Karl Ulrich Voss, Burscheid: Meine Leserbriefe im Jahr 2022

Stand: Januar 2023

 

(2022/50) 28.12.2022
DIE ZEIT, abgedruckt 5.1.2023
Krisen-Weihnacht; Leitartikel von Giovanni di Lorenzo „Eine Auszeit, keine Weltflucht“ (DIE ZEIT No. 53 v. 22.12.2022, S. 1)

Ein fantastisches Motto, dieses „Deutschland funktioniert!“. Gar nicht utopisch: Deutschland organisiert sich transparent und berechenbar, es plant mindestens mittelfristig, es übt sich in Erhaltung und Maintainance statt in schöpferischer Zerstörung, intern wie extern. Hinzu gehört aber Bereitschaft zu fortwährender Evaluation und Reflektion. Während wir uns die Ukraine-Hilfe auf die Habenseite schreiben, müssen wir Versäumnisse und Schäden nach unserer jahrzehntelangen Hilfe am Hindukusch nicht verdrängen.

Und wir sollten – da könnten das ältere und das jüngere Projekt zusammenführen – in der Tat jeden leidenschaftlichen Vermittlungsversuch für Menschen in Not wagen, ohne Auszeit, ohne Weltflucht. Fast so, als wären wir neutral.

 

(2022/49) 26.12.2022
Kölner Stadt-Anzeiger
Afghanistan; Leitartikel v. Can Merey „Rückkehr zur Steinzeit-Diktatur (Ausgabe v. 23.12.2022, S. 4)

Vollste Zustimmung: Wir müssen den Afghaninnen und Afghanen helfen. Jetzt. Wir schulden es unserem christlichen Selbstbild. Wir schulden es unseren Soldaten im Einsatz, die ein Mindestmaß an Perspektive und Sinnstiftung verdienen - für Herausforderungen und für bleibende Schädigungen in den letzten zwei Jahrzehnten. Wir schulden es den Tausenden, die wir erst eingespannt und dann Hals über Kopf im Stich gelassen haben.

Ein notwendiger, aber für sich noch nicht ausreichender Schritt ist, Afghanistan wieder an das globale Bankensystem anzuschließen. Damit können wir die teils sehr gefährlichen Wege erübrigen, die dringend benötigten Hilfsgelder ins Land zu bringen.

 

(2022/48) 7.12.2022
Kölner-Stadt-Anzeiger
Mehr Geld für Dienstwagen in NRW; Oliver Auster „Mehr Geld für Dienstwagen genehmigt“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 6.12.2022, S. 3)

Aus meiner Tätigkeit in einem Bundesressort ist mir gut vertraut: Jenes Haus wirkte zeitweise wie ein Gebrauchtwarenhandel mit angeschlossenem Ministerium, mit Angeboten abgelegter Dienstwagen in jeder zweiten Hausmitteilung.

Tatsächlich ist die öffentliche Hand ein zentraler Teil der Geschäftswagen-Strategie der großen Hersteller – für das nationale Premiumsegment. Das glänzende Ergebnis ist dann werbewirksam in fast jeder Nachrichtensendung zu bestaunen. Aber: Ist das denn gut? Tatsächlich könnte vermutlich jeder Minister in einem Dacia Spring komfortabel 95% seiner straßengebundenen Mobilitätsziele erreichen, mit allen seinen Vortragsakten und für deutlich unter 20.000 € für ein ganzes Autoleben.

Warum dann nicht mal ein rollendes ökologisches Vorbild werden und dabei richtig viel kostbares Steuergeld für nachhaltigere Zwecke reservieren? In einer Zeit, die das Maßhalten doch ohnehin jeden Tag dringender empfiehlt?

 

(2022/47) 20.11.2022
Remscheider General-Anzeiger, Regionalteil Burscheid; abgedruckt 24.11.2022
Musikstadt Burscheid; Nadja Lehmann in der Ausgabe v. 17.11.2022: „Titel ‚Musikstadt‘ lässt weiter auf sich warten“

Sehr schade! Aber selbst für ausgewachsene Behörden ist die Rechtslage bisweilen schwer zu ergründen. Anfang 2023 wird die Verleihung der musikalischen Stadtrechte dann wohl wieder auf der Tagesordnung stehen - und auch entschieden werden.

Bis dahin können wir sicher noch etwas ermutigen. Ich stehe gerne zu einer Spende für eines der neuen Schilder bereit. Ganz ohne Widmung drauf. Und von der Charakteristik als musische Stadt wird die gesamte Bürgerschaft profitieren. Jedenfalls muss dann Burscheid bundesweit nicht zuallererst als Stauende aus den Verkehrsnachrichten von sich reden machen. Ehrlich gesagt: Wir haben’s drauf und am Tag des offenen Denkmals konnte es jeder hören und fühlen.

 

(2022/46) 18.11.2022
Kölner Stadt-Anzeiger, Lokalausgabe Rhein-Wupper
Stadtentwicklung; Gespräch von Agatha Mazur mit der Buchhändlerin Ute Hentschel „Es wird Richtung Dienstleistung gehen“ (KStA Lokalteil Rhein-Wupper v. 17.11.2022, S. 36)

Ute Hentschel hat sicher ein selbstbewusstes Geschäftskonzept. Ob das aber auch für die Burscheider Hauptstraße als Ganzes gilt, das ist höchst fraglich: "Dienstleistungen"? Es wird wenige Radtouristen geben, die sich dort frisieren, rasieren oder maniküren lassen wollen, gerade nicht unter der Woche oder in Gruppen. Leere Geschäftslokale als künftige "Sahnestücke"? Sicher nicht für eine Parfümerie oder für andere Anbieter, die mit einem Vollsortimenter und mit einem Drogeriemarkt wetteifern wollen, künftig fußläufig direkt um die Ecke - und von der Balkantrasse aus tatsächlich barrierefrei zu erreichen. Wenn überhaupt, dann werden Billiganbieter florieren, solche, die auch schmale Mieten zahlen.

Und die in der Montanusstraße nun ausgerufene „Neue Mitte“? Sie mag sogar eine Blütezeit erleben und dann dort „Kaufkraft binden“. So wie zunächst alle Malls, etwa auch früher unsere Linden-Passage oder die Rathaus-Galerie in Leverkusen. Aber dann kann es sehr schnell bröckeln, so wie selbst das Integrierte Entwicklungs- und Handlungskonzept Burscheids auf S. 158 ebenso ausdrücklich wie düster orakelt: „Eine erste Wirtschaftlichkeitsberechnung kommt zu dem Ergebnis, dass die Entwicklung des Areals auch mit einem SB-Markt wirtschaftlich nicht auskömmlich ist.“

Nun, irgendjemand wird bis dahin daran gut verdient haben und viele weitere Existenzen werden über die Wupper gegangen sein. Die Planer aber, die ziehen mit ihren bunten Prospekten fröhlich singend weiter.

Quelle zum Zitat aus dem Burscheider IEHK (dort S. 158):
https://www.burscheid.de/fileadmin/user_upload/redakteure/Bauen_und_Wohnen/IEHK/IEHK_2025_Konzept.pdf

 

(2022/45) 16.11.2022
DIE ZEIT, veröffentlicht 18.11.2022 im Internet-Angebot der ZEIT =
https://blog.zeit.de/leserbriefe/2022/11/18/10-november-2022-ausgabe-46/
Intelligenzforschung; Interview von Stephanie Kora mit der Psychologin Elsbeth Stern: „Sind intelligente Menschen glücklicher?“ (DIE ZEIT No. 46 v. 10.11.2022, S. 33)

Zwei Anmerkungen zu zwei Betrachtungen am Ende des Gesprächs:

(1) Müssen wir uns wegen eines sinkenden IQ’s Sorgen machen? Das Problem mag etwas anders liegen: In unserer hoch organisierten, umsorgten und digitalisierten Welt wäre es darwinistisch betrachtet Luxus oder auch Schwachsinn, weiter ebenso viel Energie auf unseren Denkapparat zu verwenden wie zur Zeit der Jäger und Sammler. Tatsächlich geht nach archäologischen Befunden mit dem Beginn der Stadt- und Staatenbildung und der Schriftsysteme vor ca. 5.000 Jahren auch unser durchschnittliches Gehirnkammervolumen stetig wieder zurück. Wir setzen uns kleiner und überleben dennoch, nun mit einem immer smarteren Handy.

(2) Sind Intelligenz und Kurzsichtigkeit genetisch korreliert? Wohl nicht; tatsächlich weisen aktuelle Studien aus Asien – zuletzt aus Taiwan – darauf hin: Die dort extrem schnelle Zunahme der Kurzsichtigkeit geht schlicht auf veränderte Sehgewohnheiten zurück, auf zu viel künstliches Licht und wieder mal: auf das Handy. Die Schlauen lesen einfach ihre Augen kaputt. In exakt die gleiche Richtung weist eine Studie zur ungewöhnlichen Fähigkeit einer asiatischen Population, unter Wasser ohne Hilfsmittel scharf zu sehen: Hatte man zunächst eine genetische Ursache im Visier, fand man schnell heraus: Es ist nur Training, das prinzipiell jedem Menschen offen stünde. Also: Zum Glück haben wir unser Los in der Hand, in beide Richtungen.

Insgesamt zur Messung der menschlichen Intelligenz: Ein abstrakter anthropometrischer Maßstab ist bis heute nicht gefunden. Vermutlich kann er auch niemals definiert werden, jedenfalls nicht von Menschen. Bei Licht besehen prüft jeder IQ-Test bevorzugt Systemintelligenz ab oder auch: Problemlösungsfähigkeit in einem vorgewählten sozio-kulturellen Rahmen. Unsere aktuellen Verfahren sind zumeist Nachfahren des Stanford-Binet-Tests. Und der Stanford-Binet wiederum bildete die Vision des US-amerikanischen Eisenbahn-Magnaten und Stifters Leland Stanford ab, der seine Einstellungsverfahren optimieren wollte, mit großzügig eingebauten Dampfkesseln, Pleueln, Karten, Briefen und Wenn-Dann-Beziehungen.

Die Tests schaffen ihre eigene Welt und Gesellschaft, gerade wenn wir ihnen zu viel zutrauen. Um die einleitende Frage zu beantworten: Am glücklichsten sind vermutlich Menschen, die sich um ihre Intelligenz keinen zu großen Kopf machen ;-)

Quellen:

https://www.sehen.de/presse/pressemitteilungen/kind-und-sehen/deutlich-zunehmende-kurzsichtigkeit-bei-kindern/
(veränderte Lebensgewohnheiten als Ursache rasch zunehmender Kurzsichtigkeit);
https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0042698906002367
(erlernbare Akkommodation)

 

(2022/44) 9.11.2022
DIE ZEIT, veröffentlicht 11.11.2022 im Internet-Angebot der ZEIT =
https://blog.zeit.de/leserbriefe/2022/11/11/3-november-2022-ausgabe-45/
Iran; „Sieg der Mutigen“ von Navid Kermani (ZEIT-Ausgabe No. 45 v. 3.11.2022, S. 1)

Im Iran könne nur noch die Demokratie für Stabilität sorgen? Wohl ebenso wie Navid Kermani wünschte ich: Wir bekämen einen Reset hin in die Zeit des demokratisch gewählten iranischen Premiers Dr. Mohammad Mossadegh. Zurück in jene Zeit vor der Operation Ajax und vor einem sodann völlig entrückten und in seinem Machterhalt brutalen Schah Reza Pahlewi. Vor einem historisch nicht sehr erstaunlichen Umsturz in den Gottesstaat. Vor dem unerhört blutigen Golfkrieg zwischen Irak und Iran, den ein westlicher Außenminister recht zynisch so kommentiert haben soll: „A pity they can’t both lose!“

Angesichts der massiven bedingten Reflexe daraus greift es m.E. zu kurz, als letztes Hindernis vor einer Demokratie „nur“ Hunderttausende glaubensfeste Milizionäre zu sehen. Bzw. als einziges ernstzunehmendes Hemmnis einer flächendeckenden Zivilgesellschaft, wie sie uns halbwegs vertraut vorkäme. Das Manichäische liegt in dieser Region nahe; tatsächlich hat Mani seine Religion mit der unversöhnlichen Opposition von Gut und Böse ja im Perserreich des 3. Jahrhunderts geformt. Es wird einen völlig neuen Vertrauen schaffenden diplomatischen Ansatz brauchen – über den wir ausweislich unserer oberflächlichen Performanz in Afghanistan noch nicht in Ansätzen verfügen – wenn eben wir einen friedlichen Übergang in Teheran und in der Fläche fördern wollen. Und die rechtstechnische Lösung wird keine aus dem Werkzeugkasten des westlichen Statebuilding sein.

Seltsame Gleichzeitigkeit im Übrigen: Die Golfstaaten und insbesondere Katar werden zum ersten Mal seit Jahrzehnten ein leichtes Mitleid mit dem iranischen Regime fühlen, sehen sie sich doch ebenso breiter Kultur- und Menschenrechtskritik ausgesetzt. Den jeweiligen Eliten mag heute die westliche Herausforderung schon deutlich brisanter erscheinen als der für uns so bewährte Gegensatz zwischen Sunniten und Schiiten, zwischen Wahhabiten und Hanafiten, Hanbaliten, Malikiten und weiteren differenzierten Lehren. Das mag zu neuen Allianzen führen und jeder nachhaltigen Modernisierung ebenso verdeckt wie finanzstark und zäh entgegenwirken.

 

(2022/43) 31.10.2022
Frankfurter Allgemeine,
abgedruckt 3.11.2022
Ukraine, Rede von Bundespräsident Steinmeier am 28.10.2022; Berthold Kohlers Kommentar „Dann wird Deutschland die Prüfung bestehen“ (Frankfurter Allgemeine v. 29.10.2022, S. 1)

Mit den Zeitenwenden ist es immer so eine Sache. Mit einiger Wahrscheinlichkeit werden mehr als eine Milliarde Menschen dieser Welt bei näherem Hinsehen den 7. Mai 1999 als den für sie größeren Epochenbruch bewerten, darunter sehr viele junge Menschen. Am 7. Mai war im Rahmen der bereits am 24. März 1999 aufgenommenen Operation Allied Force die chinesische Botschaft in Belgrad bombardiert worden. Der Ort – eine weitere europäische Hauptstadt. Die Zeit – weit vor Kiew. Die Operation (sic!) OAF, die man auch als Strafexpedition gegen slawischen Nationalismus einordnen mag, sie war also mitten in denjenigen Spannungs- oder Krisenbogen gefallen, den der Bundespräsident am 28. Oktober 2022 bewusst oder unbewusst aufgemacht hat, den Bogen nämlich zwischen der glücklichen Wiedervereinigung und der brutalen russischen Invasion in die Ukraine. Spätestens 1999 war allen Mitspielern des Great Game klar geworden: Ein ambitionierter Westen will beim Durchsetzen seiner Werte- und Ordnungsvorstellungen und bei der progressiven Wahrung seiner wohlverstanden Interessen künftig alles sein, nur nicht zimperlich – gerne aber dominant. Und der Westen war tatsächlich nicht zimperlich, diverse empfindliche Misserfolge und einige hunderttausend zivile Opfer eingeschlossen.

Genau das wäre aber doch eine kluge Ausgangsbasis für die Diplomatie, die der Bundespräsident leider ad calendas graecas verschieben will – beide Lager evaluieren ihr fruchtloses Tun und stellen gemeinsam fest: In einer zunehmend vernetzten Welt, die weiß Gott nachhaltigere Probleme kennt, dort haben militärische Operationen und formale Änderungen des Welt-Katasters keinen bilanzierbaren Vorteil. Oder: Sie sind höchstens dazu angetan, die Halbwertzeit unserer industriellen Kulturen drastisch zu verkürzen.

 

(2022/42) 31.10.2022
Kölner Stadt-Anzeiger / Lokalausgabe Rhein-Wupper
Umwelt; „Keine Eile bei Alternativen zum Auto“ von Thomas Käding (Lokalausgabe Rhein-Wupper v. 27.10.2022, S. 34)

Das ist äußerst irritierend, im Grunde erschreckend: Das Burscheider Integrierte Entwicklungs- und Handlungskonzept („IEHK 2025“) gestaltet ja wesentliche Verkehrsachsen und -flächen neu – insbesondere die Hauptstraße in allen ihren Zonen und die Montanusstraße, samt Busbahnhof. Und alles das soll geplant sein ohne ein differenziertes Mobilitätskonzept? Alternativ: Dieses Konzept sollte schon lange vor der endgültigen Umsetzung des IEHK wieder überholt sein? Das würde auf das Risiko erheblicher Fehlinvestitionen hindeuten.

Unabhängig davon: Nach der Grundsatzrede des Bundespräsidenten vom 28. Oktober, in der er insbesondere den entschlossenen Wandel zur Nachhaltigkeit anmahnt, hat unser Klimaschutz zumindest eines heute nicht mehr: Viel Zeit und Weile.

 

(2022/41) 30.10.2022
Kölner Stadt-Anzeiger
Ukraine, Rede von Bundespräsident Steinmeier am 28.10.2022; Kommentar „Gelungene Rede“ von Steven Geyer (Kölner Stadt-Anzeiger v. 29./30.10.2022, S. 4) und Ratgeber „So sparen sie beim Tanken“ von Thorsten Breitkopf (daselbst S. 9)

Das wäre doch mal ein kleiner Auftakt zur Vertrauensbildung zwischen allen Schichten, wie sie der Bundespräsident am 28. Oktober beschworen hat: Die Mineralöl-Vorstände beschließen stabile Verkaufspreise für mindestens zwei Tage. Und wir Verbraucher schenken uns das irre stündliche Tankkosten-Orakel und können uns preisbewusster und dann vermutlich auch verantwortungsvoller und nachhaltiger eindecken.

Mehr Fairness auf Chef-Ebene und mehr Bewertungskompetenz auf Bürger-Ebene wären für ein widerstandsfähiges und zukunftsfestes Deutschland auch generell nicht von Schaden.

 

(2022/40) 28.10.2022
Remscheider General-Anzeiger / RGA - Regionalteil Burscheid, abgedruckt 1.11.2022
Interview von Stephan Eppinger mit der Buchhändlerin Ute Hentschel („Die Innenstadt muss belebt bleiben“; RGA - Regionalteil Burscheid v. 26.10.2022, S. 23)

Sehen wir es nüchtern: Die wirkliche Herausforderung wird erst kommen. Und zwar mit der Eröffnung der „Neuen Mitte“ in der angrenzenden Montanusstraße. Die Erträge dieses zusätzlichen Einkaufszentrums plus Rendite für die stattlichen Investitionen dort, die wird man im Wesentlichen zu Lasten bereits existenter Anbieter generieren müssen.

Paradoxerweise könnte es für die Hauptstraße aber einige Jahre später eine positive Wendung geben, wenn nämlich das Montanus-Center bereits erste Abnutzungsspuren zeigen wird. Dann könnten die kleineren Hauptstraßen-Einheiten mit vitalen Web-Shops moderner, nachhaltiger und wettbewerbsfähiger aufgestellt sein als Läden mit weiter happigen Montanus-Mieten, in einem anachronistisch unflexiblen Gehäuse.

Vom traditionellen Burscheider Kern wird dann hoffentlich noch etwas mehr übrig sein als Geschenkangebote, Gebrauchtwaren und Altenwohnungen. Ein vernünftiges Ziel des Burscheider IEHK war jedenfalls: Unsere Hauptstraße soll auch langfristig einen merklichen Teil des Lebensbedarfs decken können.

P.S.:
Es mag sein, dass das Montanus-Center bereits vor seiner Eröffnung aus der Zeit gefallen sein wird. Das Burscheider Integrierte Entwicklungs- und Handlungskonzept (IEHK 2025, Stand Dez. 2016) weist zumindest erstaunlich offene Vorbehalte der ASS-Planer aus: "Eine erste Wirtschaftlichkeitsbetrachtung kommt zu dem Ergebnis, dass die Entwicklung des Areals auch mit einem SB-Markt nicht auskömmlich ist." (IEHK 2025, S. 158 Abs. 3, siehe
https://www.burscheid.de/fileadmin/user_upload/redakteure/Bauen_und_Wohnen/IEHK/IEHK_2025_Konzept.pdf).

 

(2022/39) 15.10.2022
Kölner Stadt-Anzeiger
Afghanistan; Artikel „Wie der Westen den Krieg verlor“ von Can Merey (Kölner Stadt-Anzeiger v. 15./16.10.2022, S. 2)

Wie ich es verstanden habe, hatte das Verteidigungsministerium in der ersten Jahreshälfte 2021 ebenso seriöse wie erschreckende Hochrechnungen angestellt: Man hatte eine Größenordnung von deutlich mehr als 10.000 Afghanen kalkuliert, die wegen Kooperation mit Deutschland als ernsthaft kompromittiert galten, die jetzt quasi ein hautnaher Anwendungsfall der lange gepriesenen „responsibility to protect“ wären.

Ein solcher Exodus erschien nun aber als arg unkommod, gerade in unserem damaligen 2021’er Wahlkampf. So setzte sich die „staatsmännische“ Losung durch, zunächst einmal abzuwarten und Tee zu trinken. Als sich dann alle Schnittstellen und Schleusen dicht geschlossen hatten, da konnte man diese am ehesten selbstschützende Strategie – ein Triumph der Rhetorik – noch mit besonderer Bündnistreue bemänteln: Keinesfalls habe man das Signal zum Abbruch und Aufbruch setzen dürfen und wollen.

So viel zu den Werten guter Christenmenschen!

 

(2022/38) 3.10.2022
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT am 8.10.2022 =
https://blog.zeit.de/leserbriefe/2022/10/08/29-september-2022-ausgabe-40/
zu den Beiträgen von Giovanni di Lorenzo und Roberto Saviano („Die neue Flamme“ und „Sie zielt auf den Bauch“, DIE ZEIT No. 40 v. 29.9.2022 S. 1 u. 8)

Ich bin gerne bei den Guten. In den letzten Jahren fällt mir diese Verortung immer schwerer. Zumal mit einer – wahrscheinlichen – italienischen Ministerpräsidentin, die mit unter die Haut gehender Sprache „Dio, patria, famiglia!“ propagiert. Die möglicherweise Guiseppe Mazzini, Gabriele d’Annuncio und Benito Mussolini ganz oder in Teilen ausblendet, nicht aber ihre Werte: Elitär, identitär und verteufelnd.

Seltsam genug: Das europäische Projekt hat wenig tiefgehenden Identifizierung erarbeitet. Es kann selbst in einem Kernstaat bei signifikanten Schichten unerwartet schnell zur Disposition gestellt werden. Wie überhaupt mehrjährige Prognosen heute weitgehend sinnfrei erscheinen.

 

(2022/37) 3.10.2022
DER SPIEGEL
zum Artikel „Ausweitung der Kampfzone“ von Mark Baumgärtner et al. (DER SPIEGEL Nr. 40/2022 v. 1.10.2022. S. 8)

Zu Zeiten lohnt es nicht mehr, gegen die umgebenden allgemeinen Gewissheiten anzudenken. Etwa wenn im Höhlengleichnis nichts als grobe Russen-Schatten vorbeimarschieren. Oder getragen werden.

 

(2022/36) 28.9.2022
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 30.9.2022
zum Kommentar von Andreas Niesmann „Wir sind verwundbar“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 28.9.2022, S. 4)

Schwere Zeiten machen das Denken übersichtlicher: Der Mörder ist heute immer der Russe. Aber Feindbilder machen noch keine treffsichere Strategie aus. Natürlich: das diffuse Motiv „Verunsicherung“ lässt sich jedem in die Tasche schieben, auch Putin. Daneben aber mag es hier hunderte spezifische und lebensnahe Interessenlagen geben, etwa von konkurrierenden Energieanbietern, von Diensten, von Spekulanten. „Follow the money!“ ist für das Eingrenzen des Täterkreises zumeist ein guter Rat.

Das Problem ist gleichwohl genereller: Es geht nicht nur um die gerade attackierten Gasleitungen, es geht um eine zunehmend verletzbare globale Infrastruktur – etwa ebenso um Tiefseekabel, die mit heute verfügbaren U-Drohnen erreichbar sind. Eine mit Realitätsbezug geplante Sicherheit der Infrastruktur wird nicht primär auf Abschreckung setzen, sondern auf eine Vernetzung, die Teilausfälle für definierte Zeiten toleriert. Oder allgemeiner: Wir sollten nicht nur mit zusammengekniffenen Augen gen Osten blicken, sondern rundum, tagtäglich, und sollten jeweils auf Plan B oder C schalten können.

 

(2022/35) 27.9.2022
DIE WELT
zum Kommentar von Thomas Schmidt „Keine Zeit für Wunder“ (DIE WELT v. 27.9.2022 S. 1)

Es mag ja sein, dass Giorgia Meloni kaum freie Hand haben wird. Vielleicht wird sie sich auch in der Praxis schnell entzaubern.

Aber Politik dieser besonderen Art wird halt im Bauch und für den Bauch gemacht. Und sie ermutigt und verfestigt mit Sprüchen nach der Art von „Dio, patria, famiglia!“ sehr nachhaltig Stimmungen, die zu den bereits existenten Unwägbarkeiten weitere toxische Krisen unkontrollierbar hinzufügen mögen, gerade in der EU. Einen hilfreichen oder auch nur hinzunehmenden Fortschritt sehe ich da nicht.

 

(20222/34) 27.9.2022
Frankfurter Allgemeine
zu den Kommentaren von Nikolas Busse und Matthias Rüb in der Ausgabe v. 27.9.2022 („Respekt für eine Wahl“ u. „Meloni ist nicht die Teufelin“, beide S. 1)

Italiens Wahl ist zu respektieren – was sonst? Hinsichtlich der direkten Auswirkungen ist sicher auch eine gewisse Gelassenheit angebracht, nicht zuletzt angesichts der Halbwertszeit römischer Regierungen.

Dennoch: Die Schnittmenge in den Elementen des Wahlspruchs „Gott, Vaterland, Familie!“, der heute nicht mehr geschadet hat – diese Schnittmenge ist eindeutig männlich. Und mich erinnert der Dreiklang sehr an die betont traditionellen, maskulinen, autoritären und mit Ressentiment geladenen Phantasien eines Gabriele D’Annuncio, der nach dem ersten Weltkrieg bizarre Worte und Formen fand und erfand, Gesten, die unwiderstehlich Gemeingut faschistischer Massenbewegungen wurden.

Das scheint mir das mittelfristige Risiko zu sein – ein ansteckendes Bauchgefühl in einer bereits teils psychotischen europäischen Umgebung, eine ermutigende Einladung zu Stolz und zu Revanchen.

 

(2022/33) 27.9.2022
Süddeutsche Zeitung
zum Kommentar von Oliver Meiler („Dann halt mit der“; Süddeutsche Zeitung v. 27.9.2020, S. 4)

Es ist wohl nicht nur der stolz durchgedrückte Rücken, der die Wahl von Giorgia Meloni beflügelt hat, die willkommene Ermutigung zu Ressentiment und Revanche. Vermutlich darf man das Votum ebenso als indirekten Baustein für eine Evaluation von militärischen Missionen, Expeditionen und Interventionen des Westens nehmen, als Maß für den Exodus aus destabilisierten Regionen östlich und südlich des Mittelmeers, der die Italien-Wahl besonders geprägt hat. Es ist öffentlich eher unbewusst – aber der weitaus größte Teil des Millionen-Migrations-Peaks im Jahre 2015 stammte ja tatsächlich genau aus solchen Einsatzgebieten, zuvörderst damals sogar noch vom Balkan.

Insofern darf man den Rechtsruck, der in Europa epidemisch um sich greift, getrost als den vermutlich nachhaltigsten „collateral damage“ einer nach 1990 betont ambitionierten Außen- und Sicherheitspolitik verstehen. Angetreten, um frühzeitig und hoch beweglich Krisen in aller Welt einzuhegen, kehrt der „scharfe Schuss“ wie ein Bumerang zurück und ändert unsere politischen Koordinaten drastisch.

 

(2022/32) 23.9.2022
Das Parlament, abgedruckt 4.10.2022
zur „Kehrseite“ der Ausgabe Nr. 37-38 v. 12.9.2022 (S. 12)

Recht zufällig führt die Kehrseite der Ausgabe Nr. 37-38 Personalia zweier gemeinsam besonders prägender Politiker zusammen – den 80. Geburtstag von Wolfgang Schäuble und den kürzlichen Tod von Karl Lamers. Zusammen hatten sie den Weg zu Auslandsmissionen der Bundeswehr geebnet, die etwas fremdelnd zu Beginn der Neunziger noch „out of area“-Einsätze genannt wurden. Wesentliche Narrative zu dem damals neuen Instrument kennzeichneten schon die ersten Debatten, etwa zu UNOSOM II – darunter eine humanitäre Zielstellung oder ein noch weiter zu festigender Beweis der Bündnisfähigkeit.

Nach inzwischen deutlich mehr als einhundert Einsatzentscheidungen des Bundestages sollte dieses Gestaltungswerkzeug systematisch und unabhängig evaluiert werden, nach Nutzen und Lasten. Nicht etwa nur auf Afghanistan fokussierend – der vollständige Blick wäre wichtig für eine verantwortliche Politik-Entwicklung, für sachlich legitimierende Wahlen und damit für unsere Demokratie.

 

(2022/31) 21.9.2022
Remscheider General-Anzeiger / RGA, abgedruckt 24.9.2022
zum Artikel von Susanne Koch „Burscheid soll Namenszusatz erhalten“ (Lokalausgabe Burscheid v. 20.9.2022, S. 23)

Der 11. September mit dem Thema „Musik und Klang – in Burscheid“ war der beste Beweis: Musik gehört zu unserem Kompetenz-Profil, man kann sie hervorragend teilen und sie wird dabei mehr. Sie ist ein lang bewährtes Querschnittsthema und sie kann anderen Burscheider Besonderheiten nichts wegnehmen, kann sie aber fördern.

Gegen ein einladendes „Musikstadt Burscheid“ auf unseren Ortsschildern habe ich darum nicht das Geringste einzuwenden. Und weitergehend: Wir können an das begeisternde Musik-, Geschichts- und Denkmal-Festival mit viel Gewinn und vielen Besuchern noch anknüpfen, vielleicht schon 2024.

P.S.: Historisch interessant ist: Der Schlebuscher Notar und Maire bzw. Bürgermeister Jakob Salentin von Zuccalmaglio konnte die Musicalische Academie gerade in Burscheid gründen und stabil erhalten; mitursächlich war offenbar eine erhebliche Schnittmenge mit dem vorher von Johannes Löh initiierten Leseverein. Tatsächlich hat Zuccalmaglio eine parallele Gründung dann auch in Schlebusch versucht - allerdings ist die dortige Academie bereits Mitte des 19. Jahrhunderts wieder abgestorben. Man könnte folgern: Burscheid zeigt mit seinem ja noch immer vital bestehenden Bürger-Orchester einen besonders fruchttragenden Boden ;-)

 

(2022/30) 20.9.2022
Kölner Stadt-Anzeiger Leverkusen, abgedruckt 29.9.2022
zum Artikel von Hendrik Geisler ‚Beiname „Musikstadt“ soll offiziell werden" (Lokalausgabe Rhein-Wupper v. 20.9.2022, S. 25)

Was der Bürgermeister zum Auftakt des Burscheider Musik-, Geschichts- und Denkmal-Festivals am 11. September gesagt hat, das haben engagierte und interessierte Bürger*innen sofort einmütig bewiesen: 'Musik machen, das kann man auch anderswo – aber die eine Musikstadt im Rheinisch-Bergischen, das ist und bleibt Burscheid!' Und Burscheid ist nicht von ungefähr sehr vitaler Sitz des traditionsreichsten deutschen Bürger-Orchesters, der Musicalischen Academie von 1812.

Drum dürfen wir die Musik gerne auch einladend auf unsere Stadtschilder schreiben. Dass Burscheid auch sonst etwas zu bieten hat – dem tut diese breit beseelte Begabung keinen Abbruch.

P.S.
In der Anlage finden Sie ein i.J. 1893 in Burscheid geschriebenes, allerdings sehr lange verschollenes Heimatlied. Im Zusammenhang mit dem 11.9. hat es eine neue Strophe erhalten (rot eingefügt). Sollten Sie Interesse an einem Beitrag zum historischen Kontext dieses Liedes und vergleichbarer „Konkurrenten“ haben, speziell des zeitgleichen Solinger Liedes („Wo die Wälder noch rauschen…“), dann melden Sie sich gerne. Anm.: Beide Lieder gehen auf einen Impuls des Oberpräsidenten der preußischen Rheinprovinz, Berthold von Nasse, zurück, der in Solingen dann auch noch eine besonders patriotische und schlagkräftige "Kaiserstrophe" nachbestellte.

 

(2022/29) 29.8.2022
Das Parlament, abgedruckt 26.9.2022
zum Artikel von Nina Jeglinski „Anschluss halten“ und zum Leitartikel von Johanna Metz „Zeit zum Umdenken“ (Das Parlament No. 34-35 v. 22.8.2022, S. 1)

Nachhaltigkeit als deutsches Geschäftsmodell auf den Weltmärkten? Zweierlei könnte heute im Wege stehen: Zum einen galoppieren wir Stampede-artig aus „einer Welt“ mit ihren gemeinsamen und arbeitsteiligen Marktplätzen in eine schwer kalkulierbare Zukunft. Mit mindestens drei Welten auf einem Globus: West, Ost und viel Volatiles dazwischen. Dazu bräuchte es zuallererst einen grundlegenden und rapiden Umbau unseres Geschäftsmodells, mit in wichtigen Branchen halbierten Ex- und Importen. Zum anderen ist Nachhaltigkeit zwar zu lange aufgeschoben und heute umso dringender; sie ist aber erkennbar kein aktuelles Primärziel mehr, siehe z.B. das bald in signifikanten Mengen rund um die Welt verschiffte, teils per Cracking gewonnene Flüssiggas. Oder auch: Gegenüber Blockdenken und Systemintelligenz wird Nachhaltigkeit klar zweiter Sieger bleiben.

Zum Vergleich: Eine fulminante Entwicklung hatte der Standort zu Zeiten erfahren, als Deutschland eine Brückenfunktion lebte. Sie verlieh und erforderte eine gewisse, auch geistige Unabhängigkeit. Beim Umdenken sollten wir daran anknüpfen. Es würde gegen eine manichäisch verengte Weltsicht helfen und die Welt würde insgesamt ein besserer Zukunfts-Standort. Ricardo bräuchte sich nicht im Grabe herumdrehen.

 

(2022/28) 24.8.2022
Kölner Stadt-Anzeiger
zum Leitartikel von Carsten Fiedler „Putin darf nicht triumphieren“ und zum begleitenden Interview von Matthias Koch mit dem CDU-Politiker Nico Lange (Kölner Stadt-Anzeiger v. 24.8.2022, S. 4)

Mag sein, dass die Deutschen noch immer zu sehr in der Komfortzone hausen, insbesondere nach dem Komment westlicher Bündnisstrukturen. Aber ich würde die völkerrechtlich gut nachvollziehbare Position des Chefredakteurs heute als deutlich konsequenter ansehen, hätte der Stadt-Anzeiger vor ca. 20 Jahren mit gleicher Verve gegen den Irak-Krieg argumentiert.

Tatsächlich steht mir noch ein ähnlich umfassender Leitartikel des damaligen Herausgebers vor Augen, vom 14.2.2003. Allerdings beklagte er damals, Deutschland manövriere sich mit seinem Nein ins Abseits, wohlverstanden durch ein Nein zu einem völkerrechtlich nicht gedeckten Krieg, mit am Ende einigen 10.000 zivilen Toten. Ein zentrales Argumente des 2003er Leitartikels war, „nach einem erfolgreichen Irak-Krieg“ (würden, wie Bush signalisiere) „nur diejenigen Nationen ihren Teil am Ergebnis erhalten, die ihren Beitrag zu dem Erfolg geleistet haben“. Das hört sich in der Tat nach einer Wertegemeinschaft an, aber nach einem sehr irdischen Verband zur Maximierung materieller Werte.

Eine Mehrheit der jungen Menschen außerhalb der Industrieländer dürfte sich heute genau die Frage stellen, die im aktuellen Artikel angeschnitten bleibt: Hat es der Westen bei seinen diversen militärischen Interventionen anders gehandhabt? Vielleicht auch: Hat der Westen eine europäische Nachkriegsordnung auf Augenhöhe gefördert, unter Wahren wohlverstandener Interessen? Oder hat er jede Gelegenheit genutzt, sein Glacis dynamisch weiter nach Osten voranzutreiben? Genau davor hatten nach 1989 auch Politiker der Mitte nachdrücklich gewarnt.

Quelle zum 2. Absatz:
Leitartikel des Kölner Stadt-Anzeiger-Herausgebers Alfred Neven DuMont v. 14.2.2003
„Die USA, Deutschland und der Krieg: Der Weg ins Abseits“ =
https://www.mz.de/deutschland-und-welt/die-usa-deutschland-und-der-krieg-der-weg-ins-abseits-2904143

 

(2022/27) 23.8.2022
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 30.8.2022
zum Beitrag von Uli Kreikebaum „Umstrittene Diva“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 23.8.2022, S. 20)

Es ist sicher glasklar: Nach einem solchen Netrebko-Maßstab müssten wir zuallererst ein posthumes Auftrittsverbot über Heinz Rühmann, Gustav Gründgens, wohl auch über Heinz Erhardt verhängen – und über eine mehrfache Hundertschaft deutscher Künstler, Politiker und Geschäftsleute der ersten Garde. Sie alle haben sich nicht einmal „halbherzig“ distanziert, als es drauf ankam, haben sogar aktiv geholfen, ein offen totalitäres System zu stärken und zu verlängern. Gestört hat uns das bisher wenig.

Vielleicht würden wir bei Jopi Heesters anfangen; bei Ausländern fällt ein Verdikt erfahrungsgemäß nicht ganz so schwer. Direkt danach sollten wir aber das Richard-Wagner-Festspielhaus einebnen, vielleicht auch schnell die Walhalla; dafür gäbe es gleich mehrere sehr triftige Gründe. Aber um Konsequenz geht es hier nicht. Sondern um tagesaktuelle Haltung. Wie immer.

P.S.:
Den zitierten Vergleich der Historikerin Tatiana Dettmer empfinde ich als arg schal und effekthascherisch. Man mag das gegenwärtige russische System aus den verschiedensten stichhaltigen Gründen ablehnen, aber verglichen mit dem faschistischen Deutschland und dessen millionenfachen Mordtaten bleibt das heutige Russland dennoch ein 'aliud'. Es ist kein einfaches 'minus' bzw. es gehört nicht zur historisch gleichen Kategorie. Übrigens auch verglichen mit dem Blutzoll von mehreren hunderttausend zivilen Toten, durch den die ambitionierten militärischen Missionen atlantischer Bündnispartner nach 1989 erkauft wurden - bei jeweils äußerst schmalen bleibenden Erfolgen und teils höchst fadenscheinigen bzw. leicht falsifizierbaren Einsatz-Motiven. Insoweit könnte man mit deutlich besserer Berechtigung von Angehörigen der gleichen Klasse sprechen. Oder von 'birds of a feather' ;-)

 

(20222/26) 17.8.2022
Spektrum der Wissenschaft, abgedruckt SPEKTRUM 11/2022 mit untenstehender Reaktion des Autors
Mechanismus von Antikythera; Artikel von Tony Freeth „Wunderwerk der Antike“ (SPEKTRUM 8/2022, S. 12ff)

Mehr noch als das Wunderwerk selbst verblüfft mich die Werkstatt-Ausrüstung, die den Antikythera-Mechanismus und wohl eine größere Zahl von einfacheren Prototypen und von ggf. weiteren komplexen Apparaten möglich gemacht hat. Ich stelle mir nur dreißig Zahnräder vor, allesamt in ständigem Eingriff und dabei geschmeidig durchlaufend, dies offenbar verschleißarm, bei einem mehrjährigen Gebrauch.

Die Zähne hatten noch die altertümliche, nicht besonders reibungsarm abrollende Geometrie aus gleichschenkligen Dreiecken, müssen darum umso exakter einheitlich geformt gewesen sein. Bei einer Zahnhöhe von unter 2 mm dürften die zulässigen Toleranzen deutlich unter einem Zehntel Millimeter gelegen haben. Nochmals höhere Anforderungen werden die kurzen Wellen und Bohrungen der Teilgetriebe auf den Speichen des Hauptzahnrades gestellt haben. Exakte rechte Winkel zwischen Zahnrädern und ihren Wellen sowie reibungsarm polierte Flanken der Räder waren ähnlich anspruchsvolle Voraussetzungen.

All das kann ich mir nicht schlüssig denken ohne eine rationell organisierte Umgebung und ohne ein definiert drehendes Werkzeug – möglicherweise eine wassergetriebene Drehbank. Schon in der Antike wird man versucht haben, den Arbeitseinsatz im Rahmen eines so komplizierten Projektes nüchtern zu kalkulieren, mag es sich auch um die Zeit hochqualifizierter (!) Sklaven gehandelt haben. Kurz: Antikythera wird noch einige Forschergenerationen auf Trab halten.

Antwort des SPEKTRUM-Autors Tony Freeth:
Die Frage, wie die Zahnräder hergestellt wurden, ist sehr interessant und noch nicht abschließend beantwortet. Ich halte für wahrscheinlich, dass sie nicht gegossen, sondern vielmehr aus Bronzebleck geschnitten wurden. Dazu hätte man einen runden Rohling präpariert und die Zähne hineingefeilt oder hineingemeißelt. Tatsächlich wird das gerade in meinem Team am University College London im Rahmen zweier Doktorarbeiten untersucht. In ein paar Jahren gibt es hier vielleicht bessere Antworten.

 

(2022/25) 17.8.2022
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT am 19.8.2022 =
https://blog.zeit.de/leserbriefe/2022/08/19/11-august-2022-33-ausgabe/
zum Artikel von Jörg Lau et al. „An der goldenen Kette“ (Ausgabe No. 33 v. 11.8.2022, S. 19ff)

Das ist neu, wie so vieles in unseren Tagen: Die globalisierte Arbeitsteilung, das Ausnutzen eines ökonomischen, arbeitsrechtlichen oder arbeitsorganisatorischen Gradienten soll ein Risiko sein! Gerade wenn man sich mit großen, mit gar nach Hegemonie strebenden Staaten einlässt! Plötzlich, sogar unterhalb von kurzen Bilanzperioden, sei darum kalter Entzug angesagt.

Muss Ricardo denn wirklich auf den Misthaufen? Was ist heute ganz und gar neu? Abgesehen von einem zugegeben psychotischen Zustand der internationalen Diplomatie. Also: China steckt einen Cordon sanitaire ab – aber mit geringerem Anspruch als nach der Monroe-Doktrin oder ihren Fortentwicklungen. Oder: China schaut verärgert und begehrlich auf eine vorgelagerte Insel. Zumindest bisher indessen: Ohne konkrete Absichten für eine Schweinebucht-Affaire.

Wie ich es sehe, ist nicht die Zeit für ein globales Schisma, sei es politisch, kulturell oder wirtschaftlich. Wenn wir überleben wollen, sollten wir jede Möglichkeit nutzen, zueinander zu finden. Eine epidemische Sprachlosigkeit wie 1913 bewirkt das Gegenteil.

 

(2022/24) 4.7.2022
DIE ZEIT, abgedruckt 8.7.2022 im Internet-Angebot der ZEIT =
https://blog.zeit.de/leserbriefe/2022/07/08/30-juni-2022-ausgabe-27/
zu zwei Beiträgen in der Ausgabe No. 27 v. 30.6.2022 (Nadine Ahr et al. „In einer anderen Welt“, S. 13ff, u. offener Brief von Jakob Augstein et al. „Waffenstillstand jetzt!“, S. 48)

Denken und lernen wir denn nicht fortlaufend um, und zwar höchst flexibel? Nach 1945 – ein neuer Freund im Westen, beim nämlichen, eher noch stärker erbitterten Feind im Osten. Nach 1990 – ambitioniert eine ganze Welt neu zu ordnen, notfalls mit äußerer Gewalt, mit scharfem Schuss. Nach 2001 – den Islam einzuhausen. Nach 2014 – den Feind im Osten wiederentdecken, dazu einen Feind im fernen Osten. Jedes einzelne Mal unter dedizierter, aber nimmersatter Rüstung.

Vor lauter Umdenken und Umrüsten: Lernen wir irgendetwas von Lehrmeister Krieg? Wenn ja, müssten wir mit der m.E. überzeugenden Begründung des am 30. Juni abgedruckten offenen Briefes unverzüglich in Verhandlungen eintreten, um Europa eine Chance zu geben. Statt um den Untergang Russlands zu pokern.

 

(2022/23) 12.6.2022
Frankfurter Allgemeine
zum Leitartikel von Jasper von Altenbockum „Die tapfere Bundeskanzlerin“ (F.A,Z. v. 9.6.2022, S. 1)

Ich weiß gar nicht so genau, was ich wissen sollte, was ich wann gewusst habe oder gewusst haben werde. Ob wir etwa nach dem Präsidenten, nach dem offiziellen Kanzler oder nach einer emeritierten Kanzlerin nun auch noch Martin Luther King und Donovan durch’s Dorf treiben sollten, letzteren wegen seines „universal soldier“?

Oder ob eine noch nicht emeritierte Kanzlerin ihrerzeit viel tapferer daran getan hätte, der NATO auf der Krim Quartier zu machen. Vielleicht gar: die OSZE zu verbieten. Was ich nur meine zu wissen: Alles Wissen – oder genauer: alle Gewissheiten – sind gerade wieder höchst metamorph. Und was wir erleben, das ist eher die beklemmende Phase einer Internationale des Nationalismus als eine Hochzeit der Demokratie.

 

(2022/22) 6.6.2022
Remscheider General-Anzeiger / RGA
zum Artikel von Nadja Lehmann „Plattform gerät in die Warteschleife“ (RGA / Volksbote v. 2.6.2022, S. 23)

Die Plattform kann für Burscheid zu einem neuen Groschengrab geraten: Wenn die Stadt ihren nächsten Verwendungsnachweis zu den Landesfördermitteln einreicht, dann kann die Bezirksregierung die Planer sehr ernsthaft beim Wort nehmen: „Ist nicht ein besonders  integriertes Konzept angekündigt? Mit einem glitzernden Aushängeschild über der Balkantrasse? Ein Touristen-Anziehungspunkt im Wortsinne?“ Und es kann noch viel ernster werden: „Warum wurden die offiziellen Empfehlungen für Radverkehrsanlagen – nach Erlass der Landesregierung ausdrücklicher Teil der Förder-Auflagen – hier offen und in signifikantem Maße missachtet?“

Sportlich anerkennen muss man immerhin die hohe Geschwindigkeit, mit der die Rampe aus dem Boden gestampft werden konnte. Trotz widriger Bedingungen unter Corona, trotz der in Burscheid nach dem 2021er Jahrhunderthochwasser nach wie vor klaffenden Lücken bei ernsthaften Verkehrsverbindungen.

Aber die große Eile hat an der Rampe einiges unvollendet gelassen: Die Absturzsicherung endet bereits, wo der Niveauunterschied zur Haupt-Trasse immer noch mehr als zwei Meter misst. Ferner: Am unteren Ende wäre eine Umlaufsperre noch viel wichtiger als oben. Und es würde sich – gerade nach den schlechten Erfahrungen mit der instabilen Jahnstraßen-Rampe – sehr dringend empfehlen, das Oberflächenwasser definiert abzuführen und der bereits gut erkennbaren Erosion schnell Einhalt zu gebieten. Also: Es gibt viel zu tun. Warten wir es ab?

P.S.:
In dem Artikel heißt es, der ADFC habe das „aus seiner Sicht zu steile Gefälle der Rampe“ kritisiert. Ich denke, das war hier doch etwas mehr als eine bloße Ansichtssache, von ggf. interessierter Seite. Tatsächlich sind ganz objektiv mehrere ERA-Grenzwerte um mehr als das Doppelte überschritten, bei der Steigungslänge, aber unter Sicherheitsaspekten noch viel wichtiger: beim Steigungswinkel. Das Landesverkehrsministerium NRW hat das Beachten der ERA-Baunormen den Bezirksregierungen aber als regelmäßige Förderauflage aufgegeben, siehe u.a. den einschlägigen
Erlass v. 10.6.2011.

Die FGSV, die die ERA erarbeitet und aktualisiert, hat auf konkrete Nachfrage unter dem 30.5.2022 wie folgt reagiert:

... Die von Ihnen beschriebene Rampe [Anm. Voss: mit einem Gefälle von 8 bis 9 % und einer Weglänge von 130m] scheint nicht im Sinne der ERA ausgeführt zu sein. Die Freigabe des Gehwegs für Radverkehr (ausschließlich in Schrittgeschwindigkeit) liegt in Verantwortung der Straßenverkehrsbehörde. Ob sie ausnahmsweise an dieser Stelle vertretbar sein kann, hängt auch von den möglichen Alternativen ab, die wir aber ohne Ortskenntnis nicht beurteilen können. ...

Unabhängig davon wäre es nicht so unvernünftig gewesen, hätte ASS auch die klare Einschätzung des ADFC berücksichtigt. Nutzerorientierung ist selten falsch, wenn es um frei wählbare Nutzungs-Häufigkeiten geht. Das könnte man hier nur umgehen, indem man den Weg unter der Brücke sauber vermauert und so eine Zwangsläufigkeit herstellt. Oder einen Schlagbaum mit Wegezoll einbaut, wie in der guten alten Zeit.

 

(2022/21) 4.6.2022
Kölner Stadt-Anzeiger Rhein-Wupper
zum Artikel von Julia Hahn-Klose „Rampe zur Balkantrasse ist fertig“ (Lokal-Ausgabe Rhein-Wupper v. 3.6.2022, S. 25)

Nüchtern betrachtet: Es gab diese prall gefüllten Düsseldorfer Gold-Töpfe. Um daran zu kommen, hat sich die Stadt eine schicke, aber oberflächliche Planung aufschwatzen lassen. Das Ergebnis ist entsprechend. Wie schon beim Gefälle der Rampe hat sich das Planungsbüro auch bei den Kosten des Aushängeschilds, des selbst hochgejubelten städtebaulichen Heraushebungsmerkmals „Rampe & Kanzel“ völlig verschätzt.

Vielleicht kann eine Minderausgabe mangels Kanzel nun für die offensichtlichen Mängel der Rampe umgewidmet werden: Die Absturzsicherung bis zum Ende führen, dann die unten beim „Einschuss“ in die Balkantrasse besonders notwendige Umlaufsperre einbauen, die gesamte Rampe beleuchten, nicht nur die Endpunkte. Und am besten auch das Oberflächenwasser geordnet abführen und damit die heute schon bemerkbare Erosion mindern, auch das Herunterkullern von gefährlichen Stolpersteinen auf die Trasse.

Das war’s schon? Leider nein. Weiteres Ungemach mag von der Bezirksregierung drohen. Fördervoraussetzung war dort das Beachten der einschlägigen Bau-Normen, darunter auch der offiziellen Empfehlungen für den Bau von Radverkehrsanlagen. Genau daran bestehen nach aktueller Einschätzung der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen mit Sitz in Köln hier allerdings Zweifel. "Habe fertig!", das könnte darum etwas vorschnell gemeldet sein.

P.S.:
Die FGSV, die die ERA erarbeitet und aktualisiert, hat auf konkrete Nachfrage unter dem 30.5.2022 wie folgt reagiert:

... Die von Ihnen beschriebene Rampe [Anm. Voss: mit einem Gefälle von 8 bis 9 % und einer Weglänge von 130m] scheint nicht im Sinne der ERA ausgeführt zu sein. Die Freigabe des Gehwegs für Radverkehr (ausschließlich in Schrittgeschwindigkeit) liegt in Verantwortung der Straßenverkehrsbehörde. Ob sie ausnahmsweise an dieser Stelle vertretbar sein kann, hängt auch von den möglichen Alternativen ab, die wir aber ohne Ortskenntnis nicht beurteilen können. ...

 

(2022/20) 31.5.2022
Kölner Stadt-Anzeiger Leverkusen
zum Artikel von Timon Brombach „Cedisten schwelgten in Erinnerungen“ (Kölner Stadt-Anzeiger Lokalausgabe Leverkusen v. 30.5.2022, S. 23)

Cedisten-Erinnerungen sind vielschichtig. 1970 etwa war eine offizielle Abi-Feier das absolute No-Go; Lehrer – definitiv kein ehrbarer Umgang. Wir waren damals etwas spät dran für die Achtundsechziger, fühlten uns aber mehr als reif genug dafür. Und dann dieser Namenspatron! Ganz ehrlich gesagt: Von dem durfte man Minderjährigen nicht zu viel erzählen. Dass er sich im ersten Weltkrieg erfolgreich für den unverzüglichen militärischen Einsatz von Phosgen stark gemacht hatte – und für den industriellen Einsatz belgischer Zwangsarbeiter. Sicher kein Nazi der ersten Stunde, aber ein Technokrat, wie er im Buch stand und steht.

Schließlich die in den späten Sechzigern experimentell eingeführte Leistungsdifferenzierung in den vielsagenden Fächern Mathematik, Physik, Englisch und Deutsch: Viele haben sie als Instrument und Garant einer spezifischen gesellschaftlichen Elite empfunden – und eines stramm programmierten Lebensweges. Carl Duisberg aber hätte sie viel Freude gemacht. Und der vorgelagerte IQ-Test wäre ganz im Sinne des amerikanischen Eisenbahn-Magnaten Leland Stanford gewesen, Stifter der Stanford University und Ideengeber für den dort später entwickelten bahnbrechenden IQ-Test, den Stanford-Binet. Seltsam genug – es war wohl genau der Goodwill des CDG als „Kaderschmiede der rheinischen Technokratie“, der dann in einer sich verändernden Wohn-, Wirtschafts- und Schulsituation vor dreißig Jahren das Ende dieser Leverkusener Institution eingeläutet hat. Wo man übrigens zeitweise an eine Umbenennung gedacht hatte.

Mein Deutschlehrer hat mir Jahrzehnte nach dem Abitur das Du angeboten – und wir haben nicht nur einmal gemeinsam gefeiert.

P.S.:
Anbei ein Bild des Namenspatron, handsigniert mit „Dr. Carl Duisberg, 1928“. 1970 stand es bereits viele Jahre lang verstaubt im Werkkeller des CDG. Mit offizieller Genehmigung durfte ich es dann von dannen tragen.

 

(2022/19) 21.5.2022
Kölner Stadt-Anzeiger
zum Interview von Carsten Fiedler und Joachim Frank mit Alice Schwarzer („Ich halte Putin nicht für verrückt“, Kölner Stadt-Anzeiger v. 21.5.2022, S. 3)

Respekt. Danke.

 

(2022/18) 20.5.2022
Kölner Stadt-Anzeiger
zum Interview von Eva Quadbeck und Jan Emendörfer „Die Amerikaner machen viel mehr“ und zum Kommentar von Kristina Dunz „Erklären statt Erzählen“ (Ausgabe v. 20.5.2022, S. 2 u. 4)

Andrij Melnyk ist ein sehr kühl und strategisch denkender Staatsmann. Wenn er weit unter die diplomatische Gürtellinie greift und einen Regierungschef als beleidigte Leberwurst hinhängt, dann hat das Sinn und Zweck: Scholz aus Kiew fernzuhalten und – wie auch in diesem Interview – weiter als moralischen Versager zu kompromittieren, am Ende noch mehr herauszuholen. Ich befürchte, dieser Botschafter denkt weit über Einzelschicksale hinaus. Ich hätte ihn gerne gefragt, warum er vor wenigen Jahren noch einem ukrainischen Nationalisten – dem mit den Nazis eng verbündeten Stepan Bandera – Blumen ans Grab gelegt hatte, wie es berichtet wird. Es mag sein, dass er noch eine besondere Rechnung mit den Russen offen hat und daran auch die Deutschen beteiligen möchte.

Mich persönlich erschrickt zutiefst, wie blitzschnell gerade die Früchte der Ostpolitik Brandts verbrennen und wie wir flugs die Millionen Toten kunstvoll verdrängen, die die Kriege und Interventionen des Westens in den letzten 70 Jahren gefordert haben. Darunter einige tausend serbische Zivilisten, die im Zusammenhang mit der Bombardierung Belgrads – auch das eine europäische Hauptstadt – umkamen, bei einer früheren Zeitenwende. Scholz halte ich für deutlich besonnener, klüger und humanistischer orientiert als Melnyk. Das Ansehen Deutschlands würden wir geschichtsbewusster mit schweren Baggern und massiver Wiederaufbauhilfe weiterbilden als mit schweren Waffen.

P.S.:
Zur Haltung des Botschafters Andrij Melnyk zu Stepan Bandera siehe etwa
https://de.wikipedia.org/wiki/Andrij_Melnyk_(Diplomat) und https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/stepan-bandera-umstrittenes-symbol-fuer-den-kampf-um-die-ukrainische-unabhaengigkeit-100.html.

Möglicherweise gibt es ein weiteres Vorbild, und zwar den i.J. 1890 im Bezirk Lemberg/Lwiw geborenen Offizier und ukrainischen Nationalisten und Namensvetter Andrij Melnyk. Verglichen mit Bandera war er nach den historischen Zeugnissen sehr kultiviert und gemäßigt; er soll den nom de guerre „Lord Melnyk“ getragen haben, siehe etwa https://en.wikipedia.org/wiki/Andriy_Melnyk_(Ukrainian_military_leader). Ausdrücklich: Es gibt m.E. keine Hinweise darauf, dass es zwischen beiden auch einen familiären Zusammenhang gäbe; Melnyk, was dem deutschen „Müller“ entspricht, ist ein auch in der Ukraine weit verbreiteter Name. In Jedem Fall wird dem Botschafter sein Namensvetter und seine Entwicklung sehr vertraut sein, auch, dass Bandera und (der Offizier) Melnyk zunächst Mitstreiter in der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung waren und später bittere Rivalen und Feinde. Ferner: dass die Anhänger von Melnyks gemäßigterer Fraktion der Ukrainischen Nationalisten bis heute als Melnykivtsi resp. Melnykites bekannt sind. Nicht ganz uninteressant mag in diesem Zusammenhang auch die Ähnlichkeit des ukrainischen Wappens, des goldenen Dreizacks auf blauem Wappenschild, mit dem sehr ähnlich strukturierten Symbol der Melnikisten sein, dem Zeichen der OUN-M.

Letzte Anmerkung:
Man mag es als puren historischen Zufall ansehen. Aber zwei spezielle Waffenbrüderschaften – mit den kroatischen Nationalisten einerseits, mit der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung andererseits – sind möglicherweise in Folge-Konflikten wieder aufgelebt, sind zumindest an der Konstruktion manichäischer Feindbilder nochmals tödlicher Konflikte hochwirksam beteiligt.

 

(2022/17) 7.5.2022
DIE ZEIT, veröffentlicht im Internet-Angebot der ZEIT v. 20.5.2022 =
https://blog.zeit.de/leserbriefe/2022/05/20/12-mai-2022-ausgabe-20/
zum Beitrag von Martin Machowecz „Gerne in die Kaserne“ in der Ausgabe No. 20 v. 12.5.2022

Der juristisch entscheidende Grund für das Aussetzen der Wehrpflicht hängt lose mit dem zweitgenannten Motiv zusammen – „die Wehrpflicht sei aus der Zeit gefallen, zu martialisch, ein im Verhältnis zum Nutzen zu starker Eingriff ins Leben“. Tatsächlich durften Wehrpflichtige allerhöchstens freiwillig in Einsätze einbezogen werden, die keine unmittelbare militärische Bedrohung des Staats- oder Bündnisgebiets abwenden sollten. Als nach 1990 der Warschauer Pakt nur noch tot über dem Zaun hing, hatte sich aber das westliche Bündnis ein ganz neues Fähigkeitsfeld außerhalb einer Verteidigung nach bisherigem Verständnis erschlossen, zunächst ein wenig schamhaft hier „out of area“ genannt. Es zielte nicht mehr auf die Sicherung von Linien ab, sondern auf das Herstellen von Basen und Brückenköpfen, nach nine-eleven dann auf das bereits präventive Behandeln von globalen Krisen unterschiedlichster Art.

Eine zu hohe Konzentration von Wehrpflichtigen stellte ganz praktisch die Bündnisfähigkeit in Frage. Und umgekehrt: Ein Abbau der Wehrpflicht versprach gleichzeitig eine geminderte demokratische Rückkopplung aus der Mitte der Gesellschaft zur Politik. Wenn mal irgendwo irgendwas kritisch werden würde; wie am Kundus. Und weil sich die Bundeswehr stetig von den Bürgern entfernt hatte, konnte dann auch ein Verteidigungsminister der CDU mal ganz ungeniert einen Kanzlerkandidaten der SPD dafür loben, dass dieser die Sicherheitspolitik aus einem Bundestagswahlkampf heraushalten wollte! Ja, was hat das Getümmel hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen auch noch mit uns bzw. mit einer demokratischen Wahl zu tun?

Nun: Gerade wegen der künftig besseren Rückkopplung wäre das Wieder-Einsetzen der Wehrpflicht keine so schlechte Idee, vielleicht auch zur irgendwann nahenden Verteidigung des Vaterlandes. Aber einer Illusion sollten wir nicht aufsitzen: Dass „out of area“ nun weniger würde oder gar auszuschließen wäre: Der vermutlich dynamisch weiter anziehende politische, militärische, wirtschaftliche und kulturelle Konflikt zwischen West und Ost wird die Stellvertreter-Kriege und wird die globale Interessenwahrung nur umso wahrscheinlicher machen. Und anders als vor 1989 sind wir dann direkt vorne verlangt, dort, wo es wehtun kann. Dafür werden wir weiter die robusteren Naturen benötigen, werden damit voraussichtlich eine Zwei-Klassen-Armee unterhalten. Es wäre sehr anzuraten, dafür schon einmal die seit 1992 eingefahrenen Erfahrungen systematisch zu analysieren, anfangend bei Somalia, endend bei Afghanistan. Oder Mali. Oder Darfur. Das steht prinzipiell bereits im (noch) aktuellen Weißbuch.

P.S.:
Quelle zum Ende des ersten Absatz oben:
https://www.presseportal.de/pm/55903/2468313 (8.5.2013)

„Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) hat es begrüßt, dass SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück die Sicherheitspolitik aus dem Wahlkampf heraushalten will. Das dürfe allerdings nicht nur für die Auslandseinsätze gelten, sondern genauso für die Neuausrichtung der Bundeswehr, sagte er den Zeitungen der Funke-Mediengruppe - vormals WAZ-Mediengruppe. "Kontinuität ist sehr wichtig für die Soldaten", erklärte er. Von der SPD kämen durchaus unterschiedliche Signale. Ihre Verteidigungspolitiker redeten mitunter anders als Steinbrück. "Die SPD wird sich aber schon auf Steinbrücks Linie einigen", fügte er hinzu.“

 

(2022/16) 17.5.2022
Kölner Stadt-Anzeiger
zur Analyse von Joachim Frank „Die heimliche Siegerin“ und zum Kommentar von Peter Berger „Mehr Frust als Desinteresse“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 17.5.2022, S. 4)

Ich muss gestehen: Menschen, die sich auf ein langes Leben in der Kommunal-, Landes- und/oder Bundespolitik eingerichtet haben, die bleiben mir ein wenig fremd. Schon rein statistisch ist nicht zu erwarten, dass die besten Lösungsansätze oder auch nur die hellsichtigste Problem-Erfassung ausgerechnet in den Köpfen dieser doch sehr kleinen Gruppe angelegt wären. Abgesehen davon macht eine dauerhafte öffentliche Exposition eher berechenbarer für die allzeit wache Lobby. Und was als Professionalisierung hochgelobt wird, mag dann eher einer gezielten Sozialisation gleichen.

Warum nicht mal klare Halbwertzeiten definieren und die Basis verbreitern? Etwa jeweils genau eine Wiederwahl-Chance für jedes politische, aber auch für jedes Parteiamt – und damit mehr Konvektion und frischere Luft in der Politik? Vermutlich würden dann wieder mehr Wähler ihren Lebenszweck als nicht rein rituell, nur als eine Art Demokratie-Verbraucher sehen. Und wieder mit Spaß an der Sache mitmachen. Vielleicht ginge gleichzeitig das parteipolitische Durchdringen immer weiterer Lebensbereiche ein wenig zurück, zugunsten eines Primats der selbstbewussten Selbstbestimmung vor Ort.

 

(2022/15) 5.5.2022
Süddeutsche Zeitung
zum Artikel von Zita Affentranger in der Süddeutsche Zeitung vom 4. Mai („Wer für Putin in der Ukraine stirbt“; S. 7)

Das beschriebene Muster ist auch hierzulande gut bekannt. Wenn man Strucks bekanntes militärstrategisches Diktum etwas präzisiert, dann haben am Hindukusch bevorzugt die Landeskinder Mecklenburg-Vorpommerns die Freiheit des Nachwuchses aus Baden-Württemberg verteidigt, mit vielen eigenen Opfern und Traumata. Auch die Abkehr der USA von der Wehrpflicht war eine Reaktion auf die schmerzhaften Verluste amerikanischer Mittelklasse-Wähler während des Vietnam-Debakels. Und die real existierende deutsche Berufsarmee kam ebenfalls zu einem gut nachvollziehbaren Zeitpunkt: Die Herausforderungen, Krisen und Konflikte gerieten immer ferner, diffuser und folgepflichtiger, bestialische Kriegslisten wie am Kundus wurden bekannt und selbst geübte Juristen konnten die Eingriffe in individuelle Rechte von Wehrpflichtigen immer weniger mit einer staatlichen oder individuellen Existenzbedrohung rechtfertigen, genauer: als Verteidigung gegen einen gegenwärtigen militärischen Angriff.

Es ist halt leichter, eine vom Volk abstrahierte Janitscharen-Truppe einzusetzen, als den "Normalos" den Krieg zu erklären und dies auch noch allzeit nachvollziehbar mit den Prinzipien der inneren Führung zu vereinbaren. Von da an, mit der dann marktorientierten Knabenlese also, sind naturgemäß militärischer Beitrag und Arbeitslosigkeit eng korreliert, bisweilen leider auch eine extreme Gesinnung, wie wir wissen. Gleichzeitig versprach das smarte Instrument ein Weniger an kritischer demokratischer Rückkopplung, mehr Genuss ohne Reue. Kant, der besonders viel auf die Rückkopplung hielt, müsste sich im Grabe herumdrehen.

Anm.:

Für die Korrelation von Arbeitslosigkeit und Rekrutierungs-Bereitschaft in Deutschland finden Sie bei Interesse hier ein paar Nachweise (leider etwas älteren Datums, die Verwaltung ist da ein wenig zugeknöpft): https://www.vo2s.de/mi_selekt.htm

Zu den Janitscharen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Janitscharen 

Zu Kant, letzter Satz oben:
An zwei Stellen seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" hebt Immanuel Kant eine wirksame Rückkopplung zu den Entscheidern als notwendige Begrenzung obrigkeitlicher Willkür besonders hervor, und zwar im Ersten Definitiv-Artikel (s. Reclam-Ausgabe S. 12f) und in der Fußnote zum Zweiten Definitiv-Artikel (siehe Reclam-Ausgabe S. 17). Genau das erscheint mir gerade wegen unserer Abkehr von den Prinzipien des Art. 19 GG bei militärischen Einsatzentscheidungen (lt. Streitkräfte-Beschluss des BVerfG von 1994, siehe etwa
hier) heute wichtiger denn je.

 

(2022/14) 5.5.2022
Frankfurter Allgemeine
zum Kommentar „Respekt für Deutschland“ von Reinhard Müller (Frankfurter Allgemeine v. 4.5.2022, S. 1)

Danke für die klare Bitte um Respekt für unsere staatlichen Vertreter. Ein „Krawallbotschafter“ ist Herr Melnyk aber womöglich nur auf den ersten Blick. In ihm sehe ich einen in mehreren Sprachen rhetorisch brillanten glühenden Patrioten, der nüchterne Kontrolle über jedes seiner Worte ausübt. Mit seiner Provokation hält er Scholz weiter aus Kiew fern und ganz Deutschland im stetig wachsenden Obligo. Das diplomatische Objekt seiner Begierde ist denn wohl auch gar nicht Berlin, sondern Washington. Hat er die USA an der Hand, so folgen Deutschland und das gesamte Bündnis definitionsgemäß. Nur die USA sind auch ein – mehr als – ebenbürtiger Gegner, um Russland in Schach zu halten. Als Vision Melnyks mag man sich sogar einen Nato-Hafen auf der Krim vorstellen. Nicht mit deutschen Fregatten – mit Flugzeugträgern.

Andrij Melnyk hat einen Namensvetter, den i.J. 1964 in Köln verstorbenen zeitweisen Führer der Organisation Ukrainischer Nationalisten. Beide stammen auch aus der nämlichen Region der Ukraine, nahe Lwiw, zeitweise Lemberg. Ich möchte nicht ausschließen, dass der ältere Melnyk dem jüngeren ein Vorbild für seine heutige Mission ist. Ebenso wie ein anderer Führer dieser radikalen und mit dem nationalsozialistischen Deutschland kollaborierenden Organisation, an dessen Grab der jüngere Melnyk noch unlängst Blumen abgelegt hat: Stepan Bandera.

Und Friedrich Merz begreife ich als alternde eitle Handpuppe, die das respektlose Spiel um einer regionalen Wahl willen mitspielt.

Quellen:

Melnyk der Ältere:
https://de.wikipedia.org/wiki/Andrij_Melnyk_(Offizier)

Melnyk der Jüngere, mit Hinweis auf S. Bandera:
https://de.wikipedia.org/wiki/Andrij_Melnyk_(Diplomat)

Stepan Bandera:
https://de.wikipedia.org/wiki/Stepan_Bandera

 

(2022/13) 3.5.2022
Kölner Stadt-Anzeiger
zum Interview von Kerstin Meier mit der Philosophin Svenja Flaßpöhler „Wir dürfen uns nicht moralisch erpressen lassen“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 3.5.2022, S. 20)

Das Interview ist ein besonderer Lichtblick: Wer wie Svenja Flaßpöhler angesichts der dynamisch zunehmenden Waffenlieferungen in die Ukraine auch zu fragen wagt: „Wollen sich die Menschen dort unbegrenzt für ‚unsere‘ Freiheit opfern?“ – der muss kein zweifelhafter Intellektueller sein. Es ist kaum noch in Erinnerung: Die erste nach 1990 mit sehr vielen zivilen Opfern bombardierte europäische Hauptstadt, das war nicht Kiew, es war Belgrad. Deutschland hatte mit dem unverzüglichen Anerkennen jugoslawischer Nachfolgestaaten eine selbst unter den Verbündeten sehr umstrittene Rolle; dies dürfte damals als Brandbeschleuniger gewirkt haben. Darum spreche ich ungern von der heute stereotyp beschworenen 'Zeitenwende', eher von einem Rückschlag gegen eine nach 1990 höchst ambitionierte, global raumgreifende Außen- und Sicherheitspolitik des westlichen Bündnisses, die die allermeisten Versprechungen und Hoffnungen nicht erfüllen konnte.

Gar kein Zweifel: Russland und seine politischen Führer agieren hoch psychotisch, eigentlich paranoid. Für die NATO ist dies im „Großen Spiel“ der absolute Jackpot – viel besser, als ein NATO- oder EU-Beitritt der Ukraine je hätte wirken können: Ohne eigene militärische Risiken kann das Bündnis einen erklärten Hauptfeind in einem jahrelangen Abnutzungs-Konflikt binden, kann Waffen produzieren und liefern, aggressiv Handelsvorteile herausholen und kann sogar eine aufgebrachte öffentliche Meinung – wenn auch nicht die des ganzen Globus – für die eigene Weltsicht fixieren. Ich stimme Frau Flaßpöhler im Ergebnis zu: Diesen Weg unbeirrt weiterzuverfolgen, das löst nichts und riskiert sehr viel. Und was den aus meiner Sicht sehr besonnenen Kanzler angeht: Auf Scholz bin ich stolz. Wenn es einen vertrauensbildenden Weg gibt, dann über mehr zivile Hilfen und über fortwährende Verhandlungsbereitschaft, ja sogar Kompromissfähigkeit, zugunsten der Menschen in der Ukraine und in Russland.

 

(2022/12) 22.4.2022
DIE ZEIT
zum von Evelyn Finger moderierten Gespräch „Darf die Kirche kämpfen?“ mit Margot Käßmann und Sigurd Rink (DIE ZEIT No. 16 v. 13.4.2022, S. 60)

Der aktuelle Diskurs läuft etwa so: „Nun müsst ihr es ein für alle Mal zugeben – gerade eure Friedfertigkeit ist Ursache eines mörderischen Krieges!“ Aber einmal ehrlich: Waren wir denn in den letzten 30 Jahren tatsächlich friedfertig, etwa bei der bestialischen Kriegslist am Kundus? Die auch noch höchstrichterlich abgesegnet wurde? Warum haben wir in den Neunziger Jahren Schiffe auf Kiel gelegt, die erstmals wieder Landziele bekämpfen können? Und sollen es jetzt mehr davon werden? Unserer modernen Interventionen, Operationen und Missionen, die auch wir, wenn denn überhaupt, nur höchst notgedrungen als Kriege benennen, sie haben bis heute Hunderttausende unbeteiligte zivile Tote und Versehrte gefordert. Wir tun das gerne professionell distanziert ab, ähnlich wie seinerzeit eine amerikanische Außenministerin auf die Frage, ob das massive zivile Opfer eines harten Embargos gegen den früheren US-Alliierten Irak gerechtfertigt war: „We think the price is worth it.“

Mit unserer nach 1989 unbeirrt raumgreifenden Außen- und Sicherheitspolitik und mit dem Rückbau aller cordons sanitaires zulasten Russlands haben wir sehr viel zur vorherrschenden russischen Paranoia beigetragen; geschätzt zwei Drittel der Heranwachsenden dieser Welt dürften das ähnlich sehen. Darum stimme dem zu, wie ich Frau Käßmann verstehe: Deutschlands Gewicht muss unbeirrt auf Vermittlung und Kontakt liegen, so schmerzlich sich das auch anfühlen mag, nicht auf Aufrüstung für einen intensivierten Schlagabtausch unter Kappen aller Verbindungen.

Eine Anmerkung zur eher berüchtigten als berühmten „responsibility to protect“. Diese Konstruktion steht in einem natürlichen Gegensatz zur Staatlichkeit nach dem Verständnis von VN und OSZE – wohlverstanden: nicht zur Deutung der NATO. Sie ist daher  völkerrechtlich eben nicht fixiert. Wir hier sind auch sicher nicht damit einverstanden: Wenn Russland nun gerade R2P – konkret den Schutz ethnischer Russen im Osten und Süden der Ukraine – als wohlfeilen Grund seiner „Mission“ anführt. Und dass sehr viele Russen, die in wachsender Hysterie die heilige Flagge umringen, genau dies gerne glauben wollen.

P.S.:
Quelle zum Ende des ersten Absatzes:
https://en.wikipedia.org/wiki/Madeleine_Albright

Auszug:
On May 12, 1996, then-ambassador Albright defended UN
sanctions against Iraq on a 60 Minutes segment in which Lesley Stahl asked her, "We have heard that half a million children have died. I mean, that's more children than died in Hiroshima. And, you know, is the price worth it?" and Albright replied, "We think the price is worth it." The segment won an Emmy Award. Albright later criticized Stahl's segment as "amount to Iraqi propaganda", saying that her question was a loaded question.

P.S. insbesondere für Herrn Rink:
Ich verkenne nicht das besondere Dilemma der Militärseelsorge. Ein insoweit sehr erfahrener Pfarrer hatte mir i.J. 1994 bei einem intensiven Gespräch über die damalige Mission UNOSOM II und über den damals
wohl ersten sog. collateral damage einen Großen Katechismus präsentiert, aufgelegt während des Ersten Weltkriegs. Dort war das Fünfte Gebot mit einem Sternchen versehen und die entsprechende Fußnote lautete: „Gilt nicht im Kriege“. Er fügte mit verlässlicher Quellenkenntnis hinzu, der ursprüngliche jüdische Text habe tatsächlich auch (nur) das Morden verboten, nicht etwa jedes Töten, z.B. in den (schon) damals allfälligen kriegerischen Auseinandersetzungen.

 

(2022/11) 4.4.2022
Frankfurter Allgemeine
zum Gastbeitrag von Wolfgang Thierse im Feuilleton der F.A.Z. v. 2.4.2022, S. 11:

Ja! Eine stabile Friedensordnung kann nur eine regelbasierte Ordnung sein, eine Welt der Verträge und des Völkerrechts. Ich ergänze: Eine Welt der demokratisch gebildeten Handlungsgrundlagen, der Verantwortung und der Rechenschaft. Und gar keine Frage: Daran fehlt es in Russland massiv; sonst wäre der Angriffskrieg gegen einen engen geographischen und ethnischen Nachbarn keine Minute weiterzuführen.

Wolfgang Thierse sollte aber der „Friedensbewegung“ oder den damit sympathisierenden Bürgern nicht suggerieren: Alle potenziellen Gegner bräuchten nur auf den Weg des Westens einzuschwenken, so wie es in den Neunzigern schon einmal Francis Fukuyama postulierte. Unsere Außen- und Sicherheitspolitik mag sich derzeit als zu defensiv, als unterfinanziert oder gar ängstlich anfühlen. Zwei Drittel der Menschheit allerdings könnten den Unterschied zwischen den Bombardierungen einer europäischen Hauptstadt Kiew und einer europäischen Hauptstadt Belgrad sehr viel geringer sehen als wir hier. Der NATO-Einsatz „Operation Allied Force“ i.J. 1999 etwa hatte ebenfalls eine Zeitenwende markiert – die erste NATO-Mission außerhalb des Bündnisgebiets, ohne Bündnisfall und ohne völkerrechtliche Autorisierung durch die VN, mit mehreren hundert zivilen Toten, mit modernster Waffentechnik, Streubomben und Uran-gehärteter Munition. Deutschlands Beteiligung und der folgende Eingriff in fundamentale Menschenrechte beruhte auch nicht auf einem Gesetz i.S.d. Art. 19 des Grundgesetzes, sondern – wie seit 1993 durchgehend – auf einem Einzelfall-Beschluss des Bundestages. "Ad hoc" und Rechtsstaat - das dürfte bei konkretem Grundrechts-Bezug, bei auswärtiger Gewalt eigentlich nie zusammengehen, so bündnisfähig es auch wirken mag. Eine Evaluation oder Rechenschaft über dieses neue geopolitische Werkzeug gab und gibt es bis heute nicht, gerade niemals vor Wahlen. Vor 1990 und mit den Erfahrungen aus einem Ermächtigungsgesetz hätte eine klare Mehrheit deutscher Juristen diese Konstruktion auch nicht als rechtsstaatlich angesehen, wäre mit einem solchen Ansinnen auch in beiden Staatsexamen durchgefallen.

Wolfgang Thierse mag meinen Gedankengang als „whataboutism“ abtun, als wohlfeiles Ablenken von einer nun dringend geforderten klaren Neu-Positionierung. Nur: Ohne eine kritische Reflektion unserer eigenen ambitionierten Geopolitik seit 1990 werden wir diplomatisch nicht einmal ein Nebeneinander organisieren können, geschweige denn ein neues Miteinander; nicht mit Putin, nicht mit einem beliebigen Nachfolger oder Peer.

P.S.:
Es mag sein, dass mir Belgrad etwas deutlicher vor Augen steht als anderen; mein Vater ist dort im 2. Weltkrieg schwer verletzt worden.

Zur Operation Allied Force und deren „collateral damages“ siehe etwa https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Allied_Force und https://www.deutschlandfunk.de/vor-20-jahren-begann-der-kosovo-krieg-bomben-gegen-belgrad-100.html.

Zum ersten namentlich dokumentierten zivilen Opfer eines Auslandseinsatzes (der 20jährige Somali Abdullahi Farah Mohamed am 21.1.1994 i.R.d. Operation UNOSOM II) siehe etwa https://dserver.bundestag.de/btd/12/069/1206989.pdf.

 

(2022/10) 23.3.2022
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 7.4.2022
Burscheider Bürgermeisterwahl; Julia Hahn-Klose „Dirk Runge tritt in große Fußstapfen“ (Ausgabe Rhein-Wupper v. 22.3.2022, S. 25) der nachfolgende Leserbrief:

Chuzpe vom Feinsten, wie sich lange erfahrene Burscheider Politiker nun zum Wahlausgang einlassen. Die CDU: Mit dem einheitlichen Wahlvorschlag habe man „die richtige Wahl getroffen“. Und die SPD: „Du hättest dich ja aufstellen können!“ Die richtige Wahl war halt die alles entscheidende Vor-Wahl. Und das Produkt nannte man bei Ostblock-Wahlen früher gerne „Volksfront“. Kein Wettbewerb, das ist die bei uns meistens verpönte Form der Konkurrenz – keine Auswahlmöglichkeit oder: das Kartell.

Gerne auch noch zwei Schmankerl aus der nüchternen Praxis, das haben die beiden Fraktionsvorsitzenden wohl in akuter Champagner-Laune zu erwähnen vergessen: Parteien bekommen Wahlkampfkosten ersetzt, freie Bewerber gerade nicht. Und sollte mal eine Podiumsdiskussion der Kandidaten in Betracht kommen – hier ja gerade nicht – dann bräuchte man freie Bewerber dazu nicht mal einzuladen. Mangels Erfolgsaussichten, ist ganz reale Rechtsprechung.

Dirk Runge, dem ich das durchaus zutraue, hätte aber nun eine geniale Chance, auch die jüngst noch nicht erreichten drei Viertel der Burscheiderinnen und Burscheider zu gewinnen, und zwar mit moderner, vitaler Bürgerbeteiligung. Z.B. über die anderenorts lange bewährten Bürgergutachten von jeweils ausgelosten und dann fachlich gut instruierten Bürgerinnen und Bürgern. Das kann viel Geld sparen und sehr viel Akzeptanz einfahren. Der Weg ist das Ziel und dabei gutes Gelingen!

P.S.:
In Planungszellen bzw. per Bürgergutachten erarbeiten Teams aus ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern nach fachlicher Instruktion Gutachten für komplexe Gestaltungsaufgaben, z.B. bei der Innenstadt-Gestaltung oder Versorgungs- und Entsorgungskonzepten. Die Ergebnisse gelingen nach langjährigen Erfahrungen sehr sachgerecht und effizient und öffentlich ausgesprochen akzeptabel und nachhaltig. Siehe näher etwa unter
https://de.wikipedia.org/wiki/Planungszelle .

Dieses Verfahren ermöglicht signifikant mehr qualitativen Austausch, Input und Mit-Urheberschaft als die von der Stadt i.R.d. der Werbung für das IEHK 2025 organisierte Bürgerbeteiligung per Info-Veranstaltungen und Flyer. Das Konzept stammt in seiner deutschen Ausprägung sogar aus dem Bergischen, von Peter Dienel, seinerzeit Forscher an der Wuppertaler Universität. Wie gesagt: Der Weg ist das Ziel

 

(2022/9) 21.3.2022
Remscheider General-Anzeiger / RGA, abgedruckt 25.3.2022
zum Ergebnis der Burscheider Bürgermeisterwahl (Bericht u. Kommentar von Nadja Lehmann in der Ausgabe v. 21.3.2022, S. 23: „93,43% stimmen für Dirk Runge" u. „Nun ist Zeit bis 2025“) der nachfolgende Leserbrief:

Wahlen mit völlig absehbarem und dann praktisch „sozialistischem“ Resultat leiern die Demokratie aus. Sie stärken die Extreme, wenn diese dann versuchen, den Wirkungsgrad und Nutzen unserer Wahlen eifernd in Zweifel zu ziehen. Der in Burscheid just eingesparte Wahl-Schweiß unserer Edlen und die clever erübrigte Rechenschaft für die vergangene Periode, auch ein nun fehlender, mit klaren Fakten ausgehandelter frischer und breiter Wählerauftrag, sie könnten sich daher noch bitter rächen.

Indessen kann Dirk Runge – und das ist ihm als einem unabhängigen Fachmann und erklärten Teamplayer besonders zuzutrauen – viel davon wettmachen und persönliches Profil aufbauen: Er könnte künftig sehr wirksame Instrumente der Bürgerbeteiligung einsetzen, z.B. die seit Jahrzehnten gut erprobten „Planungszellen“ mit Teams blind gewählter Bürgerinnen und Bürger. Dann wären auch die nächsten fünf Jahre im engen Kontakt mit den Zielgruppen der Stadtplanung vital genutzt: Eben auf akzeptanzsteigernder Augenhöhe und im gut durchbluteten Dialog. Dazu wünsche ich ihm alles Glück des Tüchtigen!

Anm.:

In Planungszellen erarbeiten Teams aus „blind“ ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern nach eingehender fachlicher Instruktion Gutachten für komplexe Gestaltungsaufgaben wie Fußgängerzonen, Abfallentsorgung, Wasser- und Energieversorgung etc. Die Ergebnisse gelingen nach langjährigen Erfahrungen hoch sachgerecht und effizient sowie - mangels "gewöhnlicher Verdächtiger" - öffentlich ausgesprochen akzeptabel. Näheres siehe etwa unter https://de.wikipedia.org/wiki/Planungszelle.

Dies ist qualitativ etwas völlig anderes als die von der Kommune bei der Werbung für das IEHK 2025 organisierte Bürgerbeteiligung in Info-Veranstaltungen und Flyern. Das Rezept für Planungszellen oder auch Bürgergutachten stammt in seiner deutschen Ausprägung sogar aus dem Bergischen, von Peter Dienel, seinerzeit Forscher an der Bergischen Universität Wuppertal ;-)

 

(2022/8) 4.3.2022
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 15.3.2022
zum Bild- und Textbeitrag im Lokalteil Rhein-Wupper betr. die anstehende Burscheider Bürgermeister-Wahl („Konkurrenzlos harmonisch in den Wahlkampf“, Lokalteil Rhein-Wupper v. 2.3.2022, S. 25; Bild: Britta Berg, Text: ger) der nachfolgende Leserbrief:

Gar kein Zweifel: Dirk Runge ist eine gute, sachverständige Wahl und als parteiloser Bürgermeister – wohl der erste nach 1945 – ist er noch mal extra interessant. Aber dass er nun so ganz allein, nur mit „Ja“ und „Nein“ und ohne jede persönliche Alternative auf unserem Zettel steht, wirkt das nicht wie ein Armuts-Bekenntnis der Burscheider Parteien-Landschaft?

Eine naheliegende Erklärung: Der Einheits-Vorschlag soll möglichst ausgewogen jenes eiserne Bündnis in die Zukunft fortsetzen, zu dem sich unsere Parteien mit dem Integrierten Entwicklungs- und Handlungskonzept Burscheid 2025 (IEHK) in Treue zusammen geschmiedet haben. Der Kandidat soll keinem oder allen zugleich gehören. Er wird nun kaum eine andere Wahl haben, als diese vielschichtig verleimte Bibel orthodox und buchstabengetreu ins Werk zu setzen. Lebende, offene, streitende und im Verlauf lernbereite Demokratie sähe wohl anders aus.

Trotz oder gerade wegen dieses Hintergrundes wünsche ich dem unabhängigen Kandidaten eine gute Hand und eine sachorientierte, für Burscheid nachhaltige Amtsführung. Die Chance ist da.

 

(2022/7) 3.3.2022
DER SPIEGEL
zum Beitrag von Ralf Neukirch „Einsatz auf breiter Front“ (SPIEGEL Nr. 9. v. 26.2.2022, S. 15)

Es sind doch reine Glückskinder, die Armeen der NATO-Staaten! Bei den Interventionen der letzten 30 Jahre sahen wir sie weitgehend glücklos – wenn auch nicht ohne scharfen Schuss und weiß Gott nicht ohne menschliche Opfer. Aber nun fallen ihnen Alimente von mindestens 2% unseres Bruttosozialprodukts so einfach in den Schoß. Dank Wladimir, dem Schutzheiligen aller militärisch-industriellen Komplexe dieser Galaxis.

 

(20222/6) 15.2.2022‘
Kölner Stadt-Anzeiger Rhein-Berg
zum Artikel von
Julia Hahn-Klose „Den Garten natürlich gestalten“ (Kölner Stadt-Anzeiger Lokalteil Rhein-Wupper v. 10.2.2022, S. 36)

Goldrichtig: Grünflächen in der Vertikalen und Horizontalen fördern die Biodiversität, sie kühlen das Stadtklima, dienen als Lebensraum für Insekten, sie fangen Wasser auf und können Dürre ebenso wie Starkregen-Ereignisse mildern. Sie passen damit zu einem beschleunigten Klimawandel, sie tragen zum Wohlbefinden der Bürgerinnen und Bürger bei und nicht zuletzt zur Attraktivität unserer Stadt. Der Wettbewerb „Naturoase statt Schotterwüste“ mit dem griffigen Slogan „Grün statt Grau“ ist also höchst begrüßenswert.

Aber: Würde sich die Stadt mit ihrem Eigen-Projekt „Hauptstraßen-Rampe“ bei sich selbst bewerben, dann würde sie in der Jury jämmerlich scheitern. Denn was früher einmal eine grüne Lunge der Innenstadt war, dem sind viele Bäume und damit die wesentlichen Lungenflügel schon längst wegoperiert, einige hundert Quadratmeter Grün werden noch grau versiegelt werden und die steilen Hänge werden am Ende nur niederes Efeu tragen. Was soll diese Degradation dann aufwiegen?

P.S.: 

Kein Problem, wenn Sie diesen Brief nicht (auch noch) abdrucken; ich gehöre ja zum Thema Burscheider Rampe zu den bereits gut bedachten „gewöhnlichen Verdächtigen“.

Allerdings ist das hier schon ein wenig schräg: Um den Verlust an Biomasse zu kompensieren, die der Rampe weichen musste, da wird es schon die Größenordnung von mindestens 100 heftig begrünten Hauswänden brauchen. Bei Interesse finden Sie unter https://www.vo2s.de/krasse_rampe.htm einige Bilder, die Sie rechtefrei verwenden können. Interessant sind hier als griffiger Vergleich vorher/nachher etwa die Bilder

https://www.vo2s.de/bruecke_03.JPG (29.5.2019)

und

https://www.vo2s.de/bruecke_19.JPG (27.1.2022).

 

(2022/5) 31.1.2022
Kölner Stadt-Anzeiger
zum Kommentar v. Karl Doemens „Unzuverlässige Verbündete“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 29.1.2022, S. 4)

Memmen“ und „Krämer“ - Zuschreibungen dieser Qualität haben in den letzten zwanzig Jahren das Beitreten Deutschlands zu einer erweiterten Außen- und Sicherheitspolitik begleitet. Ein bekanntes deutsches Nachrichtenmagazin hat mittendrin mit dem Titel-Zitat aufgemacht „Die Deutschen müssen das Töten lernen“ und ein Herausgeber des Stadt-Anzeigers hat – mit Blick auf die Nachkriegs-Geschäfte – sehr wortreich für die deutsche Beteiligung am Irak-Einsatz geworben. Bei der „Bündnisfähigkeit“ hat man in den einschlägigen parlamentarischen Debatten die angeblich peinlichsten Defizite ausgemacht. Jetzt erscheint Deutschland erneut als „Problembär“, „Stolperstein“ oder „unzuverlässiger Verbündeter“.

Was aber war denn das Ergebnis des o.g. neuen Weges? Die Interventionspolitik ist m.E. massiv gescheitert. Etwa in Afghanistan, wo außer Rüstungs-Spesen wenig gewesen ist und noch weniger bleibt. Wahrscheinlich liegt genau hier des Rätsels Lösung: Es wird nun eine weitere geopolitische Weiche gestellt und diese führt den massereichen Zug samt Militär und Industrie ohne Abbremsen auf das alte Gleis der Blockkonfrontation zurück. Verlässlichkeit und Vertragsbindungen wie bei Nord-Stream können da nur schaden.

Vielleicht sollte man sich nüchtern und unideologisch klar machen: Gegner und Verbündete sind hier allesamt fortgeschrittene technokratische, auf ökonomischen Erfolg optimierte Systeme. Gerade die Ähnlichkeit und niveaugleiche Konkurrenz machen die hohe, für uns existenzielle Gefahr aus, nicht etwa die vergleichsweise geringen historisch wie geografisch bedingten Unterschiede beim Einordnen von Menschenrechten und Menschenpflichten. Ich plädiere weiterhin für das Grundprinzip der VN – das Aushalten von Koexistenz. Und keinesfalls sollte die Nato im eigenen Interesse diplomatisch aktiv bleiben; das wäre der Bock in der Rolle des Gärtners.

Zitierte Quellen:

SPIEGEL No. 47/2006 v. 19.11.2006 „Die Deutschen müssen das Töten lernen“ https://www.spiegel.de/spiegel/print/index-2006-47.html

Alfred Neven DuMont „Der Weg ins Abseits“, Kommentar v. 14.2.2003, http://www.Kölner Stadt-Anzeiger.de/debatte/der-weg-ins-abseits,15188012,14292298.html

 

(2022/4) 24.1.2022
Kölner Stadt-Anzeiger Rhein-Wupper
zum Leserbrief „Weder barrierefrei noch familienfreundlich“ im Kölner Stadt-Anzeiger (Lokalausgabe Leverkusen & Rhein-Wupper v. 22.1.2022) zum Bericht „Anschluss an die Rad-Autobahn“ (14.1.2022) und zur Notiz „Mann stirbt nach Sturz auf Balkantrasse“ (28.6.2021, S. 34)

Danke für die eingehende Position des zuständigen Radfahrer-Vereins zur Burscheider Rampe und für den Abdruck im Stadt-Anzeiger v. 22.1.2022. Zu Recht weist hier auch die Bildunterschrift auf das außergewöhnliche Gefälle hin. Diese Rampe war im IEHK Stand Dezember 2016 noch mit 6% Gefälle berechnet und soll nach genauerer Vermessung der Örtlichkeiten nun „im Mittel“ um 8% abfallen; außerhalb der Einmündungen und insbesondere im Scheitelpunkt bzw. im Mittelteil der Rampe wird der Wert damit noch deutlich darüber liegen.

Es braucht nicht sehr viel Fantasie: Ein ausgewachsener Biker (Gesamtmasse 150-200 kg mit 20-30km/h) trifft auf ein Kind auf seinem Dreirad (Masse 15-20kg bei max. 3 km/h). Die Folgen werden wir – man verzeihe meinen Sarkasmus – mit Hansaplast nicht wieder beseitigen können. Reales Beispiel: Der Stadt-Anzeiger berichtete am 28.6.2021 über den tödlichen Unfall an der sogar um ca. 2% schwächer geneigten Jahnstraßen-Rampe, als ein Skater ein Fahrrad überholen wollte.

Wenn die Stadt vergleichbare Fallgestaltungen nicht auf ihr Gewissen laden will, dann wird sie die künftige Hauptstraßen-Rampe für Rad- oder Fußgängerverkehr sperren müssen. Dies entspräche auch den bundesweit gültigen Standards für Radverkehrsanlagen.

 

(2022/3) 16.1.2022
Kölner Stadt-Anzeiger Rhein-Wupper
zum Beitrag von Julia Hahn-Klose „Anschluss an die Rad-Autobahn“ (Kölner Stadt-Anzeiger, Lokal-Ausgabe Rhein-Wupper v. 14.1.2022, S. 25)

Gar keine Frage: Im Bergischen sind viele angestammte Verbindungen steil und an ihrer jeweiligen Stelle alternativlos – an den Hängen des Wuppertales etwa, von Blecher nach Altenberg hinab oder von Oberburg nach Unterburg. Aber zur neuen Burscheider Rampe, da gibt es ja direkt neben dem Bus-Büdchen an der Montanusstraße schon lange eine deutlich funktionalere Alternative: Zu den höchstens halben Kosten barrierefrei und sicher anzulegen, vorbei sogar an Geschäften und Lokalen, damit auch mit merkantilem Mehrwert, und in genau gleichem Abstand der Einmündung zur Hauptstraßen-Brücke. Für eine noch stärker pulsierende Innenstadt kann man diesen Weg sogar als Spange herüber zur Auffahrt Dammstraße nutzen. Zumal wegen des Fahrradbusses ja ohnehin deutlich mehr Freizeitradler aus der W’kirchener Richtung heran rollen.

Vor wenigen Tagen hielt mir eine Burscheider Ratsdame empört vor: Ohne die Rampe und Kanzel hätten wir doch die ganze schöne Landesförderung liegengelassen! Nur: Sind Landesmittel nicht ebenso steuerfinanziert? Und sollten wir tatsächlich für eine große Geste, für einen glitzernden städtebaulichen Akzent die Gesundheit von Bürgern und Besuchern jeden Alters aufs Spiel setzen? Mit einem selbst verantworteten Gefälle, das diejenigen Bau-Normen um mehr als das Doppelte überschreitet, die jedenfalls außerhalb des Bergischen bundesweit den Stand der Technik markieren?

Das wäre schon ein besonders arger Schildbürgerstreich – eben auf Kosten Dritter. Im vergangenen Jahr gab es auf der nicht einmal ganz so krass geneigten Jahnstraßen-Rampe – dort hatte man seinerzeit aus Kostengründen auf eine flache Tunnellösung verzichtet – den tödlichen Unfall eines Skaters mittleren Alters. Sobald es nun beim lustigen Heruntersegeln von der Hauptstraßen-Rampe zu einem ähnlichen Unfall kommt, und das ist vermutlich nur eine Frage der Zeit und der Nutzerzahl, dann wird man die Rampe ganz oder zumindest für eine der einander gefährdenden Verkehrsarten sperren müssen – für Radler, Fußgänger, Skater, Rollatoren oder was auch immer. Die zitierte Ratsdame wird sich dann entsetzt abwenden und darauf bestehen, man habe sie einseitig und irreführend beraten.

P.S. / Quellen

Tödlicher Unfall am 27.6.2021 an der Jahnstraßen-Rampe:
https://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/skateboarder-burscheid-100.html

Zu den bundesweiten Normen:
Nach Nr. 3.6 der bundesweit geltenden
Empfehlungen für den Bau von Radverkehrsanlagen (ERA, aktuell ERA 2010; die zitierte Nr. 3.6 ist unter dem o.a. Link auf S. 27 abgedruckt) ist aus Sicherheitsgründen bei gemeinsamer Nutzung durch Radfahrer und Fußgänger ein maximales Gefälle von 3% zu beachten. Die ERA besitzen keine formale Gesetzeskraft, das ist zutreffend, aber sie stellen genau wie DIN-Normen den aktuellen Erfahrungshorizont und den Stand der Technik dar und sind spätestens bei einem Unfallgeschehen bei der Frage der Verursachung und Haftung (z.B. der verkehrssicherungspflichtigen Kommune) relevant. Verantwortungsvoller ist allerdings, man respektiert die zugrundeliegenden weiträumigen Erkenntnisse und wählt von vornherein eine Alternative der Wegführung, die die sicherheitsbedingten Grenzwerte einhält oder unterschreitet.

 

(2022/2) 11.1.2022
Süddeutsche Zeitung
zum Kommentar „Kalter Krieg 2.0“ von Stefan Kornelius (Süddeutsche Zeitung v. 8./9.1.2022 S. 4)

Es wäre eher unwahrscheinlich, aus einem Kalten Krieg etwas lernen zu können oder wollen. Wie in Tausenden Jahren davor geht und ging es um Wettbewerb und Einflusssphären, um Rohstoffe, Know how, Kräfte für Arbeit und Krieg, Basen, Handelsstraßen und Meerengen. Mal ist Krieg, mal führt sich der bewaffnete Kampf leichter mit anderen Mitteln weiter, gerne auch verdeckt oder mit „false flags“. Wettbewerb lebt zwischen den technokratisch organisierten Gemeinschaften und auch nur zwischen solchen sind heiße Kriege systemlogisch. Aus diesem ewigen groundhog day kämen wir vielleicht heraus, würden wir ablassen von dieser so attraktiven Fukuyama-haften Vision, wir allein besäßen das Idealrezept für das Zusammenleben von Menschen differenziertester Historie und naturräumlicher Prägung durch ihre jeweilige Heimat.

Statt selbstgerechter Mission wäre das Besinnen auf das Grundprinzip der VN vermutlich deeskalierend – das friedliche Ertragen verschiedener Staaten-Individuen, auch verschiedener Verständnisse von Menschenrechten und Menschenpflichten, vielleicht gar die Bereitschaft, fremde Rezepte nüchtern für die Eigen-Therapie zu prüfen. Nur nebenbei bemerkt: Auch in den so genannten westlichen Gesellschaften finden wir hochstabile, professionalisierte politische Eliten und Weltbilder sowie Generationen-alte Einflussmächte, die den demokratischen Prozess nach Belieben durchtunneln. Unterschiede zwischen Orient und Okzident mögen für einen außenstehenden Beobachter daher eher quantitativ als qualitativ erscheinen. Selbst der Rechtsstaat ist bei genauem Hinsehen wohl mehr Utopie als Besitz: Wer etwa nach einer Eingriffsgrundlage für den (im Wortsinn) infernalischen Einsatzbefehl vom 3.9.2009 an der Kundus-Furt sucht, nach einer Eingriffsgrundlage, die den fundamentalen Anforderungen des Art. 19 des Grundgesetzes genügt, der wird daran verzweifeln. Jedes Bündnis schneidert sich eben seinen Einsatzrahmen, zu jeder Zeit.

Tatsächlich sollten wir noch mal bei Kant nachschlagen: In seinem sarkastisch betitelten „Ewigen Frieden“ hat er an zwei Stellen ganz pragmatisch die segensreich limitierende Wirkung der Rückkopplung angesprochen: Wenn das Volk nur selbst unmittelbar über den Krieg entscheiden würde – dann würde es sich sehr hüten, sich selbst die bekannten Lasten, Schmerzen und Verluste aufzubürden. Anders etwa als die Staatslenker, die einen Krieg wie eine Lustpartie aushecken könnten und sodann gerne vom immer botmäßigen diplomatischen Korps begründen ließen. Und an anderer Stelle lobt er auch noch einen gutmütigen Kaiser, der einen Krieg in einem persönlichen Zweikampf ausfechten wollte. Das wär’s doch mal: der traditionelle Kampf der Häuptlinge, wo die Koexistenz in Frage steht.

P.S.:
In der grundlegenden Streitkräfte-Entscheidung des BVerfG wird Art. 19 GG – immerhin die zentrale Antwort unserer Verfassung auf das Ermächtigungsgesetz – mit keinem Wort erwähnt. Die kürzliche Entscheidung zum Auslands-Nachrichtendienst, die ebenso den Eingriff in die Grundrechte von Ausländern im Ausland betrifft, legt immerhin schon die qualifizierten Anforderungen von Art. 19 GG zugrunde. Vielleicht kommt es noch zu einer „Übersprungshandlung“.
Denn das rundum erfolglose Ende des Afghanistan-Einsatzes mit seinen mehreren zehntausend nun besonders fragwürdigen zivilen Toten könnte und sollte ein Umdenken einleiten.

 

(2022/1) 3.1.2022
Kölner Stadt-Anzeiger, abgedruckt 14.1.2022
zum Kommentar v. Frank Nägele „China macht vor nichts halt“ (Kölner Stadt-Anzeiger v. 31.12.2021 / 1.1. u. 2.1.2022, S. 17)

Sieht Frank Nägele das abgrundtiefe Böse auch in arabischen Ölstaaten, wenn diese ihre Frauen und Mädchen nach Kräften vom öffentlichen Sport fernhalten? Nun: Wir sollten nicht annehmen oder gar verlangen, dass jahrtausendealte Kulturstaaten nach den gleichen Prinzipien funktionieren wie der Okzident. Das hat etwa auch in Afghanistan sehr schlecht funktioniert.

Tätowierungen tragen in China mehrere Stigmata: Früher hat man damit Kriminelle allseits sichtbar gezeichnet und Tattoos wurden und werden mit der organisierten Kriminalität verbunden. Nebenbei: Die chinesische Administration versucht auch andere "Extravaganzen" zu beschränken, etwa gefärbte oder schräg frisierte Haare und das Tragen von symbolhaftem Schmuck – und gerade das Letztere hat ja auch deutsche Verwaltungen Tag und Nacht beschäftigt. Also: Ich plädiere für das gelassene Aushalten von Koexistenz und für weniger Feindbilder, für eine aktive Deeskalation bei den neuen „gelben Gefahren“. Auch Sport ist relevanter Teil und große Chance einer völkerverbindenden Diplomatie.

 

Und ein paar Sammlerstücke aus früheren Jahren:

 

Die Mutter aller [meiner] Leserbriefe:

29.9.1992
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt 2.10.1992
Militär; Absage der "V 2 - Gedenkfeier" in Peenemünde (Kölner Stadt-Anzeiger. v. 29.9.1992)

Hätten wir am Deutschlandtag die Schöpfer der V 2 hochleben lassen, hätten wir auch die der Scud mitgefeiert. Die Scud ist wie die Mehrzahl der heute weltweit ausgerichteten Trägersysteme legitimer Nachfahre der V 2. Scud und V 2 sind brutale Massenvernichtungswaffen, die unter einem verantwortungslosen Regime bewußt zum Schaden der Zivilbevölkerung eines anderen Landes entwickelt und eingesetzt worden sind.

Demgegenüber ist der vorgebliche Kontext ziviler (!) Raumfahrtforschung, der etwa den jungen Wernher von Braun begeistert und geblendet haben mag, als Begründung eines V 2 - Festes geradezu absurd. Die Forschung hat sich gegen diese Wirtschaftsidee im doppelten Sinne auch ausdrücklich verwahrt.

Der Vorschlag war, wenn auch der count-down schweren Herzens in letzter Sekunde abgebrochen wurde, bereits eine verheerende Wunderwaffe gegen das Ansehen des neuen Deutschland im Ausland und unserer Repräsentanten im Inland.

 

Und der am weitesten gereiste Leserbrief:

22.08.1995
NIKKEI WEEKLY, JAPAN; abgedruckt 28.8.1995
Militärpolitik; Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki; THE NIKKEI WEEKLY of August 14, 1995

I refer to reports on WW II and especially to two letters to the editor printed in THE NIKKEI WEEKLY of August 14, 1995. It is my impression that those two letters offer a unilateral and quite insulting interpretation of the motives behind the drop of atomic bombs onto Hiroshima and Nagasaki fifty years ago (e.g. N. Hale: "a merciful decision"). So I would like to show an alternative view:

It is certainly true that Japanese military leaders commenced the hostilities against the USA. But the Japanese victims at Hiroshima and Nagasaki were in their vast majority civilians. And although they were victims, I am far from sure they were the real addressees of the bombs as well. There is quite a convincing hypothesis: The drop of the bombs in the first place aimed at impressing the counterparts of Truman at the Potsdam Conference of July/August 1945 - Truman, a just invested and still very uneasy-feeling American president. To add: according to now opened American files the Nagasaki bomb was also meant to test a completely redesigned ignition system.

The echoes of that demonstration of power strongly outlived that event. We hear them over and over again – from Iraq, from France, from China etc. So humanity will never forget those victims, even if some wanted to.

 

Weitere Leserbriefe

2021 / 2020 /

2019 / 2018 / 2017 / 2016 / 2015 / 2014 / 2013 / 2012 / 2011 / 2010 /

2009 / 2008 / 2007 / 2006 / 2005 / 2004 / 2003 / 2002 / 2001 / 2000 /

1999 / 1998 / 1997 / 1996 / 1995 / 1994 / 1993 / 1992


Oder auch ein paar Briefe für
Englisch-sprachige Medien.

Gerne meine >150 Leserbriefe, die zum Thema Außen- und Sicherheitspolitik, Auslandseinsätze bzw. „out of area“ veröffentlicht worden sind.

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