Karl Ulrich Voss, Burscheid: Meine Leserbriefe im Jahre 2011
Stand:
Dezember 2011
(62) 1.12.2011
Kölner Stadt-Anzeiger
irrtümliche Bombardierung pakistanischer Truppen; Willi Germund "In der
Sackgasse" (Kölner Stadt-Anzeiger v. 30.11.2011, S. 4)
Schlimmer hätte es wirklich nicht kommen
können, denn alle sind ganz einig: Das eigentliche langfristige und gewichtige
Risiko ist nicht Afghanistan, sondern war und ist der Atomwaffen-Staat
Pakistan. Und genau das war ja der wesentliche Grund der schmerzhaft
verlängerten militärischen Präsenz am Hindukusch. Wenn nun mehr als 20
pakistanische Soldaten im "friendly fire" starben,
so hat dies unseren strategischen Zielen etwa so geschadet wie die
versehentliche Bombardierung der chinesischen Botschaft in Belgrad am 7.5.1999,
die zu einer völligen Neuorientierung der chinesischen Strategie und Rüstung
geführt hatte - ein schon fast vergessener, aber besonders nachhaltiger "collateral damage".
Ein weiterer tief erschreckender
Punkt: Es heißt nun - wohl mit leichtem Schulterzucken - man könne Widerstandskämpfer
halt kaum von Soldaten unterscheiden. Vorher gab es die ähnliche, gängige
Entschuldigung nach dem Bombardieren von Hochzeiten oder Tankfahrzeugen. Ich
habe nicht den Eindruck, dass wir, geschweige denn unsere Dienste diesen
Landstrich genügend oder auch nur zunehmend verstehen. Man könnte das, was wir
dort tun oder unterstützen, auch "Töten unter Unsicherheit" nennen,
für zunehmend zweifelhafte Ziele.
P.S. zur Bombardierung der
chinesischen Botschaft in Belgrad: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,21548,00.html
(61) 28.11.2011
Frankfurter Allgemeine
Mordserie mit rechtsextremem Hintergrund; Peter Carstens "Starres
Entsetzen" (Frankfurter Allgemeine v. 23.11.2011, S. 1)
Aus meiner Sicht braucht es keinen
anderen Innenminister - etwa einen zentraleren, besser vernetzten, stärker
entschlossenen und schlagkräftigeren als den Amtsinhaber. Wenn, dann bedarf es einer
erfolgreicheren Sozialpolitikerin oder – da mit der Personalisierung hier eine
ganz falsche Fährte gelegt wäre – einer wirksameren Bildungs-, Sozial- und
Kohäsionspolitik. Denn bildet man eine Art Gini-Koeffizient
für Bundesländer, dann zeigen sich hier alte und neue Bundesländer als markant
geschieden - hinsichtlich der rechtsextremistischen Gewalttaten, aber eben auch
hinsichtlich der lokalen Arbeitslosigkeit, der Rekrutierung für die Bundeswehr
und der Wahlbeteiligung. Das eine und das andere sind nicht zu scheiden, und
die verbreitete Erklärung des Rechtsextremismus mit nachwirkenden
Kommunismus-Folgen war und ist irreleitend, zumal rechtsextreme Strukturen auch
erst mit rund dreijähriger Verzögerung wirksam auf die neuen Länder übergreifen
konnten.
Eine Anmerkung im Kontext des
anderen TOP-Themas der letzten Wochen und das machen wir uns für die
längerfristige und staatenübergreifende Entwicklung noch viel zu wenig klar:
Der Depravations-Frust und der Terror gegen Minderheiten als Frustventil -
sie stehen bei Euro-Verlierern ebenso zu erwarten wie bei
Wende-Verlierern. Und auch hier wäre eine effizientere Strafverfolgung, wenn
überhaupt, dann das Mittel zweiter Wahl.
P.S.
In dieser Excel-Mappe sind
Daten zur lokalen Verteilung rechtsextremistischer Gewalttaten (Verfassungsschutzbericht
2010), Arbeitslosigkeit (Statistisches
Bundesamt), Bundeswehr-Rekrutierung von Unteroffizieren/Mannschaften (Sozialwissenschaftliches
Institut der Bundeswehr) und zur Wahlbeteiligung 2009 (Bundeswahlleiter)
zusammengefasst und zueinander in Beziehung gesetzt. Die jeweiligen Werte sind
aus meiner Sicht signifikant gekoppelt. Die Datenquellen sind auf dem letzten
Tabellenblatt verlinkt. Anm.: Die Tabellen haben im Wesentlichen einen Stand
2009/2010. Hinsichtlich der Rekrutierung stehen mir aktuellere Werte als von
2002 leider nicht zu Verfügung; in der Größenordnung dürften diese Zahlen aber
dem aktuellen Verteilungsmuster noch durchaus entsprechen.
(60) 18.11.2011
Kölner Stadt-Anzeiger
Mordserie mit rechtsextremem Hintergrund; Michael Hesse "Satanische Verse
und rohe Gewalt" u. beigefügte Grafik (Kölner Stadt-Anzeiger 15.11.2011,
S. 5)
Zu der dem Artikel von Michael Hesse
beigefügten Grafik eine Anmerkung: Trägt man die regionale Verteilung
rechtsextremer Gewalttaten aus dem Verfassungsschutzbericht 2010 (dort S. 40)
gegen die regionale Arbeitslosigkeit auf, so ergibt sich ein weitgehender
Gleichlauf, mit etwas schwächerer Kopplung übrigens bei den regionalen
Rekrutierungszahlen der Bundeswehr bei Unteroffizieren und Mannschaften (siehe
Excel-Grafik hier).
Die Folgerung ist keine wirkliche
Überraschung: Treiber sind die wirtschaftlichen Verhältnisse - oder auch die
Konzentration von Verlierern der Wiedervereinigung - und weniger eine
"Erblast" des früheren kommunistischen Systems. Darum sollten wir
auch sehr sorgsam überlegen, was wir derzeit anderen Ländern an ökonomischen
Rosskuren zumuten. Der Extremismus und Terrorismus der Siebziger Jahre hatte
vergleichsweise lebensfernere Anlässe.
(59) 18.11.2011
Kölner Stadt-Anzeiger / Regionalteil Rhein-Berg
Landratswahl vor Ablauf der Wahlperiode; Malte Ewert "Man wird sauer
gefahren" (Kölner Stadt-Anzeiger 16.11.2011, S. 34)
Die Amtsmüdigkeit des Landrats setzt
sich bei mir – erstmals und sogar bekennend – in einer galoppierend wachsenden
Wahlmüdigkeit fort. Vielleicht haben der Landrat Verständnis dafür, dass ich am
Sonntag Sinnigeres tun werde - so wie er unser aller Verständnis erbittet, wenn
er nun eine andere, sicher ebenfalls bessere Chance ergreift.
Wenn es dann auch weniger Wahlzettel
gibt, kostet das Zählen vielleicht auch weniger Zeit und Geld - Geld, das auf
der kommunalen Ebene für eine wirksame und nicht nur rituelle Demokratie
allenthalben fehlt. Eigentlich könnte
auch die Partei, die den bisherigen Amtsinhaber vorgeschlagen und unterstützt
hatte, anstandshalber für dieses Mal auf die Refinanzierung der Wahlkampfkosten
verzichten. Und sollte am Ende die Wahlbeteiligung, wie nun zu erwarten steht,
klar unter 50% liegen, so wäre auch dies eine grundehrliche Antwort und ein
Fingerzeig des Souveräns an alle Nachfolger und Nachfolgerinnen.
Zum gleichen Artikel in der
Internet-Ausgabe des Stadt-Anzeigers (http://www.ksta.de/html/artikel/1321373160087.shtml)
mein hier
veröffentlichter Kommentar:
So ein coming out tut gut. Und gibt
denen, die nun in voller Fahrt das Steuer übernehmen wollen, Gelegenheit zu
prüfen, ob sich nicht doch noch was Besseres findet. Im Übrigen: Nicht nur die
Spitze schiebt Frust, auch die Kämmerer in Zeiten der Haushaltssicherungskonzepte.
Und auch die Bürger/innen, die für ihr Geld und für ihre Wahlgänge immer
weniger Wirkung bekommen.
Wenn wir es denn hier mit einer
strukturellen Überlast des Landrats-Amtes zu tun haben, so wird sicher die ihn
derzeit tragende politische Kraft gelernt haben und nun das Ihre tun, die
Regeln für die Zukunft sachgerecht fort zu entwickeln. Z.B.: Das passive
Wahlrecht auf 30 Jahre begrenzen? Mehr Frühstücksdirektoren alimentieren?
Kollegiale Amtsführung durch alle Wahlbewerber in einer Art Regierung der
nationalen Einheit? Guter
Rat ist teuer.
(57)
14.11.2011
TIME
Intervention in Libyen; "Time to Go, Or No?", TIME Nov. 14, 2011, p. 11
The
anatomy of the
(56) 11.11.2011
Kölner Stadt-Anzeiger im Internet; Leserkommentar hier
aufgenommen
Atomare Bewaffnung des Iran; „Iran arbeitete an Atomwaffen“, KStA-Internet-Artikel v. 8.11.2011 = http://www.ksta.de/html/artikel/1320495975063.shtml
Aus dem Handbuch des kleinen
Paranoikers und Manichäers: „Vermute das Schlechte nur
bei deinem Nachbarn und blende eigene Verursachungsanteile sorgfältig aus.“ Das
Streben des Irans nach einer atomaren Drachenhaut ist ohne den virulenten Interventionismus des Westens, der nach 1990 durch den
Zusammenbruch des kommunistischen Lagers möglich wurde, gar nicht denkbar.
Schon vorher galt jeder Iraner, der vom Westen nur Gutes erwartete, wegen der Operation Ajax, die in
den Fünfziger Jahren den gewählten Staatspräsidenten Mossadegh
aus dem Amt gekippt und zum Nutzen der AIOC - heute BP - den Schah mit seinem
brutalen Savak
an die Macht gebracht hatte, und wegen der offenen Unterstützung des Westens
für den Irak im blutigen ersten
Golfkrieg als hoffnungsloser Optimist und Romantiker.
Ich lehne Atomwaffen ab. Aber ich
halte es für kurzsichtig und im Grunde unpolitisch, die dazu führenden Faktoren
zu übersehen. Geschweige denn die handhaften Anteile westlicher Gewinnler bei
deren Verbreitung.
(55) 10.11.2011
Kölner Stadt-Anzeiger
Atomare Bewaffnung des Iran; Tobias Kaufmann, „Niemand stoppt den Iran“ (KStA 10.11.2011, S. 4):
Im Grunde mag ich das Recht sehr, und
Waffen – zumal Atomwaffen – ganz und gar nicht. Aber Recht muss mit gleichem
Maß angewandt werden, sonst verliert es seine Berechtigung. Nun in der Sache
selbst:
Menschenmengen tendieren zur
Fähigkeit, Gewalt zu entfalten, und zu Führungen, die ihre Paranoia bestätigen,
insbesondere nach kollektiven Traumata und bei starkem weltanschaulichem
Gradienten zu ihren Nachbarn. Ein internationales Waffenkontrollregime mag
ihnen hinderlich sein, sie werden es aber im Zweifel umgehen. Das war in Israel
nicht anders, als es beim Iran nun offensichtlich wird. Den gleichen Treiber
gab es im Verhältnis Pakistan zu Indien. Das Vertrackte ist eben:
Durchschnittliche Iranerinnen und Iraner haben nach dem Mossadegh-Putsch
und nach dem blutigen ersten Golf-Krieg, den der Westen offen angefeuert hatte,
jeden Grund, ihre Umgebung als potenziell bedrohlich und aggressiv
wahrzunehmen. Sie müssen realistisch betrachtet nicht eigene Stärke fürchten,
sondern eigene Schwäche. Auch insoweit unterscheidet sich der Iran nicht von Israel.
Wir würden nicht anders reagieren und haben historisch nicht anders reagiert.
In Erinnerung ist noch: Adenauer war nach dem Krieg der am stärksten
entschlossene Befürworter einer deutschen atomaren Aufrüstung – ebenfalls aus
einem Gefühl des Bedrohtseins heraus. Stationiert
sind solche Waffen ja noch heute bei uns, wiewohl sich die Bedrohungslage
längst geändert hat.
Nun der zweite Punkt - und der gibt
dann doch Anlass zur Nüchternheit. Atomwaffen sind zwar zuhauf und unter teils
ruinösen Bedingungen produziert worden, aber wir haben sie nie eingesetzt – abgesehen von einer Situation absoluter
militärischer Überlegenheit wie in der Schlussphase des zweiten Weltkriegs.
Jeder Quadratmeter des Irans liegt im Zielkreuz von nuklearen Sprengkörpern,
jeder mit einer hundertfachen Hiroshima-Sprengkraft, und sie können
erklärtermaßen für Erhalt und Verteidigung Israels abgefeuert werden.
Die im historischen Vergleich
unnatürlich lang anmutende Friedensphase nach 1945 schreiben wir richtigerweise
weniger den nachwirkenden Schrecken zweier Weltkriege zu, die verblassen rasch
mit den Zeitzeugen, sondern dem Wissen, dass erstmals in der Geschichte mein
Gegner die Fähigkeit bewahren kann, auf meine Aggression selbst bei massiven
eigenen Schäden noch vernichtend zurück zu schlagen. Damit hat der kategorische
Imperativ – oder die volkstümliche Regel: "Was du nicht willst, das man
dir tu..." – sehr nachhaltig die Machtpolitik verändert, zu unserem
Vorteil.
Darüber zu reflektieren traue ich
einem uralten Kulturvolk wie dem persischen zumindest ebenso zu wie den
vergleichsweise jugendlichen, sprunghaften Kulturen des Westens. Ich jedenfalls
halte ein Gleichgewicht für sicherer als ein Ungleichgewicht und sehe die
deutlich größeren Risiken in möglichen Versuchen, ein Ungleichgewicht für
einige Zeit mit Gewalt zu "retten". Das wird in Israel, wenn ich's
recht höre, von vielen nachdenklichen Menschen ebenso gesehen.
P.S.
zum Putsch gegen Mossadegh i.J.
1953: http://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Ajax
zum ersten Golfkrieg i.d.J. 1980-1988: http://de.wikipedia.org/wiki/Erster_Golfkrieg
zu Plänen der Jahre 1956 ff, Deutschland atomar zu bewaffnen: http://www.zeit.de/1996/31/Adenauers_Griff_nach_der_Atombombe
(54) 9.11.2011
Kölner Stadt-Anzeiger
Rüstungsexporte; Damir Fras
„Hilfe für die Rüstungsindustrie“ (KStA v. 8.11.2011,
S. 5)
Bestenfalls sind Rüstungslieferungen
ein kollektiver Sargnagel – wie die opulenten und für das Empfängerland absolut
unproduktiven bzw. sinnfreien Exporte nach Griechenland, die zum Bankrott aktiv
beigetragen sind. Im schlechtesten Fall sind es sehr viele individuelle
Sargnägel, gerade beim Export von Gewehren, deren durchschnittliche Lebensdauer
die der Menschen in den „Endverbleibsländern“ massiv übersteigt.
Die Formulierung von
Regierungssprecher Seibert, „bei Rüstungsexporten herrsche grundsätzlich eine
Atmosphäre der Nachdenklichkeit“, empfehle ich in ihrer Schärfe und Stringenz
zur sofortigen Aufnahme in das Grundgesetz. Anbei: Viele Politiker denken ja in
Sonntagsreden gerne laut über den Arbeitsplatz-sichernden
Nutzen von Waffenexporten nach. Leider eine weit verbreitete Mär, denn
Rüstungsexporte kosten per saldo Arbeitsplätze, und zwar zivile
Arbeitsplätze – nach ganz einfacher marktwirtschaftlicher Logik: Staaten wie
Griechenland oder die Türkei, die wir im geschickten Ausnutzen ihrer
wechselseitigen nationalen Paranoia zu unseren größten Abnehmern zählten,
bezahlten zu einem wesentlichen Teil gerade nicht in Cash oder mit Rohstoffen,
sondern mit gegenläufigen Warenströmen geringerer Wertschöpfung und höherer
Arbeitsintensität.
P.S. zum aktuellen Schreiben der
Bundesregierung an die EU siehe Meldung im SPIEGEL http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,796115,00.html
(53) 9.11.2011
DIE ZEIT, abgedruckt 17.11.2011
Referendum in Griechenland; Jan Ross "Huch, das Volk" (DIE ZEIT v.
3.11.2011, S. 1)
Ganz genau: Hätten wir Papandreou
"ad referendum" gehen lassen, Europa hätte goodwill
gewonnen, zum Beispiel bei den jungen Staaten an seinen Rändern. Und das
unabhängig vom Ausgang: Als Beweis nämlich, dass So hat Europa viel verloren.
Die Legitimation durch den Basissouverän ist wohl kein naturgesetzlicher Zwang;
man kann sie stetig aushöhlen durch Konstrukte wie die legendäre
ununterbrochene Legitimationskette, die sich so eingängig auf den
Overhead-Folien der Staatsrechtsvorlesungen macht,
aber eigentlich nur die Angst vor dem Volk und dessen Willensbildung kaschiert
und die die Exekutive ihr ewig Ding tun lässt. Oder durch die Fiktion von
konkret sachbezogener Zustimmung der Bürger bei zunehmend rituellen Wahlen.
Nebenbei: Gingen wir nach
historischen Namensrechten, so nähmen die Griechen bei Austritt aus der
Euro-Zone ihren Euro mit.
P.S.:
Der rigide Geltungsanspruch des heute gängigen Wirtschaftsmodells erinnert – vielleicht
auch in der Wahrnehmung vieler Griechen – an Schillers Gedicht "Die Götter
Griechenlands" a.d.J. 1788, in dem er das
Verdrängen der Farbe, Vielfalt und letztlich der Menschlichkeit des klassischen
Weltbildes durch das kühlere, nüchterne Christentum beklagt; hier die letzte
Strophe:
Ja, sie
kehrten heim, und alles Schöne,
Alles
Hohe nahmen sie mit fort,
Alle Farben, alle Lebenstöne,
Und uns blieb nur das entseelte Wort.
Aus der Zeitflut weggerissen, schweben
Sie gerettet auf des Pindus Höhn,
Was unsterblich im Gesang soll leben,
Muß im Leben untergehn.
http://www.uni-due.de/lyriktheorie/texte/1788_schiller.html
(Text)
http://de.wikipedia.org/wiki/Die_G%C3%B6tter_Griechenlandes
(Geschichte)
(52) 8.11.2011
Handelsblatt im Internet; Leserkommentar hier
veröffentlicht
Schr. der Bundesregierung an EU; Internet-Artikel v. 6.11.2011 (rtr) Regierung erleichtert Rüstungsexporte = http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/regierung-erleichtert-ruestungsexporte/5804346.html
(1) Bestenfalls sind
Rüstungslieferungen ein kollektiver Sargnagel - wie die opulenten und für das Empfängerland
absolut unproduktiven / sinnfreien Exporte nach Griechenland, die zum Bankrott
aktiv beigetragen haben. Schlechtestenfalls sind es
sehr viele individuelle Sargnägel, gerade beim Export von Kleinwaffen, deren
durchschnittliche Lebensdauer die der Menschen in
"Endverbleibsländern" massiv übersteigt.
(2) Der zweite Leserkommentar
(F.._B.._G..) malt ein idyllisches Bild von Rüstungsexporten, die gleichzeitig
unseren zivilen Exporten die Steigbügel halten. Leider, leider ist das bestenfalls
Folklore. Der Effekt ist in der Mehrzahl der Fälle exakt umgekehrt. Oder:
Rüstungsexporte kosten per Saldo Arbeitsplätze und das genau im zivilen
Bereich. Passt nicht harmonisch zu vielen Sonntagsreden, ist aber schlichtes
Marktgeschehen: Wenn ein Empfängerstaat nicht mit Barem oder mit natürlichen
Ressourcen zahlen kann (Beispiele unter vielen: Griechenland, Türkei), dann
werden in sog. offset
agreements gegenläufige Warenlieferungen
vereinbart, zumeist von zivilen Fertig- oder Halbfertigprodukten. Die
Wertschöpfung der high-tech-Waffenproduktion ist
ungleich höher als die der zivilen Gegenleistung, damit kostet eine
Spezialisierung als waffenproduzierender Staat unter
dem Strich Beschäftigungschancen. So sorry!
(51) 7.11.2011
SPIEGEL
Referendum in Griechenland; Manfred Ertel et al. „Ouzo mit Wasser“ (SPIEGEL 45/2011, S. 100ff)
Ich übertreibe: Die Jugend der Welt
blickt auf Europa. Ich untertreibe: Ihr wird kotzübel. Wenn wir schon das
kulturell systemrelevante Griechenland nicht retten können - wie dann alles,
was südlich oder östlich davon wartet?
(50) 7.11.2011
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 17.11.2011
Referendum in Griechenland; Leitartikel von Cerstin Gammelin „Notbremsung in Athen“ (Süddeutsche v. 4.11.2011,
S. 4)
War es nicht ein sinisterer
Schachzug der Griechen? Eine Volksabstimmung vorzuschlagen! Ebenso perfide wie
seinerzeit ihr Einschleichen in die Eurozone. Oder schon das Erdenken der
Demokratie. Wo wir ihnen doch gerade brüderlich helfen wollten. Oder unseren
Banken. Oder unserem way of life insgesamt.
Aber seien wir mal einen Augenblick
lang nüchtern und versuchen, Selbstbild und Fremdbild zu trennen. Es ist kein
Wunder, dass Griechenland nicht zwischen Euro-Zone und Türkei verhungern
wollte. Seine einzige realistische Entwicklungschance lag im Beitritt - wie
seinerzeit auch im Falle der DDR. Und ähnlich wie im Falle der DDR hat das
"Anstecken mit Prosperität" wenn überhaupt, dann nur schlechter
geklappt als versprochen. Kein wirkliches Wunder, wenn man ein Land wie
Griechenland zu einem guten Teil mit Waffen und Luxuskarossen flutet - beides
ist nach landläufiger Erfahrung zwar in der Herstellung wertschöpfend,
weniger aber im Einsatz. Daneben haben wir den Griechen und uns noch den
Tourismus gegönnt. Kein Wunder dann auch, dass heute Inseln und
Ausgrabungsstätten zu den wenigen liquidierbaren Assets
rechnen.
Nicht die Griechen haben es nicht
geschafft, sich zu integrieren. Wir haben es allen Kohäsions-Parolen zum Trotz
nicht zu Wege gebracht, Griechenland die Luft zum eigenständigen und
nachhaltigen Geldverdienen zu geben. Auch wenn dieses Griechenland für unsere
Leitkultur systemrelevant ist - mag auch in ökonomischer Hinsicht Italien
schwerer wiegen.
(49) 7.11.2011
DIE WELT, abgedruckt 12./13.11.2011
Referendum in Griechenland; Leitartikel von Thomas Schmid „Europas guter Weg“
(DIE WELT 4.11.2011, S. 3)
Ob, wenn die EU vor dem
„schwankenden direkten Willen des Volkes geschützt werden“ muss, demgegenüber
eine sprunghafte, „konvulsivische, chaotische und planlose“ Entwicklung der
nachhaltigere Weg ist? Auch das Repräsentative macht ja derzeit keinen
wohlgeordneten, zielgerichteten Eindruck.
Bemerkenswert ist auch, dass die
Bürger sowohl auf der finanziell zunehmend ausgezehrten kommunalen Ebene als
auch wie hier im staatlichen Maßstab de facto immer mehr Souveränitätsanteile
verlieren. Vielleicht hat das Direkte, das Kleinteilige mehr
Problemlösungspotenzial, als ihm gemeinhin zugetraut wird.
Dem goodwill
der europäischen Wertegemeinschaft bei den jungen Menschen in den
Entwicklungszonen dieser Welt hat die panische Reaktion auf das angekündigte -
und dann offenbar unter massivem Druck wieder fallen gelassene - Referendum in
jedem Fall geschadet. Diese jungen Menschen mögen sich auch fragen, ob wir -
wenn wir schon ein für Europa kulturell systemrelevantes Griechenland nicht
retten können - ein für sie mittelfristig verlässlicher Gesprächs- und
Geschäftspartner sind.
(48) 27.10.2011
Nature, Kommentar veröffentlicht unter http://www.nature.com/nature/journal/vaop/ncurrent/full/nature10514.html#/comments
intelligence research;
Sue Ramsden et al., Verbal and non-verbal
intelligence changes in the teenage brain,
Nature 2011, doi:10.1038/nature10514
It
would be most interesting to know: Are there any hints that an increase /
decrease of verbal or non-verbal abilities and a corresponding development of
gray matter can both be induced by social or environmental requirements? It
seems to be quite plausible a thesis that the individual tries to arrange its
limited resources according to those priorities defined by the surrounding
conditions. Or even: That its special portion and spectrum of intelligence may
be attributed in a quite flexible work-sharing scheme. That would mean a more
responding concept, at the same time more characteristic for biological systems
such as man or group. For a special case an interaction between resources and
intelligence is – in my opinion – convincingly established, cf. Jianghong Liu et al., Malnutrition at Age 3 Years and
Externalizing Behavior Problems at Ages 8, 11, and 17
Years, Am J Psychiatry 161:2005-2013, November 2004 = http://ajp.psychiatryonline.org/cgi/content/full/1
61/11/2005.
By
the way: Flexibility of intelligence obviously poses a major explanatory
problem for vertically immobile societies – with stable layers self-rectified
by a concept of calibrating or irrevocable IQ-judgments. I reckon that in
revolutionary – as in teenage – phases significantly increased leaps of
individual intelligence would be detectable, and due to major economic
disorders and to forced societal disruption as well.
(47) 27.10.2011
Kölner Stadt-Anzeiger
Afghanistan-Mission; Rupert Neudeck "Es ist höchste Zeit, in Afghanistan
aufzuhören" (Kölner Stadt-Anzeiger v. 27.10.2011, S. 7)
Die Nachrufe auf die
Afghanistan-Mission werden schon geschrieben. Auf den Staatspräsidenten Hamid Karzai vermutlich auch:
Nach dem Muster vergangener Umbrüche mag dann entsetzt von Korruption und
Nepotismus die Rede sein, von Drogenhandel, von obskuren Kontakten zu islamistischen Kreisen, vielleicht auch von Affären oder
gar von der Verantwortung für den Tod von Ausländern. So schnell wie man Karzai aufgebaut hat - als identifikationsfähigen
Hoffnungsträger speziell des Westens -, so schnell kann man ihn auch wieder
einreißen. Noch unklar ist, ob ihm eine rechtzeitige Flucht bestimmt ist oder
doch das Kanalrohr á la Gaddafi, das Erdloch Saddams oder ein dramatischer
Showdown wie bei Bin Laden.
In jedem Fall macht ein einfacher
Vergleich mit Griechenland deutlich, dass weder Karzai
noch Afghanistan selbst das Problem sind: Wenn es die Spielregeln unserer
europäischen Volkswirtschaften im Ablauf vieler Jahrzehnte nicht
erlaubten, ein kulturell ebenso entwickeltes wie uns nahestehendes Griechenland
zu fairen Konditionen am Markt teilnehmen und sein eigenes Geld verdienen zu
lassen, wenn wir dieses uns so verwandte Land nie über den Status eines
(Waffen-)Import- und Tourismuslandes haben hinauswachsen lassen, dann steht
eine bessere und schnellere Entwicklung für den mit natürlichen Gaben wenig
gesegneten Landstrich am Hindukusch kaum zu erwarten, und sei es mit so
christlichen, aber im Gesamtbild letztlich nur pointilistisch
wirksamen Vorsätzen wie bei Rupert Neudeck.
(46)
25.10.2011
TIME
The
(45)
25.10.2011
Newsweek
"If
you break it, you own it" is the common rule for military intervention.
But Libya may show the dilemma of modern warfare: You may easily break a system
by air strikes. But fixing is done on the ground.
(44) 25.20.2011
Frankfurter Allgemeine
Libyen; Kommentar Mü. "Drohung" (F.A.Z. v.
22.10.2011, S. 10)
Eine gute Sache, der internationale
Strafgerichtshof. Noch besser und vor allem noch Konflikt-präventiver, der
Gerichtshof würde den politischen Nachtschlaf völlig unabhängig von Bündnissen
und relativer Macht bedrohen und nicht dialektisch nach dem Muster von Orwell's "Animal Farm".
Dann könnten wir auch die Abertausenden ziviler Opfer beklagen, die die
wahlfreien und zu häufig auch eigennützigen Interventionen der letzten zwei
Jahrzehnte gekostet haben, zumeist in bettelarmen ländlichen Zonen. In Ländern,
deren politische, kulturelle und ökonomische Textur nach den Einsätzen in der
Regel noch zerrissener ist als zuvor.
Und manchmal, wie etwa nach den
aktuellen Wahlerfolgen von Islamisten in Tunesien,
zeigt sich höchst irritierend: In der kürzlich abgeräumten Elite konnten
wir uns eher wiedererkennen. Sowohl die neuen starken Männer Tunesiens wie auch
die in Libyen wollen die Scharia zum Bezugspunkt
ihres Rechtssystems machen. Das muss ja nichts Schlimmes sein. Aber bis vor
etwa sechs Monaten hätte der Westen dies bereits zum Anlass genommen, näher
über "out of area"
oder "covert ops"
nachzudenken.
(43) 7.9.2011
Bonner General-Anzeiger
Libyen; zum Leserbrief von Herrn Uwe Mahrenholtz im
General-Anzeiger 6.9.2011, S. 29(zu Thomas Wilkes
Kommentar "ImSinkflug")
Wenn ich den Leserbrief recht
verstehe, sind wir ein unzuverlässiger, auch undankbarer Kantonist. Vielleicht
aber ist in Deutschland die historische Dimension der Libyen-Mission noch nicht
so recht bewusst geworden: Wir erleben gerade eine fundamentale
sicherheitspolitische Wende weg von den Lehren des 2. Weltkrieg und es geht
auch um das Fundament der Vereinten Nationen als Zusammenschluss souveräner
Staaten. Ist Libyen und ist die konkrete Umsetzung der Libyen-Resolution ein
Präjudiz, dann haben Aufstände und Revolutionen jeder Art und Richtung eine
externe Erfolgs-Garantie. Gewaltanwendung einer etablierten Regierung zu provozieren
und medial wirksame Märtyrer-Legenden zu formen, das ist überhaupt keine
Anstrengung. Eine weit ausgelegte responsibility to protect ist gerade keinAnreiz,
die Welt sicherer zu machen. Und nicht einmal gerechter.
Schließlich die Gretchenfrage: Was
würden wir tun, wenn sich in Saudi-Arabien Opposition rührte, in einem Land,
das etwa die Frauenrechte noch wesentlich geringer achtet als Libyen es tat
oder sogar der Irak, das auch wesentlich mehr zum internationalen
Fundamentalismus und Terrorismus beigetragen hat?
Wer gegen die Libyen-Intervention in
ihrer konkreten Ausprägung war, der war m.E. nicht
feige, sondern höchst besonnen. Das internationale Recht ist wichtiger als die
Gruppendynamik einer mit eigenen institutionellen Interessen ausgestatteten und
nicht wirklich demokratisch eng geführten Allianz. Um nicht missverstanden zu
werden: Ich bin kein Freund Gaddafis oder irgendeines Despoten. Aber ich bin
ein unbedingter Anhänger staatlicher Souveränität, in die nur in völlig
unparteiischer, unambitionierter Weise eingegriffen werden darf - zum Schutz
aller Menschen des jeweiligen Staates. Ein anderes Völkerrecht sollten -
eingedenk des Kant'schen kategorischen Imperativs - auch wir Deutschen uns
nicht wünschen.
(42) 4.9.2011
DIE WELT
Deutschland-Trend September 2011: Daniel Friedrich Sturm "80% glauben: Die
Krise wird schlimmer" (DIE WELT 2.9.2011, S. 1)
Verfassungspatrioten können über den
in der WELT nochmals als Grafik herausgehobenen Einzelbefund des aktuellen
Deutschland-Trends bald verzweifeln: Dauerhaft sehen schon deutlich mehr als
zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger die wichtigen Entscheidungen dieser
Republik eher bei der Wirtschaft als in der Politik - nach dem näheren Wortlaut
der Auswertung von Infratest Dimap sogar die Mehrheit
unserer Parlamentarier, sowohl im Oppositions- als auch im Regierungs-Lager!
Das klingt nach szenischer, nach real existierender Demokratie oder jedenfalls
wie ein maximal resignativer Eindruck davon.
Und wenn man an eine Werte-geleitete Außen- und Sicherheitspolitik glauben
möchte, an die Ausbreitung von Rechtsstaatlichkeit, Volkssouveränität und
Menschenrechtsschutz, dann muss man schon sehr dialektisch denken, ganz im
Sinne von Orwell's newspeak
und doublethink. Denn hier bleibt dem Parlament wegen
der ergänzenden bündnispolitischen Vernetzung ein nochmals deutlich geringerer
Entscheidungsspielraum. Wer möchte sich dafür wählen lassen?
P.S.: Deutschland-Trend September
2011 = http://www.infratest-dimap.de/uploads/media/dt1109_bericht.pdf
(41) 2.9.2011
Bonner General-Anzeiger
Libyen; Birgit Holzer "Für Geschichtsbücher" (General-Anzeiger v.
2.9.2011, S. 2)
Geschichtsbücher und Geschäftsbücher
- damit könnten zentrale Motive genannt sein, die am Anfang und am Ende der
Libyen-Intervention standen. Und darum taugt sie eben nicht für
Geschichtsbücher.
(40) 1.9.2011
Frankfurter Allgemeine
Hitler; Rainer Lepsius "Max Weber, Charisma und Hitler", F.A.Z.
v. 24.8.2011, S. N3
Charisma gibt's nicht nur bei den
Guten, das ist klar. Aber wir tun uns keinen Gefallen, Hitler als
"durchschnittlich" abzulegen. Schon "durchschnittlich" mit
"verbrecherisch" zusammen zu fügen wirkt fragwürdig. Das ist etwa so,
als müsste man an jedem unscheinbaren Ort und zu jeder Zeit einen neuen, alles
andere zerstörenden Urknall oder in jeder Menschenansammlung einen potenziellen
Hitler gewärtigen.
Manfred Koch-Hillebrecht
hat in seinem mit vielen Quellen gut belegten Psychogramm des deutschen
Diktators einige Besonderheiten herausgearbeitet, die Hitlers Charisma und
seine persönliche Suggestivkraft unterstützten, etwa die eidetische
Gedächtnisstruktur, die ihm zehn Teleprompter zugleich und Detailwissen jeder
Art abrufbar bereit stellte, die ihn zu einem von allen Untergebenen
gefürchteten Gesprächspartner machte, die aber auch jede Neubesinnung und
taktische Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen in einer frühen geistigen
Versteinerung ausschloss. Hitler war in fast jeder Hinsicht
un-durchschnittlich. Das sollte uns beruhigen, uns auch mit den zum Glück eher
hausbackenen Führern unserer Tage etwas versöhnen.
(39)
Sept. 1, 2011
TIME
Libya; TIME Sept. 5, 2011 "The World after Gaddafi"; esp. Fareed Zakaria "Winning from
behind - How the Lessons of Iraq paid off in Libya" p. 16
The
Gaddafi-cover differs considerably from the frontispiece with Bin Ladin crossed out in red blood; it's more like "Gone
with the Wind". But make very sure Hosea 8:7 will not apply: The coalition
economies should not try and make a bargain or a nice habit out of this
low-budget type of regime change.
The
prospects after the very-from-behind overthrow of Mohammad Mosaddegh
had seemed very bright at first glimpse, especially for AIOC/BP – and very,
very bad in the aftermath, up to the present days, for all of us.
P.S.:
Hosea 8:7 reads at the beginning: "For they have sown the wind, and they
shall reap the whirlwind."
To the former Iranian president Mohammad Mosaddegh
and his overthrow by the operation
(38) 30.8.2011
DER SPIEGEL
Libyen; SPIEGEL-Gespräch von Ralf Neukirch und Erich Follath mit Joschka Fischer ("Ein einziges Debakel",
SPIEGEL 35/2011 v. 29.8.2011, S. 26)
Unter Joschkas Pflaster liegt immer
noch der Strand. Die Steine: größer.
Hau weg den garstigen Tyrann', wenn er nur beherrschbar schwächelt!
Mehr als Tausend Tote, Schutt, wohin man sieht?
Wen schert's, ist man mit den Guten und thinkt nur big enough.
Recht ist für die Langeweiler; nix Spontanes dran
- Freiheit stößt die Tore auf.
Unser Joschka, wie er leibt und lebt. Ein Debakel.
(37) 29.8.2011
Frankfurter Allgemeine
Rechtsstaat; Bernd Rüthers
u. Clemens Höpfner "Abschied vom Rechtsstaat" (F.A.Z. v. 26.8.2011,
S. 9)
Der Beitrag nennt mit dem
Atommoratorium, dem Arbeitsrecht und der Wehrverfassung gute Beispiele für die
Geringschätzung oder gar Selbstentmachtung der Legislative. Mit den
Auslandsinterventionen der Bundeswehr darf man ein weiteres wichtiges
Politikfeld identifizieren und dort hat die schleichende Erosion
rechtstaatlicher Prinzipien sogar schon drei von drei Verfassungsgewalten
erfasst: Mit seinem 1994er Streitkräfteurteil hatte das Bundesverfassungsgericht
ganz offen nicht nur Gesetzgeber, sondern sogar Verfassungsgeber gespielt und
den Verfassungsstaat in mehrfacher Hinsicht grundlegend neu gestaltet:
Abweichend von § 19 Abs. 1 GG wurde im Rahmen von Bundeswehr-Einsätzen die
Einschränkung von Grundrechten nun für eine konkrete militärische Intervention
oder auch: im Einzelfall möglich, auf der Grundlage eines schlichten
Parlamentsbeschlusses, ohne ein förmliches Gesetzgebungsverfahren, ohne Zitat
oder Abwägung der jeweils eingeschränkten oder gefährdeten Grundrechte. Seitdem
können Soldaten in ihren Einsatzräumen Menschen ohne gerichtliche Entscheidung
festsetzen, können sie natürlich auch im Rahmen von Kampfhandlungen verletzen
oder töten oder Eigentum schädigen oder entziehen. Ist einmal ein konstitutiver
Entschluss gefasst, ist er für Betroffene juristisch praktisch nicht
überprüfbar, zumal es keine normativ festgelegten Kriterien und Begrenzungen
für Bundeswehreinsätze gibt. Selbst ein ohne Zustimmung des VN-Sicherheitsrats
durchgeführter, damit völkerrechtlich ungedeckter
Waffeneinsatz kann derzeit juristisch nicht angegriffen werden, wenn nur das –
darüber sogar in Kenntnis gesetzte – Parlament im Einzelfall zugestimmt hat, so
die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Kosovo-Einsatz. In der
Rechtswissenschaft sieht das gleichwohl nur eine Minderheit kritisch; der
Standard-Kommentar zum Grundgesetz weiß zu diesen zerlumpten Häuflein zu
berichten: „Anhänger dieser Sichtweise legen häufig eine Demokratietheorie
zugrunde, der zufolge Maß und Stärke demokratischer Legitimation von
Entscheidungen in dem Maße wächst, in dem das Volk selbst oder jedenfalls das
Parlament daran beteiligt ist.“ Als Verfassungspatriot frage ich mich ganz
betroffen: Was denn sonst ist unter Demokratie zu verstehen, auch unter
repräsentativer Demokratie?
Nur: In bestimmten Politikbereichen
wird die schnell bewiesene Tatkraft höher eingeschätzt als die mühsame
legislative, öffentlich debattierte und am Ende justiziable Vergewisserung.
Herr Rüthers und Herr Höpfner haben auch hier nur zu
Recht: Im Standardfall eines vitalen Kabinetts ist von den jeweiligen
Regierungsmehrheiten nur rituelles Mitlaufen zu erwarten und kein kritischer
Widerstand gegen verfassungsrechtliche Eigenmächtigkeiten der Exekutive. Umso
mehr muss man Persönlichkeiten wie die Abgeordneten Gauweiler und Wimmer loben,
die mit eigenen Verfassungsklagen zum Afghanistan-Einsatz Zeugnis abgelegt
hatten, wenn auch am Ende fruchtlos.
P.S. zu den zitierten juristischen
Quellen:
-
Die
wiedergegebene GG-Kommentar-Stelle: Maunz/Dürig/Nettesheim, 61. Ergänzungslieferung 2011,
Anm. 21 zu Art. 59 GG
-
Kosovo-Entscheidung
v. 25.3.1999: BVerfGE 100, S. 266, 269
= http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es19990325_2bve000599.html
-
Afghanistan-Entscheidung
v. 12.3.2007 auf Klage der MdB's Gauweiler u. Wimmer:
BVerfGE 117, S. 359
= http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es20070312_2bve000107.html
(36) 25.8.2011
Frankfurter Allgemeine
Libyen; Nikolaus Busses Beitrag „Helfen, nicht führen“ (F.A.Z. v. 25.8.2011, S.
6)
Ein sehr einfühlsamer Grundsatz:
„Helfen, nicht führen“. Man muss ihn aber noch ergänzen um ein „nicht
profitieren“, um jeden Anreiz zum politischen und kommerziellen Eigennutz – die
auch bei der Libyen-Mission nicht ganz fern lagen – generalpräventiv
auszuschließen. Daraus müsste man sogar eine heilsame Regel der Vereinten
Nationen zimmern, eine "Ehrlicher-Makler-Klausel".
Darüber hinausgehend: Die
Libyen-Allianz hat bei ihren tausendfachen Lufteinsätzen weit jenseits der
Kampfgebiete viel Infrastruktur zerschossen – auch über die ausdrücklichen
Zwecke der Resolutionen 1970 u. 1973 v. 26.2. und 17.3.2011 hinaus; diese waren
ja auf Waffenembargo, Schutz der Zivilbevölkerung, Flugverbot und das
vorläufige Einfrieren von Vermögenswerten ausgestellt. Drum ist jetzt noch
einiger Schaden zu egalisieren, völlig ohne Beute. Auch die eingefrorenen
Guthaben und künftige Öl-Einnahmen gehören den Libyern und nicht schon den
westlichen Baufirmen.
Die Allianz muss einer zusätzlichen
Verpflichtung nachkommen, man mag das sogar als Folge der zitierten
Resolutionen interpretieren: Rache gegen Funktionsträger oder Unterstützer der
alten Ordnung tatkräftig unterbinden. Ob und wie das ganz „ohne Stiefel am
Boden“ geht, weiß ich nicht. Aber jedenfalls hierfür gilt das alte Motto weiter
„If you brake it, you
own it.“
P.S. zu den zitierten Resolutionen
des Sicherheitsrats (amtl. deutsche Übersetzung):
S/RES/1970 v. 26.2.2011 = http://www.un.org/depts/german/sr/sr_11/sr1970.pdf
,
S/RES/1973 v. 17.3.2011 = http://www.un.org/depts/german/sr/sr_11/sr1973.pdf
(35) 25.8.2011
Bonner General-Anzeiger
Libyen; Thomas Wittke "Im Sinkflug"; Lutz Warkalla / Florian Ludwig (Red.) "Hoffnung auf gute
Geschäfte" (General-Anzeiger 24.8.2011, S. 2, 3)
Ob die im Kommentar vermisste "Partnership in leadership"
ein so erstrebenswertes Ideal wäre, eine Chance, die Deutschland bzw. sein
Außenminister mutwillig oder leichtfertig verpasst hat? Mit
verantwortungsvoller, werteorientierter und demokratisch rückgekoppelter Außen-
und Sicherheitspolitik hat die "Führungspartnerschaft" wohl nicht
zwingend zu tun. Sie mag auch zu der Selbstgerechtigkeit Anlass geben, die im
Postulieren eines "Eigenbereichs exekutiver Handlungsbefugnis und
Verantwortlichkeit" anklingt. Dies hatte 1994 zur Begründung unserer
demokratisch und juristisch nur schwer kontrollierbaren Einsatzpraxis durch ad-hoc-Legitimationen des Bundestages geführt.
"Führungspartnerschaft"
bringt vielleicht mehr Aktion, sicher aber auch mehr Steuerung durch
Bündnisinstitutionen und -interessen und weniger gesellschaftliche Reflektion.
Schon heute ist das Argument der Bündnissolidarität das bei Einsatzbegründungen
meistgebrauchte - auch wenn es vollständig selbstreferenziell
ist bzw. von den ebenso in Jugendbanden instrumentalisierten Gruppenzwängen
lebt. Weit oben in der Rangordnung der probaten Einsatzmotive rangieren auch
die kommerziellen Interessen bzw. die "Hoffnung auf gute Geschäfte" -
eine sehr besondere Form der Werteorientierung.
P.S.: zum Terminus
"Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnis":
siehe Entsch. des Bundesverfassungsgerichts v. 12.7.1994, BVerfGE
90, S. 286, 389f (Parlamentsvorbehalt; Text unter http://www.servat.unibe.ch/law/dfr/bv090286.html),
die wiederum auf die Entscheidung v. 18.12.1984, BVerfGE
68, S. 1, 87, Bezug nimmt (Pershing II, Text unter http://www.servat.unibe.ch/law/dfr/bv068001.html)
(34) 7.8.2011
DIE ZEIT, abgedruckt 18.8.2011
zu Jens Jessen "Unsere Kreuzritter", Henrik Eberle "Norwegens
falscher Tempelritter" u. zum Interview von Evelyn Finger mit Saskia
Wendel, DIE ZEIT Nr. 32 v. 4.8.2011, S. 49, 60:
Aus der grauenhaften Tat in Norwegen
folgt eine nicht so völlig überraschende Lehre: Es bedarf keiner besonderen
Organisation oder quasi-staatlicher Ressourcen, um massiven Terror zu
verbreiten. Und die lange Abwesenheit von Terror nach 9-11-Maßstab ist
vermutlich gar nicht unseren Diensten und einer Polizei zu danken, die
unermüdlich einen sprungbereiten und hoch aggressiven Islam in Schach halten.
So sehr das auch zu deren Ressourcen-sicherndem
Selbstbild gehören mag. Wenn nun der angebliche Feind so gar nicht seinem
Feindbild entsprechen will, dann versucht vielleicht auch niemand ernsthaft,
uns in unserem so offenen Habitat zuschädigen, jedenfalls nicht in effizient
organisierter Form.
Das führt zu der weiteren möglichen
Ableitung: Das Verhalten des Attentäters ist auffällig selbstähnlich zum
Verhalten und zur organisierten Paranoia ganzer westlicher Staaten. Diese haben
in den letzten 20 Jahren - eben schon deutlich vor 2001 - eine stetig
zunehmende außenpolitische Gewaltbereitschaft entwickelt, typischerweise
gegenüber kleineren Subjekten des Völkerrechts, und sie haben in ihr öffentlich
beworbenes Repertoire auch Tabu-brechende Strategien
wie das targeting und decapitating
integriert, haben ferner gegenüber zivilen Opfern ihrer Missionen eine zumeist
achselzuckende Teilnahmslosigkeit aufgebaut, die mit der Dauer, Intensität und
Aussichtslosigkeit der Missionen immer weiter zunahm. Das entspricht in etwa
wieder der Denke, die während des ersten Weltkriegs in einem gängigen Katechismus
mit einer beim 5. Geboteingedruckten Fußnote die Feldseelsorge glättete:
"Gilt nicht im Kriege!"
Insoweit kommen endemische Xenophobie und Gewaltbereitschaft zusammen. Sie könnten bei
verrückbaren, narzisshaften und herostratischen Charakteren,
zu denen der norwegische Attentäter nach seiner eitlen Selbstdarstellung
gezählt werden dürfte, das Koordinatensystem grundlegend verschieben und
Gewalt-Innovationen triggern. Der dieser Tage häufig zitierte Timothy McVeigh war ähnlich gestrickt. Er hatte dazu aber wohl noch
traumatisierende Gewalt-Erfahrungen,
wie sie sich heute auch bei unseren Soldaten Tag für Tag anreichern.
(33) 21.6.2011
Kölner Stadt-Anzeiger
Kriegsverbrechen; Markus Schwering "Die
schmutzige Wehrmacht" (Kölner Stadt-Anzeiger 18./19.6.2011, S. 9)
Für Unbeteiligte und speziell für
Nachgeborene sind die Zivilisationsbrüche des Zweiten Weltkriegs kaum
nachvollziehbar. Typisch scheint mir zu sein, dass in einer Umgebung, die
Gewaltanwendung zur täglich erlebten Norm macht, eine Eigengesetzlichkeit und
Selbstgerechtigkeit wächst, die eher nach weiterer Eskalation schreit als nach
empathischer Analyse. Einen wesentlichen Teil der Kriegstagebücher meines
Vaters füllen die Ängste um seine Eltern und Geschwister im massiv bombardierten
Hagen, während er in relativem Komfort bei Oriol lag,
nahe Kursk. Dass der deutsche Krieg die Lebensgrundlagen von Millionen Russen
auffraß, hat er mit Sicherheit gewusst; vielleicht kannte er auch Mordtaten der
Einsatzgruppen. Aber seine Sorgen lagen ganz anderswo und er wollte einfach
nur, dass ein Ende kommt, ein Sieg. Selbst offen erkannte Grausamkeiten wurden
da zur Nebensächlichkeit, sie überhöhten das Ziel gar noch, und zwar auf beiden
Seiten.
Ich befürchte: In der Eigendynamik
der modernen Konflikte entwickeln wir einen ähnlichen Tunnelblick, ob nach dem
Tanklaster-Vorfall in Kundus oder jüngst bei den
zivilen Opfern in Tripolis. Auch heute werden Zivilisationsbrüche zunehmend
eingeschliffen, werden bloße „collateral damages“. Einen nüchternen Blick darauf werden erst unsere
Enkel haben.
P.S. zum Ende des ersten Absatzes:
In der sehr eindringlichen Dokumentation „The Fog of War. Eleven Lessons from the Life of Robert S.
McNamara“ (Regie und Interview v. Errol Morris, 2003) http://en.wikipedia.org/wiki/
·
“Why was it necessary to drop the
nuclear bomb if LeMay was burning up
·
(32) 21.6.2011
Süddeutsche Zeitung, abgedruckt 1.7.2011
Bundeswehrreform; Peter Blechschmidt " 'Es ist
eine Ehre, Soldat zu sein' " (Süddeutsche 18./19.6.2011, S. 8), Sebastian
Beck, "Karriere, Geld und ein paar tödliche Risiken", (aaO), Caroline Ischinger,
"Elite im Verborgenen" (aaO S. 9)
Schwups, da ist sie ja, die schöne
neue Armee - im Wahlkampf zum 17. Bundestag nicht angekündigt, jedenfalls nicht
von der größten und derzeit die Regierung tragenden Volkspartei.
"Wahlbetrug" hieß es solchen Fällen früher gerne schon einmal. Und
von denen, die für ein pazifistisches Klientel über Jahre auf den Fall der
Wehrpflicht hingearbeitet hatten, hören wir nun schwerelos kühne geopolitische
Töne, ebenfalls so nicht angekündigt, und sie zeihen die Regierung der Feigheit
vor dem Bündnis, wg. Libyen. Die Wende weg von wesentlichen Geschäftsgrundlagen
des Wahlkampfs stammt übrigens just aus einer Phase, die man auch eine
medial-ministerielle Trunkenheitsfahrt nennen könnte.
Das Ärgste aber ist für mich nicht
einmal, dass die Reform nicht auf einer breiten gesellschaftlichen Debatte
aufsetzt, wie sie der damalige Bundespräsident zum 50. Geburtstag der
Bundeswehr schlüssig - und bis heute unerhört - gefordert hatte. Lothar
de Maiziére will uns Bürgern ja eher etwas erklären
als mit uns Inhalte auszuhandeln.
Wirklich schlimm ist: Zur realen
Umsetzung will die Regierung verstärkt die regionalen und gesellschaftlichen
Potenzialunterschiede bei Arbeit, Besitz und Bildung ausbeuten. Oder: Wir
versprechen Lebens- und Gleichheitschancen in einer Art Lotterie, bei der
Alternativlose ihre existenziellen Rechte einsetzen sollen. Das ist kein
Meisterstück eines demokratisch verfassten Rechtsstaats, der Grundrechte
effizient schützen will, und kein Simile für die
Regionen und Völker, denen wir unsere westliche Lebensform
militärisch näher bringen wollen.
P.S.: Quellen / Nachweise
·
Zur
Position der Parteien im Wahlkampf zum 17. Bundestag: http://www.vo2s.de/mi-
·
Zu
BPräs. Köhlers Rede auf der Kommandeurtagung
am 10.10.2005: http://www.bundesregierung.de/
·
Zur
bereits derzeit stark asymmetrischen Rekrutierung: http://www.vo2s.de/mi_selekt.
·
Zum
neuen geopolitischen Realismus-Drang der GRÜNEN s. Cem
Özdemir "Deutschland im Abseits", DIE WELT v. 30.5.2011 (http://www.welt.de/print/die_
·
Zur Geheimhaltung
/ KSK siehe insbesondere die Anhörung im GO-Ausschuss am 25.9.2008: http://www.vo2s.de/mi_pbg-anh.
(31) 9.6.2011
Kölner Stadt-Anzeiger / Lokalteil Rhein-Wupper
lokale Verkehrsplanung; Timm Gatter "Die Ampel steht noch auf Rot" (KStA v. 8.6.2011, S. 29)
Die Kuckenberger
Kreuzung ist "luppig", wie man hier sagt:
verkehrsbelastet und je nach Vegetationslage sehr unübersichtlich. Unfälle und
haarscharfe Abläufe sind den meisten Anrainern präsent. Ein schlimmer Crash
kommt mit statistischer Unerbittlichkeit und ich möchte dann nicht mittendrin
gesessen haben.
Wenn nun aus den knappen Kassen andere
hübsche Verkehrsprojekte finanziert werden müssen als der vorgeschlagene
Kreisel, dann muss man zunächst auf eine Billiglösung zurückgreifen: Vor zwei
Jahren hat ein Schlaumeier die 50-km/h-Begrenzung vor der Kreuzung ausgerupft.
Sie steht sicher noch im Bauhof und könnte in ca. 2 Stunden wieder eingepflanzt
werden. Dank Rückstufung der ehemaligen B 232 muss man heute auch keinen
automobilistischen Mindestdurchsatz mehr garantieren. Drum können wir es nun
etwas gemütlicher angehen lassen – und für uns Eingeborene sicherer.
(30) 8.6.2011
DER SPIEGEL, abgedruckt 20.6.2011
Afghanistan-Krieg; Susanne Koelbl u. Christoph Reuter
"Die Stimmung wird kippen" (DER SPIEGEL 23/2011, S, 36)
Jeder weiß es: Das
Afghanistan-Projekt taumelt seit Jahren auf einer abschüssigen Straße
rückwärts; selbsttragender Fortschritt nach dem Muster des Westens war sogar
von Anfang an unwahrscheinlich, zumal bei volatilen Freunden wie Raschid Dostum oder Mohammed Daud Daud. Nur: Fehler lernt ein politisches System erst unter
massivem Schmerz. Oder: Gibt sie zu.
Die Parallelen zu Vietnam sind
erschreckend: die ungenügende "intelligence",
das naive Vertrauen auf Technologie, das zu späte öffentliche Einräumen eines
Krieges, das Brandmarken des lokal verwurzelten Gegners als Terrorist und
Aufständischer, das verdrängte und durch Eskalation hinausgezögerte Scheitern -
siehe die erleuchtende Dokumentation "The Fog of War". Und wie im Falle
Vietnams geht die Wehrpflicht über die Planke, um eine neue Art Krieg
exekutierbar zu halten, führbar selbst für alte
Pazifisten. Das ist eine sehr falsch verstandene Botschaft des Lehrmeisters
Krieg
P.S.:
Zum Dokumentarfilm „The Fog
of War. Eleven Lessons from the Life of Robert S. McNamara“ (Regie und Interview v. Errol Morris, 2003) http://en.wikipedia.org/wiki/The_Fog_of_War (Film); http://en.wikiquote.org/wiki/Robert_McNamara (Auszüge).
(29) 7.6.2011
DIE ZEIT
Reform der Bundeswehr; Josef Joffe "Minister für
Wahrheit" u. "Neu auf der Baustelle" (DIE ZEIT 23/2011, S. 10 u.
22/2011, S. 12)
Marcus Porcius
Cato senior ist ein kerniger Römer und Geopolitiker. Eines Tages bringt er Obst
mit in den Senat – pralle, reife Feigen. Etwas so Köstliches, lässt er
beiläufig fallen, wachse keine drei Tagesreisen von Rom entfernt. Drei Jahre
darauf und einen massiven Krieg später ist Karthago von der Landkarte und aus
den Archiven getilgt und sein herrliches Hinterland ernährt fortan Rom. Einen vitalen
„nationalen Selbstbehauptungswillen“ kann man das nennen, ebenso wie später den
fatalen Drang der Deutschen nach den Kornkammern des Ostens.
Die Verteidigungspolitischen
Richtlinien meinen das sicher nicht. Aber was exakt meinen sie? Ein Baum der sicherheitspolitischen
Erkenntnis, der Gut und Böse scheiden könnte, sind sie nicht, sondern wieder
eine Sammlung von Generalklauseln, eine pauschale Erklärung der militärischen
Konfliktbereitschaft. Unbestimmt im Örtlichen – global. Offen im Zeitlichen – auch
präemptiv. Geschmeidig vor allem inhaltlich –
anknüpfend an vielfältigste politische, kulturelle, ökonomische und ökologische
Risiken. Zu den gewaltbewehrten deutschen Sicherheitsinteressen zählen sie u.a. den „freien Zugang zu natürlichen Ressourcen“. Cato
applaudiert dezent und Kant rotiert fluchend im Grabe.
Ist Lothar de Maizière nun ein
Minister für Wahrheit, sagt er etwas Neueres und vor allem Richtigeres? Die
Risiken für Soldaten und für Zivilisten in den Einsatzgebieten sind bekannt.
Eine innovative, unabhängige Evaluation der bisherigen Einsätze nach Nutzen und
Lasten aber hat de Maizière nicht im Angebot, auch keine rechtsstaatlich klare
Definition der Einsatztatbestände oder: kein Bundeswehr-Aufgabengesetz. Nun, er
bittet zur gesellschaftlichen Debatte. Allerdings sagt er bei der
Regierungserklärung am 27. Mai: Die Übernahme der uns angetragenen
internationalen Verantwortung sei „mehr, als es in Deutschland bisher bekannt
und wohl auch akzeptiert ist.“ Das klingt nach Bündnis-freundlichem Frontalunterricht,
nicht nach ergebnisoffener Definition sicherheitspolitischer Ziele und
Verfahren, partnerschaftlich mit mündigen Bürgern. Nichts Neues auf der alten
Baustelle, oder?
P.S.
Catos nachhaltig erfolgreiche Dattel-Strategie wird zitiert von Plutarch (Vitae Parallelae,
Cato maior, no. 27) und Plinius dem Älteren (Historia Naturalis, XV no. 20).
Zu Kants gefährdeter Grabesruhe siehe seine prägnanten Aussagen in der
Schrift "Zum Ewigen Frieden", 2. Aufl. 1796 (hier zitiert nach der
Reclam-Ausgabe) zu stehenden Heeren (S. 3), zur Nichteinmischung (S. 5), zur
außen- und sicherheitspolitischen Mitsprache der Bürger (S. 12f, 16f u. Fußn.
auf S. 17), zum kategorischen Imperativ (S. 44) und zur Publizität (S. 50, 56).
Links zu den VPR 2011 und zur Bundestagsdebatte
betr. die Regierungserklärung v. 27.5.2011 siehe unter dem Leserbrief Nr.
23/2011.
(28)
4.6.2011
TIME
Libyan conflict & death of bin Laden; “closeup
5/15/11
The
“closeup 5/15/11
“5/15/90
Rebels continued to make
gains in their struggle to end
Mohammad Najibullah's 4-year
rule with fighting intensify-
ing in the mountains of
western
volunteers in the rebel army
work an obstacle course in
second largest city and
the rebels' main stronghold.
One
of those civilian volunteers & rebels made it to the frontispiece of the
TIME magazine some 20 years later, then being crossed out by an "X"
in red blood. Looking closer at the TIME's
"X" gallery you may find more characters that in ascending phases of
their respective careers had been judged somewhat bold but helpful by
influential U.S. citizens, e.g. Saddam and even Hitler. The Great Game far to
often makes for grave miscalculations and the Libyan conflict may give rise to
two further "X", one of whom still being without a known picture.”
P.S.
The
“closeup 5/15/11 Benghazi" is to be seen here: http://lightbox.time.com/2011/05/20/closeup-best-pictures-of-the-week-may-13-%e2%80%93-may-20/#1
The accompanying text of the original “closeup” of
TIME, May 20, 2011 had been (red ink shows where
I have modified it in my reader’s letter shown above):
5/15/11
Benghazi
Rebels continued to make
gains in their struggle to end
Muammar Gaddafi's 42-year
rule with fighting intensify-
ing in the mountains of
western Libya. Here, civilian
volunteers in the rebel army
work an obstacle course in
second largest city and
the rebels' main stronghold.
The
“X”-gallery of TIME: http://www.time.com/time/magazine/article/0,9171,2069579,00.html
For early and very momentous contacts between U.S. intelligence personnel (Cptn. Truman Smith) and Hitler see http://en.wikipedia.org/wiki/Ernst_Hanfstaengl
For the crucial period that switched Saddam
from friend to foe see http://www.time.com/time/magazine/printout/0,8816,971291,00.html
(27) 2.6.2011
DER SPIEGEL
Bundeswehrreform; Uwe Buse "Die
Drückerkompanie" (DER SPIEGEL 22/2011, S. 50)
Die absehbare Rekrutierungslücke mit
Migranten zu füllen, das ist doch eine schöne Idee,
mit historischem Gütesiegel sogar: Die Osmanen haben in den Janitscharen-Regimentern
Christensöhne mit dem Versprechen von Integration und Aufstieg zu Furcht
erregend hoher Kampfkraft geführt. Vielleicht aber sollte man - wenn die
schönen neuen Aufgaben der Bundeswehr von der Mehrheit der Bürger/innen
abgelehnt und gerade nicht aktiv unterstützt werden - sinnieren, ob es denn
überhaupt legitime deutsche Aufgaben sind.
Zugegeben: Diese Prüfung verlangt
übermenschliche Fähigkeiten. Denn wer wollte angesichts der vollen Palette
politischer, technologischer, ökonomischer und ökologischer Risiken, die die
neuen VPR als militärisch therapiebedürftig an die Wand malen, noch weissagen,
was genau nicht zum künftigen deutschen Militärspektrum gehört. Was für
einen Rechtsstaat - noch dazu mit unserer Geschichte - übrigens ein
schreckliches Armutszeugnis ist und eben ein Grund für die vornehme
Zurückhaltung der bürgerlichen Bürger.
P.S. zu S. 53, re.
Spalte:
Zur Frage, ob sich der weltanschauliche
Koordinatenursprung der Bundeswehr mit der Änderung des Aufgaben- und
Gefährdungsspektrums zum rechten Rand des politischen Spektrums verschiebt,
hatte das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr / SOWI i.J. 1992 systematisch junge Bewerber befragt. Schon die
damals erhobenen Daten verweisen „auf die Gefahr, dass die Bundeswehr zunehmend
für junge Männer attraktiv sind, die den demokratischen Prinzipien und Werten
kaum oder gar nicht verbunden sind.“ (SOWI-Arbeitspapier
Nr. 77 v. März 1993, S. 24; s. auch das Interview mit dem früheren SOWI-Direktor Bernhard Fleckenstein im SPIEGEL 5/1995, S.
75: "Derbere
Typen"); s. auch http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13688298.html
(26) 2.6.2011
DIE WELT, abgedruckt 6.6.2011
Bundeswehrreform; Simone Meyer "Wir haben Verantwortung" (DIE WELT v.
1.6.2011, S. 2)
Simone Meyer hat völlig Recht: Das
Rückkoppeln von dort, wo es wehtut, nach dorthin, wo militärisch geplant, wo
parlamentarisch entschieden und wo - ja: von uns! - demokratisch gewählt wird,
das funktioniert nicht effizient, zumal nicht nach Aussetzen der Wehrpflicht.
Aber warum nicht eine online für
alle Bürger greifbare Darstellung der persönlichen Geschichten derjenigen
jungen Männer und Frauen, die in den Einsätzen ihr Leben gelassen haben? Das
jeweilige Einverständnis der Familien vorausgesetzt, wäre das eingängiger als
alle abstrakten Denkmäler, die nun einmal wenig Identifikation und
Verantwortung unterstützen können. Und es wäre ein bleibender Nachruf für die,
die eine besondere Verantwortung übernommen haben.
(25) 1.6.2011
Süddeutsche Zeitung
Verteidigungspolitische Richtlinien 2011; zum Beitrag von Stephan Kornelius
"Strategie gegen das Desinteresse" (Süddeutsche v. 20.5.2011, S. 4);
Regierungserklärung zur Neuausrichtung der Bundeswehr v. 27.5.2011:
Richtig: Es wäre gut, sie käme nun
endlich, diese breite gesellschaftliche Debatte zur Außen- und
Sicherheitspolitik. Aber warum warten die Verfassungspatrioten darauf gespannt
seit fast zwei Jahrzehnten, seit UNOSOM II? Auch: seit in Belet
Uen am 22.1.1994 der erste Mensch bei einem
Auslandseinsatz einer neuen Bundeswehr erschossen worden war - ein junger
Somali namens Farah Abdullah, dem man das Neue auch nicht rechtzeitig erklärt
hatte?
1994, vor der Wahl zum 13. Deutschen
Bundestag, hieß es unter den Spitzen der Außen- und Sicherheitspolitik - etwa
bei Klaus Kinkel und Karl Lamers - man müsse die
Auslandseinsätze aus dem Wahlkampf heraushalten. Bei diesem paternalistisch-kunstvollen
Umgang mit Demokratie ist es im Grunde bis heute geblieben: Auch die
runderneuerten Verteidigungspolitischen Richtlinien hat man nun zur Mitte einer
Legislaturperiode auf die Felgen gezogen. Und ob die Debatten-Fähigkeit heute
wirklich weiter entwickelt ist, das mag man trotz oder wegen der
Klartext-Ansagen des neuen Ministers doch sehr bezweifeln: Bei seiner
Regierungserklärung am 27.5.2011 sagte de Maizière, die "internationale
Verantwortung, die wir uns zutrauen, die man uns zutraut und die man von uns erwartet"
sei "mehr, als es bisher in Deutschland bekannt und wohl auch akzeptiert
ist." Das klingt nicht wie der Aufruf zum ergebnisoffenen Diskurs, zu
einer ehrlichen Vereinbarung zwischen Regierung und Regierten, sondern wie
Frontalunterricht, wie top-down-Politik,
wie alternativlos, wie Diktat.
Das scheint mir das wirkliche
Dilemma zu sein: Die zentralen Impulse zur Neugestaltung von Militärpolitik
kommen traditionell eben waagerecht, durch meterdicke Rohre, die die Exekutiven
der Pakte und der Bündnis-Regierungen verlustarm verbinden. Dort strömen auch
die wesentlichen Ressourcen für den immerwährenden Umbau-Prozess.
Bündnisfähigkeit steht bei de Maizière im Vordergrund, und sie ist auch das
verbindende Element aller Plenardebatten zu Bundeswehreinsätzen seit 1992,
gemeinsam mit den am ehesten gruppendynamischen Kategorien Treue,
Zuverlässigkeit, Unterstützung, Opferbereitschaft.
Senkrecht - zwischen Regierung und
Bürgern - gibt es dagegen nur ein schmächtiges Leerrohr, das kaum inhaltlichen
Austausch ermöglicht, das keine Informationen zur Evaluation bisheriger
Einsätze durchlässt und in das auch wenig investiert wird. Dass nun 80
Millionen Bürger weiterhin oder erstmals mit Interesse an diesem schmalen Rohr
horchen, das steht kaum zu erwarten.
Da mag de Maizière ausgangs der
neuen Richtlinien bei den Bürgern auch noch so viel Aufgeschlossenheit und
Verständnis für das soldatische Dienen einfordern, um - wie es in der
Regierungserklärung heißt - "langfristig zeitgleich rund 10.000
Soldatinnen und Soldaten in zwei großen und mehreren kleinen Einsatzgebieten
flexibel und durchhaltefähig für Einsätze im Rahmen des internationalen
Krisenmanagements bereit stellen zu können." Ob dieser international so
genannte "level of ambition"
jemals die Ambitionen der Bürger repräsentieren wird? Und wenn nein, stellt
dieses inzwischen chronische demokratische Defizit nicht die Kern-Legitimation
eines militärischen Weltordnungsanspruchs in Frage, ebenso wie der Mangel an Rechtsstaats-gemäßer Definition der Eingriffstatbestände?
P.S.: links zu den VPR 2011 und zur
Bundestagsdebatte betr. die Regierungserklärung v. 27.5.2011 siehe unter dem
Leserbrief Nr. 23/2011
(24) 31.5.2011
DIE WELT
Neuausrichtung der Bundeswehr; Gastkommentar von Cem
Özdemir "Deutschland im Abseits", DIE WELT v. 30.5.2011
Soviel Wandel war nie: Maghreb, Fukushima und nun hört man umwälzende Töne von Alpha-GRÜNEN: Herr Özdemir macht sich Sorgen über das
Fremdschämen in der NATO und Herr Trittin will sich - in der Parlamentsdebatte zur aktuellen
Bundeswehrreform - eine weitere Ausweitung von Auslandseinsätzen geradezu
staatsmännisch vorstellen.
Stand da nicht noch eine
gesellschaftliche und rechtsstaatliche Debatte über die exakten
Einsatztatbestände aus, zuvor auch noch die Evaluation der letzten 20 militärischen
Jahre nach Nutzen und Lasten der neuen Außen- und Sicherheitspolitik? Weiß man,
wen man in Libyen auf den Schild heben würde? Sind die GRÜNEN sicher, dass sie
ein "dirty dozen"
für die reale Umsetzung vor Ort finden, dort, wo es heftig und sogar ultimativ
wehtun kann? Oder wären all das nur untergeordnete, feige "innenpolitische
Motive", die abgewogen zu haben Herr Özdemir der Kanzlerin vorhält? Die
neue Welt ist sehr verdreht. Oder ich werde zu alt.
(23) 31.5.2011
Frankfurter Allgemeine
Neuausrichtung der Bundeswehr; Regierungserklärung am 27.5.2011;„
Töten und Sterben gehören dazu“, Interview von Stephan Löwenstein mit Thomas de
Maizière, F.A.Z. 27.5.2011, S. 4
Bei der breiten Verzückung über
einen inhaltlichen Neuanfang in der Außen- und Sicherheitspolitik, die auch
große Teile der Opposition mit in den Bann zieht, kann ich nicht so freudig
mitziehen. Fangen wir denn nicht seit Jahren ständig wieder hoffnungsvoll neu
an, wenn nicht seit Jahrzehnten – bei der Aufstellung der Waffengattungen, bei
den generellen Strategien und bei den Einsatz-spezifischen Kriegslisten, bei
den Ressourcen, bei der Wehrform und bei der diskursiven Einbindung der Bürger
in und ohne Uniform? Und gibt es denn seit dem pionierhaften
Einsatz in Somalia und der hastigen Flucht i.J. 1994
ermutigende „Habe-fertig“-Erfolgsmodelle, wenn man
von kleinen überschaubaren – wenn auch nicht nachweisbar alternativlosen –
Projekten wie der Libelle-Evakuierung aus Tirana einmal absehen möchte? Außer
den zyklischen „Jetzt aber!“-Parolen ist mir wenig in
Erinnerung, was die raumgreifenden Ambitionen einer Außen- und
Sicherheitspolitik mit einem erweiterten Werkzeugkasten legitimieren oder auch
nur rechtfertigen könnte. Mir fehlt auch noch immer eine öffentlich verfügbare
Evaluation der bisherigen oder laufenden Einsätze nach Aufwand und Ertrag, nach
Kosten und Lasten. Wenn die neu aufgelegten Verteidigungspolitischen
Richtlinien nebelhaft davon sprechen, „die Einsatzerfahrungen
der letzten Jahre und die Analyse der sicherheitspolitischen Entwicklungen
führten dazu, dass wir zur Abwehr von Gefährdungen unserer Sicherheit zu Hause
sowie in geographisch entfernten Regionen die Instrumente unserer Sicherheit
verändern“ (VPR 2011, S. 2), dann reicht mir das ehrlich gesagt noch nicht.
Und überhaupt: Welche Risiken wollen
wir denn militärisch therapieren, und zwar mit Erfolgsaussicht? Die neuen
Richtlinien erinnern bei der Risikoabschätzung und Indikationenprüfung
verblüffend an die Beschwörung von Globalisierungsfolgen durch attac – wie schon
das letzte Bundeswehr-Weißbuch a.d.J 2006, dem wegen
des damals von BILD zeitgleich aufgedeckten Kabuler Schädelskandals eine
gesellschaftliche Debatte leider gänzlich versagt blieb. Es fehlt auch heute
wieder nichts, was Bürger erschrecken und Betroffenheit schaffen kann: Klima-
und Umweltkatastrophen und folgende Migration, Störung von Verkehrswegen,
Verknappung und Engpässe bei natürlichen Ressourcen und Rohstoffen, Verbreitung
von Seuchen und Epidemien, zerfallende Staaten, organisierte Kriminalität, internationaler
Terrorismus und auch der Missbrauch von Informationstechnik, von Nuklearstoffen
und von Bio- oder Nanotechnologie, die ganze Palette
(VPR 2011, S. 1ff). Nur: Betrachten wir diese Risiken genau, auch die
Destabilisierung existenter kultureller, sozialer, ökonomischer und
ökologischer Systeme, dann fällt es sehr, sehr schwer, die jeweils eigenen
Verursachungsanteile auszublenden. Dann wirkt es geradezu bombastisch, wenn
unser Verteidigungsminister sowohl in der Regierungserklärung als auch in den Richtlinien
– und das ist schon etwas Neues, jedenfalls in der darwinistischen Tonart –
ankündigt, „als Ausdruck nationalen Selbstbehauptungswillens und staatlicher
Souveränität das gesamte Spektrum nationaler Handlungsinstrumente einzusetzen“
(VPR 2011, S. 5, 10; Regierungserklärung: Plenarprot.
17/112, S. 12816 B). Wie bisher zielt der Anspruch auch auf präemtive
militärische Sicherung, auf das vorbeugende Eindämmen und Bewältigen von Krisen
und Konflikten, auf deren aktives Auf-Distanz-Halten
(VPR 2011, S. 5, 11; Plenarprot. 17/112, S. 12816 B).
Was allerdings gegenüber der bisherigen Sprachregelung fehlt, ist der Hinweis
auf einen militärischen Einsatz ausschließlich als ultima ratio. Prüfen muss man offenbar
nur noch, ob es „keine geeigneteren Mittel gibt, den
Einsatzauftrag zu erfüllen“ (Plenarprot. 17/112, S.
12816 D); das wird bei „Einsatzaufträgen“ schon begrifflich nur selten
zutreffen. Auch begünstigt das Prüfungsschema, nach dem nun immer ausdrücklich
auch die Folgen des Nichtstuns zu prüfen und zu begründen sind (s. VPR 2011, S.
5) so etwas wie eine Vermutung: Im Zweifel eingreifen, Sicherheits- und
Interessenhalber!
Mit welcher Präzision und
Erfolgswahrscheinlichkeit aber kann man militärische Werkzeuge anwenden? Dem
Zufall geschuldet war: Phoenix, das auch die Parlamentsdebatten überträgt,
sendete am Tag nach der Regierungserklärung die sehr erleuchtende Dokumentation
„The Fog of War“.
In diesem Film von Errol Morris a.d.J. 2003 fasst der
85jährige Robert S. McNamara seine Folgerungen aus dem Miterleben und aktiven
Mitgestalten im Zweiten Weltkrieg, in der Kuba-Krise und bei der Eskalation des
Vietnam-Krieges zusammen. McNamara beschreibt eindringlich – und dies verlieh
dem mehrfach preisgekrönten Film seinen Titel – das Unvermögen, die nebelhafte Komplexität
eines bewaffneten Konfliktes zu durchdringen, trotz intensiver Aufklärung,
professioneller Datensammlung und flexibler Planung. McNamaras Kernbotschaft
ist eine Passage aus T. S. Eliots während des Zweiten Weltkriegs verfasstem
Gedicht „Little Gidding“:
We shall not cease from
exploration.
And the end
of all our exploring
Will be to arrive where we started
And know the place for the first time.
Thomas de Maizière mahnt die
gesellschaftliche Debatte des Bundeswehrauftrags an. McNamaras Hinweis im Kopf
möchte ich ihn aber vor der Überzeugung warnen, katastrophale und im Falle von
Tötung und Verwundung auch nicht revisible
Fehleinschätzungen künftig professioneller vermeiden zu können. Als
Verfassungspatriot möchte ich mich auch nicht mit Leerformeln nach der Art
zufrieden geben, „jedes Ministerium, das für Sicherheit zuständig ist,“ müsse
„mit Unsicherheiten umgehen.“ (F.A.Z. 27.5.2011, S. 4), sondern möchte die
konkreten Gründe militärischen Eingreifens nachvollziehbar festgelegt wissen,
mit den Mitteln des Rechtsstaats, nach dem ersten Abschnitt unseres mit viel
Blut erkauften Grundgesetzes, durch ein Gesetz oder durch die Verfassung
selbst. Dabei könnte man den Einsatz von in Grundrechte eingreifenden
Machtmitteln des Staates bei konkreter und massiver Gefährdung von
Menschenrechten i.S.d. Statuts des Internationalen
Strafgerichtshofes zulassen, also etwa bei unmittelbar drohendem oder bereits
anhaltenden Genozid, und könnte auch dann einen Einsatz weiterhin von einer
ergänzenden konstitutiven Zustimmung des Parlaments abhängig machen. Niemals
aber darf man mit Generalklauseln in Grundrechte eingreifen. Die
gesellschaftliche Debatte über die Außen- und Sicherheitspolitik darf auch
nicht von vornherein durch die folgende Einschätzung de Maizières geprägt und
begrenzt sein: „Es sollte (ebenso) selbstverständlich sein, dass wir in den
internationalen Organisationen (…) die internationale Verantwortung übernehmen,
die wir uns zutrauen, die man uns zutraut und die man von uns erwartet. Das ist
mehr, als es in Deutschland bisher bekannt und wohl auch akzeptiert ist“ (Plenarprot. 17/112, S. 12816 B). Gruppendynamik in Pakten
ist die eine Sache. Aber eine rechtsstaatlich eingehegte Exekutive, deren
Handeln vorhersehbar und überprüfbar ist, ist ein höherwertiges und im Zweifel
auch Konflikt-mindendes Ziel.
Was die gesellschaftliche Debatte
betrifft – das wäre wirklich ein völliges Novum, und zwar ein seit 18 Jahren
überfälliges. Diese Debatte ist auch keine Holschuld des Volkes. Aber jeder
kann und sollte diesen Prozess fordern und fördern. Ich hoffe, die
Verfassungspatrioten sind noch nicht in der Minderheit und diskutieren
nachhaltig mit.
P.S.: Quellen:
Prot. der Plenarsitzung 17/112 am
27.5.2011 = Debatte zur Regierungserklärung http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/17/17112.pdf
Verteidigungspolitische Richtlinien
v. 18.5.2011: http://www.vo2s.de/mi_vpr-2011.pdf
Zum Zitat von Robert Strange McNamara
aus dem Dokumentarfilm „The Fog of War. Eleven Lessons from the Life of
Robert S. McNamara“ (Regie und Interview v. Errol
Morris, 2003) http://en.wikipedia.org/wiki/The_Fog_of_War
(Film); http://en.wikiquote.org/wiki/Robert_McNamara
(Auszug mit Zitat); http://www.tristan.icom43.net/quartets/gidding.html
(T. S. Eliots „Little
Gidding“)
(22)
16.5.2011
New scientist
There
is a story commonly told about the course of events at
Another
disturbing fact: While the
P.S.
With respect to the illustration on page 9:
There may have been a small amount of reduction of water by fission, but the
main source for the creation of hydrogen is the oxidation of the zirconium
surface of the fuel rods if exposed to outstanding temperatures. In the absence
of oxygen there is no special risk of explosion inside the reactor vessel,
which usually has for security reasons - if not damaged - an inert nitrogen
atmosphere. Therefore the problem most of the times does not arise until the
hydrogen is vented into the common atmosphere and out there it finds its
preferential reacting agent.
Reference concerning the earthquake / tsunami of
1896, cited above:
http://en.wikipedia.org/wiki/
(21) 16.5.2011
Financial Times Deutschland
Griechenland-Krise; "Falscher Ansatz" (FTD 12.3.2011, S. 25)
Der falsche Ansatz reicht im Grunde
viele Jahrzehnte zurück - und die Meldung auf S. 4 der gleichen Ausgabe
("Krauss-Maffei verliert ein Viertel seines Umsatzes / Panzerhersteller
leidet unter Griechenlandgeschäft") zeigt die seltsame Physik dieser
Wirtschaftsunion: Griechenland war ein blendender Export-Markt, auch für
strukturpolitisch absolut sinnfreie Güter. Seine eigenen produktiven Stärken
waren dagegen kaum Ziel oder gar Erfolg der Europapolitik.
Gerade dieses langjährige Defizit
kann man einem Fliegengewicht nicht mal schnell abtrainieren, zumal nicht unter
strenger Diät. Die Wiege Europas verdient mehr Empathie und sie braucht
nachhaltige Chancen für die eigene Ertragskraft.
(20) 10.5.2011
Kölner Stadt-Anzeiger
Ford-Geschichte; Friedemann Siering "Ford baut
seit 80 Jahren Autos in Köln" (Kölner Stadt-Anzeiger 6.5.2011, S. 11)
Aus meiner Sicht bedarf die deutsche
Ford-Geschichte einer Ergänzung, und sie beginnt in den frühen Zwanzigern: Von
1920 bis 1922 gibt Henry Ford in vier Bänden eine offen antisemitische Schrift
heraus. "The International Jew"
wird, neben der Ford'schen Sozialpolitik, zur Bibel der aufstrebenden jungen
Nazis; Reichsjugendführer Baldur von Schirach hat das
in den Nürnberger Prozessen plastisch beschrieben. Die "Protokolle der
Weisen von Zion", sie zählten zu den giftigsten Verschwörungsmythen der
Nazis, waren just aus Fords Pamphlet entlehnt; Hitlers amerikanische Ausgabe
von "Mein Kampf" zitiert Ford dann auch dankbar. 1938 bietet die
nationalsozialistische Führung Henry Ford ihren höchsten Auslandsorden an, und
Ford nimmt ihn - wie auch Charles Lindbergh um die gleiche Zeit - an. Dann
bricht der Krieg aus und ab 1942 versinkt die Kölner Innenstadt in glühendem
Schutt - die gut zu ortenden Fordwerke bekommen etwa beim 1000-Bomber-Angriff
keinen Schrammer ab und werden auch bei den mehr als
30 weiteren schweren Angriffen höchst minimal getroffen. Für einen
nennenswerten Produktionsausfall reicht es nie.
Dass Fords Lastwagen für Hitler in
den Krieg ziehen "mussten", das ist eher eine fromme Deutung heutiger
Pressearbeit. Diese LKWs hatten auch schon zum Rückgrat des deutschen
Einmarschs in das Sudetenland gehört.
Insgesamt: Es gab einen sehr
einflussreichen Teil der amerikanischen Elite - auch Joseph Kennedy gehörte
dazu - der viel zu spät bemerkte, dass sie aufs falsche Pferd gesetzt hatten.
Wie später bei Stalin, Reza Pahlewi, Saddam Hussein
und Osama Bin Laden, um nur einige zu nennen. Das Spiel mit Außen- und
Sicherheitspolitik ist auch als "Great Game"
bekannt und es geht viel zu häufig schief.
P.S.:
Zum von Henry Ford zwischen 1920 u.1922 herausgegebenen
antisemitischen Pamphlet „The International Jew“ und dem Einfluss auf die frühe Nazi-Bewegung: http://de.wikipedia.org/wiki/
Zum (mehr als) 1000-Bomber-Angriff: http://de.wikipedia.org/wiki/
(19) 6.5.2011
Frankfurter Allgemeine
Berichterstattung zum Tode Bin Ladens, insbesondere Leitartikel von Berthold
Kohler, "Zu Gericht" (F.A.Z. v. 5.5.2011, S. 1)
Seien wir nüchtern: Die unversehrte
Gefangennahme eines Bin Laden und ein folgender zeitraubender Prozess waren
selbst für einen erklärten Rechtsstaat von Anfang an der extrem
unwahrscheinliche, weil risikobelastete Fall. Es heißt in solchen Fällen "Dead or alive!" und genau in dieser Reihenfolge kam es
auch bei Obama. Die Ironie: Seit mehr als 100 Jahren
wird Deutschland von Zitaten aus Wilhelms so genannter Hunnenrede v. 27. Juli
1900 heimgesucht: "Pardon wird nicht gegeben. Gefangene werden nicht
gemacht." Willkommen im Team, Barack, darf man
getrost sagen.
Und man muss sich Gedanken machen,
wie der Westen fern von allen manichäischen
Verlockungen - die gerade in Demokratien iterativ zur Wahl stehen - , zu einer
verlässlichen Kohabitation mit dem Islam kommen kann, auf gleicher moralischer
Augenhöhe. Regime change,
state engineering,
eine spezifische Interpretation von human
rights oder das klammheimliche Fördern von insurgency - wie
im Falle der afghanischen Mujaheddin - gehören mit tödlicher Sicherheit nicht
dazu. Außen- und Sicherheitspolitik ist nichts für Spieler. Sie braucht
Transparenz und Vertrauen.
P.S.
Zur "Hunnenrede": http://de.wikipedia.org/wiki/
Zu den Mudschaheddin: http://de.wikipedia.org/wiki/
(18) 9.4.2011
Kölner Stadt-Anzeiger
Jugendarbeitslosigkeit; Kommentar von
Günther M. Wiedemann zur Situation des berufsbildenden
Systems ("Nur Stückwerk", KStAnz 7.4.2011,
S. 4):
Nach dem Kommentar - und diese
konkrete Aussage war dort auch typographisch nochmals herausgehoben - habe sich
die Hälfte der jungen Männer und Frauen im Alter zwischen 25 und 29 Jahren vom
Arbeitsmarkt zurückgezogen. Richtig: Deutschland steht bei dieser Altersgruppe
schlechter da als die allermeisten der von der OECD i.J.
2010 verglichenen Industrieländer, nämlich mit 17% Arbeits- und
Ausbildungslosigkeit. Das ist schon bildungs- und arbeitsmarktpolitischer
Handlungsanlass genug und passt nicht recht zu den gerade eilfertig
eingebrachten Vorschlägen, die Menschen im Lebensverlauf länger arbeiten zu
lassen - also: jünger beginnen, mehr arbeiten, älter aufhören.
Aber die alarmierenden Zahlen sind
nicht ganz korrekt zitiert: Es ist die Hälfte des Anteils der Arbeits- und
Ausbildungslosen, dann ca. 9% der gesamten Altersgruppe, die bereits jede Hoffnung
auf eine Arbeitstätigkeit oder auf eine dorthin führende Qualifikation
aufgegeben haben, nicht etwa 50%. Aber wie gesagt, auch 9% Hoffnungslose sind
schlimm genug und auch vom verbleibenden Teil schlagen sich viel zu viele
schlecht und recht durch, etwa in laufend wieder unterbrochenen prekären
Beschäftigungsverhältnissen. Und: Das führt auch nicht zu Kindersegen.
P.S.:
Vgl. Bertelsmann-Studie "Erwerbstätigkeit im Lebenszyklus",
vorgestellt am 29.3.2011, unter folgendem Link:
http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-193870E8-4C1BB175/bst/hs.xsl/nachrichten_105884.htm
(17) 6.4.2011
DIE WELT, abgedruckt 9.4.2011
ungleicher Wehrbeitrag von West und Ost; Michael Wolffsohn u. Maximilian Beenisch: "Das Militär verostet"
(DIE WELT v. 5.4.2011, S. 2):
Richtig, am Hindukusch verteidigt,
wenn man es pointiert sagt, die Jugend Mecklenburg-Vorpommerns die Interessen
der Landeskinder Baden-Württembergs. Ihr Wehrbeitrag war z.B. 2002 um den
Faktor 10 größer! Die breite Koalition für das "Aus" der Wehrpflicht
hatte genau das verdrängt: Ihr Projekt ist wie Verleitung zur Prostitution -
Vater Staat bietet Arbeit und/oder Bildung gegen das Risiko von ernster
Verletzung oder Tod. Dabei drängen sich die Bürgerinnen und Bürger der neuen
Bundesländer nicht einmal; sie bewerten Auslandseinsätze deutlich kritischer
als ihre Vettern und Cousinen im Westen, sehen allerdings häufig keine Alternative.
Als erstes aber müssen wir
überprüfen, was am Einsatz auswärtiger Gewalt in den letzten zwei Jahrzehnten
ein international akzeptables Erfolgsmodell wurde und was zudem Lebensfragen
des Gemeinwesens konkret gefördert hat. Viel mehr als der dringende Wunsch,
unter Freunden nicht im Abseits zu stehen, wird bei einer systematischen
Prüfung kaum heraus zu präparieren sein.
P.S.: Auswertung von Zahlen des SOWI
aus dem Jahre 2002 (Relation Arbeitslosigkeit / Wehrbeitrag der Bundesländer): http://www.vo2s.de/mi_selekt.htm
(16)
24.3.2011
TIME
Possibly
there's one more crucial lesson to be learned, for most power stations: In
spite of their much criticised location the Diesel generators seem to have been
bravely operational for some additional 40 minutes after the tsunami impact.
The first hand problem may therefore have been the huge amount of sludge and
sand the ground wave of a tsunami is propelling - you may remember the scary
dark paint rapidly spilling over the land in the first videos. Within seconds
this must have almost suffocated the interface desperately needed not only for
cooling the fuel rods inside the vessel, but also the Diesels and even the
especially heat-stressed circulation pumps. That cooling interface seems not to
have been redundant and there was no easy way of a shortcut.
Similar
problems with the seawater intake are said to have arisen with the 2004 Sumatra
tsunami at the Kalpakkam reactor near the Indian city
of
(15)
24.3.2011
Newsweek
World energy;
Bjoern Lomborg
"Done with the Wind (Newsweek March 21, 2011, p. 26)
It's near to a belief, human ingenuity could or would soon solve our planet's
energy problems. Simple truth is, our species is consuming fossil resources a
million times faster than they were deposited some 100 million years ago. Yes -
advanced exploration and extraction technologies will give us some additional
years. Which means give it to the West. But powerful extraction at the same
time speeds up environmental stress and energy consume. Turn it over and over
again - energy transformation stays metabolic and has natural waste products,
if it shall stay efficient. If you want to have more energy you will have to
save it.
Rosemary
Righter "Right to Protect" (Newsweek March 21, 2011, p. 14)
The strangest argument for R2P is currently being discussed in
(14) 23.3.2011
Kölner Stadt-Anzeiger
Libyen-Mission von Frankreich, Großbritannien und der USA; Ulrich Weisser: "Diplomatische Katastrophe" (KStA 22.3.2011, S. 4)
Der Autor fällt in den Chor der
vielen ein, die unsere Regierung der Dummheit, Feigheit und Unmännlichkeit
zeihen, der fehlenden Loyalität und Solidarität mit Bündnispartnern, auf die
man dann künftig in Krisenlagen nicht mehr rechnen könne - von einem ständigen
Sitz im Sicherheitsrat ganz zu schweigen. Sieht man genauer auf die
fadenscheinige Libyen-Mission, für deren Unterstützung hier lautstark geworben
wird, wird man aber erkennen: Folgsamkeit wird gefordert oder die Loyalität in
einer Straßengang, aber nichts, was mit traditioneller und nachhaltiger Außen-
und Sicherheitspolitik zu tun hätte. Hatte nicht Sarkozy
nach der unrühmlichen Rolle Frankreichs im Falle Tunesiens ein sehr transparent
egoistisches Motiv? Ich meine nicht einmal die eindrucksvolle Werbung für
französische Rüstungsprodukte. Wissen wir, wer vom libyschen Volk wo hinter wem
steht? Es wird Menschen auf beiden Seiten geben. Wollen und können wir Schäden
der lebenswichtigen Infrastruktur bzw. unschuldige Opfer vermeiden? Sind wir
der Unterstützung der wesentlichen arabischen Staaten denn auf Dauer sicher? Qatar zählt wohl nicht zu diesen Schwergewichten. Haben wir
einen auch noch so marginalen Plan für den Tag nach dem Krieg? Wie ist die Exit-Strategie, wenn's nicht läuft wie erwartet? Haben wir
aus den unsäglich zähen Einsätzen im Irak und in Afghanistan nur ein wenig
gelernt?
Weisser selbst spricht zutreffend von einer
spontanen Kehrtwendung der USA. Als Chefstratege der Bundeswehr hat er eine
solche Kehrtwendung schon 1993/94 in Somalia mitgemacht - damals aber eine
Wende aus der UNOSOM-Mission heraus. Deutschland
musste es mit der Evakuierungsoperation Southern Cross völlig außer Atem
nachvollziehen. Ist denn unsere primäre Konditionierung: Richte Dich immer brav
nach dem Kerl mit dem größten Knüppel? Wäre es nicht ein Beweis von Reife und
Freiheit - die wir ja ausdrücklich mit Waffen in die Welt tragen sollen - wenn
wir selbst bestimmen, was als völkerrechtliche Regel gelten soll: Der
fundamentale UN-Grundsatz staatlicher Souveränität und Nichteinmischung oder
die nach allen Erfahrungen leicht manipulierbare militärische Unterstützung für
sympathietragende Freiheitskämpfer, etwa von der Art
eines Hashim Thaci? Im
letzteren Fall: Müssten wir nicht konsequenterweise den Nordiren gegen Gordon
Brown robust zur Seite zu stehen, im Grunde ja allen Autonomie-Bewegungen wie
denen in Spanien, Belgien und - Herzensfrage! - Südtirol? Bei historischer
Perspektive gehören sogar Danzig und das Sudetenland hierher.
Nein, Frau Merkel hat völlig Recht,
mit welchen kollateralen Motiven auch immer. Und sie
bräuchte nach meinem Geschmack nicht einmal Kompensation in Gestalt eines
intensiveren Afghanistan-Engagements anzubieten.
P.S.: zum Verlauf und Ende von
UNOSOM II
http://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_von_Mogadischu
http://de.wikipedia.org/wiki/Deutscher_Unterst%C3%BCtzungsverband_Somalia
(13) 22.3.2011
Focus, abgedruckt 28.3.2011
Reaktor-Katastrophe in Fukushima; Michael Miersch ("Angst essen Seele auf", Focus 12/2011,
S. 60 f) und Ortwin Renn ("Der importierte GAU", aaO
S. 62 f):
Rationaler Optimismus ist ein guter
Vorsatz. Optimismus, der Technik-Idyllen wie auch Vor-Steinzeit-Idyllen meidet
und die historisch und global verfügbaren Informationen intelligent nutzt. Da
könnte es hier Probleme gegeben haben und daraus können auch wir exemplarisch
lernen, mag ein Tsunami auch kein für uns planungsrelevantes
Problem werden.
Erstens: Der 2011er Tsunami war nicht einmal ein Jahrtausendereignis, sondern
zur relevanten Planungs- und Errichtungszeit des Kraftwerkparks Fukushima Daiichi war es ein
lokales Jahrhundertereignis: Das Meji-Sanriku-Erdbeben
vom 15.6.1896 hatte im Nordosten Japans eine mindestens ebenso gewaltige Welle
erzeugt und sogar die etwa gleiche Größenordnung von Todesopfern gefordert. Der
Kraftwerkpark wurde darauf nicht ausgelegt.
Zweitens: Beim großen Sumatra-Erdbeben am 26.12.2004 bekam das AKW Kalpakkam nahe dem indischen Madras
Probleme, weil der Tsunami die für Kühlung und
Notkühlung existenzielle Schnittstelle zum Meer mit Sedimenten teils zugeworfen
hatte. Was in Kalpakkam gerade noch glimpflich
ausging, mag in Fukushima primäres Problem geworden
sein: Von dem nicht redundanten Seewassereinlass ist nicht nur die Kühlung des
Reaktor-Kreislaufs abhängig, sondern auch die Kühlung der Generatoren und sogar
der Pumpen - die ja auch nach Anbranden der Scheitelwelle noch eine gewisse Zeit
durchgehalten hatten.
Das Schlimme aber ist: In der sich
überschlagenden Katastrophensemantik unserer Tage fühlen sich die Abertausenden
der medial aufgepeitschten Zaungäste nun fast um "ihren" ultimativen Super-GAU betrogen und wenden sich frustriert gleich wieder
neuen Rückenschauern zu, etwa aus dem Maghreb. Eine breite gesellschaftliche
Debatte darüber, wer welchen Nutzen aus spezifischen Technologien ziehen kann
und - das mag ja weit auseinanderfallen - wer welche Lasten tragen soll, ist so
kaum zu organisieren. Genau das aber würde den Kern eines demokratischen Risiko-Assessments bilden. So bleibt es bei einem reichlich
zufälligen Muster genutzter oder nicht genutzter Techniken, das am ehesten voluntative Züge trägt, seltener rationale, und das sich irgendwie
flickschusternd mit Katastrophen arrangiert.
(12) 22.3.2011
DER SPIEGEL
Fukushima / Libyen
Philip Bethge
et al. zu Fukushima: "Der Stromausfall"
(SPIEGEL 12/2011 v. 21.3.2011, S. 88 ff)
Der Ablauf könnte etwas vom Titel "Stromausfall" abweichen und näher
an einer Fast-Katastrophe im indischen Reaktor Kalpakkam
nahe Madras am 26.12.2004 liegen, nach dem Sumatra-Tsunami. In Fukushima Daiichi könnte der Tsunami in
wenigen Sekunden die Schnittstelle zum Meer zugeschlämmt haben und sowohl das
Kühlwasser für den Reaktor selbst als auch die vorgesehene Kühlung für die
Dieselgeneratoren und die Pumpen zeitweilig abgeschnitten, zumindest aber
eingeschränkt haben. Darauf deutet auch, dass die Generatoren zunächst
erwartungsgemäß angelaufen waren und sogar noch für ca. 40 Minuten nach
Aufprall der Scheitelwelle aktiv waren. Das primäre Problem war dann
möglicherweise - ähnlich wie in Madras - die fehlende
Redundanz des Einlassbauwerks. Madras hatte mehr
Vorwarnzeit. Glück gehabt. Und Fukushima hatte aus Madras vielleicht zu wenig gelernt.
Benjamin Bidder
et al. zum Eingreifen in Libyen: "Die letzte Kugel" (SPIEGEL 12/2011
v. 21.3.2011, S. 106 ff)
Was ist so neu? Die Gang ist wieder auf der Straße. Sarkozy
erigiert Mirages - wie weiland Clinton seine F 14. Während die deutsche Führung
global der Unmännlichkeit geziehen wird, dennoch klug die Hosen hoch hält und
Tribut verspricht. Aber noch besser den drei Kerlen eine lange Nase machen
würde.
(11) 21.3.2011
Die Welt
Intervention in Libyen; Sascha Lehnartz: "Diplomatischer
Totalschaden" (WELT v. 21.3., S. 3)
Würden tatsächlich deutsche
Interessen in Nordafrika verteidigt? Ohne irgendeine auch nur mittelbare
militärische Bedrohung Deutschlands? Ohne einen drohenden Genozid? Wissen wir,
ob mehr Libyer Muhammad Gaddafi abschütteln wollen als Nordiren den Briten
Gordon Brown? Hatte Nicolas Sarkozy nicht ein sehr
individuelles Motiv für seine Initiative? Hat irgendjemand irgendeinen
meinetwegen auch nur skizzenhaften Plan für den Tag danach?
Das Verwirrende ist doch: Ghaddafi
mag uns als verrückter Hund erscheinen. Tatsächlich aber ist Ghaddafis Libyen -
insoweit völlig vergleichbar dem Irak Saddam Husseins - ein
überdurchschnittlich westlich ausgerichtetes arabisches Land, viel westlicher
noch als Saudi Arabien, etwa hinsichtlich der Stellung der Frau in Gesellschaft
und Öffentlichkeit. Ähnlichkeit provoziert offenbar mehr Aggression als starke
Unterschiede. Und zur Verteidigung der Kanzlerin: Mitlaufen ist nicht die
vorteilhafteste deutsche Eigenschaft.
(10) 18.3.2011
Frankfurter Allgemeine
Störfall in Fukushima Daiichi;
Jürgen Kaube "Die Wiederkehr des
Verdrängten" (F.A.Z. v. 17.3.2011, S. 1)
Energische Zustimmung, lieber Herr Kaube: Berechenbare Energie und das für eine lebenswerte
Existenz notwendige Maß werden die entscheidenden Fragen. Und die wohl
alternativlose Antwort ist die Energieeinsparung und ein zum Verbraucher
unmittelbar rückgekoppelter Aufwand, damit ein kleinmaschiges System lokaler
und ggfs. individueller Energieumwandlung. Das setzt
allerdings eine sehr grundsätzliche Neudefinition angestammter
Staatsaufgaben voraus - etwa den Verzicht auf technokratische Großvorhaben wie
Energiezentralen, Netze, globale Transportwege, auf deren auch militärische
Sicherung. Die globalen Siedlungs- und Verkehrsmuster könnten sich wieder einer
vorindustriellen Struktur annähern.
Kleinmaschig sein darf allerdings
nicht die Politik, wenn nachhaltige Sicherheit wachsen soll. Dabei kann das
kollektive Trauma der Katastrophe helfen, die unabhängig vom Ausgang jedem
einen Blick in die Hölle fehlgesteuerter Energie aufzwingt und die eine
einfache mitmenschliche Solidarität erzeugt.
(9) 18.3.2011
Süddeutsche Zeitung
Störfall in Fukushima Daiichi;
Jens-Christian Rabe: "Auf verlorenem Posten" (Süddeutsche v.
17.3.2011, S. 11)
Das befohlene Opfer passt nicht
recht zum Selbstbild der liberalen Demokratie, ja schon nicht zu Kants
kategorischem Imperativ oder zur "golden rule",
die das Innere des New Yorker UN-Gebäudes ziert, bzw. zur altüberlieferten
Spruchweisheit "Was du nicht willst, das man dir tu..." – alles
Ableitungen aus dem Gleichheitssatz.
Aber Selbstbild und Fremdbild fallen
ja schon einmal weit auseinander. Es geht uns heute bedenkenlos über die Lippen
und schnurrt ebenso mehrheitsfähig durchs Parlament, riskante Konflikte von
Freiwilligen austragen zu lassen, dabei listig die gesellschaftlichen
Potenzialunterschiede wie ökonomische Not oder Bildungsarmut zu nutzen.
Konflikte zumal, die für die neuen Soldaten – anders als derzeit die in Japan
massiv drohenden Kontamination – nicht einmal Schicksalsfragen der Nation
betreffen müssen, sondern eher der Gruppendynamik von Pakten geschuldet sind.
In der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage bekannte die Bundesregierung
gerade frank und frei, die Primärzielgruppen der aktuellen Werbekampagne der
Bundeswehr seien junge Frauen und Männer mit und ohne Hauptschulabschluss. Auch
die tapferen Fünfzig in Fukushima Daiichi
rechnen nach allem, was man weiß, nicht zur Elite von Technik und Bildung - sie
gehören eher zu den Ärmeren und teils Alternativlosen.
Noch einmal leichteren Herzens
disponieren wir über die irreversiblen Verluste von Fremden, selbst über deren
zivile Opfer an Alten und Kindern. Von einer amerikanischen Außenministerin ist
diese kühle Antwort auf die Frage nach den Hunderttausenden an Opfern des
früheren Irak-Embargos bekannt: "We think the price
was worth it." Soweit zur realen Existenz der
Werte der Aufklärung.
P.S.: Quellen
zu Abs. 1 / golden rule: http://www.unmultimedia.org/s/photo/detail/313/0031379.html
;
zu Abs. 2 / Bundeswehr-Rekrutierungsstrategie für Freiwillige: http://www.berlinerumschau.com/news.php?id=12813&title=Werbekampagne+f%FCr+Bundeswehr-Freiwillige+st%F6%DFt+auf+Kritik&storyid=1300342000475
zu Abs. 3 / Albright-Zitat: http://en.wikipedia.org/wiki/Madeleine_Albright
(8) 18.3.2011
DIE ZEIT, abgedruckt 24.3.2011
Störfall in Fukushima Daiichi
(Bernd Ulrich "Japans Lehre für die Welt" und Fritz Vorholz „Schluss,
aus“ (DIE ZEIT Nr. 12 v. 17.3.2011, S. 1
u. 17)
Richtig, das Pokern macht keinen
Sinn mehr und die Lebensstile müssen sich ändern, hier wie anderswo. Aber
gelingt es, eine Technologie global kollektiv zu verlernen? Nun, manchmal geht
Technologie verschütt, einfach so. Schon etwa zehn Jahre nach der letzten
Apollo-Mission hätten die USA eine Mondrakete wie die Saturm
Vb schlicht nicht mehr bauen können - keine
kompetenten Ingenieure, keine spezialisierten Firmen, keine lesbaren Pläne
dafür.
Das Entsprechende brauchen wir jetzt
bei der zivilen Kernkraft: Abschalten, entsorgen und vergessen. "Wir
müssen unser Wissen zurücknehmen!" hatte in komischer Verzweiflung
Dürrenmatts Physiker mit der Albert-Einstein-Anmutung ausgestoßen. Und das geht
sogar, wenn man will. Komplexes technologisches Wissen folgt keinem Zeitpfeil,
sondern ist Funktion eines aktuellen gesellschaftlichen und politischen
Bedarfs. Zugegeben: Es braucht auch noch Spitzendiplomaten. Denn wie beim
"bösen" Bomben-Atom schafft auch hier erst eine weltweite Abrüstung
und Konversion bleibende Sicherheit. Dann müsste sich der richtige Einstein
aber auch nicht mehr im Grabe herumdrehen.
P.S. Quelle zum ersten Absatz:
Nach der Challenger-Katastrophe am 28.1.1986 wurde auch die Option erwogen, die
sehr zuverlässige Saturn Vb nachzubauen, die
letztmals bei der Mission Apollo 17 am 7.12.1972 eingesetzt worden war;
tatsächlich aber wäre bereits eine völlige Neukonstruktion erforderlich
gewesen, s. „Müllhalden des Wissens“, GEO WISSEN „Kommunikation“ v. 6.11.1989,
S. 117f (117)
(7) 4.3.2011
DIE ZEIT
Rücktritt eines jungen Verteidigungsministers, DIE ZEIT 10/2011 v. 3.3.2011, S.
1 - 5, 12, speziell Marc Brost et al. "Eine
spaltende Persönlichkeit", S. 2
Man könnte sich fragen: Aus welchem
Stoff sind Lichtgestalten gemacht? Und, wenn sie denn gemacht werden können:
Warum gelingt das nicht viel häufiger? Eigentlich fragen muss man sich aber
doch: Wieso bloß debattiert die Republik - und die Wissenschaftsgemeinde
einschließlich der Verfassungskundler inmitten - so intensiv und erregt den
Prozess einer Dissertation und deren Spätfolgen, schweigt aber mehrheitlich zu
der revolutionären Neudefinition der Wehrverfassung, die uns ohne ernstzunehmenden
gesellschaftlichen Diskurs seit 1993 an Hunderten, wenn nicht Tausenden von
gewaltsamen zivilen Todesfällen in fernen Kriegen hat beteiligt sein lassen -
was die Begriffe "Bundeswehr" und "Verteidigungsminister"
lange als arge Euphemismen erscheinen lässt?
In den Nach-Rücktritt-Ausgaben etwa
von BILD, F.A.Z., Süddeutscher und ZEIT waren fast durchgehend die einleitenden
vier Vollseiten dem ersten Thema - der Personalie -
gewidmet, dagegen nur wenige Zeilen, wenn überhaupt, dem zweiten - der nach wie
vor offenen Sachfrage, der Aufgabenbestimmung. Es ist wohl die verlässliche
Liebe zum Szenischen, die Sehnsucht nach einem gepflegten Populismus, nach
einem göttlich-jungfräulichen Helden, noch dazu "of independent means", der in platonischer Unparteilichkeit eine
unverständliche, streitsüchtige Welt zum Besten ordnen wird. Darin liegt das
bleibende Dilemma der Demokratie: In der Form, die elegant die Inhalte
überstrahlt. Und das Dilemma des Karl-Theodor zu Guttenberg, der i.J. 2011 ein noch viel zu junger Held war, um die
Dramaturgie und Choreographie abzuschätzen.
(6) 3.3.2011
Süddeutsche Zeitung
Rücktritt des Verteidigungsministers (Süddeutsche v. 2.3.2011 S. 1 - 4,
insbesondere S. 11) der beigefügte Leserbrief:
Natürlich weiß ich, dass ich
Zitiergebote in Ehren halten muss, will ich als Bildungsbürger gelten. Aber
will ich das eigentlich? Oder stört mich dies nicht maßlos: Die nahezu gesamte
Elite der Staatsrechtswissenschaft - bildungsbürgerlich ausnahmslos
herausragend formatiert - forscht seit 20 Jahren elegant an der einschneidenden
und dynamisch fortschneidenden Umgestaltung unserer
Wehrverfassung vorbei. Sie nimmt es als realpolitisch alternativlos hin, dass
Deutschland heute an Kriegen mit Abertausenden von zivilen Toten teilnimmt,
ohne jeden Federstrich des Verfassungsgebers, ohne Kriegserklärungen, ohne
gesellschaftliche Debatte des Ob, Wie oder Wielange,
ohne realistische Justiziabilität der 1994 in einem
kleinen Richterberatungszimmer erfundenen "konstitutiven
Parlamentsbeschlüsse", ohne Verteidigung ebenso identitätsbildender
wie konfliktdämpfender Institutionen wie die der
Wehrpflicht. Diese Staatsrechtswissenschaft nimmt nicht Notiz noch Zitat davon,
wie die Termini "Bundeswehr" und "Verteidigungsminister"
Schrittchen für Schrittchen zu sinnentleerten Euphemismen für eigentliche
"Expeditionskorps" und "Einsatzbefehlshaber" mutierten -
Sprache im Tarnfleck.
Sind - bei allem Respekt - des
Verteidigungsministers selbstgewählte
Marscherleichterungen beim Promovieren neben so viel Ausblenden, Verdrängen und
Verbrämen nicht die reinsten Erdnüsse? Ist denn nicht das der eigentliche und
der viel weiter reichende Skandal, was in schönster Form unterlassen wurde?
(5) 2.3.2011
Frankfurter Allgemeine
Rücktritt von K. T. zu Guttenberg (F.A.Z. v. 2.3.2011, S. 1 - 3, 29, N3)
Man kann zwei Wendungen
zusammenziehen, um das eigentliche Versäumnis zu Guttenbergs zu fassen, und
dies vereint den zurückgetretenen Verteidigungsminister sogar mit der großen
Mehrheit der Staatsrechtswissenschaft und mit seinen Amtsvorgängern aus den
letzten zwei Jahrzehnten:
"E pluribus unum"
vom Beginn der Guttenberg'schen Dissertation steht für die Faszination des
größeren und damit leistungsfähigeren Verbandes, für das heute so verbreitet
geschätzte "big is beautiful". Es steht damit auch für die
Bündnisfähigkeit, das immer wiederkehrende Argument der iterativen
Einsatzdebatten im Bundestag. Dagegen zeigt der Hinweis auf den Tod von
Soldaten in Afghanistan aus seiner letzten Rede auf das konkrete Risiko für den
Einzelnen, der an der Entfaltung konzentrierter und projizierter Macht
teilnimmt.
Eine ernstzunehmende
gesellschaftliche Debatte um die konkreten Ziele und den erweisbaren
Nutzen der heutigen Bundeswehr zu organisieren und sodann die Rechte der
Soldaten - und die Rechte der Bürger in den Einsatzgebieten - rechtsstaatlich
eindeutig zu schützen, damit den identitätsprägenden
ersten Abschnitt des Grundgesetzes auch für den heutigen Einsatz auswärtiger
Gewalt beim Wort zu nehmen, das wäre die Aufgabe eines verantwortungsvollen
Staatsrechtlers auf dem Stuhl des Ministers der Verteidigung gewesen. Diesen
ebenso kritischen wie verfassungspatriotischen Anspruch sollten wir dann auch
ausdrücklich in das Pflichtenheft eines Nachfolgers aufnehmen.
Insoweit ist das Haus noch nicht zum
Besten bestellt, war es aber auch bei allen Amtsantritten
nach 1990 nicht. Zugegebenermaßen fällt Juristen und Soldaten gerade das sehr
schwer: Sich aus staats- oder bündnistragenden
Zusammenhängen herauszudenken und die Grundrechte anderer wirkungsvoll gegen
höchsteigenes Handeln zu schützen. Gerade aber wenn man die Verbreitung von
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und den Schutz fundamentaler Rechte effektvoll
im militärischen Schilde führt, müsste genau das die erste Überlegung sein.
(4) 14.2.2011
DIE WELT, abgedruckt 17.2.2011
Rekrutierung von Ausländern für die Bundeswehr; Günther Lachmann
"Bundeswehr soll auch Ausländer aufnehmen" (WELT v. 14.2.2011, S. 1):
Die Erweiterung des Gesichtskreises
der Bundeswehr auf Ausländer macht mehrfachen Sinn. Die Fremdrekrutierung hat
viel Kampfesfreude in die eigenen Reihen getragen, etwa mit den Janitscharen
der Osmanen – das würden wir jetzt mit umgekehrten Vorzeichen nachahmen – oder
mit den Gurkha-Verbänden
aus dem Commonwealth. Ausländer ohne Wahlrecht sind auch elektoral neutral, würden darum auch den Grünen oder der
SPD nicht die Wahl-Suppe versalzen, auch nicht bei den Konflikten mit nachhaltig
geringer inländischer Akzeptanz. Und man kann den Fremden ohne besondere
Rücksicht auch solche Aufträge geben, die mit Lebensfragen der Nation - wie
früher Verteidigung - immer weniger zu tun haben, immer mehr dagegen mit der
Wahrung partikulärer Interessen.
Freunde allerdings macht man sich
damit wohl nicht.
(3) 1.2.2011
DIE ZEIT
Neuorientierung der Bundeswehr; Josef Joffe "Das
Seeckt-Syndrom", DIE ZEIT Nr. 5/2011 v. 27.1.2011, S. 10:
Ist die Bundeswehr wie wir alle?
Zumindest haben wir Bürger nicht mitgestaltet. Und
auch die Soldaten sind nicht wirklich wie wir, haben jedenfalls nicht die
gleichen Rechte, sich gegen die Folgen auswärtiger Gewalt zu verwahren. Gerade
nicht die Angehörigen der Spezialtruppen, die unter Abschirmung selbst
gegenüber dem Plenum des Bundestages operieren. Von den Bürgern in den
Einsatzgebieten gar nicht zu sprechen. Juristen mögen in Bataillonsstärke
hinter den Zielplanern stehen, zu tun haben sie freilich nichts. Preisfrage: In
welchem Verfahren sollte ein konstitutiver Parlamentsbeschluss denn auch
erfolgreich angefochten werden? Wie ein Gesetz – das er nur im formellen Sinne
ist? Bestenfalls wird einmal festgestellt, dass eine konkrete militärische
Aktion nicht abgedeckt ist. Der Beschluss selbst aber bleibt in aller Regel
unangreifbar. Das Parlament hatte die Beschlüsse auch in allen nun fast 100
Fällen antragsgemäß gefasst. Wo’s eng wurde, auch mal unter der existenziellen
Drohung der Neuwahl.
Die Politik hat den Hauptkampfplatz
immer weiter von uns Bürgern und von den Wahlen entrückt, ohne jeden
demokratischen Diskurs. Die Verfassung zeigt noch das unbeteiligte Gesicht von
vor 1990, ebenso das Soldatengesetz und der Soldateneid.
Gesetzliche Definition neuer, über Landesverteidigung hinausführender
Bundeswehraufgaben? Fehlanzeige, nur Weißbücher, Richtlinien und
Vertragsergänzungen, allesamt Hervorbringungen der Exekutive. Die wenigen
parlamentarischen Anhörungen, am 17.6.2004 oder am 25.9.2008? Öffentlich
unbekannt, nicht einmal von dem für die Parlamentsbeteiligung zuständigen
Geschäftsordnungsausschuss dokumentiert.
Karl Lamers
mag man für das Husarenstück loben, die Aufgaben der Bundeswehr in wachsenden
Häppchen verdaulich dargeboten und hoffähig gemacht zu haben, Klaus Kinkel
dafür, dass er die Neuorientierung 1994 aus dem Wahlkampf herausgehalten hat,
Karl Theodor zu Guttenberg dafür, dass er den Hebel für die Aussetzung der
Wehrpflicht in tatsächlichen oder vermeintlichen finanzpolitischen Zwängen
gefunden hat. Die Bundeswehr ist kein „Staat im Staate“. Sicher aber ist sie
heute weniger denn je Bürgerarmee, nach der realen politischen Physik auch
keine Parlamentsarmee, sondern ein Eingriffsorgan der Exekutive, dauernd im
Einsatz.
(2) 19.1.2011
DER SPIEGEL
Attentate; zu Dieter Bednarz und Ronen Bergmann: Der
Schattenkrieg (DER SPIEGEL 3/2010, S. 86-91):
Adressaten bombiger Grüße aus Israel
waren beileibe nicht nur Terroristen, gefährliche Wissenschaftler oder
Aufstandsführer.1952 erhielt ein leibhaftiger deutscher Kanzler und erklärter
Israel-Freund ein Paket. Ein Sprengmeister versuchte, die böse Gabe zu
entschärfen, und bezahlte mit dem Leben. Veranlasser
war der ehemalige Kopf der Terrororganisation "Irgun",
Menachem Begin, späterer israelischer Ministerpräsident und Träger des
Friedensnobelpreises. Er wollte die laufenden Reparationsverhandlungen
sabotieren.
Der Holocaust ist wie ein
vergifteter Bumerang, der über die Zeiten von Hand zu Hand geht und fortlaufend
Tabubrüche schafft. Auge um Auge um Auge...
P.S. zum Adenauer-Attentat:
http://www.faz.net/s/RubFC06D389EE76479E9E76425072B196C3/Doc~E35BBCD5A37DA47809AD4F6A865C6332B~ATpl~Ecommon~Scontent.html
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,421167,00.html
(1) 7.1.2011
DAS PARLAMENT, abgedruckt 17. 1.2011
Bürgerprotest und Bürgerbeteiligung (Ausgabe v. 3.1.2011)
Ein demokratisch innovativer und womöglich
erfreulich dämpfender Ansatz wäre, nun endlich dem Rat Immanuel Kants aus
seinem klugen Büchlein "Zum ewigen Frieden" des Jahres 1795 zu
folgen: Nämlich das Volk und damit die eigentlichen Lastenträger darüber
abstimmen zu lassen, ob Krieg sein soll. Oder - nach Aussetzen der Wehrpflicht
- wenigstens die Soldatinnen und Soldaten.
P.S.
Die zitierte Passage findet sich im 2. Abschnitt / 1. Definitivartikel der
Schrift (in der empfehlenswerten Reclam-Ausgabe auf S. 12f) und lautet:
„Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders seyn kann) die Beystimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, „ob Krieg seyn solle, oder nicht," so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten (als da sind: selbst zu fechten; die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Haabe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich läßt, kümmerlich zu verbessern; zum Uebermaße des Uebels endlich noch eine, den Frieden selbst verbitternde, nie (wegen naher immer neuer Kriege) zu tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen), sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen.“
Siehe zum Gesamttext auch: http://www.sgipt.org/politpsy/vorbild/kant_zef.htm , wo Kants Büchlein einleitend als
eine "frühe deutsche whistleblower-Schrift"
annonciert ist. Ganz zu Recht.
Und ein paar Sammlerstücke aus
früheren Jahren:
(a) Die Mutter aller [meiner]
Leserbriefe:
29.9.1992
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt 2.10.1992
Militär; Absage der "V 2 - Gedenkfeier" in Peenemünde (KStA. v. 29.9.1992)
Hätten wir am Deutschlandtag die
Schöpfer der V 2 hochleben lassen, hätten wir auch die der Scud
mitgefeiert. Die Scud ist wie die Mehrzahl der heute
weltweit ausgerichteten Trägersysteme legitimer Nachfahre der V 2. Scud und V 2 sind brutale Massenvernichtungswaffen, die
unter einem verantwortungslosen Regime bewußt zum
Schaden der Zivilbevölkerung eines anderen Landes entwickelt und eingesetzt
worden sind.
Demgegenüber ist der vorgebliche
Kontext ziviler (!) Raumfahrtforschung, der etwa den jungen Wernher von Braun
begeistert und geblendet haben mag, als Begründung eines V 2 - Festes geradezu
absurd. Die Forschung hat sich gegen diese Wirtschaftsidee im doppelten Sinne
auch ausdrücklich verwahrt.
Der Vorschlag war, wenn auch der count-down schweren Herzens in letzter Sekunde abgebrochen
wurde, bereits eine verheerende Wunderwaffe gegen das Ansehen des neuen
Deutschland im Ausland und unserer Repräsentanten im Inland.
(b)
Der Leserbrief mit dem stärksten Verzögerungszünder:
29.5.2008
Kölner Stadt-Anzeiger; abgedruckt 30./31.5.2009,
also bereits ein Jahr später
Wahl des Bundespräsidenten; Kandidaturen Hort Köhler / Gesine
Schwan (KStA v. 27.-29.4.2008, u.a.
Franz Sommerfeld "Mit Gesine Schwan nach
links", KStA v. 27.5.2008, S. 4)
Entscheidend
ist, so weiland ein großer Kanzler, was hinten raus kommt. Mehr Demokratie
kommt raus, wenn bei einer Wahl die Wahl besteht. Das andere haben wir früher -
meist nach Osten blickend - gerne als "Abnicken" verspottet und
versuchen es selbst im Miniaturmaßstab der Schuldemokratie nach Kräften zu
vermeiden.
Und
die Gefahr durch die ewig Linken? Na ja, wenn man böse Ränke und abgekartete
Spiele fürchtet oder wenn man ein barockes Theater von mehr als tausend
wohlbestallten Spesenrittern von Herzen verhindern will, dann gibt es doch eine
ganz natürliche Lösung: Die Wahl des obersten Bürgers durch die Bürger selbst.
Wäre sicher auch die bessere Remedur gegen deren
nachhaltige Verdrossenheit.
(c)
Und der am weitesten gereiste Leserbrief:
22.08.1995
NIKKEI WEEKLY, JAPAN; abgedruckt 28.8.1995
Militärpolitik; Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki; THE NIKKEI WEEKLY of
August 14, 1995
I refer to reports on WW II and
especially to two letters to the editor printed in THE NIKKEI WEEKLY of August
14, 1995 (page 6). It is my impression that those two letters offer a
unilateral and quite insulting interpretation of the motives behind the drop of
atomic bombs onto Hiroshima and Nagasaki fifty years ago (e.g. N. Hale: "a
merciful decision"). So I would like to show an alternative view:
It is certainly true, that Japanese
military leaders commenced the hostilities against the
The echoes of that demonstration of
power strongly outlived that event. We hear them over and over again – from
Weitere
Leserbriefe
aus 2012 / 2010 / 2009 / 2008 / 2007 / 2006 / 2005 / 2004
/ 2003 / 2002 / 2001 / 2000 / 1999 / 1998 / 1997 / 1996 / 1995 / 1994 / 1993 / 1992
oder auch Briefe für Englisch-sprachige Medien.
Oder meine Leserbriefe, die zum Thema „out of area“ abgedruckt
worden sind.
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