an diversen Geschäften und
Lokalen entlang schnell und flach zur mittleren Hauptstraße führt; dieser Weg
ist sogar im Burscheider Entwicklungskonzept auf S. 150 eingezeichnet. Auf
Nachfrage in der Ausschusssitzung: Diese sehr naheliegende und tatsächlich
risikofreie Anbindung werde man vielleicht später einmal prüfen, keinesfalls
aber jetzt. Vermisst werden dort wohl in besonderem Maße „Highlight“ und
„Glamour“ oder ein prickelnder Anklang an den Altenaer
Erlebnisaufzug. Man mag auch zynisch sagen: No risk, no fun!
(2021/30) 2.9.2021
Kölner Stadt-Anzeiger
Afghanistan; Leitartikel von Kristina Dunz „Der
Schrecken bleibt noch lange“ (KStA v. 2.9.2021, S. 2)
Das viel größere
Kartenhaus hinter dem Afghanistan-Einsatz ist die in den Neunzigerjahren definierte
Interventionspolitik wohl selbst: robuste und prinzipiell globale Einsätze zum
Werben für oder zum Verteidigen von westlichen Werten und Anschauungen.
Gescheitert sind wir selten militärisch. Gescheitert sind wir eher an den
politischen Kosten, insbesondere an der durch robuste Einsätze wirksam
getriggerten Migration, wo zwar frühere Ordnungen entschlossen
aufgebrochen werden konnten, aber eine neue Struktur auch in Jahrzehnten nicht
zu stabilisieren war, trotz des Einsatzes von Billionen.
Allerdings möchte ich
keinesfalls die Nato, nicht einmal die Bundeswehr bitten, gescheiterte Politik
aufzuarbeiten. Zu groß ist das Risiko, dass man dabei gleich neue und
langfristig noch stabilere Feindbilder und Geschäftsmodelle entwirft und
etabliert, die ebenso weltumspannend angelegt sind. Tatsächlich sollte die
Vergewisserung eine Kernaufgabe des Parlaments in der 20. Legislatur werden.
Dabei wäre für mich die Rückbesinnung auf die Grundlage der VN, auch der OSZE
sehr fruchtbar – das bewusste Aushalten der Koexistenz politischer bzw.
sozialer Systeme. Wandel durch Annäherung und eine gezielte Stabilisierung sind
dann auch ein erfolgversprechendes Rezept für Umgang, Arbeit und Leben mit
Taliban. Wir werden so keine schnelle Bewegung hin zu einer Gleichstellung wie
noch zu Zeiten sowjetischer oder westlicher Besatzung schaffen – aber bei guten
Vorbildern eine tragfähige Evolution in diese Richtung.
(2021/29) 28.8.2021
DER SPIEGEL Nr. 35 v. 28.8.2021, abgedruckt im SPIEGEL Nr. 36 v. 4.9.2021
Afghanistan; Beitrag v. Christoph Reuter „Fluch des Triumphs“ (DER SPIEGEL Nr.
35 v. 28.8.2021, S. 72ff)
„Tarnen, Täuschen und
Verpissen“ ist okay in der Grundausbildung, aber keine Option für Afghanistan.
Klar: Wir könnten den Taliban nun fasziniert beim vorausgesagten Kontrollverlust
zuschauen, könnten vielleicht mit klammheimlicher
Freude noch nachhelfen. Aber das wäre strohdumm. Wir müssen die Region
stabilisieren, müssen eine neue schwärende Terrorwunde verhindern. Die Welt ist
seit 1990 kleiner geworden und die Vorwarnzeit kürzer. Gerade die Neuauflage
eines Stellvertreter-Bürgerkriegs wie zwischen Gulbuddin Hekmatyār,
Ahmad Schah Massoud und Abdul Raschid Dostum wäre fatal; das hat das Land nach
dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft 1989 schon einmal pulverisiert
und vergiftet. Waisenknaben sind die Taliban bestimmt nicht. Aber auch einige
unserer traditionellen Freunde sind keine Klosterschülerinnen und bei uns
selbst habe ich zunehmend Zweifel.
P.S.:
Im Zusammenhang mit dem Irak/Iran-Konflikt zitiert man Kissinger mit einem sehr
zynischen Spruch: „It’s a pity
both sides can’t lose.“ Es
wurde eine klassische self fulfilling prophecy: Am Ende
haben dort tatsächlich beide Seiten verloren und wir mit ihnen. Heute sind die
Risiken noch massiv gesteigert.
(2021/28) 26.8.2021
Kölner Stadt-Anzeiger
Afghanistan; Bericht von Matthias Koch „Retten oder zurücklassen gemäß Liste“
u. Kommentar von Tobias Peter „SPD mit neuen Machtoptionen“ (KStA v. 26.8.2021, S. 2 u. 4)
Die Linke ist
außenpolitisch nicht regierungsfähig? Margot Käßmann wäre es dann auch nicht
oder Harald Kujat, früherer Generalinspekteur der Bundeswehr. Auch nicht die
Mehrheit der Bundesbürger in allen einschlägigen demoskopischen Umfragen der
letzten 20 Jahre. Alle haben sich kritisch zum Verlauf in Afghanistan
positioniert, Kujat immerhin insoweit, als der Einsatz über einen
Kameradschaftsdienst hinausging.
Eines der
hellsichtigsten Bücher, die ich je gelesen habe, ist die „Anleitung zum
Unglücklichsein“ des österreichischen Psychologen Paul Watzlawick, dort
speziell das Kapitel „Mehr desselben“. Danach verstärken wir im Angesicht des Scheiterns geradezu manisch die bereits objektiv widerlegten
Handlungsmuster. Der Westen setzt sich derzeit galaktischem Gelächter aus,
insbesondere in der sehr unrühmlichen Nachspielzeit des Einsatzes. Derweil ist unser Schild und Speer, die Nato, schon behände hinter
die Kulissen gesprungen. Von dort wird es sicher bald tönen „Jetzt sehen wir
doch ganz klar: 2% des Bruttoinlandsprodukts, das war noch viel zu bescheiden!“
P.S.:
Auf S. 2 des Berichts ist eine Prognose fettgedruckt herausgehoben: „50.000
- das war eine Zahl, die niemand hören wollte in einem Bundestagswahlkampf.“ Der
dort zitierte Luftwaffenoffizier L. hatte im Mai 2021 diese Größenordnung einer
Evakuierung von Hilfskräften errechnet. Nun könnte man an ein äußerst zynisches
politisches Kalkül denken – Truppen abziehen und danach einfach wie gefesselt
zuwarten, bis sich die Schleusen von selbst schließen, die Verantwortung dann
öffentlichkeitswirksam bei Dritten suchen, insbesondere bei den Diensten, bei
Verbündeten und bei den gewöhnlichen Verdächtigen, bei den Taliban. Allerdings
halte ich einen solchen politisch geplanten Ablauf für sehr
unwahrscheinlich. Speziell im Vorwahl-Modus war es vermutlich auf Seiten der
politischen Ebene schlicht Überforderung, war es zu wenig kontinuierliche
systematische Information über den langjährigen Verlauf des E insatzes und über das Stimmungsbild vor Ort, im Grunde
auch: zu wenig Rückkopplung von Schmerzempfinden. Das mündete dann auf
Regierungsebene in die Realitätsverweigerung der sprichwörtlichen drei Affen –
dabei eben auch in das Nicht-Hören-Wollen.
Die Erklärung der
Kanzlerin in der Debatte am 25.8.2021, man habe halt keine unnötige Unruhe
durch vorzeitige Evakuierungen schüren wollen, klingt dagegen wie ein sehr
bemühtes Herausreden. Und sie beweist m.E. eben diese stupende Realitätsferne –
mit dem gleichzeitig eingestandenen Unterlassen der logistischen Vorbereitungen
für den jedenfalls nüchtern einzukalkulierenden Eventualfall.
(2021/27) 24.8.2021
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT: https://blog.zeit.de/leserbriefe/2021/08/27/19-august-2021-ausgabe-34/
Afghanistan; Samiha Shafy
„Aus der Traum“ u. Ulrich Ladurner „Doppelfehler“
(DIE ZEIT No. 34 v. 19.8.2021, S. 1)
Nach 9/11 war es m.E.
wieder mehr der Geist von Huntingtons „Clash of Civilizations“ als der von Fukuyamas „End of History“. Geschäftsmodell
dieser Intervention war nicht das selbstverständliche und hier nur etwas
vorweggenommene Konvergieren, sondern die bewusste Konfrontation. Und die Pose
des Westens war dann auch tatsächlich eine paternalistische, nicht ein Begegnen
auf Augenhöhe. Etwa: „Guck nicht so dumm, guck so wie wir!“ Wenn wir je ein
repräsentatives Meinungsbild brauchten, dann haben wir – ebenso wie vordem die
Russen – auf Kabul fokussiert, bestenfalls auf die Provinzhauptstädte, und auf
die von uns alimentierten Eliten, nie weiter oder tiefer. Das hätte gestört.
Ein intimer Kenner des
afghanischen war theater, der frühere
Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat hatte es im März 2012 (sic!)
äußerst nüchtern bewertet: Als kameradschaftliche Hilfe für die USA habe die
Expedition funktioniert – aber eben nicht als zivilisatorisches Unterstützen
der Menschen vor Ort. Ja, Kameradschaft ist wichtig. Weil man vielleicht später
einmal darauf zurückkommen will. Aber es bleibt eine Sekundärtugend und eine
Art Geschäft oder Selbst-Versicherung. Genauso wird es auch die Mehrheit der Afghaninnen
und Afghanen am bitteren Ende eines vagen Traums gesehen haben. Dafür dann noch
sterben?
(2021/26) 22.8.2021
DER SPIEGEL
Afghanistan; zu den Berichten über den eiligen Abzug aus Afghanistan in der
Ausgabe v. 21.8.2021 (insbesondere Mathieu von Rohr „Der große Selbstbetrug“,
Maik Baumgärtner et al. „Die Unbezwingbaren“, Florian Gathmann
et al. „Wegducken in Berlin“)
Am Hindukusch: Gerächt,
an einer Kundus-Furt mit einem monströsen Flammenwerfer das rationelle Töten
von Menschenmengen gelernt und die Bilanzen der westlichen Wehrwirtschaft
verteidigt. Es kommt heute nicht so überraschend, wenn die Afghaninnen und
Afghanen unsere weitere Präsenz nicht mehrheitlich mit ihrem Leben decken
wollen.
Und um den Kandidaten
Laschet nur minimal zu ergänzen: Nicht allein die Nato hat eine epochale
Schlappe zu verdauen. Aber dessen ungeachtet wird unsere Nato zwei Wochen nach
der Wahl wieder wie Zieten aus dem Busch springen und
versuchen, ihre mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts einzutreiben
– für mehr desselben. Business as usual.
Quellen
„Die Deutschen müssen das Töten lernen“, Titelbild SPIEGEL Nr. 47/2006 v.
19.11.2006: https://www.spiegel.de/
Tanklaster im Kundus am 4.9.2009: https://de.wikipedia.org/wiki/
(2021/25) 17.8.2021
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 24.8.2021
Afghanistan; Berichten u. Kommentaren anlässlich des rapiden Rückzugs aus
Afghanistan: Tomas Avenarius u. Tobias Matern „Kapitulation vor den Taliban“;
Björn Finke „Hilflos in Brüssel“, Nicolas Richter „Unwürdiges Ende“ (Ausgabe v.
16.8.2021, S. 2 u. 4)
Die Perspektiven für Afghanistan könnten die besten seit vielen Generationen sein: In einer sich dynamisch entwickelnden Region hat dieses Land heute eine multiple Drehscheiben-Funktion und kann um das Beste aus mehreren Welten pokern, besser jedenfalls als derzeit die meisten afrikanischen Staaten.
Wenn die Afghanen nun die richtigen Karten spielen, sie könnten sich doch noch auf die versprochene Schweiz am Hindukusch zu entwickeln. Könnten steinreich werden wie die Saudis – die die Taliban ohnehin schon länger als Bollwerk gegen die verhassten Schiiten anleiten, alimentieren und armieren – und wie bei den Golfstaaten würden wir dann nur zu gerne über Defizite bei der Stellung der Frau, beim Achten von Menschenrechten und rechtsstaatlichen Garantien hinwegsehen. So kann es laufen; die ersten Aktien werden sicher schon gedruckt.
Das Leid aber werden
Ortskräfte und Sympathisanten tragen, die mutterseelenallein vor Ort bleiben.
Unser Herr Laschet in spe warnt ja schon mit feinem Gespür vor neuen
Flüchtlingswellen und in ganz ähnliche Richtung zielte bereits das Gleichnis
aus altem afghanischem Erzählgut, das unser früherer
Verteidigungsminister de Maizière beim feierlichen Schließen des Stützpunktes
Kundus am 6.10.2013 zum Besten gegeben hatte, kurz gefasst: Bleibet im Lande
und nähret euch redlich! Vielleicht macht sich jemand mit
Regierungsverantwortungs-
P.S. Links zum letzten
Absatz:
http://uliswahlblog.blogspot.
https://www.sueddeutsche.de/
(2021/24) 17.8.2021
Frankfurter Allgemeine
Afghanistan; Doppel-Kommentar v. Andreas Ross „Flucht aus der Verantwortung“
und Christian Meier „Afghanisches Kartenhaus“ (F.A.Z. v. 16.8.2021, S. 1)
Das ist aus meiner
Sicht eine fromme Selbsttäuschung: Das Projekt „Aufbau Afghanistan“ sei noch
nicht lebensfähig gewesen. Ein intimer Kenner der Lage vor Ort
wie Harald Kujat hatte bereits vor zehn Jahren
nüchtern konstatiert, alle zivilen Facetten des Einsatzes seien gescheitert.
Es hat viel Ironie, es
ist sogar ein klassischer Treppenwitz der Weltgeschichte: Zbigniew Brzezinski,
früherer Sicherheitsberater von Jimmy Carter, hatte sich noch in einem
Interview mit dem Pariser Le Nouvel Observateur im
Januar 1998 gebrüstet – wohlgemerkt vor nine-eleven,
aber bereits deutlich nach dem ersten Sprengstoff-Anschlag auf das World
Trade Center am 26.2.1993: Der CIA habe schon vor dem russischen
Einmarsch strategisch mit den afghanischen Mujaheddin kooperiert. Am Tage des
Einmarsches habe er dann triumphierend an Carter gekabelt: Endlich könne man
den Russen ihr eigenes Vietnam bereiten; die sogenannte „Bear Trap“ sei
ausgelegt und gespannt.
Nun: Aus heutiger Sicht
haben sich unsere Partner dann zu freudetrunken auf die Schenkel geklopft,
haben aus dem tiefen Fall der Russen deutlich zu wenig gelernt. Sie sind nun in
ihre eigene Falle getappt und die Deutschen – zu Zeiten des Vietnam-Debakels
noch durch die deutsch-deutsche Teilung geschützt – haben sich beim "Great
Game" gleich mit verzockt. Ein heute wieder sehr lehrreiches Buch: Karl
Otto Hondrichs „Lehrmeister Krieg“. Und nicht zu
Unrecht kommen einem auch die Dominosteine wieder in den Sinn.
Quellen
Kujat-Interview: Mitteldeutsche Zeitung v. 17.3.2012 "Nicht länger als
gewünscht", siehe z.B. hier
Brzezinski-Interview im Le Nouvel Observateur mit
beigefügter deutscher Übersetzung siehe etwa http://uliswahlblog.blogspot.
(2021/23) 17.8.2021
DIE WELT
Afghanistan; Klaus Geiger „Der Preis der Freiheit“ (DIE
WELT v. 16.8.2021, S. 1)
Welche und wessen
Freiheit? Das ist das rhetorische Grundproblem, wenn die hearts
& minds anderer Staaten zu gewinnen sind, und
es wächst mit dem Quadrat des kulturellen und ökonomischen Abstands und
prinzipiell auch mit der Aufenthaltszeit: Fremde Truppen im Land können sich
nur schwer lange als Befreier darstellen, unabhängig davon, was sie an
zivilisatorischem Fortschritt im Gepäck haben. Das war schon so bei den
Franzosen im Land und bei den am Ende dadurch provozierten deutschen
Freischärlern, etwa beim Lützschowschen Freikorps,
von dem wir unsere Nationalfarben ableiten. Und so ist es bei den Amerikanern
und den Taliban.
Wobei zur Komplexität
noch beiträgt: Die Taliban werden seit Jahrzehnten von den mit Amerika
befreundeten Saudis angeleitet, alimentiert und armiert – als Bollwerk gegen
die auf der arabischen Halbinsel verhassten Schiiten. Was wiederum ein wenig
erklärt, warum das afghanische Kartenhaus der zeitweise westlich orientierten
Eliten so blitzschnell kollabierte. Wir haben wohl noch sehr viel zu lernen.
(2021/22) 7.8.2021
Kölner Stadt-Anzeiger
Afghanistan; Kommentar v. Matthias Koch „Ein Traum ist geplatzt“ (Kölner
Stadt-Anzeiger v. 5.8.2021, S. 4)
Richtig, ein Traum ist
geplatzt. Oder auch: Erneut hat sich eine Fata Morgana in Luft aufgelöst.
Erneut, weil schon die Russen gebannt auf die Hauptstadt und auf die
Provinzhauptstädte gestarrt hatten. Auf die Menschen und Eliten, die dort schon
so sprachen und lebten wie sie, speziell die jungen Frauen. Der ländliche Rest,
so dachten die Russen ebenso wie heute wir, der würde dem „zivilisierten“ Beispiel
unwiderstehlich und zeitnah folgen. Im Grunde aber ist es dies das Weltbild des
oberflächlichen, selbstverliebten und erinnerungsschwachen Zauberlehrlings.
Denn es trat ein heute
gerne verdrängter Umstand hinzu – die kurzsichtige, selbstzerstörerische Konkurrenz
von Industriegesellschaften. Zbigniew Brzezinski, seinerzeitiger
Sicherheitsberater des Präsidenten Jimmy Carter hatte sich in einem Interview
mit dem Pariser Le Nouvel Observateur noch im
Januar 1998 damit gebrüstet, die Amerikaner seien doch schon vor dem russischen Einmarsch aktiv in
Afghanistan gewesen, hätten im Bunde mit den dortigen Gotteskriegern
erfolgreich gegen die Sowjets gestanden. Die entgeisterte Frage des Reporters,
ob dies nicht zum Erstarken des Islamismus beigetragen hätte, konterte
Brzezinski mit blasierter Bravour: Was bitte wären denn ein paar aufgeregte
Islamisten gegen den Sturz der Sowjetunion? Der Treppenwitz der Weltgeschichte
ist nur: Die Russen gelten heute schon nach kurzer Frist wieder als
erstrangiger Feind – und ein zwischenzeitlich ertüchtigter, aufgebrachter und
internationalisierter Islam als ein mindestens so ruchloser Gegner.
Dann bleibt noch eine
Übung speziell des deutschen Zauberlehrlings in Erinnerung zu rufen, Mitte der
Achtziger Jahre: Die mit Orden belohnte, aber sicherlich nicht
verfassungskonforme „Operation Sommerregen“. Als nämlich deutsche und
amerikanische Dienste inniglich mit den Mujahedin kooperierten, um unter dem
Deckmantel humanitärer Hilfe (!) aus dem russisch besetzten Afghanistan moderne
russische Waffen herauszuschleusen. Besteht noch
Ungewissheit, wer für den psychotischen Zustand dieser Region ganz wesentliche
Mitverantwortung trägt?
Quellen:
Brzezinski-Interview
1998
„Les Révélations
d'un Ancien Conseilleur de
Carter: ‘Oui, la CIA est Entrée en Afghanistan
avant les Russes...’"
Le Nouvel Observateur [Paris], Jan. 15-21,
1998, S. 76. auf https://www.voltairenet.org/
Operation Sommerregen
1985ff
https://de.wikipedia.org/wiki/
Anlage: Cartoon 2001
Siehe auch beigefügten Cartoon von Steve Breen aus der San Diego Union Tribune
2001 ("That was fast!"). Er
dokumentiert plastisch das auf die Zentren fokussierende Wunschdenken des
Westens nach der unerwartet schnellen militärischen Niederlage der Taliban
(2021/21) 3.7.2021
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT = https://blog.zeit.de/leserbriefe/2021/07/09/1-juli-2021-ausgabe-27/ sowie abgedruckt am
15.7.2021
Abzug aus Afghanistan (Ausgabe No. 27 v. 1.7.2021, S.
2f: Peter Dausend, Lea Frehse
u. Talib Sha Amiri „Der schlimmste Feind ist die Vergeblichkeit“)
Was bleibt? Diese Frage
bezieht sich nun nicht nur auf RESOLUTE SUPPORT, sondern ebenso auf UNOSOM II.
Beide Missionen bilden eine verblüffende Parabel, die mehr als 25 Einsatzjahre
überspannt und verklammert: Auch UNOSOM II musste hastig abgebrochen werden,
weil ein weiterer Aufenthalt brandgefährlich geworden wäre. Was nebenbei zeigt:
Wenn Deutschland sich seitdem im Kampf bewährt hat, wenn es, wie es einmal hieß
„das Töten gelernt“ hat, dann in einer Trittbrettfahrer-Position.
Schon bei UNOSOM II gab
es auch den ersten für uns bekannten collateral
damage, jenen jungen Somali Abdullahi Farah
Mohamed, den Wachen des Feldlagers in Belet Uen vor Tagesanbruch des 21.1.1994 erschossen hatten. Und
wie etwa im Falle der jungen afghanischen Mutter Bibi Khanum,
die am 28.8.2008 versehentlich mit zweien ihrer Kinder an einem Streckenposten
bei Kundus getötet worden war, hatte die Bundeswehr für den menschlichen
Verlust das traditionelle „Blutgeld“ verhandelt und gezahlt – und musste dies
im weiteren Einsatz noch vielfach wiederholen, mit einer sehr speziellen, kaum
altruistisch oder empathisch zu nennenden Professionalisierung in Ethnologie.
Ja, wenn man sich
anstrengt, dann wird man auch positive Einzelfolgen der Einsätze finden können.
Viele aber davon verblassen extrem schnell oder sind
lange verblichen. Eigentlich erinnern die Missionen in der Rückschau
erschreckend an die selbstgerechten militärischen Strafexpeditionen des
Neunzehnten und des beginnenden Zwanzigsten Jahrhunderts, konkret auch an die
Rede des letzten deutschen Kaisers am 27.7.1900, als er in Bremerhaven das
deutsche Einsatzkorps zum Niederschlagen des Boxeraufstands nach China
verabschiedete. An diese Rede, die uns Deutschen den nicht mehr weg zu
waschenden nom de guerre
„die Hunnen“ eingetragen hat - aufgefrischt am 4.9.2009 an einer Kundus-Furt.
Als Lektion zumindest
der letzten 25 Jahre sollten wir das Grundgesetz wieder beim Wort nehmen und
uns – und unsere NATO-Beihilfe – auf Verteidigung gegen gegenwärtige
militärische Angriffe beschränken. Und sollte diese Verteidigung 2% des
Bruttoinlandsprodukts kosten, dann sollten wir das beisteuern. Aber eben nur
mit diesem Nachweis.
P.S.
Hunnenrede am 27.7.1900: https://de.wikipedia.org/wiki/
UNOSOM II; erster dokumentierter ziviler Personenschaden: siehe Bundestags-Drs. 12/6989 https://dserver.bundestag.de/
(2021/20) 3.7.2021
DAS PARLAMENT, abgedruckt 12.7.2021
Ende des Afghanistan-Einsatzes (DAS PARLAMENT, Ausgabe Nr. 26/27 v.
28.6.2021, insbesondere: „Lehren aus Afghanistan“, „Harte Lektionen“,
und „Düstere Aussichten“)
Was sind die Lehren,
mit einer Einsatzerfahrung von heute mehr als 25 Jahren? Meine Bilanz ist recht
ernüchternd: Seit UNOSOM II konnten die Streitkräfte die in sie gesetzten
Erwartungen in unterschiedlichen Allianzen nicht erfüllen – nicht erfüllen, was
zentrale Missionsziele anbetrifft, nicht, was die jeweilige Dauer anbetrifft
und insbesondere auch nicht, was die Präzision und das Verhüten humaner Schäden
anbetrifft. Bringt man es auf den Punkt, so verlief nur eine einzige Operation
wirklich überzeugend, blieb auch ohne bekannte „collateral
damages“. Dies war der ultrakurze deutsche
Evakuierungseinsatz LIBELLE am 14. März 1997. Aber selbst dieser Eingriff wäre
durch frühzeitige Reaktion der diplomatischen Vertretung wohl zu vermeiden
gewesen.
Die harten Lektionen
aus dem Gebrauch auswärtiger Gewalt müssen wir am Ende auch im Hauptbuch der
Nation, in unserem Grundgesetz wiederfinden – spätestens als ein
Arbeitsergebnis der 20. Legislatur. Denn auch die Grundannahmen des
Streitkräfteurteils a.d.J. 1994 mit seinem
pragmatischen Dispens von der Anwendung des Art. 19 GG sind heute sehr in Frage
gestellt.
P.S.
Zur Operation LIBELLE siehe etwa https://de.wikipedia.org/wiki/
(2021/19) 2.7.2021
Kölner Stadt-Anzeiger
Afghanistan; Kommentar und Bericht von Markus Decker in der Ausgabe v. 1.7.2021
(„Ein historischer Einsatz endet“ u. „Bundeswehr beendet nach 20 Jahren
Afghanistan-Einsatz“, S. 4 u. 6)
Richtig, ohne die USA
hätte die Bundeswehr keinen Tag länger in Afghanistan bleiben können. Hier
spiegelt sich das hastige Abrücken aus Somalia zum 23. März 1994; der damals
nur einjährigem Einsatz am Horn von Afrika hatte gleichwohl auch schon erste
„Kollateralschäden“ gezeitigt. Richtig auch: Ein objektivierbares Ergebnis
bewaffneter Interventionen ist gesteigerter Migrationsdruck; er kann von
gescheiterten Staaten ausgehen, aber eben sehr intensiv von gescheiterten
militärischen Interventionen, von einem failing
state building und von
dauerhaft destabilisierten Regionen.
Und insbesondere
richtig ist die Mahnung des Bundes Deutscher Einsatzveteranen: Die vielen
Soldaten, die nach den Worten der Verteidigungsministerin „an Leib und Seele
verwundet“ zurückgekehrt sind, sie tragen ein hohes Risiko, aus dem Blickfeld
der hohen Politik verdrängt zu werden – als ein toxisches Überbleibsel eines
gescheiterten Projekts. Dass sich kein Spitzenpolitiker fand, um die letzten
heimkehrenden Soldaten zumindest symbolisch aufzunehmen, spricht genau schon
diese Sprache. Für eine solche menschliche und demokratische Geste hätte sich
auch ein Pandemie-sicheres Konzept finden lassen, hätte man das gewollt. Für
mich klingt's wie der allfällig-drastische Spruch aus der Grundausbildung:
"Tarnen, täuschen und verpissen!"
P.S.
zu Abs. 1 / Kollateralschäden in Somalia
Siehe Bundestags-Drs. 12/6989 v. 8.3.1994 zum
Tod des jungen Somali, den Wachsoldaten in der Nacht vom 20. auf den 21.1.1994 am Feldlager in Belet
Uen erschossen hatten. Weitere Entsprechung: Auch
hier hatte die Bundeswehr in der Folge ein traditionelles "Blutgeld"
entrichtet – wie später dann wiederholt in Afghanistan.
(2021/18) 1.7.2021
Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Afghanistan; Berichte und Kommentar in der Ausgabe v. 1.7.2021
(„Kramp-Karrenbauer verspricht ungeschönte Afghanistan-Bilanz“, „Bittere Lehren
aus Afghanistan“ und „Nur noch ein Bürgermeister?“ von Christian Meier und
Nikolas Busse, F.A.Z. S. 1 u. 8)
Bittere Lehren aus Afghanistan,
die gibt es länger, als uns lieb sein kann. So falsch lag etwa der frühere
Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat nicht, als er im März 2012
analysierte: Als ein altruistischer, als ein zivilisatorischer oder
humanitärer Einsatz sei die Afghanistan-Mission bereits gescheitert. Gelten
lassen wollte er sie schon vor 10 Jahren nur mehr als das Stärken eines
geschätzten Bundesgenossen, als den eher eigennützigen Beweis von Team- und Bündnisfähigkeit, als eine Integrationsübung. Wir
sollten daher nicht in erster Linie von einem gescheiterten Staat sprechen,
sondern von einer gescheiterten Projektion und Intervention. Manches Problem
ist heute verschärft und ohne Weiteres kann dies auch zum Simile eines abrupten
Endes der strukturell ähnlichen Einsätze in Mali geraten.
Nicht zu vergessen:
Jetzt beginnt die Uhr zu ticken mit jener etwa hundertjährigen Frist, nach
deren Ablauf wir uns bei einer Zivilbevölkerung für nicht erklärliche
Entfaltung auswärtiger Gewalt entschuldigen werden, unter anderem wegen des
Desasters in der Kundus-Furt.
(2021/17) 1.7.2021
Süddeutsche Zeitung
Afghanistan; Berichten und Kommentar zum Abschluss des Afghanistan-Einsatzes
(Ausgabe v. 1.7., S. 1,2 u. 4: „Der Westen geht, der Krieg bleibt“, „Die
Generation Einsatz geht“, „Zurück auf Null“ von
Tobias Matern, Mike Szymanski und Joachim Käppner)
Ist es nicht Feigheit
vor dem Freund, wenn die erste politische Garde bei Heimkehr der letzten
Afghanistan-Soldaten kneift? In jedem Fall wirkt es wie Schule schwänzen beim
Lehrmeister Krieg, wenn man im Bundestag mit einigem Pathos die größtmögliche
Geschlossenheit für einen Einsatz einfordert, aber den Rückkehrenden nicht nach
Kräften den Rücken stärkt. Wenn es nicht mehr um die Kampfmoral und Kampfkraft
geht, sondern um die Sinnsuche und die bisweilen schwere Rückverwandlung zum
zivilen Mitbürger.
Wir stünden heute
anders da, hätten wir bereits nach dem ersten dokumentierten zivilen Opfer
eines Auslandseinsatzes versucht, Nutzen und Lasten der erweiterten Außen- und
Sicherheitspolitik offen zu objektivieren und unsere realistisch erreichbaren
Ziele zu schärfen. Das erste Kriegsopfer der Nachkriegszeit war der in der Drucksache
12/6989 v. 8. März 1994 beschriebene Tod des jungen Somali Abdullahi
Farah Mohamed am 21.1.1994 am Feldlager von Belet
Uen. Der damals bald folgende überstürzte Abmarsch
der Truppe ähnelte in vielen Details dem aktuellen Rückzug aus Afghanistan und
könnte, wenn wir nichts wirklich lernen wollen, das
Simile für ein abruptes Ende in Mali werden.
P.S.
„Lehrmeister Krieg“: siehe Karl Otto Hondrichs
gleichnamigen Essay-Band, heute leider nur noch gebraucht zu erhalten
(2021/16) 1.7.2021
DIE WELT
Afghanistan; Beitrag von Thorsten Jungholt „Planlos
in Mali“ (DIE WELT v. 1.7.2021, S. 5)
Wenn „Wagenburg“ die
typische taktische Variante für Missionen in instabilen Ländern wird, wenn ein
Erfolgsausweis schon deshalb schwer zu führen ist, weil es bislang an klaren
militärischen Zielen fehlte – dann ist die vom verteidigungspolitischen
Sprecher der CDU geforderte Anpassung der Ausrüstung bestenfalls Kosmetik. Oder
schlimmer: ein lebensgefährliches Spiel auf Zeit.
Wirklich bemerkenswert
ist das völlige Fehlen der ersten politischen Garde bei der Heimkehr der
letzten Soldaten aus Afghanistan. „Awol“ nennt man
das gemeinhin, „Absent without leave“.
Denn es reicht nicht, freudig Verantwortung zu übernehmen, wenn der Einsatz
jung ist und hochgesteckte Pläne noch keinen Praxistest bestehen mussten. In
der Demokratie sind Zeichen von Verantwortung und Rechenschaft zum Abschluss
eines Projekts am wichtigsten. Gerade vor einer Wahl.
(2021/15) 29.6.2021.
Kölner Stadt-Anzeiger
Mali, Afghanistan; Kommentar von Markus Decker in der Ausgabe v. 28.6.2021 („Zweifelhafter
Einsatz in Afghanistan“) und Bericht v. 29.6. („Kommando zurück!“)
Afghanistan und Mali
weisen, wie schon Somalia, Libyen und der Irak, auf ein Paradox der erweiterten
Außen- und Sicherheitspolitik seit Mitte der Neunziger Jahre hin – oder auf
einen ernsten Webfehler: Gerade bei signifikanten System-Unterschieden ist die
nachhaltige Gestaltungskraft auswärtiger Gewalt offenbar viel geringer als
erhofft. Es mag sogar noch schlimmer stehen: Weil wir die Perspektive der mit
uns vor Ort kooperierenden Eliten übernehmen – und diese unsere – könnte
bereits der Eindruck militärischer Anfangserfolge eine bloße Fata Morgana sein
oder jedenfalls länger als realistisch aufrecht erhalten bleiben.
Es ist tatsächlich Zeit
für ein systematisches Aufarbeiten unserer diversen Auslandseinsätze, nach
Lasten und Erträgen. Am ehrlichsten wäre dies noch vor der Wahl. Aber das
scheint inzwischen sehr unrealistisch. Drum sollten diejenigen, die sich um
Regierungsverantwortung bewerben, den Wählern die offene Evaluation zumindest
für die 20. Legislatur in die Hand versprechen.
(2021/14) 17.6.2021.
DIE ZEIT, veröffentlicht in der online-Ausgabe der ZEIT https://blog.zeit.de/
NATO-Strategie; Leitartikel „Es ist nicht nur China“ von Jörg Lau (DIE ZEIT No. 25 v. 17.6.2021)
Es ist nicht nur China –
aber die Front gegen China ist brutal genug. Und sehr kontraproduktiv: Nehmen
wir nur kurz an, den Westen plagten Zukunftsängste und er müsste seine
Verfahren, Strukturen und Werte kritisch analysieren. In dem sonst gerne
bemühten Wettbewerb würde ihm das manichäische Verteufeln eines etwaigen
Opponenten aber wenig helfen; zumindest trüge das nicht weit. Es könnte ihn
davon abhalten, eigene Optimierungen zu bedenken – vielleicht ein direkteres,
responsiveres und für junge Menschen attraktives Demokratiemodell anstelle des
über Jahrzehnte stabil durchgesinterten Systems hoher Repräsentation mit
angebauter Lobby.
Es mag sich ferner
lohnen, sich nur für Augenblicke in das Geschichtsbild eines ganz
durchschnittlichen Festland-Chinesen zu versetzen. Diesem sind die „Ungleichen
Verträge“ nach den beiden Opiumkriegen und das Hongkong-Oktroi des 19.
Jahrhunderts ähnlich ins Langzeit-Gedächtnis gebrannt wie einem Deutschen die
Versailler Verträge oder das militärische Besetzen des Ruhrgebiets. Das wird
ihm ganz aktuell Angst machen.
Nur: Das alles muss im
Kalkül der NATO, die selbst eine hochaktive Lobby ist und eine solche hat,
nicht stören und nicht schaden: Sollte China auf das Gerassel mit herbeigesehnten
neuen Panzerketten und Schiffsschrauben ganz menschlich reagieren, d.h. mit
eigener Rüstung, dann kann man launig "nachrüsten", und zwar bei den
ganz großen Gebinden, bei Schiffen, U-Booten und der Infrastruktur zur power
projection. Und das mutwillige Destabilisieren
ganzer Räume, ein massiver ziviler Blutzoll und im Millionenmaßstab
losgetretene Migration: Hat dergleichen in den letzten 25 Jahren das blau
schimmernde stählerne Ansehen gemindert? Hat sich jemand daran gemacht, das
Interventionsgeschehen nach Ende der letzten (!) Blockkonfrontation
systematisch nach Nutzen und Lasten zu evaluieren? Wenn die NATO je ein
Stabilitätsanker war, dann ist ihre Trosse lang zersplissen und zerrissen.
P.S.: Ein zu Sorge
Anlass gebendes Beispiel aus der jüngeren Vergangeheit
ist das gezielte Ausgrenzen der Chinesen bei Aufbau und Nutzung der ISS. Im
Grunde hat es Motivation und autonome Kompetenz Chinas nur gesteigert. Chinas
neue, unabhängige Fähigkeiten mögen dann argumentativ ("warnend") für
einen neuen SDI-Ansatz des Westens genutzt werden, wie er in den aktuellen
NATO-Verlautbarungen auch schon anklingt und der - ob er diesmal zum Ziele
führt oder nicht - die internationalen Beziehungen und das Sicherheitsgefühl
von Milliarden Individuen über Jahrzehnte massiv lädieren wird.
(2021/13) 16.6.2021
Kölner Stadt-Anzeiger
NATO-Strategie; Leitartikel „Für eine schnellere, smartere Nato“ von Matthias
Koch in der Ausgabe vom 15.6.2021, S. 4
Zumindest braucht die NATO in diesen neuen Zeiten kein
Feindbild aus der Mottenkiste. Sie braucht etwas, was künstliche Intelligenz
noch nicht zustande bringen wird: Eine Rückkopplung zu denen, denen sie dienen
will – also eine kluge Evaluation der ersten 40 Jahre Nordatlantikpakt und der
dann folgenden 30 Jahre nach Ende der Blockkonfrontation. Eine öffentliche
Reflektion nach Nutzen und Lasten, und zwar für uns Bürgerinnen und Bürger,
nicht für die NATO und nicht für das ewig vitale Geflecht aus Wehrtechnik,
Verwaltung und Truppe.
(2021/12) 16.6.2021
Süddeutsche Zeitung
NATO-Strategie; Bericht von Daniel Brössler und
Matthias Kolb zum NATO-Gipfel („Nato rüstet sich für Wettstreit mit China“,
Süddeutsche v. 15.6.2021, S. 1) und Kommentar von Daniel Brössler („Party der Erlösten“, ebenda S. 4)
Die Wagenburg ist wieder das strategische Design der
Stunde. Ringsumher hörbares Aufatmen über das wiedergeborene, erlösende,
heilige Bild von Feinden und systemischen Herausforderern. Nicht mehr
sozialistisch? Egal, auf jeden Fall totalitär, unmenschlich und – was Verträge
angeht – doch bekanntermaßen verschlagen und unzuverlässig. Bekanntermaßen?
Ich sehe das anders. Wir steuern unbeirrt auf die nächste
Blockkonfrontation zu, zum Nutzen der NATO und des schon von Eisenhower warnend
beschriebenen unersättlichen Geflechts aus Verwaltung, Truppe und
Rüstungswirtschaft. Koexistenz wozu? Alles in Party-Laune. Nur dass die Risiken
in einer engeren und instabileren politischen und physischen Umwelt inzwischen deutlich gewachsen sind und dass gleichzeitig der
Alarm-Ruf auf diverse nur diffus zu beschreibende Beistandsfälle erweitert
wird.
(2021/11) 15.6.2021
Frankfurter Allgemeine
NATO-Strategie; Nikolas Busses Kommentar „Die neuen Aufgaben der NATO“
(Frankfurter Allgemeine v. 15.6.2021, S. 1)
Sehr richtig: Auch die schmerzhaftesten Wahlprozesse müssen
nicht viel ändern. Und mit Joseph Biden haben wir zwar einen besser gesitteten
Hegemon. Aber der Anspruch auf Vorherrschaft musste der gleiche bleiben.
Tatsächlich fordert Biden sogar mehr politische und wirtschaftliche Allianz
dort, wo Russland oder China ihre jeweils eigene Monroe-Doktrin bzw. ihren
eigenen Cordon Sanitaire geltend machen. Und ganz nebenbei lassen sich mit den
nun wieder ganz neu definierten militärischen Bedarfen frische Geschäfte
triggern, etwa an den Küsten des Pazifik.
Eine besonders stiefmütterlich behandelte Frage bleibt
indessen: Mit welchen Fähigkeiten, Ressourcen und Einsätzen haben wir in den
Jahren nach 1990 unsere Sicherheit vor gegenwärtigen Angriffen oder auch vor
Terrorismus tatsächlich gesteigert? Fehlt da nicht eine uns Bürgerinnen und
Bürger überzeugende Evaluation von mehr als 100 Entsende-Entscheidungen unseres
hohen Hauses?
(2021/10) 11.6.2021
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 18.6.2021
Preise in der Gastronomie; zu den beiden Berichten von Thorsten Breitkopf
betreffend den Vorstoß von Dehoga „Gastwirte sollen Preise erhöhen“ und
„Dehoga: Restaurants sollen mehr Geld verlangen“ (Kölner Stadt-Anzeiger v.
11.6.2021, S. 1 u.9)
Da traut man doch seinen ordnungspolitischen Augen kaum:
Ein Interessenverband will „seinen“ Gastwirten generell höhere Preise
verordnen. Planwirtschaft? Eine Marktwirtschaft wirbt doch üblicherweise so für
ihre Überlegenheit: Preise und Leistungen lassen sich am feinfühligsten vor Ort
austarieren, dort, wo Angebot und Nachfrage gegeneinander verhandelt werden.
Auch die Argumentation ist mehr als grobschlächtig:
Vielleicht kann man das gleiche Schnitzel nicht zweimal essen oder kann es –
bei erzwungenem Verzicht – „später nicht nachessen“. Aber natürlich gibt es
auch Rebound- und Erholungseffekte nach der Krise: Sei es aufgestauter
Konsumbedarf, sei es nachhaltig ins Inland zurückgelenkter Tourismus. Aber in
Zeiten von Null-Zinsen und entwerteter Altersvorsorge die Inflation zu befeuern
– das ist schon ein starkes Stück. Was bloß ist hier das eigenen Interesse der
Interessenvertretung? Oder geht es hier eher um die Fixkosten, damit um das
langfristige Stabilisieren der Vermieter-Erträge?
Was in der Tat ernst ist, seit langem ernst ist, das ist
die Fluktuation der Mitarbeiterschaft. Hier sollten die Verbände ihre
Hausaufgaben machen, gerade was attraktive Konzepte für Ausbildung und
Nachwuchs betrifft. Aber Gastwirten und Gästen Lerneinheiten in ökonomischer
Rhetorik aufzuzwingen – das sollten sie doch besser stecken lassen.
P.S.
Ich war im BMBF über ca. 10 Jahre lang für das Berufsbildungsgesetz / BBiG
zuständig. Dabei hat sich mir die sehr hohe Abbrecherquote speziell bei der
Ausbildung zum Koch / zur Köchin tief eingeprägt, ebenso die notorischen Klagen
der Auszubildenden aller Gastronomieberufe über erhebliche Mängel der
Ausbildung. Man darf in sehr vielen Fällen davon ausgehen, dass Ausbildung mit
ihren vergleichbar sehr geringen Lohnkosten als essenzieller Teil des
jeweiligen Geschäftsmodells betrieben wird und dass den Auszubildenden selbst
deutlich zu wenig Aufmerksamkeit und Qualifikation "geschenkt" wird.
Wirksame Konzepte des Dehoga-Verbandes gegen diesen für die Branche dauerhaft
hoch kritischen Befund sind mir dagegen nicht erinnerlich. Es ist kein
wirkliches Wunder, wenn Motivation und Adhäsion dann gering ausgeprägt werden
und berufliche Alternativen attraktiv werden.
(2021/09) 4.6.2021
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 8.6.2021
Stadtentwicklung Burscheid; Bericht von Jan Sting „Das Zentrum wird erweitert“
(Lokalausgabe Rhein-Wupper v. 29./30.5.2021, S. 44)
Die Burscheider Händler-Gemeinschaft sollte nicht lange in
schönen neuen Architektur-Bildchen schwelgen. Besser, sie bemüht belastbaren
ökonomischen Sachverstand und zieht sich schon mal warm an. Für ein
Montanus-Center sieht selbst unser städtisches Entwicklungskonzept 2025
bekanntlich kein dauerhaft tragfähiges Geschäftsmodell. Dann wird die
Hauptstraße auch nicht etwa im Windschatten einer „neuen Mitte“ vorankommen. Im
Gegenteil darf sie einen krassen Unterbietungswettbewerb erwarten.
Allerdings mag es für einige Angebote eine spätere Pointe
geben: Einzelgeschäfte könnten mit klugem digitalen Service am Ende sogar
besser bestehen als eine weitere klobige Mall. Die würde dann der Stadt wie ein
aus der Zeit gefallener Klotz am Beine hängen. Architekten brauchen sich daran
nicht zu stören; sie ziehen mit ihren bunten Bildchen einfach weiter.
(2021/08) 20.5.2021
Kölner Stadt-Anzeiger
Eckpunkte Bundeswehr; Kommentar von Daniela Vates
„Umzingelt von Gefahren“ (KStA v. 19.5.2021, S. 4)
Hast Du einen Feind, so hat der Tag Struktur. Wenn ich die
Eckpunkte der Verteidigungsministerin recht verstehe, ist es jetzt nicht mehr so
sehr der ferne, fremde Feind – der, den man so gerne mit Strafexpeditionen
einhegen wollte. Das war ja auch nirgendwo so recht
geglückt, zuletzt auch nicht in Afghanistan.
Besonders angesagt ist nun wieder der gute alte Landfeind,
gegen dessen groß Macht und viel List man sich neu rüsten und entrüsten kann.
Und vorbei ist's mit der zeitweise sprichwörtlichen Umzingelung durch lauter
Freunde. Im Grunde dürfen wir für diese noch vor der Wahl gezogene Lehre
dankbar sein – es ist ja gleichzeitig eine etwas verschämte Evaluation der
letzten 20 Jahre und ihrer sehr speziellen erweiterten Außen- und
Sicherheitspolitik. Eigentlich ist es eine Bankrotterklärung verbunden mit dem
Angebot, schnell neue Aktien zu zeichnen.
(2021/07) 11.5.2021
Kölner Stadt-Anzeiger
Corona; Kommentar von Thorsten Fuchs „Freiheit in Sicht“ (Ausgabe v.
8./9.5.2021, S. 4), auch zum Interview mit Hermann-Josef Tebroke „Wir brauchen
einen Neustart“ (Lokalausgabe Rhein-Wupper daselbst S. 41)
Stimmt, die Freiheit kommt in Sicht. Aber wird dann, wie an
Gummifäden gezogen, alles wieder in eine vorherige Lage zurückschnellen? In
Handel und Kultur, bei Kirchen, Vereinen und Politik? Das ist höchst
unwahrscheinlich. Nur ein Beispiel: Wir werden einen Vorteils- und
Lastenausgleich zwischen den sehr verschieden betroffenen Waren-Verteilsystemen
brauchen, zwischen Internetplattformen, Großmärkten und Detailhandel, zumindest
für eine mehrjährige Anpassungszeit. Wir sollten etwa auch Schule und Tourismus
dauerhaft neu und krisenfest organisieren. Denn Covid 'X ist nicht nur nicht
unwahrscheinlich. Im Gegenteil begünstigen wir neue Pandemien derzeit
strukturell durch invasive Wirtschaftsformen.
Bei alledem wird die zweite – eigentlich erste –
wesentliche Herausforderung immer mitzudenken sein: ein deutlich progressiver
Klimaschutz. Und welche Phase wäre für im besten Sinne konkurrierende
politische Konzepte und für die Abstimmung der Bürgerinnen und Bürger richtiger
als eben der Wahlkampf einer vitalen Demokratie? Allerdings hört man hier von
solchen mittelfristig angelegten Strategien noch wenig.
(2021/06) 25.4.2021
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 1./2.5.2021
Stadtentwicklung Burscheid; Bericht und Kommentar von Jan Sting in der
Lokal-Ausgabe Rhein-Wupper v. 24./25.4.2021, S. 42 („Drogeriemarkt in der
Lindenpassage“; „Die volle Dröhnung“)
Da stimme ich völlig zu: Ein Drogeriemarkt in der
Lindenpassage kann für Burscheids angedachte Montanus-Magistrale bitter werden.
Sogar das Integrierte Entwicklungs- und Handlungskonzept (IEHK 2025) selbst
hatte zu dem neu zu errichtenden Einzelhandelszentrum schon ein ernstes
Fragezeichen vermerkt: „Eine erste Wirtschaftlichkeitsbetrachtung kommt zu
dem Ergebnis, dass die Entwicklung des Areals auch mit einem SB-Markt
wirtschaftlich nicht auskömmlich ist“, so das IEHK 2025 ausdrücklich auf S.
158. In Angriff genommen wurde es dennoch. Die Ideen für die Montanusstraße wurden sogar Dreh- und Angelpunkt für viele
andere Planungen – etwa für das Auftrennen des Busbahnhofs auf künftig
verschiedene Plätze oder für die höchst irritierenden Ausführungen des Konzepts
zur Auskömmlichkeit des Netto-Standorts. Nicht ganz fehl geht sicher ferner,
wer auch die himmelstürmende Fahrradrampe zur Hauptstraßenbrücke und die
aussichtslose Aussichtsplattform gerade im Zusammenhang mit einem „neuen
Zentrum Montanusstraße“ sieht: Als eine Art Placebo
für die Hauptstraßen-Ladenlokale gegen eine bald erwartete vielfältige
Konkurrenz eben aus dem „neuen Zentrum“.
Gäben wir die Montanus-Visionen auf, wäre das sicher
zunächst schmerzlich. Auf mittlere Sicht könnte Burscheid aber eine vielleicht
sehr schwerwiegende Planungsruine vermeiden und einige Bürger/innen würden
aufatmen.
P.S.:
Man kann sich einen weiteren Satz des IEHK zum geplanten Geschäftszentrum Montanusstraße auf der Zunge zergehen lassen, siehe dort S.
156 (Unterstreichung von mir):
„Die Ansiedlung eines Einzelhandelsangebots in integrierter Lage in der Montanusstraße stellt einen zentralen Aspekt der
Innenstadtentwicklung Burscheids dar. Der Zielvorstellung folgend, das Zentrum
der Stadt zu stärken, kann die Kaufkraft in die Stadt zurückgeholt und durch
die Schaffung von Konkurrenz auch gebunden werden.“
M.E. zeigt das ein naives, jedenfalls unzulässig vereinfachendes
Architekten-Verständnis von Ökonomie. Bei einem insgesamt nur wenig auszuweitenden
Marktvolumen wird der Ausbau auf der Angebotsseite in einem weiter anziehenden
Wettbewerb im Zweifel zu Lasten der wirtschaftlich schwächeren und weniger
modern aufgestellten Angebote auf der Hauptstraße gehen. Mal ganz abgesehen
davon, dass das IEHK nur zwei Seiten weiter selbst die nachhaltige
Wirtschaftlichkeit des neuen Geschäftszentrums in Frage stellt, siehe obiges
Zitat im Leserbrief. Was dann nur durch noch aggressiveren Wettbewerb und auch
nur zeitweise aufgefangen werden könnte.
(2021/05) 22.3.2021
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 19.3.2021
zum Beitrag von Thorsten Breitkopf „Rheinmetall setzt auf Elektro-Panzer“
(Kölner Stadt-Anzeiger v. 19.3.2021, S. 8)
Sind wir auf dem Weg zum Öko-Panzer, vielleicht gar zum
Öko-Einsatz? Der umweltverträglichste Panzer ist der, der nie
zusammengeschweißt wird. Tatsächlich blenden wir die ökologischen
Langzeitwirkungen von Waffeneinsätzen zu gerne aus, speziell in den ariden und
semi-ariden Regionen des Globus. Beispiel: Das Sprengen von Tanklastern in
einer Kundus-Furt, einer regionalen Haupt-Wasserader, war eine erstrangige
Umweltkatastrophe. Diese Szenario aus mehreren Kubikmetern an halbverbrannten
Treibstoffen und Schmierstoffen, mal für ein Gedankenspiel an den Oberlauf der
Weser verlegt, es hätte uns hierzulande wochenlang Schlagzeilen in
72-Punkt-Schrift beschert. Aber so?
Darum sollten wir uns Gedanken machen. Aber nicht um
Öko-optimierte Panzer, die vielleicht mal eingesetzt werden können, um seltene
Erden auf aller Welt zu sichern. Vielleicht mit dem Siegel direkt unter der
Kanone „Wir.Dienen.Öko!“
(2021/04) 26.2.2021
Süddeutsche Zeitung
Afghanistan; Kommentar von Daniel Brössler „Neue
Kameraden“ (Süddeutsche v. 25.2.2021, S. 4)
Pragmatisch betrachtet ist es richtig: Allein herauszugehen
oder gar allein dort zu bleiben, das wäre ein besonderes Risiko. So, wie im
Falle der zweiten UNOSOM-Mission, als sich die Deutschen i.J. 1994 schleunigst
nach den Amerikanern aus Belet Uen
absetzen mussten. Wie der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière
2012 sagte: In einer militärischen Operation ist der Rückzug nun mal das
Schwerste. 2012 hatte der frühere Generalinspekteur Harald Kujat die primären
Ziele der Afghanistan-Mission schon offen als „gescheitert“ erklärt; allerdings
hatte auch er damals das erfolgreiche Einstehen für einen Bundesgenossen
hervorgehoben.
Beklemmend wirkt auf mich: Kameradschaft, egal ob neue oder
alte, kann ich nicht zu den universellen Menschenrechten zählen. Aber
Kameradschaft – oder in älterem Wortgebrauch das „Spießgesellentum“
oder die „Waffenbrüderschaft“ – sie hat zu allen Zeiten die fundamentalen
Rechte Dritter massiv geschädigt. Allseitig anerkannte Zahlen liegen für
Afghanistan zwar nicht vor, aber seröse Erhebungen gehen für die letzten 10
Jahre von jeweils einer Größenordnung von 3.000 getöteten und 6.000 verletzten
Zivilpersonen aus. Auch das bedeutet eben der Beschluss der Bundesregierung:
Dieser Blutzoll wird sich auf unbestimmte Zeit fortsetzen. Schon weil eine
Begründung des Auswärtigen Amtes zum abermaligen Verlängerungsbeschluss wie
reines Wunschdenken wirkt: Auf künftig „bessere Ausstiegsbedingungen“ zu
setzen. Sind wir in einer Zeitschleife gefangen?
(2021/03) 26.2.2021
Frankfurter Allgemeine, abgedruckt 4.3.2021
Afghanistan; Kommentar von Christian Meier „Ziele für Afghanistan“ und Bericht
„Afghanistan-Einsatz bis 2022“ (Frankfurter Allgemeine v. 25.2.2021, S. 1 u. 5)
Das ist das nicht
endende Dilemma des Afghanistan-Einsatzes: Ein Abrücken der Truppe ist ebenso
wenig mit Ziel, Sinn und Werten zu füllen wie das das weitere Ausharren. Schon
im März 2012 hatte der frühere Generalinspekteur Harald Kujat die
Stabilisierungsziele der Verbündeten offen als gescheitert erklärt. Wenn das
Auswärtige Amt nun eine erneute Verlängerung damit begründet, abermals auf
„bessere Ausstiegschancen“ zu warten, dann erinnert mich das an die
Zeitschleife des Groundhog Day.
(2021/02) 16.2.2021
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 1.3.2021
Burscheider Kultur; Beitrag von Jan Sting „SPD engagiert sich für die
Musikschule“ (Ausgabe v. 15.2.2021, S. 24)
Der Zorn ist verständlich: Burscheid hat eine gewaltige
Tradition und Verantwortung für die bürgerliche Musik; unsere kleine Stadt
beherbergt mit der Musicalischen Academie
von 1812 immerhin das älteste deutsche Laienorchester. Damit gute musikalische
Kompetenz in Burscheid zuhause bleibt, müssen wir unsere Musikschule mindestens
so fördern wie viele andere Städte das aus gutem Grund schon tun. Und wenn’s
noch ein bisschen überdurchschnittlich geraten könnte – auch das könnte der
Musikstadt überhaupt nicht schaden!
(2021/01) 12.1.2021
Frankfurter Allgemeine
Außen- u. Sicherheitspolitik; Kommentar „Schock und Schande“ von Berthold
Kohler (Frankfurter Allgemeine v. 8.1.2021, S. 1)
Muss Berlin nun mehr Entschlossenheit und Führungsstärke in
einem weltweiten Ringen mit Moskau und Peking an den Tag legen? Davon würden
rund um den Globus am ehesten die profitieren, denen das existente Machtgefüge
ohnehin ein Dorn im Auge ist. Erster Punkt der Tagesordnung ist aus meiner
Sicht: So schnell als möglich zum regelbasierten System internationaler
Zusammenarbeit und Koexistenz zurückkehren und allen manichäischen Scheidungen
der Staaten, Regionen und Gruppen entgegenwirken. Und, frei nach Kant, auf
schandhafte Deals verzichten.
(2020/32) 29.12.2020
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 5.1.2021
Kampfdrohnen; Interview von Andreas Niesmann mit Rolf
Mützenich über eine gesellschaftliche Debatte zu Kampfdrohnen (Kölner
Stadt-Anzeiger v. 28.12.2020, S. 8)
Es gibt einen sehr praktischen Aspekt beim
Einsatz von Kampfdrohnen. Man könnte es nennen: den „Stinkefinger-Effekt“.
Diese Drohnen sind die Botschaft an alle Aufständischen dieser Welt: „Seht her
– wir tun das, weil wir's können. Ohne Risiko für uns!“
Was macht dann ein aufgebrachter
Aufständischer, früher oder später? Er sprengt Weihnachtsmärkte mit Wählern in
die Luft. Weil er ja die Hersteller, Generäle,
Soldaten und Abgeordneten nicht unmittelbar erreichen kann. So wenig wie
Churchill einen Hitler und dessen V2 erreichen konnte. Und dann bin ich wieder
bei Herrn Mützenich: Wir sollten sehr intensiv darüber sprechen: Ob wir das
wirklich wollen.
Und ein paar
Sammlerstücke aus früheren Jahren:
Die Mutter aller
[meiner] Leserbriefe:
29.9.1992
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt 2.10.1992
Militär; Absage der "V 2 - Gedenkfeier" in Peenemünde (KStA. v. 29.9.1992)
Hätten wir am
Deutschlandtag die Schöpfer der V 2 hochleben lassen, hätten wir auch die der
Scud mitgefeiert. Die Scud ist wie die Mehrzahl der heute weltweit
ausgerichteten Trägersysteme legitimer Nachfahre der V 2. Scud und V 2 sind
brutale Massenvernichtungswaffen, die unter einem verantwortungslosen Regime bewußt zum Schaden der Zivilbevölkerung eines anderen
Landes entwickelt und eingesetzt worden sind.
Demgegenüber ist der
vorgebliche Kontext ziviler (!) Raumfahrtforschung, der etwa den jungen Wernher
von Braun begeistert und geblendet haben mag, als Begründung eines V 2 - Festes
geradezu absurd. Die Forschung hat sich gegen diese Wirtschaftsidee im
doppelten Sinne auch ausdrücklich verwahrt.
Der Vorschlag war, wenn
auch der count-down schweren Herzens in letzter
Sekunde abgebrochen wurde, bereits eine verheerende Wunderwaffe gegen das
Ansehen des neuen Deutschland im Ausland und unserer Repräsentanten im Inland.
Und der am weitesten
gereiste Leserbrief:
22.08.1995
NIKKEI WEEKLY, JAPAN; abgedruckt 28.8.1995
Militärpolitik; Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki; THE NIKKEI WEEKLY of August 14, 1995
I refer to reports on WW II and especially to two letters to the editor printed in THE NIKKEI WEEKLY of August 14,
1995. It is my impression that those two letters offer a unilateral and quite
insulting interpretation of the motives behind the drop of atomic bombs onto
Hiroshima and Nagasaki fifty years ago (e.g. N. Hale:
"a merciful decision"). So I would like to
show an alternative view:
It is certainly true that Japanese military leaders commenced the
hostilities against the
The echoes of that demonstration of power strongly outlived that event.
We hear them over and over again – from
Weitere
Leserbriefe
2020 / 2019 / 2018
/ 2017 / 2016 / 2015 / 2014 / 2013 / 2012 / 2011 / 2010
/ 2009 / 2008 / 2007 / 2006 / 2005 / 2004
/ 2003 / 2002
/ 2001 / 2000
/ 1999 / 1998
/ 1997 / 1996
/ 1995 / 1994
/ 1993 / 1992
oder
auch ein paar Briefe für Englisch-sprachige Medien.
Oder meine >150 Leserbriefe,
die zum Thema Außen- und Sicherheitspolitik,
Auslandseinsätze bzw. „out of area“
veröffentlicht worden sind.
Zurück zur Index-Seite:
hier