Karl Ulrich Voss, Burscheid: Meine Leserbriefe im Jahre 2011

Stand: Dezember 2011

 

(62) 1.12.2011
Kölner Stadt-Anzeiger
irrtümliche Bombardierung pakistanischer Truppen; Willi Germund "In der Sackgasse" (Kölner Stadt-Anzeiger v. 30.11.2011, S. 4)

Schlimmer hätte es wirklich nicht kommen können, denn alle sind ganz einig: Das eigentliche langfristige und gewichtige Risiko ist nicht Afghanistan, sondern war und ist der Atomwaffen-Staat Pakistan. Und genau das war ja der wesentliche Grund der schmerzhaft verlängerten militärischen Präsenz am Hindukusch. Wenn nun mehr als 20 pakistanische Soldaten im "friendly fire" starben, so hat dies unseren strategischen Zielen etwa so geschadet wie die versehentliche Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad am 7.5.1999, die zu einer völligen Neuorientierung der chinesischen Strategie und Rüstung geführt hatte - ein schon fast vergessener, aber besonders nachhaltiger "collateral damage".

Ein weiterer tief erschreckender Punkt: Es heißt nun - wohl mit leichtem Schulterzucken - man könne Widerstandskämpfer halt kaum von Soldaten unterscheiden. Vorher gab es die ähnliche, gängige Entschuldigung nach dem Bombardieren von Hochzeiten oder Tankfahrzeugen. Ich habe nicht den Eindruck, dass wir, geschweige denn unsere Dienste diesen Landstrich genügend oder auch nur zunehmend verstehen. Man könnte das, was wir dort tun oder unterstützen, auch "Töten unter Unsicherheit" nennen, für zunehmend zweifelhafte Ziele.

P.S. zur Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,21548,00.html

 

(61) 28.11.2011
Frankfurter Allgemeine
Mordserie mit rechtsextremem Hintergrund; Peter Carstens "Starres Entsetzen" (Frankfurter Allgemeine v. 23.11.2011, S. 1)

Aus meiner Sicht braucht es keinen anderen Innenminister - etwa einen zentraleren, besser vernetzten, stärker entschlossenen und schlagkräftigeren als den Amtsinhaber. Wenn, dann bedarf es einer erfolgreicheren Sozialpolitikerin oder – da mit der Personalisierung hier eine ganz falsche Fährte gelegt wäre – einer wirksameren Bildungs-, Sozial- und Kohäsionspolitik. Denn bildet man eine Art Gini-Koeffizient für Bundesländer, dann zeigen sich hier alte und neue Bundesländer als markant geschieden - hinsichtlich der rechtsextremistischen Gewalttaten, aber eben auch hinsichtlich der lokalen Arbeitslosigkeit, der Rekrutierung für die Bundeswehr und der Wahlbeteiligung. Das eine und das andere sind nicht zu scheiden, und die verbreitete Erklärung des Rechtsextremismus mit nachwirkenden Kommunismus-Folgen war und ist irreleitend, zumal rechtsextreme Strukturen auch erst mit rund dreijähriger Verzögerung wirksam auf die neuen Länder übergreifen konnten.

Eine Anmerkung im Kontext des anderen TOP-Themas der letzten Wochen und das machen wir uns für die längerfristige und staatenübergreifende Entwicklung noch viel zu wenig klar: Der Depravations-Frust und der Terror gegen Minderheiten als Frustventil - sie stehen bei Euro-Verlierern ebenso zu erwarten wie bei Wende-Verlierern. Und auch hier wäre eine effizientere Strafverfolgung, wenn überhaupt, dann das Mittel zweiter Wahl.

P.S.
In dieser Excel-Mappe sind Daten zur lokalen Verteilung rechtsextremistischer Gewalttaten (Verfassungsschutzbericht 2010), Arbeitslosigkeit (Statistisches Bundesamt), Bundeswehr-Rekrutierung von Unteroffizieren/Mannschaften (Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr) und zur Wahlbeteiligung 2009 (Bundeswahlleiter) zusammengefasst und zueinander in Beziehung gesetzt. Die jeweiligen Werte sind aus meiner Sicht signifikant gekoppelt. Die Datenquellen sind auf dem letzten Tabellenblatt verlinkt. Anm.: Die Tabellen haben im Wesentlichen einen Stand 2009/2010. Hinsichtlich der Rekrutierung stehen mir aktuellere Werte als von 2002 leider nicht zu Verfügung; in der Größenordnung dürften diese Zahlen aber dem aktuellen Verteilungsmuster noch durchaus entsprechen.

 

(60) 18.11.2011
Kölner Stadt-Anzeiger
Mordserie mit rechtsextremem Hintergrund; Michael Hesse "Satanische Verse und rohe Gewalt" u. beigefügte Grafik (Kölner Stadt-Anzeiger 15.11.2011, S. 5)

Zu der dem Artikel von Michael Hesse beigefügten Grafik eine Anmerkung: Trägt man die regionale Verteilung rechtsextremer Gewalttaten aus dem Verfassungsschutzbericht 2010 (dort S. 40) gegen die regionale Arbeitslosigkeit auf, so ergibt sich ein weitgehender Gleichlauf, mit etwas schwächerer Kopplung übrigens bei den regionalen Rekrutierungszahlen der Bundeswehr bei Unteroffizieren und Mannschaften (siehe Excel-Grafik hier).

Die Folgerung ist keine wirkliche Überraschung: Treiber sind die wirtschaftlichen Verhältnisse - oder auch die Konzentration von Verlierern der Wiedervereinigung - und weniger eine "Erblast" des früheren kommunistischen Systems. Darum sollten wir auch sehr sorgsam überlegen, was wir derzeit anderen Ländern an ökonomischen Rosskuren zumuten. Der Extremismus und Terrorismus der Siebziger Jahre hatte vergleichsweise lebensfernere Anlässe.

 

(59) 18.11.2011
Kölner Stadt-Anzeiger / Regionalteil Rhein-Berg
Landratswahl vor Ablauf der Wahlperiode; Malte Ewert "Man wird sauer gefahren" (Kölner Stadt-Anzeiger 16.11.2011, S. 34)

Die Amtsmüdigkeit des Landrats setzt sich bei mir – erstmals und sogar bekennend – in einer galoppierend wachsenden Wahlmüdigkeit fort. Vielleicht haben der Landrat Verständnis dafür, dass ich am Sonntag Sinnigeres tun werde - so wie er unser aller Verständnis erbittet, wenn er nun eine andere, sicher ebenfalls bessere Chance ergreift.

Wenn es dann auch weniger Wahlzettel gibt, kostet das Zählen vielleicht auch weniger Zeit und Geld - Geld, das auf der kommunalen Ebene für eine wirksame und nicht nur rituelle Demokratie allenthalben fehlt.  Eigentlich könnte auch die Partei, die den bisherigen Amtsinhaber vorgeschlagen und unterstützt hatte, anstandshalber für dieses Mal auf die Refinanzierung der Wahlkampfkosten verzichten. Und sollte am Ende die Wahlbeteiligung, wie nun zu erwarten steht, klar unter 50% liegen, so wäre auch dies eine grundehrliche Antwort und ein Fingerzeig des Souveräns an alle Nachfolger und Nachfolgerinnen.

Zum gleichen Artikel in der Internet-Ausgabe des Stadt-Anzeigers (http://www.ksta.de/html/artikel/1321373160087.shtml) mein hier veröffentlichter Kommentar:

So ein coming out  tut gut. Und gibt denen, die nun in voller Fahrt das Steuer übernehmen wollen, Gelegenheit zu prüfen, ob sich nicht doch noch was Besseres findet. Im Übrigen: Nicht nur die Spitze schiebt Frust, auch die Kämmerer in Zeiten der Haushaltssicherungskonzepte. Und auch die Bürger/innen, die für ihr Geld und für ihre Wahlgänge immer weniger Wirkung bekommen.

Wenn wir es denn hier mit einer strukturellen Überlast des Landrats-Amtes zu tun haben, so wird sicher die ihn derzeit tragende politische Kraft gelernt haben und nun das Ihre tun, die Regeln für die Zukunft sachgerecht fort zu entwickeln. Z.B.: Das passive Wahlrecht auf 30 Jahre begrenzen? Mehr Frühstücksdirektoren alimentieren? Kollegiale Amtsführung durch alle Wahlbewerber in einer Art Regierung der nationalen Einheit? Guter Rat ist teuer.

 

(57) 14.11.2011
TIME
Intervention in Libyen; "Time to Go, Or No?", TIME Nov. 14, 2011, p. 11

The anatomy of the Libya intervention would be more significant including the numbers of military and/or civilian casualties, wouldn't it? But a body count may be a little less effective in advertising hardware like Typhoon and Mirage fighters. To answer the question posed: If you break it, you own it.

 

(56) 11.11.2011
Kölner Stadt-Anzeiger im Internet; Leserkommentar hier aufgenommen
Atomare Bewaffnung des Iran; „Iran arbeitete an Atomwaffen“, KStA-Internet-Artikel v. 8.11.2011 = http://www.ksta.de/html/artikel/1320495975063.shtml

Aus dem Handbuch des kleinen Paranoikers und Manichäers: „Vermute das Schlechte nur bei deinem Nachbarn und blende eigene Verursachungsanteile sorgfältig aus.“ Das Streben des Irans nach einer atomaren Drachenhaut ist ohne den virulenten Interventionismus des Westens, der nach 1990 durch den Zusammenbruch des kommunistischen Lagers möglich wurde, gar nicht denkbar. Schon vorher galt jeder Iraner, der vom Westen nur Gutes erwartete, wegen der Operation Ajax, die in den Fünfziger Jahren den gewählten Staatspräsidenten Mossadegh aus dem Amt gekippt und zum Nutzen der AIOC - heute BP - den Schah mit seinem brutalen Savak an die Macht gebracht hatte, und wegen der offenen Unterstützung des Westens für den Irak im blutigen ersten Golfkrieg als hoffnungsloser Optimist und Romantiker.

Ich lehne Atomwaffen ab. Aber ich halte es für kurzsichtig und im Grunde unpolitisch, die dazu führenden Faktoren zu übersehen. Geschweige denn die handhaften Anteile westlicher Gewinnler bei deren Verbreitung.

 

(55) 10.11.2011
Kölner Stadt-Anzeiger
Atomare Bewaffnung des Iran; Tobias Kaufmann, „Niemand stoppt den Iran“ (KStA 10.11.2011, S. 4):

Im Grunde mag ich das Recht sehr, und Waffen – zumal Atomwaffen – ganz und gar nicht. Aber Recht muss mit gleichem Maß angewandt werden, sonst verliert es seine Berechtigung. Nun in der Sache selbst:

Menschenmengen tendieren zur Fähigkeit, Gewalt zu entfalten, und zu Führungen, die ihre Paranoia bestätigen, insbesondere nach kollektiven Traumata und bei starkem weltanschaulichem Gradienten zu ihren Nachbarn. Ein internationales Waffenkontrollregime mag ihnen hinderlich sein, sie werden es aber im Zweifel umgehen. Das war in Israel nicht anders, als es beim Iran nun offensichtlich wird. Den gleichen Treiber gab es im Verhältnis Pakistan zu Indien. Das Vertrackte ist eben: Durchschnittliche Iranerinnen und Iraner haben nach dem Mossadegh-Putsch und nach dem blutigen ersten Golf-Krieg, den der Westen offen angefeuert hatte, jeden Grund, ihre Umgebung als potenziell bedrohlich und aggressiv wahrzunehmen. Sie müssen realistisch betrachtet nicht eigene Stärke fürchten, sondern eigene Schwäche. Auch insoweit unterscheidet sich der Iran nicht von Israel. Wir würden nicht anders reagieren und haben historisch nicht anders reagiert. In Erinnerung ist noch: Adenauer war nach dem Krieg der am stärksten entschlossene Befürworter einer deutschen atomaren Aufrüstung – ebenfalls aus einem Gefühl des Bedrohtseins heraus. Stationiert sind solche Waffen ja noch heute bei uns, wiewohl sich die Bedrohungslage längst geändert hat.

Nun der zweite Punkt - und der gibt dann doch Anlass zur Nüchternheit. Atomwaffen sind zwar zuhauf und unter teils ruinösen Bedingungen produziert worden, aber wir haben sie nie eingesetzt  – abgesehen von einer Situation absoluter militärischer Überlegenheit wie in der Schlussphase des zweiten Weltkriegs. Jeder Quadratmeter des Irans liegt im Zielkreuz von nuklearen Sprengkörpern, jeder mit einer hundertfachen Hiroshima-Sprengkraft, und sie können erklärtermaßen für Erhalt und Verteidigung Israels abgefeuert werden.

Die im historischen Vergleich unnatürlich lang anmutende Friedensphase nach 1945 schreiben wir richtigerweise weniger den nachwirkenden Schrecken zweier Weltkriege zu, die verblassen rasch mit den Zeitzeugen, sondern dem Wissen, dass erstmals in der Geschichte mein Gegner die Fähigkeit bewahren kann, auf meine Aggression selbst bei massiven eigenen Schäden noch vernichtend zurück zu schlagen. Damit hat der kategorische Imperativ – oder die volkstümliche Regel: "Was du nicht willst, das man dir tu..." – sehr nachhaltig die Machtpolitik verändert, zu unserem Vorteil.

Darüber zu reflektieren traue ich einem uralten Kulturvolk wie dem persischen zumindest ebenso zu wie den vergleichsweise jugendlichen, sprunghaften Kulturen des Westens. Ich jedenfalls halte ein Gleichgewicht für sicherer als ein Ungleichgewicht und sehe die deutlich größeren Risiken in möglichen Versuchen, ein Ungleichgewicht für einige Zeit mit Gewalt zu "retten". Das wird in Israel, wenn ich's recht höre, von vielen nachdenklichen Menschen ebenso gesehen.

P.S.
zum Putsch gegen Mossadegh i.J. 1953: http://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Ajax
zum ersten Golfkrieg i.d.J. 1980-1988: http://de.wikipedia.org/wiki/Erster_Golfkrieg
zu Plänen der Jahre 1956 ff, Deutschland atomar zu bewaffnen: http://www.zeit.de/1996/31/Adenauers_Griff_nach_der_Atombombe

 

(54) 9.11.2011
Kölner Stadt-Anzeiger
Rüstungsexporte; Damir Fras „Hilfe für die Rüstungsindustrie“ (KStA v. 8.11.2011, S. 5)

Bestenfalls sind Rüstungslieferungen ein kollektiver Sargnagel – wie die opulenten und für das Empfängerland absolut unproduktiven bzw. sinnfreien Exporte nach Griechenland, die zum Bankrott aktiv beigetragen sind. Im schlechtesten Fall sind es sehr viele individuelle Sargnägel, gerade beim Export von Gewehren, deren durchschnittliche Lebensdauer die der Menschen in den „Endverbleibsländern“ massiv übersteigt.

Die Formulierung von Regierungssprecher Seibert, „bei Rüstungsexporten herrsche grundsätzlich eine Atmosphäre der Nachdenklichkeit“, empfehle ich in ihrer Schärfe und Stringenz zur sofortigen Aufnahme in das Grundgesetz. Anbei: Viele Politiker denken ja in Sonntagsreden gerne laut über den Arbeitsplatz-sichernden Nutzen von Waffenexporten nach. Leider eine weit verbreitete Mär, denn Rüstungsexporte kosten per saldo Arbeitsplätze, und zwar zivile Arbeitsplätze – nach ganz einfacher marktwirtschaftlicher Logik: Staaten wie Griechenland oder die Türkei, die wir im geschickten Ausnutzen ihrer wechselseitigen nationalen Paranoia zu unseren größten Abnehmern zählten, bezahlten zu einem wesentlichen Teil gerade nicht in Cash oder mit Rohstoffen, sondern mit gegenläufigen Warenströmen geringerer Wertschöpfung und höherer Arbeitsintensität.

P.S. zum aktuellen Schreiben der Bundesregierung an die EU siehe Meldung im SPIEGEL http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,796115,00.html

 

(53) 9.11.2011
DIE ZEIT, abgedruckt 17.11.2011
Referendum in Griechenland; Jan Ross "Huch, das Volk" (DIE ZEIT v. 3.11.2011, S. 1)

Ganz genau: Hätten wir Papandreou "ad referendum" gehen lassen, Europa hätte goodwill gewonnen, zum Beispiel bei den jungen Staaten an seinen Rändern. Und das unabhängig vom Ausgang: Als Beweis nämlich, dass So hat Europa viel verloren. Die Legitimation durch den Basissouverän ist wohl kein naturgesetzlicher Zwang; man kann sie stetig aushöhlen durch Konstrukte wie die legendäre ununterbrochene Legitimationskette, die sich so eingängig auf den Overhead-Folien der Staatsrechtsvorlesungen macht, aber eigentlich nur die Angst vor dem Volk und dessen Willensbildung kaschiert und die die Exekutive ihr ewig Ding tun lässt. Oder durch die Fiktion von konkret sachbezogener Zustimmung der Bürger bei zunehmend rituellen Wahlen.

Nebenbei: Gingen wir nach historischen Namensrechten, so nähmen die Griechen bei Austritt aus der Euro-Zone ihren Euro mit.

P.S.:
Der rigide Geltungsanspruch des heute gängigen Wirtschaftsmodells erinnert – vielleicht auch in der Wahrnehmung vieler Griechen – an Schillers Gedicht "Die Götter Griechenlands" a.d.J. 1788, in dem er das Verdrängen der Farbe, Vielfalt und letztlich der Menschlichkeit des klassischen Weltbildes durch das kühlere, nüchterne Christentum beklagt; hier die letzte Strophe:

Ja, sie kehrten heim, und alles Schöne,
Alles Hohe nahmen sie mit fort,
Alle Farben, alle Lebenstöne,
Und uns blieb nur das entseelte Wort.
Aus der Zeitflut weggerissen, schweben
Sie gerettet auf des Pindus Höhn,
Was unsterblich im Gesang soll leben,
Muß im Leben untergehn.

http://www.uni-due.de/lyriktheorie/texte/1788_schiller.html (Text)
http://de.wikipedia.org/wiki/Die_G%C3%B6tter_Griechenlandes (Geschichte)

 

(52) 8.11.2011
Handelsblatt im Internet; Leserkommentar hier veröffentlicht
Schr. der Bundesregierung an EU; Internet-Artikel v. 6.11.2011 (rtr) Regierung erleichtert Rüstungsexporte = http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/regierung-erleichtert-ruestungsexporte/5804346.html

(1) Bestenfalls sind Rüstungslieferungen ein kollektiver Sargnagel - wie die opulenten und für das Empfängerland absolut unproduktiven / sinnfreien Exporte nach Griechenland, die zum Bankrott aktiv beigetragen haben. Schlechtestenfalls sind es sehr viele individuelle Sargnägel, gerade beim Export von Kleinwaffen, deren durchschnittliche Lebensdauer die der Menschen in "Endverbleibsländern" massiv übersteigt.

(2) Der zweite Leserkommentar (F.._B.._G..) malt ein idyllisches Bild von Rüstungsexporten, die gleichzeitig unseren zivilen Exporten die Steigbügel halten. Leider, leider ist das bestenfalls Folklore. Der Effekt ist in der Mehrzahl der Fälle exakt umgekehrt. Oder: Rüstungsexporte kosten per Saldo Arbeitsplätze und das genau im zivilen Bereich. Passt nicht harmonisch zu vielen Sonntagsreden, ist aber schlichtes Marktgeschehen: Wenn ein Empfängerstaat nicht mit Barem oder mit natürlichen Ressourcen zahlen kann (Beispiele unter vielen: Griechenland, Türkei), dann werden in sog. offset agreements gegenläufige Warenlieferungen vereinbart, zumeist von zivilen Fertig- oder Halbfertigprodukten. Die Wertschöpfung der high-tech-Waffenproduktion ist ungleich höher als die der zivilen Gegenleistung, damit kostet eine Spezialisierung als waffenproduzierender Staat unter dem Strich Beschäftigungschancen. So sorry!

 

(51) 7.11.2011
SPIEGEL
Referendum in Griechenland; Manfred Ertel et al. „Ouzo mit Wasser“ (SPIEGEL 45/2011, S. 100ff)

Ich übertreibe: Die Jugend der Welt blickt auf Europa. Ich untertreibe: Ihr wird kotzübel. Wenn wir schon das kulturell systemrelevante Griechenland nicht retten können - wie dann alles, was südlich oder östlich davon wartet?

 

(50) 7.11.2011
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 17.11.2011
Referendum in Griechenland; Leitartikel von Cerstin Gammelin „Notbremsung in Athen“ (Süddeutsche v. 4.11.2011, S. 4)

War es nicht ein sinisterer Schachzug der Griechen? Eine Volksabstimmung vorzuschlagen! Ebenso perfide wie seinerzeit ihr Einschleichen in die Eurozone. Oder schon das Erdenken der Demokratie. Wo wir ihnen doch gerade brüderlich helfen wollten. Oder unseren Banken. Oder unserem way of life insgesamt.

Aber seien wir mal einen Augenblick lang nüchtern und versuchen, Selbstbild und Fremdbild zu trennen. Es ist kein Wunder, dass Griechenland nicht zwischen Euro-Zone und Türkei verhungern wollte. Seine einzige realistische Entwicklungschance lag im Beitritt - wie seinerzeit auch im Falle der DDR. Und ähnlich wie im Falle der DDR hat das "Anstecken mit Prosperität" wenn überhaupt, dann nur schlechter geklappt als versprochen. Kein wirkliches Wunder, wenn man ein Land wie Griechenland zu einem guten Teil mit Waffen und Luxuskarossen flutet - beides ist nach landläufiger Erfahrung zwar in der Herstellung wertschöpfend, weniger aber im Einsatz. Daneben haben wir den Griechen und uns noch den Tourismus gegönnt. Kein Wunder dann auch, dass heute Inseln und Ausgrabungsstätten zu den wenigen liquidierbaren Assets rechnen.

Nicht die Griechen haben es nicht geschafft, sich zu integrieren. Wir haben es allen Kohäsions-Parolen zum Trotz nicht zu Wege gebracht, Griechenland die Luft zum eigenständigen und nachhaltigen Geldverdienen zu geben. Auch wenn dieses Griechenland für unsere Leitkultur systemrelevant ist - mag auch in ökonomischer Hinsicht Italien schwerer wiegen.

 

(49) 7.11.2011
DIE WELT, abgedruckt 12./13.11.2011
Referendum in Griechenland; Leitartikel von Thomas Schmid „Europas guter Weg“ (DIE WELT 4.11.2011, S. 3)

Ob, wenn die EU vor dem „schwankenden direkten Willen des Volkes geschützt werden“ muss, demgegenüber eine sprunghafte, „konvulsivische, chaotische und planlose“ Entwicklung der nachhaltigere Weg ist? Auch das Repräsentative macht ja derzeit keinen wohlgeordneten, zielgerichteten Eindruck.

Bemerkenswert ist auch, dass die Bürger sowohl auf der finanziell zunehmend ausgezehrten kommunalen Ebene als auch wie hier im staatlichen Maßstab de facto immer mehr Souveränitätsanteile verlieren. Vielleicht hat das Direkte, das Kleinteilige mehr Problemlösungspotenzial, als ihm gemeinhin zugetraut wird.

Dem goodwill der europäischen Wertegemeinschaft bei den jungen Menschen in den Entwicklungszonen dieser Welt hat die panische Reaktion auf das angekündigte - und dann offenbar unter massivem Druck wieder fallen gelassene - Referendum in jedem Fall geschadet. Diese jungen Menschen mögen sich auch fragen, ob wir - wenn wir schon ein für Europa kulturell systemrelevantes Griechenland nicht retten können - ein für sie mittelfristig verlässlicher Gesprächs- und Geschäftspartner sind.

 

(48) 27.10.2011
Nature, Kommentar veröffentlicht unter
http://www.nature.com/nature/journal/vaop/ncurrent/full/nature10514.html#/comments
intelligence research; Sue Ramsden et al., Verbal and non-verbal intelligence changes in the teenage brain, Nature 2011, doi:10.1038/nature10514

It would be most interesting to know: Are there any hints that an increase / decrease of verbal or non-verbal abilities and a corresponding development of gray matter can both be induced by social or environmental requirements? It seems to be quite plausible a thesis that the individual tries to arrange its limited resources according to those priorities defined by the surrounding conditions. Or even: That its special portion and spectrum of intelligence may be attributed in a quite flexible work-sharing scheme. That would mean a more responding concept, at the same time more characteristic for biological systems such as man or group. For a special case an interaction between resources and intelligence is – in my opinion – convincingly established, cf. Jianghong Liu et al., Malnutrition at Age 3 Years and Externalizing Behavior Problems at Ages 8, 11, and 17 Years, Am J Psychiatry 161:2005-2013, November 2004 = http://ajp.psychiatryonline.org/cgi/content/full/1 61/11/2005.

By the way: Flexibility of intelligence obviously poses a major explanatory problem for vertically immobile societies – with stable layers self-rectified by a concept of calibrating or irrevocable IQ-judgments. I reckon that in revolutionary – as in teenage – phases significantly increased leaps of individual intelligence would be detectable, and due to major economic disorders and to forced societal disruption as well.

 

(47) 27.10.2011
Kölner Stadt-Anzeiger
Afghanistan-Mission; Rupert Neudeck "Es ist höchste Zeit, in Afghanistan aufzuhören" (Kölner Stadt-Anzeiger v. 27.10.2011, S. 7)

Die Nachrufe auf die Afghanistan-Mission werden schon geschrieben. Auf den Staatspräsidenten Hamid Karzai vermutlich auch: Nach dem Muster vergangener Umbrüche mag dann entsetzt von Korruption und Nepotismus die Rede sein, von Drogenhandel, von obskuren Kontakten zu islamistischen Kreisen, vielleicht auch von Affären oder gar von der Verantwortung für den Tod von Ausländern. So schnell wie man Karzai aufgebaut hat - als identifikationsfähigen Hoffnungsträger speziell des Westens -, so schnell kann man ihn auch wieder einreißen. Noch unklar ist, ob ihm eine rechtzeitige Flucht bestimmt ist oder doch das Kanalrohr á la Gaddafi, das Erdloch Saddams oder ein dramatischer Showdown wie bei Bin Laden.

In jedem Fall macht ein einfacher Vergleich mit Griechenland deutlich, dass weder Karzai noch Afghanistan selbst das Problem sind: Wenn es die Spielregeln unserer europäischen Volkswirtschaften im Ablauf vieler Jahrzehnte nicht erlaubten, ein kulturell ebenso entwickeltes wie uns nahestehendes Griechenland zu fairen Konditionen am Markt teilnehmen und sein eigenes Geld verdienen zu lassen, wenn wir dieses uns so verwandte Land nie über den Status eines (Waffen-)Import- und Tourismuslandes haben hinauswachsen lassen, dann steht eine bessere und schnellere Entwicklung für den mit natürlichen Gaben wenig gesegneten Landstrich am Hindukusch kaum zu erwarten, und sei es mit so christlichen, aber im Gesamtbild letztlich nur pointilistisch wirksamen Vorsätzen wie bei Rupert Neudeck.

 

(46) 25.10.2011
TIME
Afghanistan; "Why the U.S. will never save Afghanistan" (title of vol. 178, No. 16, 2011 of Oct. 24, 2011)

The U.S. will never save Afghanistan, basically because Afghanistan never aired an SOS. Or because compassion is not the classic payload of drones.

 

(45) 25.10.2011
Newsweek
Libya; Asne Seierstad, "Black and white in Libya" (Newsweek Oct. 31, 2011 p. 4)

"If you break it, you own it" is the common rule for military intervention. But Libya may show the dilemma of modern warfare: You may easily break a system by air strikes. But fixing is done on the ground.

 

(44) 25.20.2011
Frankfurter Allgemeine
Libyen; Kommentar . "Drohung" (F.A.Z. v. 22.10.2011, S. 10)

Eine gute Sache, der internationale Strafgerichtshof. Noch besser und vor allem noch Konflikt-präventiver, der Gerichtshof würde den politischen Nachtschlaf völlig unabhängig von Bündnissen und relativer Macht bedrohen und nicht dialektisch nach dem Muster von Orwell's "Animal Farm". Dann könnten wir auch die Abertausenden ziviler Opfer beklagen, die die wahlfreien und zu häufig auch eigennützigen Interventionen der letzten zwei Jahrzehnte gekostet haben, zumeist in bettelarmen ländlichen Zonen. In Ländern, deren politische, kulturelle und ökonomische Textur nach den Einsätzen in der Regel noch zerrissener ist als zuvor.

Und manchmal, wie etwa nach den aktuellen Wahlerfolgen von Islamisten in Tunesien, zeigt sich höchst irritierend: In der kürzlich abgeräumten Elite konnten wir uns eher wiedererkennen. Sowohl die neuen starken Männer Tunesiens wie auch die in Libyen wollen die Scharia zum Bezugspunkt ihres Rechtssystems machen. Das muss ja nichts Schlimmes sein. Aber bis vor etwa sechs Monaten hätte der Westen dies bereits zum Anlass genommen, näher über "out of area" oder "covert ops" nachzudenken.

 

(43) 7.9.2011
Bonner General-Anzeiger
Libyen; zum Leserbrief von Herrn Uwe Mahrenholtz im General-Anzeiger 6.9.2011, S. 29(zu Thomas Wilkes Kommentar "ImSinkflug")

Wenn ich den Leserbrief recht verstehe, sind wir ein unzuverlässiger, auch undankbarer Kantonist. Vielleicht aber ist in Deutschland die historische Dimension der Libyen-Mission noch nicht so recht bewusst geworden: Wir erleben gerade eine fundamentale sicherheitspolitische Wende weg von den Lehren des 2. Weltkrieg und es geht auch um das Fundament der Vereinten Nationen als Zusammenschluss souveräner Staaten. Ist Libyen und ist die konkrete Umsetzung der Libyen-Resolution ein Präjudiz, dann haben Aufstände und Revolutionen jeder Art und Richtung eine externe Erfolgs-Garantie. Gewaltanwendung einer etablierten Regierung zu provozieren und medial wirksame Märtyrer-Legenden zu formen, das ist überhaupt keine Anstrengung. Eine weit ausgelegte responsibility to protect ist gerade keinAnreiz, die Welt sicherer zu machen. Und nicht einmal gerechter.

Schließlich die Gretchenfrage: Was würden wir tun, wenn sich in Saudi-Arabien Opposition rührte, in einem Land, das etwa die Frauenrechte noch wesentlich geringer achtet als Libyen es tat oder sogar der Irak, das auch wesentlich mehr zum internationalen Fundamentalismus und Terrorismus beigetragen hat?

Wer gegen die Libyen-Intervention in ihrer konkreten Ausprägung war, der war m.E. nicht feige, sondern höchst besonnen. Das internationale Recht ist wichtiger als die Gruppendynamik einer mit eigenen institutionellen Interessen ausgestatteten und nicht wirklich demokratisch eng geführten Allianz. Um nicht missverstanden zu werden: Ich bin kein Freund Gaddafis oder irgendeines Despoten. Aber ich bin ein unbedingter Anhänger staatlicher Souveränität, in die nur in völlig unparteiischer, unambitionierter Weise eingegriffen werden darf - zum Schutz aller Menschen des jeweiligen Staates. Ein anderes Völkerrecht sollten - eingedenk des Kant'schen kategorischen Imperativs - auch wir Deutschen uns nicht wünschen.

 

(42) 4.9.2011
DIE WELT
Deutschland-Trend September 2011: Daniel Friedrich Sturm "80% glauben: Die Krise wird schlimmer" (DIE WELT 2.9.2011, S. 1)

Verfassungspatrioten können über den in der WELT nochmals als Grafik herausgehobenen Einzelbefund des aktuellen Deutschland-Trends bald verzweifeln: Dauerhaft sehen schon deutlich mehr als zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger die wichtigen Entscheidungen dieser Republik eher bei der Wirtschaft als in der Politik - nach dem näheren Wortlaut der Auswertung von Infratest Dimap sogar die Mehrheit unserer Parlamentarier, sowohl im Oppositions- als auch im Regierungs-Lager! Das klingt nach szenischer, nach real existierender Demokratie oder jedenfalls wie ein maximal resignativer Eindruck davon.

Und wenn man an eine Werte-geleitete Außen- und Sicherheitspolitik glauben möchte, an die Ausbreitung von Rechtsstaatlichkeit, Volkssouveränität und Menschenrechtsschutz, dann muss man schon sehr dialektisch denken, ganz im Sinne von Orwell's newspeak und doublethink. Denn hier bleibt dem Parlament wegen der ergänzenden bündnispolitischen Vernetzung ein nochmals deutlich geringerer Entscheidungsspielraum. Wer möchte sich dafür wählen lassen?

P.S.: Deutschland-Trend September 2011 = http://www.infratest-dimap.de/uploads/media/dt1109_bericht.pdf

 

(41) 2.9.2011
Bonner General-Anzeiger
Libyen; Birgit Holzer "Für Geschichtsbücher" (General-Anzeiger v. 2.9.2011, S. 2)

Geschichtsbücher und Geschäftsbücher - damit könnten zentrale Motive genannt sein, die am Anfang und am Ende der Libyen-Intervention standen. Und darum taugt sie eben nicht für Geschichtsbücher.

 

(40) 1.9.2011
Frankfurter Allgemeine
Hitler; Rainer Lepsius "Max Weber, Charisma und Hitler", F.A.Z. v.  24.8.2011, S. N3

Charisma gibt's nicht nur bei den Guten, das ist klar. Aber wir tun uns keinen Gefallen, Hitler als "durchschnittlich" abzulegen. Schon "durchschnittlich" mit "verbrecherisch" zusammen zu fügen wirkt fragwürdig. Das ist etwa so, als müsste man an jedem unscheinbaren Ort und zu jeder Zeit einen neuen, alles andere zerstörenden Urknall oder in jeder Menschenansammlung einen potenziellen Hitler gewärtigen.

Manfred Koch-Hillebrecht hat in seinem mit vielen Quellen gut belegten Psychogramm des deutschen Diktators einige Besonderheiten herausgearbeitet, die Hitlers Charisma und seine persönliche Suggestivkraft unterstützten, etwa die eidetische Gedächtnisstruktur, die ihm zehn Teleprompter zugleich und Detailwissen jeder Art abrufbar bereit stellte, die ihn zu einem von allen Untergebenen gefürchteten Gesprächspartner machte, die aber auch jede Neubesinnung und taktische Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen in einer frühen geistigen Versteinerung ausschloss. Hitler war in fast jeder Hinsicht un-durchschnittlich. Das sollte uns beruhigen, uns auch mit den zum Glück eher hausbackenen Führern unserer Tage etwas versöhnen.

 

(39) Sept. 1, 2011
TIME
Libya; TIME Sept. 5, 2011 "The World after Gaddafi"; esp. Fareed Zakaria "Winning from behind - How the Lessons of Iraq paid off in Libya" p. 16

The Gaddafi-cover differs considerably from the frontispiece with Bin Ladin crossed out in red blood; it's more like "Gone with the Wind". But make very sure Hosea 8:7 will not apply: The coalition economies should not try and make a bargain or a nice habit out of this low-budget type of regime change.

The prospects after the very-from-behind overthrow of Mohammad Mosaddegh had seemed very bright at first glimpse, especially for AIOC/BP – and very, very bad in the aftermath, up to the present days, for all of us.

P.S.:
Hosea 8:7 reads at the beginning: "For they have sown the wind, and they shall reap the whirlwind."
To the former Iranian president Mohammad Mosaddegh and his overthrow by the operation AJAX in 1953 see http://en.wikipedia.org/wiki/Mohammad_Mosaddegh

 

(38) 30.8.2011
DER SPIEGEL
Libyen; SPIEGEL-Gespräch von Ralf Neukirch und Erich Follath mit Joschka Fischer ("Ein einziges Debakel", SPIEGEL 35/2011 v. 29.8.2011, S. 26)

Unter Joschkas Pflaster liegt immer noch der Strand. Die Steine: größer.
Hau weg den garstigen Tyrann', wenn er nur beherrschbar schwächelt!
Mehr als Tausend Tote, Schutt, wohin man sieht?
Wen schert's, ist man mit den Guten und thinkt nur big enough.
Recht ist für die Langeweiler; nix Spontanes dran
- Freiheit stößt die Tore auf.
Unser Joschka, wie er leibt und lebt. Ein Debakel.

 

(37) 29.8.2011
Frankfurter Allgemeine
Rechtsstaat;  Bernd Rüthers u. Clemens Höpfner "Abschied vom Rechtsstaat" (F.A.Z. v. 26.8.2011, S. 9)

Der Beitrag nennt mit dem Atommoratorium, dem Arbeitsrecht und der Wehrverfassung gute Beispiele für die Geringschätzung oder gar Selbstentmachtung der Legislative. Mit den Auslandsinterventionen der Bundeswehr darf man ein weiteres wichtiges Politikfeld identifizieren und dort hat die schleichende Erosion rechtstaatlicher Prinzipien sogar schon drei von drei Verfassungsgewalten erfasst: Mit seinem 1994er Streitkräfteurteil hatte das Bundesverfassungsgericht ganz offen nicht nur Gesetzgeber, sondern sogar Verfassungsgeber gespielt und den Verfassungsstaat in mehrfacher Hinsicht grundlegend neu gestaltet: Abweichend von § 19 Abs. 1 GG wurde im Rahmen von Bundeswehr-Einsätzen die Einschränkung von Grundrechten nun für eine konkrete militärische Intervention oder auch: im Einzelfall möglich, auf der Grundlage eines schlichten Parlamentsbeschlusses, ohne ein förmliches Gesetzgebungsverfahren, ohne Zitat oder Abwägung der jeweils eingeschränkten oder gefährdeten Grundrechte. Seitdem können Soldaten in ihren Einsatzräumen Menschen ohne gerichtliche Entscheidung festsetzen, können sie natürlich auch im Rahmen von Kampfhandlungen verletzen oder töten oder Eigentum schädigen oder entziehen. Ist einmal ein konstitutiver Entschluss gefasst, ist er für Betroffene juristisch praktisch nicht überprüfbar, zumal es keine normativ festgelegten Kriterien und Begrenzungen für Bundeswehreinsätze gibt. Selbst ein ohne Zustimmung des VN-Sicherheitsrats durchgeführter, damit völkerrechtlich ungedeckter Waffeneinsatz kann derzeit juristisch nicht angegriffen werden, wenn nur das – darüber sogar in Kenntnis gesetzte – Parlament im Einzelfall zugestimmt hat, so die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Kosovo-Einsatz. In der Rechtswissenschaft sieht das gleichwohl nur eine Minderheit kritisch; der Standard-Kommentar zum Grundgesetz weiß zu diesen zerlumpten Häuflein zu berichten: „Anhänger dieser Sichtweise legen häufig eine Demokratietheorie zugrunde, der zufolge Maß und Stärke demokratischer Legitimation von Entscheidungen in dem Maße wächst, in dem das Volk selbst oder jedenfalls das Parlament daran beteiligt ist.“ Als Verfassungspatriot frage ich mich ganz betroffen: Was denn sonst ist unter Demokratie zu verstehen, auch unter repräsentativer Demokratie?

Nur: In bestimmten Politikbereichen wird die schnell bewiesene Tatkraft höher eingeschätzt als die mühsame legislative, öffentlich debattierte und am Ende justiziable Vergewisserung. Herr Rüthers und Herr Höpfner haben auch hier nur zu Recht: Im Standardfall eines vitalen Kabinetts ist von den jeweiligen Regierungsmehrheiten nur rituelles Mitlaufen zu erwarten und kein kritischer Widerstand gegen verfassungsrechtliche Eigenmächtigkeiten der Exekutive. Umso mehr muss man Persönlichkeiten wie die Abgeordneten Gauweiler und Wimmer loben, die mit eigenen Verfassungsklagen zum Afghanistan-Einsatz Zeugnis abgelegt hatten, wenn auch am Ende fruchtlos.

P.S. zu den zitierten juristischen Quellen:

-        Die wiedergegebene GG-Kommentar-Stelle: Maunz/Dürig/Nettesheim, 61. Ergänzungslieferung 2011, Anm. 21 zu Art. 59 GG

-        Kosovo-Entscheidung v. 25.3.1999: BVerfGE 100, S. 266, 269
= http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es19990325_2bve000599.html

-        Afghanistan-Entscheidung v. 12.3.2007 auf Klage der MdB's Gauweiler u. Wimmer: BVerfGE 117, S. 359
= http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es20070312_2bve000107.html

 

(36) 25.8.2011
Frankfurter Allgemeine
Libyen; Nikolaus Busses Beitrag „Helfen, nicht führen“ (F.A.Z. v. 25.8.2011, S. 6)

Ein sehr einfühlsamer Grundsatz: „Helfen, nicht führen“. Man muss ihn aber noch ergänzen um ein „nicht profitieren“, um jeden Anreiz zum politischen und kommerziellen Eigennutz – die auch bei der Libyen-Mission nicht ganz fern lagen – generalpräventiv auszuschließen. Daraus müsste man sogar eine heilsame Regel der Vereinten Nationen zimmern, eine "Ehrlicher-Makler-Klausel".

Darüber hinausgehend: Die Libyen-Allianz hat bei ihren tausendfachen Lufteinsätzen weit jenseits der Kampfgebiete viel Infrastruktur zerschossen – auch über die ausdrücklichen Zwecke der Resolutionen 1970 u. 1973 v. 26.2. und 17.3.2011 hinaus; diese waren ja auf Waffenembargo, Schutz der Zivilbevölkerung, Flugverbot und das vorläufige Einfrieren von Vermögenswerten ausgestellt. Drum ist jetzt noch einiger Schaden zu egalisieren, völlig ohne Beute. Auch die eingefrorenen Guthaben und künftige Öl-Einnahmen gehören den Libyern und nicht schon den westlichen Baufirmen.

Die Allianz muss einer zusätzlichen Verpflichtung nachkommen, man mag das sogar als Folge der zitierten Resolutionen interpretieren: Rache gegen Funktionsträger oder Unterstützer der alten Ordnung tatkräftig unterbinden. Ob und wie das ganz „ohne Stiefel am Boden“ geht, weiß ich nicht. Aber jedenfalls hierfür gilt das alte Motto weiter „If you brake it, you own it.“

P.S. zu den zitierten Resolutionen des Sicherheitsrats (amtl. deutsche Übersetzung):
S/RES/1970 v. 26.2.2011 = http://www.un.org/depts/german/sr/sr_11/sr1970.pdf ,
S/RES/1973 v. 17.3.2011 = http://www.un.org/depts/german/sr/sr_11/sr1973.pdf

 

(35) 25.8.2011
Bonner General-Anzeiger
Libyen; Thomas Wittke "Im Sinkflug"; Lutz Warkalla / Florian Ludwig (Red.) "Hoffnung auf gute Geschäfte" (General-Anzeiger 24.8.2011, S. 2, 3)

Ob die im Kommentar vermisste "Partnership in leadership" ein so erstrebenswertes Ideal wäre, eine Chance, die Deutschland bzw. sein Außenminister mutwillig oder leichtfertig verpasst hat? Mit verantwortungsvoller, werteorientierter und demokratisch rückgekoppelter Außen- und Sicherheitspolitik hat die "Führungspartnerschaft" wohl nicht zwingend zu tun. Sie mag auch zu der Selbstgerechtigkeit Anlass geben, die im Postulieren eines "Eigenbereichs exekutiver Handlungsbefugnis und Verantwortlichkeit" anklingt. Dies hatte 1994 zur Begründung unserer demokratisch und juristisch nur schwer kontrollierbaren Einsatzpraxis durch ad-hoc-Legitimationen des Bundestages geführt.

"Führungspartnerschaft" bringt vielleicht mehr Aktion, sicher aber auch mehr Steuerung durch Bündnisinstitutionen und -interessen und weniger gesellschaftliche Reflektion. Schon heute ist das Argument der Bündnissolidarität das bei Einsatzbegründungen meistgebrauchte - auch wenn es vollständig selbstreferenziell ist bzw. von den ebenso in Jugendbanden instrumentalisierten Gruppenzwängen lebt. Weit oben in der Rangordnung der probaten Einsatzmotive rangieren auch die kommerziellen Interessen bzw. die "Hoffnung auf gute Geschäfte" - eine sehr besondere Form der Werteorientierung.

P.S.: zum Terminus "Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnis":
siehe Entsch. des Bundesverfassungsgerichts v. 12.7.1994, BVerfGE 90, S. 286, 389f (Parlamentsvorbehalt; Text unter http://www.servat.unibe.ch/law/dfr/bv090286.html), die wiederum auf die Entscheidung v. 18.12.1984, BVerfGE 68, S. 1, 87, Bezug nimmt (Pershing II, Text unter http://www.servat.unibe.ch/law/dfr/bv068001.html)

 

(34) 7.8.2011
DIE ZEIT, abgedruckt 18.8.2011
zu Jens Jessen "Unsere Kreuzritter", Henrik Eberle "Norwegens falscher Tempelritter" u. zum Interview von Evelyn Finger mit Saskia Wendel, DIE ZEIT Nr. 32 v. 4.8.2011, S. 49, 60:

Aus der grauenhaften Tat in Norwegen folgt eine nicht so völlig überraschende Lehre: Es bedarf keiner besonderen Organisation oder quasi-staatlicher Ressourcen, um massiven Terror zu verbreiten. Und die lange Abwesenheit von Terror nach 9-11-Maßstab ist vermutlich gar nicht unseren Diensten und einer Polizei zu danken, die unermüdlich einen sprungbereiten und hoch aggressiven Islam in Schach halten. So sehr das auch zu deren Ressourcen-sicherndem Selbstbild gehören mag. Wenn nun der angebliche Feind so gar nicht seinem Feindbild entsprechen will, dann versucht vielleicht auch niemand ernsthaft, uns in unserem so offenen Habitat zuschädigen, jedenfalls nicht in effizient organisierter Form.

Das führt zu der weiteren möglichen Ableitung: Das Verhalten des Attentäters ist auffällig selbstähnlich zum Verhalten und zur organisierten Paranoia ganzer westlicher Staaten. Diese haben in den letzten 20 Jahren - eben schon deutlich vor 2001 - eine stetig zunehmende außenpolitische Gewaltbereitschaft entwickelt, typischerweise gegenüber kleineren Subjekten des Völkerrechts, und sie haben in ihr öffentlich beworbenes Repertoire auch Tabu-brechende Strategien wie das targeting und decapitating integriert, haben ferner gegenüber zivilen Opfern ihrer Missionen eine zumeist achselzuckende Teilnahmslosigkeit aufgebaut, die mit der Dauer, Intensität und Aussichtslosigkeit der Missionen immer weiter zunahm. Das entspricht in etwa wieder der Denke, die während des ersten Weltkriegs in einem gängigen Katechismus mit einer beim 5. Geboteingedruckten Fußnote die Feldseelsorge glättete: "Gilt nicht im Kriege!"

Insoweit kommen endemische Xenophobie und Gewaltbereitschaft zusammen. Sie könnten bei verrückbaren, narzisshaften und herostratischen Charakteren, zu denen der norwegische Attentäter nach seiner eitlen Selbstdarstellung gezählt werden dürfte, das Koordinatensystem grundlegend verschieben und Gewalt-Innovationen triggern. Der dieser Tage häufig zitierte Timothy McVeigh war ähnlich gestrickt. Er hatte dazu aber wohl noch traumatisierende Gewalt-Erfahrungen, wie sie sich heute auch bei unseren Soldaten Tag für Tag anreichern.

 

(33) 21.6.2011
Kölner Stadt-Anzeiger
Kriegsverbrechen; Markus Schwering "Die schmutzige Wehrmacht" (Kölner Stadt-Anzeiger 18./19.6.2011, S. 9)

Für Unbeteiligte und speziell für Nachgeborene sind die Zivilisationsbrüche des Zweiten Weltkriegs kaum nachvollziehbar. Typisch scheint mir zu sein, dass in einer Umgebung, die Gewaltanwendung zur täglich erlebten Norm macht, eine Eigengesetzlichkeit und Selbstgerechtigkeit wächst, die eher nach weiterer Eskalation schreit als nach empathischer Analyse. Einen wesentlichen Teil der Kriegstagebücher meines Vaters füllen die Ängste um seine Eltern und Geschwister im massiv bombardierten Hagen, während er in relativem Komfort bei Oriol lag, nahe Kursk. Dass der deutsche Krieg die Lebensgrundlagen von Millionen Russen auffraß, hat er mit Sicherheit gewusst; vielleicht kannte er auch Mordtaten der Einsatzgruppen. Aber seine Sorgen lagen ganz anderswo und er wollte einfach nur, dass ein Ende kommt, ein Sieg. Selbst offen erkannte Grausamkeiten wurden da zur Nebensächlichkeit, sie überhöhten das Ziel gar noch, und zwar auf beiden Seiten.

Ich befürchte: In der Eigendynamik der modernen Konflikte entwickeln wir einen ähnlichen Tunnelblick, ob nach dem Tanklaster-Vorfall in Kundus oder jüngst bei den zivilen Opfern in Tripolis. Auch heute werden Zivilisationsbrüche zunehmend eingeschliffen, werden bloße „collateral damages“. Einen nüchternen Blick darauf werden erst unsere Enkel haben.

P.S. zum Ende des ersten Absatzes:
In der sehr eindringlichen Dokumentation „The Fog of War. Eleven Lessons from the Life of Robert S. McNamara“ (Regie und Interview v. Errol Morris, 2003) http://en.wikipedia.org/wiki/The_Fog_of_War  (zum Film) berichtet McNamara u.a. über Gespräche mit seinem WW II-Vorgesetzten Curtis E. LeMay, dem Chefstrategen des Krieges mit Japan (Auszüge:
http://en.wikiquote.org/wiki/Robert_McNamara); Zitat:

·         “Why was it necessary to drop the nuclear bomb if LeMay was burning up Japan? And he went on from Tokyo to firebomb other cities. 58% of Yokohama. Yokohama is roughly the size of Cleveland. 58% of Cleveland destroyed. Tokyo is roughly the size of New York. 51% percent of New York destroyed. 99% of the equivalent of Chattanooga, which was Toyama. 40% of the equivalent of Los Angeles, which was Nagoya. This was all done before the dropping of the nuclear bomb, which by the way was dropped by LeMay's command. Proportionality should be a guideline in war. Killing 50% to 90% of the people of 67 Japanese cities and then bombing them with two nuclear bombs is not proportional, in the minds of some people, to the objectives we were trying to achieve.

·         LeMay said, "If we'd lost the war, we'd all have been prosecuted as war criminals." And I think he's right. He, and I'd say I, were behaving as war criminals. LeMay recognized that what he was doing would be thought immoral if his side had lost. But what makes it immoral if you lose and not immoral if you win?”

 

(32) 21.6.2011
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 1.7.2011
Bundeswehrreform; Peter Blechschmidt " 'Es ist eine Ehre, Soldat zu sein' " (Süddeutsche 18./19.6.2011, S. 8), Sebastian Beck, "Karriere, Geld und ein paar tödliche Risiken", (aaO), Caroline Ischinger, "Elite im Verborgenen" (aaO S. 9)

Schwups, da ist sie ja, die schöne neue Armee - im Wahlkampf zum 17. Bundestag nicht angekündigt, jedenfalls nicht von der größten und derzeit die Regierung tragenden Volkspartei. "Wahlbetrug" hieß es solchen Fällen früher gerne schon einmal. Und von denen, die für ein pazifistisches Klientel über Jahre auf den Fall der Wehrpflicht hingearbeitet hatten, hören wir nun schwerelos kühne geopolitische Töne, ebenfalls so nicht angekündigt, und sie zeihen die Regierung der Feigheit vor dem Bündnis, wg. Libyen. Die Wende weg von wesentlichen Geschäftsgrundlagen des Wahlkampfs stammt übrigens just aus einer Phase, die man auch eine medial-ministerielle Trunkenheitsfahrt nennen könnte.

Das Ärgste aber ist für mich nicht einmal, dass die Reform nicht auf einer breiten gesellschaftlichen Debatte aufsetzt, wie sie der damalige Bundespräsident zum 50. Geburtstag der Bundeswehr schlüssig  - und bis heute unerhört - gefordert hatte. Lothar de Maiziére will uns Bürgern ja eher etwas erklären als mit uns Inhalte auszuhandeln.

Wirklich schlimm ist: Zur realen Umsetzung will die Regierung verstärkt die regionalen und gesellschaftlichen Potenzialunterschiede bei Arbeit, Besitz und Bildung ausbeuten. Oder: Wir versprechen Lebens- und Gleichheitschancen in einer Art Lotterie, bei der Alternativlose ihre existenziellen Rechte einsetzen sollen. Das ist kein Meisterstück eines demokratisch verfassten Rechtsstaats, der Grundrechte effizient schützen will, und kein Simile für die Regionen und Völker, denen wir unsere westliche Lebensform militärisch näher bringen wollen.

P.S.: Quellen / Nachweise

·         Zur Position der Parteien im Wahlkampf zum 17. Bundestag: http://www.vo2s.de/mi-wehrpflicht.htm 

·         Zu BPräs. Köhlers Rede auf der Kommandeurtagung am 10.10.2005: http://www.bundesregierung.de/nn_1514/Content/DE/Bulletin/2001__2005/2005/10/2005-10-10-rede-von-bundespraesident-horst-koehler-auf-der-kommandeurtagung-der-bundeswehr-am-10-.html

·         Zur bereits derzeit stark asymmetrischen Rekrutierung: http://www.vo2s.de/mi_selekt.htm

·         Zum neuen geopolitischen Realismus-Drang der GRÜNEN s. Cem Özdemir "Deutschland im Abseits", DIE WELT v. 30.5.2011 (http://www.welt.de/print/die_welt/debatte/article13401888/Deutschland-im-Abseits.html), und Jürgen Trittin in seiner Rede am 27.5.2011 (http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/17/17112.pdf), s. dort S. 12825 C

·         Zur Geheimhaltung / KSK siehe insbesondere die Anhörung im GO-Ausschuss am 25.9.2008: http://www.vo2s.de/mi_pbg-anh.htm. Alle beteiligten Experten waren der Auffassung, dass die Informationsrechte des Bundestages aus § 6 Abs. 1 d. Parlamentsbeteiligungsgesetzes bei Einsätzen von Spezialkräften derzeit nicht ausreichend gewahrt sind; eine Änderung des so genannten Obleuteverfahrens hat es bis heute gleichwohl nicht gegeben. Das Obleuteverfahren ist in einer Antwort von PSt Kossendey auf eine parlamentarische Anfrage der LINKEN beschrieben (http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/053/1605317.pdf), s. dort Frage/Antwort Nr. 87, S. 57.

 

(31) 9.6.2011
Kölner Stadt-Anzeiger / Lokalteil Rhein-Wupper
lokale Verkehrsplanung; Timm Gatter "Die Ampel steht noch auf Rot" (KStA v. 8.6.2011, S. 29)

Die Kuckenberger Kreuzung ist "luppig", wie man hier sagt: verkehrsbelastet und je nach Vegetationslage sehr unübersichtlich. Unfälle und haarscharfe Abläufe sind den meisten Anrainern präsent. Ein schlimmer Crash kommt mit statistischer Unerbittlichkeit und ich möchte dann nicht mittendrin gesessen haben.

Wenn nun aus den knappen Kassen andere hübsche Verkehrsprojekte finanziert werden müssen als der vorgeschlagene Kreisel, dann muss man zunächst auf eine Billiglösung zurückgreifen: Vor zwei Jahren hat ein Schlaumeier die 50-km/h-Begrenzung vor der Kreuzung ausgerupft. Sie steht sicher noch im Bauhof und könnte in ca. 2 Stunden wieder eingepflanzt werden. Dank Rückstufung der ehemaligen B 232 muss man heute auch keinen automobilistischen Mindestdurchsatz mehr garantieren. Drum können wir es nun etwas gemütlicher angehen lassen – und für uns Eingeborene sicherer.

 

(30) 8.6.2011
DER SPIEGEL, abgedruckt 20.6.2011
Afghanistan-Krieg; Susanne Koelbl u. Christoph Reuter "Die Stimmung wird kippen" (DER SPIEGEL 23/2011, S, 36)

Jeder weiß es: Das Afghanistan-Projekt taumelt seit Jahren auf einer abschüssigen Straße rückwärts; selbsttragender Fortschritt nach dem Muster des Westens war sogar von Anfang an unwahrscheinlich, zumal bei volatilen Freunden wie Raschid Dostum oder Mohammed Daud Daud. Nur: Fehler lernt ein politisches System erst unter massivem Schmerz. Oder: Gibt sie zu.

Die Parallelen zu Vietnam sind erschreckend: die ungenügende "intelligence", das naive Vertrauen auf Technologie, das zu späte öffentliche Einräumen eines Krieges, das Brandmarken des lokal verwurzelten Gegners als Terrorist und Aufständischer, das verdrängte und durch Eskalation hinausgezögerte Scheitern - siehe die erleuchtende Dokumentation "The Fog of War". Und wie im Falle Vietnams geht die Wehrpflicht über die Planke, um eine neue Art Krieg exekutierbar zu halten, führbar selbst für alte Pazifisten. Das ist eine sehr falsch verstandene Botschaft des Lehrmeisters Krieg

P.S.:
Zum Dokumentarfilm „The Fog of War. Eleven Lessons from the Life of Robert S. McNamara“ (Regie und Interview v. Errol Morris, 2003)
http://en.wikipedia.org/wiki/The_Fog_of_War  (Film); http://en.wikiquote.org/wiki/Robert_McNamara  (Auszüge).

 

(29) 7.6.2011
DIE ZEIT
Reform der Bundeswehr; Josef Joffe "Minister für Wahrheit" u. "Neu auf der Baustelle" (DIE ZEIT 23/2011, S. 10 u. 22/2011, S. 12)

Marcus Porcius Cato senior ist ein kerniger Römer und Geopolitiker. Eines Tages bringt er Obst mit in den Senat – pralle, reife Feigen. Etwas so Köstliches, lässt er beiläufig fallen, wachse keine drei Tagesreisen von Rom entfernt. Drei Jahre darauf und einen massiven Krieg später ist Karthago von der Landkarte und aus den Archiven getilgt und sein herrliches Hinterland ernährt fortan Rom. Einen vitalen „nationalen Selbstbehauptungswillen“ kann man das nennen, ebenso wie später den fatalen Drang der Deutschen nach den Kornkammern des Ostens.

Die Verteidigungspolitischen Richtlinien meinen das sicher nicht. Aber was exakt meinen sie? Ein Baum der sicherheitspolitischen Erkenntnis, der Gut und Böse scheiden könnte, sind sie nicht, sondern wieder eine Sammlung von Generalklauseln, eine pauschale Erklärung der militärischen Konfliktbereitschaft. Unbestimmt im Örtlichen – global. Offen im Zeitlichen – auch präemptiv. Geschmeidig vor allem inhaltlich – anknüpfend an vielfältigste politische, kulturelle, ökonomische und ökologische Risiken. Zu den gewaltbewehrten deutschen Sicherheitsinteressen zählen sie u.a. den „freien Zugang zu natürlichen Ressourcen“. Cato applaudiert dezent und Kant rotiert fluchend im Grabe.

Ist Lothar de Maizière nun ein Minister für Wahrheit, sagt er etwas Neueres und vor allem Richtigeres? Die Risiken für Soldaten und für Zivilisten in den Einsatzgebieten sind bekannt. Eine innovative, unabhängige Evaluation der bisherigen Einsätze nach Nutzen und Lasten aber hat de Maizière nicht im Angebot, auch keine rechtsstaatlich klare Definition der Einsatztatbestände oder: kein Bundeswehr-Aufgabengesetz. Nun, er bittet zur gesellschaftlichen Debatte. Allerdings sagt er bei der Regierungserklärung am 27. Mai: Die Übernahme der uns angetragenen internationalen Verantwortung sei „mehr, als es in Deutschland bisher bekannt und wohl auch akzeptiert ist.“ Das klingt nach Bündnis-freundlichem Frontalunterricht, nicht nach ergebnisoffener Definition sicherheitspolitischer Ziele und Verfahren, partnerschaftlich mit mündigen Bürgern. Nichts Neues auf der alten Baustelle, oder?

P.S.
Catos nachhaltig erfolgreiche Dattel-Strategie wird zitiert von Plutarch (Vitae Parallelae, Cato maior, no. 27) und Plinius dem Älteren (Historia Naturalis, XV no. 20).

Zu Kants gefährdeter Grabesruhe siehe seine prägnanten Aussagen in der Schrift "Zum Ewigen Frieden", 2. Aufl. 1796 (hier zitiert nach der Reclam-Ausgabe) zu stehenden Heeren (S. 3), zur Nichteinmischung (S. 5), zur außen- und sicherheitspolitischen Mitsprache der Bürger (S. 12f, 16f u. Fußn. auf S. 17), zum kategorischen Imperativ (S. 44) und zur Publizität (S. 50, 56).

Links zu den VPR 2011 und zur Bundestagsdebatte betr. die Regierungserklärung v. 27.5.2011 siehe unter dem Leserbrief Nr. 23/2011.

 

(28) 4.6.2011
TIME
Libyan conflict & death of bin Laden; “closeup 5/15/11 Benghazi" + “X”-cover of the same issue (TIME May 20, 2011)

The “closeup 5/15/11 Benghazi" and the X-cover of that issue made me think of a fictitious “closeup” – fictitious whilst nevertheless near to reality:

“5/15/90
Kandahar
Rebels continued to make
gains in their struggle to end
Mohammad Najibullah's 4-year
rule with fighting intensify-
ing in the mountains of
western Afghanistan. Here, civilian
volunteers in the rebel army
work an obstacle course in
Kandahar, the country's
second largest city and
the rebels' main stronghold.

One of those civilian volunteers & rebels made it to the frontispiece of the TIME magazine some 20 years later, then being crossed out by an "X" in red blood. Looking closer at the TIME's "X" gallery you may find more characters that in ascending phases of their respective careers had been judged somewhat bold but helpful by influential U.S. citizens, e.g. Saddam and even Hitler. The Great Game far to often makes for grave miscalculations and the Libyan conflict may give rise to two further "X", one of whom still being without a known picture.”

P.S.

The “closeup 5/15/11 Benghazi" is to be seen here: http://lightbox.time.com/2011/05/20/closeup-best-pictures-of-the-week-may-13-%e2%80%93-may-20/#1
The accompanying text of the original “closeup” of TIME, May 20, 2011 had been (red ink shows where I have modified it in my reader’s letter shown above):
5/15/11
Benghazi
Rebels continued to make
gains in their struggle to end
Muammar Gaddafi's 42-year
rule with fighting intensify-
ing in the mountains of
western Libya. Here, civilian
volunteers in the rebel army
work an obstacle course in
Benghazi, the country's
second largest city and
the rebels' main stronghold.

The “X”-gallery of TIME: http://www.time.com/time/magazine/article/0,9171,2069579,00.html 
For early and very momentous contacts between U.S. intelligence personnel (Cptn. Truman Smith) and Hitler see http://en.wikipedia.org/wiki/Ernst_Hanfstaengl 
For the crucial period that switched Saddam from friend to foe see http://www.time.com/time/magazine/printout/0,8816,971291,00.html

 

(27) 2.6.2011
DER SPIEGEL
Bundeswehrreform; Uwe Buse "Die Drückerkompanie" (DER SPIEGEL 22/2011, S. 50)

Die absehbare Rekrutierungslücke mit Migranten zu füllen, das ist doch eine schöne Idee, mit historischem Gütesiegel sogar: Die Osmanen haben in den Janitscharen-Regimentern Christensöhne mit dem Versprechen von Integration und Aufstieg zu Furcht erregend hoher Kampfkraft geführt. Vielleicht aber sollte man - wenn die schönen neuen Aufgaben der Bundeswehr von der Mehrheit der Bürger/innen abgelehnt und gerade nicht aktiv unterstützt werden - sinnieren, ob es denn überhaupt legitime deutsche Aufgaben sind.

Zugegeben: Diese Prüfung verlangt übermenschliche Fähigkeiten. Denn wer wollte angesichts der vollen Palette politischer, technologischer, ökonomischer und ökologischer Risiken, die die neuen VPR als militärisch therapiebedürftig an die Wand malen, noch weissagen, was genau nicht zum künftigen deutschen Militärspektrum gehört. Was für einen Rechtsstaat - noch dazu mit unserer Geschichte - übrigens ein schreckliches Armutszeugnis ist und eben ein Grund für die vornehme Zurückhaltung der bürgerlichen Bürger.

P.S. zu S. 53, re. Spalte:

Zur Frage, ob sich der weltanschauliche Koordinatenursprung der Bundeswehr mit der Änderung des Aufgaben- und Gefährdungsspektrums zum rechten Rand des politischen Spektrums verschiebt, hatte das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr / SOWI i.J. 1992 systematisch junge Bewerber befragt. Schon die damals erhobenen Daten verweisen „auf die Gefahr, dass die Bundeswehr zunehmend für junge Männer attraktiv sind, die den demokratischen Prinzipien und Werten kaum oder gar nicht verbunden sind.“  (SOWI-Arbeitspapier Nr. 77 v. März 1993, S. 24; s. auch das Interview mit dem früheren SOWI-Direktor Bernhard Fleckenstein im SPIEGEL 5/1995, S. 75: "Derbere Typen"); s. auch http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13688298.html

 

(26) 2.6.2011
DIE WELT, abgedruckt 6.6.2011
Bundeswehrreform; Simone Meyer "Wir haben Verantwortung" (DIE WELT v. 1.6.2011, S. 2)

Simone Meyer hat völlig Recht: Das Rückkoppeln von dort, wo es wehtut, nach dorthin, wo militärisch geplant, wo parlamentarisch entschieden und wo - ja: von uns! - demokratisch gewählt wird, das funktioniert nicht effizient, zumal nicht nach Aussetzen der Wehrpflicht.

Aber warum nicht eine online für alle Bürger greifbare Darstellung der persönlichen Geschichten derjenigen jungen Männer und Frauen, die in den Einsätzen ihr Leben gelassen haben? Das jeweilige Einverständnis der Familien vorausgesetzt, wäre das eingängiger als alle abstrakten Denkmäler, die nun einmal wenig Identifikation und Verantwortung unterstützen können. Und es wäre ein bleibender Nachruf für die, die eine besondere Verantwortung übernommen haben.

 

(25) 1.6.2011
Süddeutsche Zeitung
Verteidigungspolitische Richtlinien 2011; zum Beitrag von Stephan Kornelius "Strategie gegen das Desinteresse" (Süddeutsche v. 20.5.2011, S. 4);
Regierungserklärung zur Neuausrichtung der Bundeswehr v. 27.5.2011:

Richtig: Es wäre gut, sie käme nun endlich, diese breite gesellschaftliche Debatte zur Außen- und Sicherheitspolitik. Aber warum warten die Verfassungspatrioten darauf gespannt seit fast zwei Jahrzehnten, seit UNOSOM II? Auch: seit in Belet Uen am 22.1.1994 der erste Mensch bei einem Auslandseinsatz einer neuen Bundeswehr erschossen worden war - ein junger Somali namens Farah Abdullah, dem man das Neue auch nicht rechtzeitig erklärt hatte?

1994, vor der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag, hieß es unter den Spitzen der Außen- und Sicherheitspolitik - etwa bei Klaus Kinkel und Karl Lamers - man müsse die Auslandseinsätze aus dem Wahlkampf heraushalten. Bei diesem paternalistisch-kunstvollen Umgang mit Demokratie ist es im Grunde bis heute geblieben: Auch die runderneuerten Verteidigungspolitischen Richtlinien hat man nun zur Mitte einer Legislaturperiode auf die Felgen gezogen. Und ob die Debatten-Fähigkeit heute wirklich weiter entwickelt ist, das mag man trotz oder wegen der Klartext-Ansagen des neuen Ministers doch sehr bezweifeln: Bei seiner Regierungserklärung am 27.5.2011 sagte de Maizière, die "internationale Verantwortung, die wir uns zutrauen, die man uns zutraut und die man von uns erwartet" sei "mehr, als es bisher in Deutschland bekannt und wohl auch akzeptiert ist." Das klingt nicht wie der Aufruf zum ergebnisoffenen Diskurs, zu einer ehrlichen Vereinbarung zwischen Regierung und Regierten, sondern wie Frontalunterricht, wie top-down-Politik, wie alternativlos, wie Diktat.

Das scheint mir das wirkliche Dilemma zu sein: Die zentralen Impulse zur Neugestaltung von Militärpolitik kommen traditionell eben waagerecht, durch meterdicke Rohre, die die Exekutiven der Pakte und der Bündnis-Regierungen verlustarm verbinden. Dort strömen auch die wesentlichen Ressourcen für den immerwährenden Umbau-Prozess. Bündnisfähigkeit steht bei de Maizière im Vordergrund, und sie ist auch das verbindende Element aller Plenardebatten zu Bundeswehreinsätzen seit 1992, gemeinsam mit den am ehesten gruppendynamischen Kategorien Treue, Zuverlässigkeit, Unterstützung, Opferbereitschaft.

Senkrecht - zwischen Regierung und Bürgern - gibt es dagegen nur ein schmächtiges Leerrohr, das kaum inhaltlichen Austausch ermöglicht, das keine Informationen zur Evaluation bisheriger Einsätze durchlässt und in das auch wenig investiert wird. Dass nun 80 Millionen Bürger weiterhin oder erstmals mit Interesse an diesem schmalen Rohr horchen, das steht kaum zu erwarten.

Da mag de Maizière ausgangs der neuen Richtlinien bei den Bürgern auch noch so viel Aufgeschlossenheit und Verständnis für das soldatische Dienen einfordern, um - wie es in der Regierungserklärung heißt - "langfristig zeitgleich rund 10.000 Soldatinnen und Soldaten in zwei großen und mehreren kleinen Einsatzgebieten flexibel und durchhaltefähig für Einsätze im Rahmen des internationalen Krisenmanagements bereit stellen zu können." Ob dieser international so genannte "level of ambition" jemals die Ambitionen der Bürger repräsentieren wird? Und wenn nein, stellt dieses inzwischen chronische demokratische Defizit nicht die Kern-Legitimation eines militärischen Weltordnungsanspruchs in Frage, ebenso wie der Mangel an Rechtsstaats-gemäßer Definition der Eingriffstatbestände?

P.S.: links zu den VPR 2011 und zur Bundestagsdebatte betr. die Regierungserklärung v. 27.5.2011 siehe unter dem Leserbrief Nr. 23/2011

 

(24) 31.5.2011
DIE WELT
Neuausrichtung der Bundeswehr; Gastkommentar von Cem Özdemir "Deutschland im Abseits", DIE WELT v. 30.5.2011

Soviel Wandel war nie: Maghreb, Fukushima und nun hört man umwälzende Töne von Alpha-GRÜNEN: Herr Özdemir macht sich Sorgen über das Fremdschämen in der NATO und Herr Trittin will sich -  in der Parlamentsdebatte zur aktuellen Bundeswehrreform - eine weitere Ausweitung von Auslandseinsätzen geradezu staatsmännisch vorstellen.

Stand da nicht noch eine gesellschaftliche und rechtsstaatliche Debatte über die exakten Einsatztatbestände aus, zuvor auch noch die Evaluation der letzten 20 militärischen Jahre nach Nutzen und Lasten der neuen Außen- und Sicherheitspolitik? Weiß man, wen man in Libyen auf den Schild heben würde? Sind die GRÜNEN sicher, dass sie ein "dirty dozen" für die reale Umsetzung vor Ort finden, dort, wo es heftig und sogar ultimativ wehtun kann? Oder wären all das nur untergeordnete, feige "innenpolitische Motive", die abgewogen zu haben Herr Özdemir der Kanzlerin vorhält? Die neue Welt ist sehr verdreht. Oder ich werde zu alt.

 

(23) 31.5.2011
Frankfurter Allgemeine
Neuausrichtung der Bundeswehr; Regierungserklärung am 27.5.2011;„
Töten und Sterben gehören dazu“, Interview von Stephan Löwenstein mit Thomas de Maizière, F.A.Z. 27.5.2011, S. 4

Bei der breiten Verzückung über einen inhaltlichen Neuanfang in der Außen- und Sicherheitspolitik, die auch große Teile der Opposition mit in den Bann zieht, kann ich nicht so freudig mitziehen. Fangen wir denn nicht seit Jahren ständig wieder hoffnungsvoll neu an, wenn nicht seit Jahrzehnten – bei der Aufstellung der Waffengattungen, bei den generellen Strategien und bei den Einsatz-spezifischen Kriegslisten, bei den Ressourcen, bei der Wehrform und bei der diskursiven Einbindung der Bürger in und ohne Uniform? Und gibt es denn seit dem pionierhaften Einsatz in Somalia und der hastigen Flucht i.J. 1994 ermutigende „Habe-fertig“-Erfolgsmodelle, wenn man von kleinen überschaubaren – wenn auch nicht nachweisbar alternativlosen – Projekten wie der Libelle-Evakuierung aus Tirana einmal absehen möchte? Außer den zyklischen „Jetzt aber!“-Parolen ist mir wenig in Erinnerung, was die raumgreifenden Ambitionen einer Außen- und Sicherheitspolitik mit einem erweiterten Werkzeugkasten legitimieren oder auch nur rechtfertigen könnte. Mir fehlt auch noch immer eine öffentlich verfügbare Evaluation der bisherigen oder laufenden Einsätze nach Aufwand und Ertrag, nach Kosten und Lasten. Wenn die neu aufgelegten Verteidigungspolitischen Richtlinien nebelhaft davon sprechen, „die Einsatzerfahrungen der letzten Jahre und die Analyse der sicherheitspolitischen Entwicklungen führten dazu, dass wir zur Abwehr von Gefährdungen unserer Sicherheit zu Hause sowie in geographisch entfernten Regionen die Instrumente unserer Sicherheit verändern“ (VPR 2011, S. 2), dann reicht mir das ehrlich gesagt noch nicht.

Und überhaupt: Welche Risiken wollen wir denn militärisch therapieren, und zwar mit Erfolgsaussicht? Die neuen Richtlinien erinnern bei der Risikoabschätzung und Indikationenprüfung verblüffend an die Beschwörung von Globalisierungsfolgen durch attac – wie schon das letzte Bundeswehr-Weißbuch a.d.J 2006, dem wegen des damals von BILD zeitgleich aufgedeckten Kabuler Schädelskandals eine gesellschaftliche Debatte leider gänzlich versagt blieb. Es fehlt auch heute wieder nichts, was Bürger erschrecken und Betroffenheit schaffen kann: Klima- und Umweltkatastrophen und folgende Migration, Störung von Verkehrswegen, Verknappung und Engpässe bei natürlichen Ressourcen und Rohstoffen, Verbreitung von Seuchen und Epidemien, zerfallende Staaten, organisierte Kriminalität, internationaler Terrorismus und auch der Missbrauch von Informationstechnik, von Nuklearstoffen und von Bio- oder Nanotechnologie, die ganze Palette (VPR 2011, S. 1ff). Nur: Betrachten wir diese Risiken genau, auch die Destabilisierung existenter kultureller, sozialer, ökonomischer und ökologischer Systeme, dann fällt es sehr, sehr schwer, die jeweils eigenen Verursachungsanteile auszublenden. Dann wirkt es geradezu bombastisch, wenn unser Verteidigungsminister sowohl in der Regierungserklärung als auch in den Richtlinien – und das ist schon etwas Neues, jedenfalls in der darwinistischen Tonart – ankündigt, „als Ausdruck nationalen Selbstbehauptungswillens und staatlicher Souveränität das gesamte Spektrum nationaler Handlungsinstrumente einzusetzen“ (VPR 2011, S. 5, 10; Regierungserklärung: Plenarprot. 17/112, S. 12816 B). Wie bisher zielt der Anspruch auch auf präemtive militärische Sicherung, auf das vorbeugende Eindämmen und Bewältigen von Krisen und Konflikten, auf deren aktives Auf-Distanz-Halten (VPR 2011, S. 5, 11; Plenarprot. 17/112, S. 12816 B). Was allerdings gegenüber der bisherigen Sprachregelung fehlt, ist der Hinweis auf einen militärischen Einsatz ausschließlich als ultima ratio. Prüfen muss man offenbar nur noch, ob es „keine geeigneteren Mittel gibt, den Einsatzauftrag zu erfüllen“ (Plenarprot. 17/112, S. 12816 D); das wird bei „Einsatzaufträgen“ schon begrifflich nur selten zutreffen. Auch begünstigt das Prüfungsschema, nach dem nun immer ausdrücklich auch die Folgen des Nichtstuns zu prüfen und zu begründen sind (s. VPR 2011, S. 5) so etwas wie eine Vermutung: Im Zweifel eingreifen, Sicherheits- und Interessenhalber!

Mit welcher Präzision und Erfolgswahrscheinlichkeit aber kann man militärische Werkzeuge anwenden? Dem Zufall geschuldet war: Phoenix, das auch die Parlamentsdebatten überträgt, sendete am Tag nach der Regierungserklärung die sehr erleuchtende Dokumentation „The Fog of War“. In diesem Film von Errol Morris a.d.J. 2003 fasst der 85jährige Robert S. McNamara seine Folgerungen aus dem Miterleben und aktiven Mitgestalten im Zweiten Weltkrieg, in der Kuba-Krise und bei der Eskalation des Vietnam-Krieges zusammen. McNamara beschreibt eindringlich – und dies verlieh dem mehrfach preisgekrönten Film seinen Titel – das Unvermögen, die nebelhafte Komplexität eines bewaffneten Konfliktes zu durchdringen, trotz intensiver Aufklärung, professioneller Datensammlung und flexibler Planung. McNamaras Kernbotschaft ist eine Passage aus T. S. Eliots während des Zweiten Weltkriegs verfasstem Gedicht „Little Gidding“:
We shall not cease from exploration.
And the end of all our exploring
Will be to arrive where we started
And know the place for the first time.

Thomas de Maizière mahnt die gesellschaftliche Debatte des Bundeswehrauftrags an. McNamaras Hinweis im Kopf möchte ich ihn aber vor der Überzeugung warnen, katastrophale und im Falle von Tötung und Verwundung auch nicht revisible Fehleinschätzungen künftig professioneller vermeiden zu können. Als Verfassungspatriot möchte ich mich auch nicht mit Leerformeln nach der Art zufrieden geben, „jedes Ministerium, das für Sicherheit zuständig ist,“ müsse „mit Unsicherheiten umgehen.“ (F.A.Z. 27.5.2011, S. 4), sondern möchte die konkreten Gründe militärischen Eingreifens nachvollziehbar festgelegt wissen, mit den Mitteln des Rechtsstaats, nach dem ersten Abschnitt unseres mit viel Blut erkauften Grundgesetzes, durch ein Gesetz oder durch die Verfassung selbst. Dabei könnte man den Einsatz von in Grundrechte eingreifenden Machtmitteln des Staates bei konkreter und massiver Gefährdung von Menschenrechten i.S.d. Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes zulassen, also etwa bei unmittelbar drohendem oder bereits anhaltenden Genozid, und könnte auch dann einen Einsatz weiterhin von einer ergänzenden konstitutiven Zustimmung des Parlaments abhängig machen. Niemals aber darf man mit Generalklauseln in Grundrechte eingreifen. Die gesellschaftliche Debatte über die Außen- und Sicherheitspolitik darf auch nicht von vornherein durch die folgende Einschätzung de Maizières geprägt und begrenzt sein: „Es sollte (ebenso) selbstverständlich sein, dass wir in den internationalen Organisationen (…) die internationale Verantwortung übernehmen, die wir uns zutrauen, die man uns zutraut und die man von uns erwartet. Das ist mehr, als es in Deutschland bisher bekannt und wohl auch akzeptiert ist“ (Plenarprot. 17/112, S. 12816 B). Gruppendynamik in Pakten ist die eine Sache. Aber eine rechtsstaatlich eingehegte Exekutive, deren Handeln vorhersehbar und überprüfbar ist, ist ein höherwertiges und im Zweifel auch Konflikt-mindendes Ziel.

Was die gesellschaftliche Debatte betrifft – das wäre wirklich ein völliges Novum, und zwar ein seit 18 Jahren überfälliges. Diese Debatte ist auch keine Holschuld des Volkes. Aber jeder kann und sollte diesen Prozess fordern und fördern. Ich hoffe, die Verfassungspatrioten sind noch nicht in der Minderheit und diskutieren nachhaltig mit.

P.S.: Quellen:

Prot. der Plenarsitzung 17/112 am 27.5.2011 = Debatte zur Regierungserklärung http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/17/17112.pdf

Verteidigungspolitische Richtlinien v. 18.5.2011: http://www.vo2s.de/mi_vpr-2011.pdf

Zum Zitat von Robert Strange McNamara aus dem Dokumentarfilm The Fog of War. Eleven Lessons from the Life of Robert S. McNamara (Regie und Interview v. Errol Morris, 2003) http://en.wikipedia.org/wiki/The_Fog_of_War (Film); http://en.wikiquote.org/wiki/Robert_McNamara (Auszug mit Zitat); http://www.tristan.icom43.net/quartets/gidding.html (T. S. Eliots „Little Gidding)

 

(22) 16.5.2011
New scientist
Fukushima; Paul Marks: "Seismic zones shake out nuclear problems" (New scientist 19 March 2011, p. 8f)

There is a story commonly told about the course of events at Fukushima, but it may shade off some lesson to be learnt. As a matter of fact the diesel-powered generators did not immediately fail with the impact of the tsunami. They even have been bravely operational for some additional 40 minutes. At Fukushima, there may have been a problem which already had been seen, when the 2004 Sumatra tsunami hit the Kalpakkam Power station near the Indian city of Madras: The vast amount of sand and sludge the ground wave of a tsunami is propelling had almost suffocated the seawater intake that is vital not only for the emergency cooling of the reactor but for the diesel generators (being derived from water-cooled shipping engines) and for the heat-stressed circulation pumps as well. This non-redundant water interface had been luckily reopened just in time in Kalpakkam, but in Fukushima there may have been a bigger problem and less time to prevent quickly self-escalating damages.

Another disturbing fact: While the Fukushima power plants were being designed the last devastating regional earthquake and accompanying tsunami dated back less than 100 years - with a comparable height of waves and even a similar death toll. Engineers and historians seem not to be mating among each other.

P.S.
With respect to the illustration on page 9:
There may have been a small amount of reduction of water by fission, but the main source for the creation of hydrogen is the oxidation of the zirconium surface of the fuel rods if exposed to outstanding temperatures. In the absence of oxygen there is no special risk of explosion inside the reactor vessel, which usually has for security reasons - if not damaged - an inert nitrogen atmosphere. Therefore the problem most of the times does not arise until the hydrogen is vented into the common atmosphere and out there it finds its preferential reacting agent.

Reference concerning the earthquake / tsunami of 1896, cited above:
http://en.wikipedia.org/wiki/1896_Meiji-Sanriku_earthquake 

 

(21) 16.5.2011
Financial Times Deutschland
Griechenland-Krise; "Falscher Ansatz" (FTD 12.3.2011, S. 25)

Der falsche Ansatz reicht im Grunde viele Jahrzehnte zurück - und die Meldung auf S. 4 der gleichen Ausgabe ("Krauss-Maffei verliert ein Viertel seines Umsatzes / Panzerhersteller leidet unter Griechenlandgeschäft") zeigt die seltsame Physik dieser Wirtschaftsunion: Griechenland war ein blendender Export-Markt, auch für strukturpolitisch absolut sinnfreie Güter. Seine eigenen produktiven Stärken waren dagegen kaum Ziel oder gar Erfolg der Europapolitik.

Gerade dieses langjährige Defizit kann man einem Fliegengewicht nicht mal schnell abtrainieren, zumal nicht unter strenger Diät. Die Wiege Europas verdient mehr Empathie und sie braucht nachhaltige Chancen für die eigene Ertragskraft.

 

(20) 10.5.2011
Kölner Stadt-Anzeiger
Ford-Geschichte; Friedemann Siering "Ford baut seit 80 Jahren Autos in Köln" (Kölner Stadt-Anzeiger 6.5.2011, S. 11)

Aus meiner Sicht bedarf die deutsche Ford-Geschichte einer Ergänzung, und sie beginnt in den frühen Zwanzigern: Von 1920 bis 1922 gibt Henry Ford in vier Bänden eine offen antisemitische Schrift heraus. "The International Jew" wird, neben der Ford'schen Sozialpolitik, zur Bibel der aufstrebenden jungen Nazis; Reichsjugendführer Baldur von Schirach hat das in den Nürnberger Prozessen plastisch beschrieben. Die "Protokolle der Weisen von Zion", sie zählten zu den giftigsten Verschwörungsmythen der Nazis, waren just aus Fords Pamphlet entlehnt; Hitlers amerikanische Ausgabe von "Mein Kampf" zitiert Ford dann auch dankbar. 1938 bietet die nationalsozialistische Führung Henry Ford ihren höchsten Auslandsorden an, und Ford nimmt ihn - wie auch Charles Lindbergh um die gleiche Zeit - an. Dann bricht der Krieg aus und ab 1942 versinkt die Kölner Innenstadt in glühendem Schutt - die gut zu ortenden Fordwerke bekommen etwa beim 1000-Bomber-Angriff keinen Schrammer ab und werden auch bei den mehr als 30 weiteren schweren Angriffen höchst minimal getroffen. Für einen nennenswerten Produktionsausfall reicht es nie.

Dass Fords Lastwagen für Hitler in den Krieg ziehen "mussten", das ist eher eine fromme Deutung heutiger Pressearbeit. Diese LKWs hatten auch schon zum Rückgrat des deutschen Einmarschs in das Sudetenland gehört.

Insgesamt: Es gab einen sehr einflussreichen Teil der amerikanischen Elite - auch Joseph Kennedy gehörte dazu - der viel zu spät bemerkte, dass sie aufs falsche Pferd gesetzt hatten. Wie später bei Stalin, Reza Pahlewi, Saddam Hussein und Osama Bin Laden, um nur einige zu nennen. Das Spiel mit Außen- und Sicherheitspolitik ist auch als "Great Game" bekannt und es geht viel zu häufig schief.

P.S.:
Zum von Henry Ford zwischen 1920 u.1922 herausgegebenen antisemitischen Pamphlet „The International Jew“ und dem Einfluss auf die frühe Nazi-Bewegung: http://de.wikipedia.org/wiki/The_International_Jew.
Speziell zu den „Protocols of the Learned Elders of Zionsiehe http://iamthewitness.com/books/Henry.Ford/The.International.Jew/ij12.html.

Zum (mehr als) 1000-Bomber-Angriff: http://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Millennium 

 

(19) 6.5.2011
Frankfurter Allgemeine
Berichterstattung zum Tode Bin Ladens, insbesondere Leitartikel von Berthold Kohler, "Zu Gericht" (F.A.Z. v. 5.5.2011, S. 1)

Seien wir nüchtern: Die unversehrte Gefangennahme eines Bin Laden und ein folgender zeitraubender Prozess waren selbst für einen erklärten Rechtsstaat von Anfang an der extrem unwahrscheinliche, weil risikobelastete Fall. Es heißt in solchen Fällen "Dead or alive!" und genau in dieser Reihenfolge kam es auch bei Obama. Die Ironie: Seit mehr als 100 Jahren wird Deutschland von Zitaten aus Wilhelms so genannter Hunnenrede v. 27. Juli 1900 heimgesucht: "Pardon wird nicht gegeben. Gefangene werden nicht gemacht." Willkommen im Team, Barack, darf man getrost sagen.

Und man muss sich Gedanken machen, wie der Westen fern von allen manichäischen Verlockungen - die gerade in Demokratien iterativ zur Wahl stehen - , zu einer verlässlichen Kohabitation mit dem Islam kommen kann, auf gleicher moralischer Augenhöhe. Regime change, state engineering, eine spezifische Interpretation von human rights oder das klammheimliche Fördern von insurgency - wie im Falle der afghanischen Mujaheddin - gehören mit tödlicher Sicherheit nicht dazu. Außen- und Sicherheitspolitik ist nichts für Spieler. Sie braucht Transparenz und Vertrauen.

P.S.
Zur "Hunnenrede": http://de.wikipedia.org/wiki/Hunnenrede

Zu den Mudschaheddin: http://de.wikipedia.org/wiki/Mudschahid und http://www.globalresearch.ca/articles/BRZ110A.html

 

(18) 9.4.2011
Kölner Stadt-Anzeiger
Jugendarbeitslosigkeit;  Kommentar von Günther M. Wiedemann zur Situation des berufsbildenden Systems ("Nur Stückwerk", KStAnz 7.4.2011, S. 4):

Nach dem Kommentar - und diese konkrete Aussage war dort auch typographisch nochmals herausgehoben - habe sich die Hälfte der jungen Männer und Frauen im Alter zwischen 25 und 29 Jahren vom Arbeitsmarkt zurückgezogen. Richtig: Deutschland steht bei dieser Altersgruppe schlechter da als die allermeisten der von der OECD i.J. 2010 verglichenen Industrieländer, nämlich mit 17% Arbeits- und Ausbildungslosigkeit. Das ist schon bildungs- und arbeitsmarktpolitischer Handlungsanlass genug und passt nicht recht zu den gerade eilfertig eingebrachten Vorschlägen, die Menschen im Lebensverlauf länger arbeiten zu lassen - also: jünger beginnen, mehr arbeiten, älter aufhören.

Aber die alarmierenden Zahlen sind nicht ganz korrekt zitiert: Es ist die Hälfte des Anteils der Arbeits- und Ausbildungslosen, dann ca. 9% der gesamten Altersgruppe, die bereits jede Hoffnung auf eine Arbeitstätigkeit oder auf eine dorthin führende Qualifikation aufgegeben haben, nicht etwa 50%. Aber wie gesagt, auch 9% Hoffnungslose sind schlimm genug und auch vom verbleibenden Teil schlagen sich viel zu viele schlecht und recht durch, etwa in laufend wieder unterbrochenen prekären Beschäftigungsverhältnissen. Und: Das führt auch nicht zu Kindersegen.

P.S.:
Vgl. Bertelsmann-Studie "Erwerbstätigkeit im Lebenszyklus", vorgestellt am 29.3.2011, unter folgendem Link:
http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-193870E8-4C1BB175/bst/hs.xsl/nachrichten_105884.htm

 

(17) 6.4.2011
DIE WELT, abgedruckt 9.4.2011
ungleicher Wehrbeitrag von West und Ost; Michael Wolffsohn u. Maximilian Beenisch: "Das Militär verostet" (DIE WELT v. 5.4.2011, S. 2):

Richtig, am Hindukusch verteidigt, wenn man es pointiert sagt, die Jugend Mecklenburg-Vorpommerns die Interessen der Landeskinder Baden-Württembergs. Ihr Wehrbeitrag war z.B. 2002 um den Faktor 10 größer! Die breite Koalition für das "Aus" der Wehrpflicht hatte genau das verdrängt: Ihr Projekt ist wie Verleitung zur Prostitution - Vater Staat bietet Arbeit und/oder Bildung gegen das Risiko von ernster Verletzung oder Tod. Dabei drängen sich die Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer nicht einmal; sie bewerten Auslandseinsätze deutlich kritischer als ihre Vettern und Cousinen im Westen, sehen allerdings häufig keine Alternative.

Als erstes aber müssen wir überprüfen, was am Einsatz auswärtiger Gewalt in den letzten zwei Jahrzehnten ein international akzeptables Erfolgsmodell wurde und was zudem Lebensfragen des Gemeinwesens konkret gefördert hat. Viel mehr als der dringende Wunsch, unter Freunden nicht im Abseits zu stehen, wird bei einer systematischen Prüfung kaum heraus zu präparieren sein.

P.S.: Auswertung von Zahlen des SOWI aus dem Jahre 2002 (Relation Arbeitslosigkeit / Wehrbeitrag der Bundesländer): http://www.vo2s.de/mi_selekt.htm

 

(16) 24.3.2011
TIME
Fukushima reactor disaster; Jeffrey Kluger "Fear Goes Nuclear" (TIME of March 28, 2011, p. 25)

Possibly there's one more crucial lesson to be learned, for most power stations: In spite of their much criticised location the Diesel generators seem to have been bravely operational for some additional 40 minutes after the tsunami impact. The first hand problem may therefore have been the huge amount of sludge and sand the ground wave of a tsunami is propelling - you may remember the scary dark paint rapidly spilling over the land in the first videos. Within seconds this must have almost suffocated the interface desperately needed not only for cooling the fuel rods inside the vessel, but also the Diesels and even the especially heat-stressed circulation pumps. That cooling interface seems not to have been redundant and there was no easy way of a shortcut.

Similar problems with the seawater intake are said to have arisen with the 2004 Sumatra tsunami at the Kalpakkam reactor near the Indian city of Madras. But Kalpakkam wasn't hit that much and had some more time for a safe shutdown.

 

(15) 24.3.2011
Newsweek
World energy; Libya intervention (Newsweek March 21, 2011, p. 26 and 14)

Bjoern Lomborg "Done with the Wind (Newsweek March 21, 2011, p. 26)
It's near to a belief, human ingenuity could or would soon solve our planet's energy problems. Simple truth is, our species is consuming fossil resources a million times faster than they were deposited some 100 million years ago. Yes - advanced exploration and extraction technologies will give us some additional years. Which means give it to the West. But powerful extraction at the same time speeds up environmental stress and energy consume. Turn it over and over again - energy transformation stays metabolic and has natural waste products, if it shall stay efficient. If you want to have more energy you will have to save it.

Rosemary Righter "Right to Protect" (Newsweek March 21, 2011, p. 14)
The strangest argument for R2P is currently being discussed in Germany: "Just because the West contributed rejoicingly to Gaddafi's military hardware, it shall now be morally obliged to arm the Libyan insurgency." The merchants of death should be bathing in champagne by now. And the Danzig and the Sudeten interventions suddenly look somewhat rectified. Until further notice I will rate sovereignity the more efficient principle - at least as long there is no global mechanism enforcing clearly designed individual rights - and never enforcing them arbitrarily.
This seems to be almost Utopia.

 

(14) 23.3.2011
Kölner Stadt-Anzeiger
Libyen-Mission von Frankreich, Großbritannien und der USA; Ulrich Weisser: "Diplomatische Katastrophe" (KStA 22.3.2011, S. 4)

Der Autor fällt in den Chor der vielen ein, die unsere Regierung der Dummheit, Feigheit und Unmännlichkeit zeihen, der fehlenden Loyalität und Solidarität mit Bündnispartnern, auf die man dann künftig in Krisenlagen nicht mehr rechnen könne - von einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat ganz zu schweigen. Sieht man genauer auf die fadenscheinige Libyen-Mission, für deren Unterstützung hier lautstark geworben wird, wird man aber erkennen: Folgsamkeit wird gefordert oder die Loyalität in einer Straßengang, aber nichts, was mit traditioneller und nachhaltiger Außen- und Sicherheitspolitik zu tun hätte. Hatte nicht Sarkozy nach der unrühmlichen Rolle Frankreichs im Falle Tunesiens ein sehr transparent egoistisches Motiv? Ich meine nicht einmal die eindrucksvolle Werbung für französische Rüstungsprodukte. Wissen wir, wer vom libyschen Volk wo hinter wem steht? Es wird Menschen auf beiden Seiten geben. Wollen und können wir Schäden der lebenswichtigen Infrastruktur bzw. unschuldige Opfer vermeiden? Sind wir der Unterstützung der wesentlichen arabischen Staaten denn auf Dauer sicher? Qatar zählt wohl nicht zu diesen Schwergewichten. Haben wir einen auch noch so marginalen Plan für den Tag nach dem Krieg? Wie ist die Exit-Strategie, wenn's nicht läuft wie erwartet? Haben wir aus den unsäglich zähen Einsätzen im Irak und in Afghanistan nur ein wenig gelernt?

Weisser selbst spricht zutreffend von einer spontanen Kehrtwendung der USA. Als Chefstratege der Bundeswehr hat er eine solche Kehrtwendung schon 1993/94 in Somalia mitgemacht - damals aber eine Wende aus der UNOSOM-Mission heraus. Deutschland musste es mit der Evakuierungsoperation Southern Cross völlig außer Atem nachvollziehen. Ist denn unsere primäre Konditionierung: Richte Dich immer brav nach dem Kerl mit dem größten Knüppel? Wäre es nicht ein Beweis von Reife und Freiheit - die wir ja ausdrücklich mit Waffen in die Welt tragen sollen - wenn wir selbst bestimmen, was als völkerrechtliche Regel gelten soll: Der fundamentale UN-Grundsatz staatlicher Souveränität und Nichteinmischung oder die nach allen Erfahrungen leicht manipulierbare militärische Unterstützung für sympathietragende Freiheitskämpfer, etwa von der Art eines Hashim Thaci? Im letzteren Fall: Müssten wir nicht konsequenterweise den Nordiren gegen Gordon Brown robust zur Seite zu stehen, im Grunde ja allen Autonomie-Bewegungen wie denen in Spanien, Belgien und - Herzensfrage! - Südtirol? Bei historischer Perspektive gehören sogar Danzig und das Sudetenland hierher.

Nein, Frau Merkel hat völlig Recht, mit welchen kollateralen Motiven auch immer. Und sie bräuchte nach meinem Geschmack nicht einmal Kompensation in Gestalt eines intensiveren Afghanistan-Engagements anzubieten.

P.S.: zum Verlauf und Ende von UNOSOM II
http://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_von_Mogadischu
http://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_Unterst%C3%BCtzungsverband_Somalia

 

(13) 22.3.2011
Focus, abgedruckt 28.3.2011
Reaktor-Katastrophe in Fukushima; Michael Miersch ("Angst essen Seele auf", Focus 12/2011, S. 60 f) und Ortwin Renn ("Der importierte GAU", aaO S. 62 f):

Rationaler Optimismus ist ein guter Vorsatz. Optimismus, der Technik-Idyllen wie auch Vor-Steinzeit-Idyllen meidet und die historisch und global verfügbaren Informationen intelligent nutzt. Da könnte es hier Probleme gegeben haben und daraus können auch wir exemplarisch lernen, mag ein Tsunami auch kein für uns planungsrelevantes Problem werden.

Erstens: Der 2011er Tsunami war nicht einmal ein Jahrtausendereignis, sondern zur relevanten Planungs- und Errichtungszeit des Kraftwerkparks Fukushima Daiichi war es ein lokales Jahrhundertereignis: Das Meji-Sanriku-Erdbeben vom 15.6.1896 hatte im Nordosten Japans eine mindestens ebenso gewaltige Welle erzeugt und sogar die etwa gleiche Größenordnung von Todesopfern gefordert. Der Kraftwerkpark wurde darauf nicht ausgelegt.
Zweitens: Beim großen Sumatra-Erdbeben am 26.12.2004 bekam das AKW Kalpakkam nahe dem indischen Madras Probleme, weil der Tsunami die für Kühlung und Notkühlung existenzielle Schnittstelle zum Meer mit Sedimenten teils zugeworfen hatte. Was in Kalpakkam gerade noch glimpflich ausging, mag in Fukushima primäres Problem geworden sein: Von dem nicht redundanten Seewassereinlass ist nicht nur die Kühlung des Reaktor-Kreislaufs abhängig, sondern auch die Kühlung der Generatoren und sogar der Pumpen - die ja auch nach Anbranden der Scheitelwelle noch eine gewisse Zeit durchgehalten hatten.

Das Schlimme aber ist: In der sich überschlagenden Katastrophensemantik unserer Tage fühlen sich die Abertausenden der medial aufgepeitschten Zaungäste nun fast um "ihren" ultimativen Super-GAU betrogen und wenden sich frustriert gleich wieder neuen Rückenschauern zu, etwa aus dem Maghreb. Eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, wer welchen Nutzen aus spezifischen Technologien ziehen kann und - das mag ja weit auseinanderfallen - wer welche Lasten tragen soll, ist so kaum zu organisieren. Genau das aber würde den Kern eines demokratischen Risiko-Assessments bilden. So bleibt es bei einem reichlich zufälligen Muster genutzter oder nicht genutzter Techniken, das am ehesten voluntative Züge trägt, seltener rationale, und das sich irgendwie flickschusternd mit Katastrophen arrangiert.

 

(12) 22.3.2011
DER SPIEGEL
Fukushima / Libyen

Philip Bethge et al. zu Fukushima: "Der Stromausfall" (SPIEGEL 12/2011 v. 21.3.2011, S. 88 ff)
Der Ablauf könnte etwas vom Titel "Stromausfall" abweichen und näher an einer Fast-Katastrophe im indischen Reaktor Kalpakkam nahe Madras am 26.12.2004 liegen, nach dem Sumatra-Tsunami. In Fukushima Daiichi könnte der Tsunami in wenigen Sekunden die Schnittstelle zum Meer zugeschlämmt haben und sowohl das Kühlwasser für den Reaktor selbst als auch die vorgesehene Kühlung für die Dieselgeneratoren und die Pumpen zeitweilig abgeschnitten, zumindest aber eingeschränkt haben. Darauf deutet auch, dass die Generatoren zunächst erwartungsgemäß angelaufen waren und sogar noch für ca. 40 Minuten nach Aufprall der Scheitelwelle aktiv waren. Das primäre Problem war dann möglicherweise - ähnlich wie in Madras - die fehlende Redundanz des Einlassbauwerks. Madras hatte mehr Vorwarnzeit. Glück gehabt. Und Fukushima hatte aus Madras vielleicht zu wenig gelernt.

Benjamin Bidder et al. zum Eingreifen in Libyen: "Die letzte Kugel" (SPIEGEL 12/2011 v. 21.3.2011, S. 106 ff)
Was ist so neu? Die Gang ist wieder auf der Straße. Sarkozy erigiert Mirages - wie weiland Clinton seine F 14. Während die deutsche Führung global der Unmännlichkeit geziehen wird, dennoch klug die Hosen hoch hält und Tribut verspricht. Aber noch besser den drei Kerlen eine lange Nase machen würde.

 

(11) 21.3.2011
Die Welt
Intervention in Libyen; Sascha Lehnartz: "Diplomatischer Totalschaden" (WELT v. 21.3., S. 3)

Würden tatsächlich deutsche Interessen in Nordafrika verteidigt? Ohne irgendeine auch nur mittelbare militärische Bedrohung Deutschlands? Ohne einen drohenden Genozid? Wissen wir, ob mehr Libyer Muhammad Gaddafi abschütteln wollen als Nordiren den Briten Gordon Brown? Hatte Nicolas Sarkozy nicht ein sehr individuelles Motiv für seine Initiative? Hat irgendjemand irgendeinen meinetwegen auch nur skizzenhaften Plan für den Tag danach?

Das Verwirrende ist doch: Ghaddafi mag uns als verrückter Hund erscheinen. Tatsächlich aber ist Ghaddafis Libyen - insoweit völlig vergleichbar dem Irak Saddam Husseins - ein überdurchschnittlich westlich ausgerichtetes arabisches Land, viel westlicher noch als Saudi Arabien, etwa hinsichtlich der Stellung der Frau in Gesellschaft und Öffentlichkeit. Ähnlichkeit provoziert offenbar mehr Aggression als starke Unterschiede. Und zur Verteidigung der Kanzlerin: Mitlaufen ist nicht die vorteilhafteste deutsche Eigenschaft.

 

(10) 18.3.2011
Frankfurter Allgemeine
Störfall in Fukushima Daiichi; Jürgen Kaube "Die Wiederkehr des Verdrängten" (F.A.Z. v. 17.3.2011, S. 1)

Energische Zustimmung, lieber Herr Kaube: Berechenbare Energie und das für eine lebenswerte Existenz notwendige Maß werden die entscheidenden Fragen. Und die wohl alternativlose Antwort ist die Energieeinsparung und ein zum Verbraucher unmittelbar rückgekoppelter Aufwand, damit ein kleinmaschiges System lokaler und ggfs. individueller Energieumwandlung. Das setzt allerdings eine sehr grundsätzliche Neudefinition angestammter Staatsaufgaben voraus - etwa den Verzicht auf technokratische Großvorhaben wie Energiezentralen, Netze, globale Transportwege, auf deren auch militärische Sicherung. Die globalen Siedlungs- und Verkehrsmuster könnten sich wieder einer vorindustriellen Struktur annähern.

Kleinmaschig sein darf allerdings nicht die Politik, wenn nachhaltige Sicherheit wachsen soll. Dabei kann das kollektive Trauma der Katastrophe helfen, die unabhängig vom Ausgang jedem einen Blick in die Hölle fehlgesteuerter Energie aufzwingt und die eine einfache mitmenschliche Solidarität erzeugt.

 

(9) 18.3.2011
Süddeutsche Zeitung
Störfall in Fukushima Daiichi; Jens-Christian Rabe: "Auf verlorenem Posten" (Süddeutsche v. 17.3.2011, S. 11)

Das befohlene Opfer passt nicht recht zum Selbstbild der liberalen Demokratie, ja schon nicht zu Kants kategorischem Imperativ oder zur "golden rule", die das Innere des New Yorker UN-Gebäudes ziert, bzw. zur altüberlieferten Spruchweisheit "Was du nicht willst, das man dir tu..." – alles Ableitungen aus dem Gleichheitssatz.

Aber Selbstbild und Fremdbild fallen ja schon einmal weit auseinander. Es geht uns heute bedenkenlos über die Lippen und schnurrt ebenso mehrheitsfähig durchs Parlament, riskante Konflikte von Freiwilligen austragen zu lassen, dabei listig die gesellschaftlichen Potenzialunterschiede wie ökonomische Not oder Bildungsarmut zu nutzen. Konflikte zumal, die für die neuen Soldaten – anders als derzeit die in Japan massiv drohenden Kontamination – nicht einmal Schicksalsfragen der Nation betreffen müssen, sondern eher der Gruppendynamik von Pakten geschuldet sind. In der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage bekannte die Bundesregierung gerade frank und frei, die Primärzielgruppen der aktuellen Werbekampagne der Bundeswehr seien junge Frauen und Männer mit und ohne Hauptschulabschluss. Auch die tapferen Fünfzig in Fukushima Daiichi rechnen nach allem, was man weiß, nicht zur Elite von Technik und Bildung - sie gehören eher zu den Ärmeren und teils Alternativlosen.

Noch einmal leichteren Herzens disponieren wir über die irreversiblen Verluste von Fremden, selbst über deren zivile Opfer an Alten und Kindern. Von einer amerikanischen Außenministerin ist diese kühle Antwort auf die Frage nach den Hunderttausenden an Opfern des früheren Irak-Embargos bekannt: "We think the price was worth it." Soweit zur realen Existenz der Werte der Aufklärung.

P.S.: Quellen
zu Abs. 1 / golden rule: http://www.unmultimedia.org/s/photo/detail/313/0031379.html ;
zu Abs. 2 / Bundeswehr-Rekrutierungsstrategie für Freiwillige: http://www.berlinerumschau.com/news.php?id=12813&title=Werbekampagne+f%FCr+Bundeswehr-Freiwillige+st%F6%DFt+auf+Kritik&storyid=1300342000475 
zu Abs. 3 / Albright-Zitat: http://en.wikipedia.org/wiki/Madeleine_Albright

 

(8) 18.3.2011
DIE ZEIT, abgedruckt 24.3.2011
Störfall in Fukushima Daiichi (Bernd Ulrich "Japans Lehre für die Welt" und Fritz Vorholz „Schluss, aus“ (DIE ZEIT Nr. 12  v. 17.3.2011, S. 1 u. 17)

Richtig, das Pokern macht keinen Sinn mehr und die Lebensstile müssen sich ändern, hier wie anderswo. Aber gelingt es, eine Technologie global kollektiv zu verlernen? Nun, manchmal geht Technologie verschütt, einfach so. Schon etwa zehn Jahre nach der letzten Apollo-Mission hätten die USA eine Mondrakete wie die Saturm Vb schlicht nicht mehr bauen können - keine kompetenten Ingenieure, keine spezialisierten Firmen, keine lesbaren Pläne dafür.

Das Entsprechende brauchen wir jetzt bei der zivilen Kernkraft: Abschalten, entsorgen und vergessen. "Wir müssen unser Wissen zurücknehmen!" hatte in komischer Verzweiflung Dürrenmatts Physiker mit der Albert-Einstein-Anmutung ausgestoßen. Und das geht sogar, wenn man will. Komplexes technologisches Wissen folgt keinem Zeitpfeil, sondern ist Funktion eines aktuellen gesellschaftlichen und politischen Bedarfs. Zugegeben: Es braucht auch noch Spitzendiplomaten. Denn wie beim "bösen" Bomben-Atom schafft auch hier erst eine weltweite Abrüstung und Konversion bleibende Sicherheit. Dann müsste sich der richtige Einstein aber auch nicht mehr im Grabe herumdrehen.

P.S. Quelle zum ersten Absatz:
Nach der Challenger-Katastrophe am 28.1.1986 wurde auch die Option erwogen, die sehr zuverlässige Saturn Vb nachzubauen, die letztmals bei der Mission Apollo 17 am 7.12.1972 eingesetzt worden war; tatsächlich aber wäre bereits eine völlige Neukonstruktion erforderlich gewesen, s. „Müllhalden des Wissens“, GEO WISSEN „Kommunikation“ v. 6.11.1989, S. 117f (117)

 

(7) 4.3.2011
DIE ZEIT
Rücktritt eines jungen Verteidigungsministers, DIE ZEIT 10/2011 v. 3.3.2011, S. 1 - 5, 12, speziell Marc Brost et al. "Eine spaltende Persönlichkeit", S. 2

Man könnte sich fragen: Aus welchem Stoff sind Lichtgestalten gemacht? Und, wenn sie denn gemacht werden können: Warum gelingt das nicht viel häufiger? Eigentlich fragen muss man sich aber doch: Wieso bloß debattiert die Republik - und die Wissenschaftsgemeinde einschließlich der Verfassungskundler inmitten - so intensiv und erregt den Prozess einer Dissertation und deren Spätfolgen, schweigt aber mehrheitlich zu der revolutionären Neudefinition der Wehrverfassung, die uns ohne ernstzunehmenden gesellschaftlichen Diskurs seit 1993 an Hunderten, wenn nicht Tausenden von gewaltsamen zivilen Todesfällen in fernen Kriegen hat beteiligt sein lassen - was die Begriffe "Bundeswehr" und "Verteidigungsminister" lange als arge Euphemismen erscheinen lässt?

In den Nach-Rücktritt-Ausgaben etwa von BILD, F.A.Z., Süddeutscher und ZEIT waren fast durchgehend die einleitenden vier Vollseiten dem ersten Thema - der Personalie - gewidmet, dagegen nur wenige Zeilen, wenn überhaupt, dem zweiten - der nach wie vor offenen Sachfrage, der Aufgabenbestimmung. Es ist wohl die verlässliche Liebe zum Szenischen, die Sehnsucht nach einem gepflegten Populismus, nach einem göttlich-jungfräulichen Helden, noch dazu "of independent means", der in platonischer Unparteilichkeit eine unverständliche, streitsüchtige Welt zum Besten ordnen wird. Darin liegt das bleibende Dilemma der Demokratie: In der Form, die elegant die Inhalte überstrahlt. Und das Dilemma des Karl-Theodor zu Guttenberg, der i.J. 2011 ein noch viel zu junger Held war, um die Dramaturgie und Choreographie abzuschätzen.

 

(6) 3.3.2011
Süddeutsche Zeitung
Rücktritt des Verteidigungsministers (Süddeutsche v. 2.3.2011 S. 1 - 4, insbesondere S. 11) der beigefügte Leserbrief:

Natürlich weiß ich, dass ich Zitiergebote in Ehren halten muss, will ich als Bildungsbürger gelten. Aber will ich das eigentlich? Oder stört mich dies nicht maßlos: Die nahezu gesamte Elite der Staatsrechtswissenschaft - bildungsbürgerlich ausnahmslos herausragend formatiert - forscht seit 20 Jahren elegant an der einschneidenden und dynamisch fortschneidenden Umgestaltung unserer Wehrverfassung vorbei. Sie nimmt es als realpolitisch alternativlos hin, dass Deutschland heute an Kriegen mit Abertausenden von zivilen Toten teilnimmt, ohne jeden Federstrich des Verfassungsgebers, ohne Kriegserklärungen, ohne gesellschaftliche Debatte des Ob, Wie oder Wielange, ohne realistische Justiziabilität der 1994 in einem kleinen Richterberatungszimmer erfundenen "konstitutiven Parlamentsbeschlüsse", ohne Verteidigung ebenso identitätsbildender wie konfliktdämpfender Institutionen wie die der Wehrpflicht. Diese Staatsrechtswissenschaft nimmt nicht Notiz noch Zitat davon, wie die Termini "Bundeswehr" und "Verteidigungsminister" Schrittchen für Schrittchen zu sinnentleerten Euphemismen für eigentliche "Expeditionskorps" und "Einsatzbefehlshaber" mutierten - Sprache im Tarnfleck.

Sind - bei allem Respekt - des Verteidigungsministers selbstgewählte Marscherleichterungen beim Promovieren neben so viel Ausblenden, Verdrängen und Verbrämen nicht die reinsten Erdnüsse? Ist denn nicht das der eigentliche und der viel weiter reichende Skandal, was in schönster Form unterlassen wurde?

 

(5) 2.3.2011
Frankfurter Allgemeine
Rücktritt von K. T. zu Guttenberg (F.A.Z. v. 2.3.2011, S. 1 - 3, 29, N3)

Man kann zwei Wendungen zusammenziehen, um das eigentliche Versäumnis zu Guttenbergs zu fassen, und dies vereint den zurückgetretenen Verteidigungsminister sogar mit der großen Mehrheit der Staatsrechtswissenschaft und mit seinen Amtsvorgängern aus den letzten zwei Jahrzehnten:

"E pluribus unum" vom Beginn der Guttenberg'schen Dissertation steht für die Faszination des größeren und damit leistungsfähigeren Verbandes, für das heute so verbreitet geschätzte "big is beautiful". Es steht damit auch für die Bündnisfähigkeit, das immer wiederkehrende Argument der iterativen Einsatzdebatten im Bundestag. Dagegen zeigt der Hinweis auf den Tod von Soldaten in Afghanistan aus seiner letzten Rede auf das konkrete Risiko für den Einzelnen, der an der Entfaltung konzentrierter und projizierter Macht teilnimmt.

Eine ernstzunehmende gesellschaftliche Debatte um die konkreten Ziele und den erweisbaren Nutzen der heutigen Bundeswehr zu organisieren und sodann die Rechte der Soldaten - und die Rechte der Bürger in den Einsatzgebieten - rechtsstaatlich eindeutig zu schützen, damit den identitätsprägenden ersten Abschnitt des Grundgesetzes auch für den heutigen Einsatz auswärtiger Gewalt beim Wort zu nehmen, das wäre die Aufgabe eines verantwortungsvollen Staatsrechtlers auf dem Stuhl des Ministers der Verteidigung gewesen. Diesen ebenso kritischen wie verfassungspatriotischen Anspruch sollten wir dann auch ausdrücklich in das Pflichtenheft eines Nachfolgers aufnehmen.

Insoweit ist das Haus noch nicht zum Besten bestellt, war es aber auch bei allen Amtsantritten nach 1990 nicht. Zugegebenermaßen fällt Juristen und Soldaten gerade das sehr schwer: Sich aus staats- oder bündnistragenden Zusammenhängen herauszudenken und die Grundrechte anderer wirkungsvoll gegen höchsteigenes Handeln zu schützen. Gerade aber wenn man die Verbreitung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und den Schutz fundamentaler Rechte effektvoll im militärischen Schilde führt, müsste genau das die erste Überlegung sein.

 

(4) 14.2.2011
DIE WELT, abgedruckt 17.2.2011
Rekrutierung von Ausländern für die Bundeswehr; Günther Lachmann "Bundeswehr soll auch Ausländer aufnehmen" (WELT v. 14.2.2011, S. 1):

Die Erweiterung des Gesichtskreises der Bundeswehr auf Ausländer macht mehrfachen Sinn. Die Fremdrekrutierung hat viel Kampfesfreude in die eigenen Reihen getragen, etwa mit den Janitscharen der Osmanen – das würden wir jetzt mit umgekehrten Vorzeichen nachahmen – oder mit den Gurkha-Verbänden aus dem Commonwealth. Ausländer ohne Wahlrecht sind auch elektoral neutral, würden darum auch den Grünen oder der SPD nicht die Wahl-Suppe versalzen, auch nicht bei den Konflikten mit nachhaltig geringer inländischer Akzeptanz. Und man kann den Fremden ohne besondere Rücksicht auch solche Aufträge geben, die mit Lebensfragen der Nation - wie früher Verteidigung - immer weniger zu tun haben, immer mehr dagegen mit der Wahrung partikulärer Interessen.

Freunde allerdings macht man sich damit wohl nicht.

 

(3) 1.2.2011
DIE ZEIT
Neuorientierung der Bundeswehr; Josef Joffe "Das Seeckt-Syndrom", DIE ZEIT Nr. 5/2011 v. 27.1.2011, S. 10:

Ist die Bundeswehr wie wir alle? Zumindest haben wir Bürger nicht mitgestaltet. Und auch die Soldaten sind nicht wirklich wie wir, haben jedenfalls nicht die gleichen Rechte, sich gegen die Folgen auswärtiger Gewalt zu verwahren. Gerade nicht die Angehörigen der Spezialtruppen, die unter Abschirmung selbst gegenüber dem Plenum des Bundestages operieren. Von den Bürgern in den Einsatzgebieten gar nicht zu sprechen. Juristen mögen in Bataillonsstärke hinter den Zielplanern stehen, zu tun haben sie freilich nichts. Preisfrage: In welchem Verfahren sollte ein konstitutiver Parlamentsbeschluss denn auch erfolgreich angefochten werden? Wie ein Gesetz – das er nur im formellen Sinne ist? Bestenfalls wird einmal festgestellt, dass eine konkrete militärische Aktion nicht abgedeckt ist. Der Beschluss selbst aber bleibt in aller Regel unangreifbar. Das Parlament hatte die Beschlüsse auch in allen nun fast 100 Fällen antragsgemäß gefasst. Wo’s eng wurde, auch mal unter der existenziellen Drohung der Neuwahl.

Die Politik hat den Hauptkampfplatz immer weiter von uns Bürgern und von den Wahlen entrückt, ohne jeden demokratischen Diskurs. Die Verfassung zeigt noch das unbeteiligte Gesicht von vor 1990, ebenso das Soldatengesetz und der Soldateneid. Gesetzliche Definition neuer, über Landesverteidigung hinausführender Bundeswehraufgaben? Fehlanzeige, nur Weißbücher, Richtlinien und Vertragsergänzungen, allesamt Hervorbringungen der Exekutive. Die wenigen parlamentarischen Anhörungen, am 17.6.2004 oder am 25.9.2008? Öffentlich unbekannt, nicht einmal von dem für die Parlamentsbeteiligung zuständigen Geschäftsordnungsausschuss dokumentiert.

Karl Lamers mag man für das Husarenstück loben, die Aufgaben der Bundeswehr in wachsenden Häppchen verdaulich dargeboten und hoffähig gemacht zu haben, Klaus Kinkel dafür, dass er die Neuorientierung 1994 aus dem Wahlkampf herausgehalten hat, Karl Theodor zu Guttenberg dafür, dass er den Hebel für die Aussetzung der Wehrpflicht in tatsächlichen oder vermeintlichen finanzpolitischen Zwängen gefunden hat. Die Bundeswehr ist kein „Staat im Staate“. Sicher aber ist sie heute weniger denn je Bürgerarmee, nach der realen politischen Physik auch keine Parlamentsarmee, sondern ein Eingriffsorgan der Exekutive, dauernd im Einsatz.

 

(2) 19.1.2011
DER SPIEGEL
Attentate; zu Dieter Bednarz und Ronen Bergmann: Der Schattenkrieg (DER SPIEGEL 3/2010, S. 86-91):

Adressaten bombiger Grüße aus Israel waren beileibe nicht nur Terroristen, gefährliche Wissenschaftler oder Aufstandsführer.1952 erhielt ein leibhaftiger deutscher Kanzler und erklärter Israel-Freund ein Paket. Ein Sprengmeister versuchte, die böse Gabe zu entschärfen, und bezahlte mit dem Leben. Veranlasser war der ehemalige Kopf der Terrororganisation "Irgun", Menachem Begin, späterer israelischer Ministerpräsident und Träger des Friedensnobelpreises. Er wollte die laufenden Reparationsverhandlungen sabotieren.

Der Holocaust ist wie ein vergifteter Bumerang, der über die Zeiten von Hand zu Hand geht und fortlaufend Tabubrüche schafft. Auge um Auge um Auge...

P.S. zum Adenauer-Attentat:
http://www.faz.net/s/RubFC06D389EE76479E9E76425072B196C3/Doc~E35BBCD5A37DA47809AD4F6A865C6332B~ATpl~Ecommon~Scontent.html
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,421167,00.html

 

(1) 7.1.2011
DAS PARLAMENT, abgedruckt 17. 1.2011
Bürgerprotest und Bürgerbeteiligung (Ausgabe v. 3.1.2011)

Ein demokratisch innovativer und womöglich erfreulich dämpfender Ansatz wäre, nun endlich dem Rat Immanuel Kants aus seinem klugen Büchlein "Zum ewigen Frieden" des Jahres 1795 zu folgen: Nämlich das Volk und damit die eigentlichen Lastenträger darüber abstimmen zu lassen, ob Krieg sein soll. Oder - nach Aussetzen der Wehrpflicht - wenigstens die Soldatinnen und Soldaten.

P.S.
Die zitierte Passage findet sich im 2. Abschnitt / 1. Definitivartikel der Schrift (in der empfehlenswerten Reclam-Ausgabe auf S. 12f) und lautet:

„Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders seyn kann) die Beystimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, „ob Krieg seyn solle, oder nicht," so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten (als da sind: selbst zu fechten; die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Haabe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich läßt, kümmerlich zu verbessern; zum Uebermaße des Uebels endlich noch eine, den Frieden selbst verbitternde, nie (wegen naher immer neuer Kriege) zu tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen), sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen.“

Siehe zum Gesamttext auch: http://www.sgipt.org/politpsy/vorbild/kant_zef.htm , wo Kants Büchlein einleitend als eine "frühe deutsche whistleblower-Schrift" annonciert ist. Ganz zu Recht.

 

Und ein paar Sammlerstücke aus früheren Jahren:

 

(a) Die Mutter aller [meiner] Leserbriefe:

29.9.1992
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt 2.10.1992
Militär; Absage der "V 2 - Gedenkfeier" in Peenemünde (KStA. v. 29.9.1992)

Hätten wir am Deutschlandtag die Schöpfer der V 2 hochleben lassen, hätten wir auch die der Scud mitgefeiert. Die Scud ist wie die Mehrzahl der heute weltweit ausgerichteten Trägersysteme legitimer Nachfahre der V 2. Scud und V 2 sind brutale Massenvernichtungswaffen, die unter einem verantwortungslosen Regime bewußt zum Schaden der Zivilbevölkerung eines anderen Landes entwickelt und eingesetzt worden sind.

Demgegenüber ist der vorgebliche Kontext ziviler (!) Raumfahrtforschung, der etwa den jungen Wernher von Braun begeistert und geblendet haben mag, als Begründung eines V 2 - Festes geradezu absurd. Die Forschung hat sich gegen diese Wirtschaftsidee im doppelten Sinne auch ausdrücklich verwahrt.

Der Vorschlag war, wenn auch der count-down schweren Herzens in letzter Sekunde abgebrochen wurde, bereits eine verheerende Wunderwaffe gegen das Ansehen des neuen Deutschland im Ausland und unserer Repräsentanten im Inland.

 

(b) Der Leserbrief mit dem stärksten Verzögerungszünder:

29.5.2008
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt 30./31.5.2009, also bereits ein Jahr später
Wahl des Bundespräsidenten; Kandidaturen Hort Köhler / Gesine Schwan (KStA v. 27.-29.4.2008, u.a. Franz Sommerfeld "Mit Gesine Schwan nach links", KStA v. 27.5.2008, S. 4)

Entscheidend ist, so weiland ein großer Kanzler, was hinten raus kommt. Mehr Demokratie kommt raus, wenn bei einer Wahl die Wahl besteht. Das andere haben wir früher - meist nach Osten blickend - gerne als "Abnicken" verspottet und versuchen es selbst im Miniaturmaßstab der Schuldemokratie nach Kräften zu vermeiden.

Und die Gefahr durch die ewig Linken? Na ja, wenn man böse Ränke und abgekartete Spiele fürchtet oder wenn man ein barockes Theater von mehr als tausend wohlbestallten Spesenrittern von Herzen verhindern will, dann gibt es doch eine ganz natürliche Lösung: Die Wahl des obersten Bürgers durch die Bürger selbst. Wäre sicher auch die bessere Remedur gegen deren nachhaltige Verdrossenheit.

 

(c) Und der am weitesten gereiste Leserbrief:

22.08.1995
NIKKEI WEEKLY, JAPAN; abgedruckt 28.8.1995
Militärpolitik; Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki; THE NIKKEI WEEKLY of August 14, 1995

I refer to reports on WW II and especially to two letters to the editor printed in THE NIKKEI WEEKLY of August 14, 1995 (page 6). It is my impression that those two letters offer a unilateral and quite insulting interpretation of the motives behind the drop of atomic bombs onto Hiroshima and Nagasaki fifty years ago (e.g. N. Hale: "a merciful decision"). So I would like to show an alternative view:

It is certainly true, that Japanese military leaders commenced the hostilities against the USA. But the Japanese victims at Hiroshima and Nagasaki were in their vast majority civilians. And although they were victims, I am far from sure they were the real addressees of the bombs as well. There is quite a convincing hypothesis: The drop of the bombs in the first place aimed at impressing the counterparts of Truman at the Potsdam Conference of July/August 1945 - Truman, a just invested and still very uneasy-feeling American president. To add: according to now opened American files the Nagasaki bomb was also meant to test a completely redesigned ignition system.

The echoes of that demonstration of power strongly outlived that event. We hear them over and over again – from Iraq, from France, from China etc. So humanity will never forget those victims, even if some wanted to.

 

Weitere Leserbriefe
aus 2012 / 2010 / 2009 / 2008 / 2007 / 2006 / 2005 / 2004 / 2003 / 2002 / 2001 / 2000 / 1999 / 1998 / 1997 / 1996 / 1995 / 1994 / 1993 / 1992
oder auch Briefe für Englisch-sprachige Medien.
Oder meine Leserbriefe, die zum Thema „out of areaabgedruckt worden sind.

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